Ein biographisch-kritischer Versuch von Ernst Freiherr von Wolzogen
Ein biographisch-kritischer Versuch von Ernst Freiherr von Wolzogen
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Jahren in ihrer wahren Gestalt gezeigt haben. Meine Aufgabe in dieser Welt ist Essen, Trinken,<br />
Schlafen und Sterben. Alles andere ist Überfluß und ich habe nichts damit zu schaffen.“<br />
Die wenigen Leute, welche sich, nachdem sie durch ein solches Geständnis zurückgeschreckt worden,<br />
die Mühe nahmen, sich wieder nach ihm zu erkundigen, hörten drei oder vier Jahre nach der<br />
Vermählung seines Bruders, daß er in der Nähe <strong>von</strong> Bayswater lebte.<br />
Das Gerücht erzählte, er habe das erste beste Haus gekauft, welches durch eine ringsherumführende<br />
Mauer <strong>von</strong> allen andern Häusern abgeschnitten sei. Ferner erzählte man, er lebe wie ein Geizhals; er<br />
habe einen alten Diener namens Shrowl, der sogar ein noch größerer Menschenfeind sei als er selbst;<br />
er lasse keine lebende Seele, nicht einmal dann und wann eine Scheuerfrau, sein Haus betreten; er<br />
lasse sich den Bart wachsen und habe seinem Diener Shrowl befohlen, seinem Beispiele zu folgen.<br />
Im Jahre 1844 ward die Tatsache, daß ein Mann sich nicht rasierte, <strong>von</strong> der aufgeklärten Mehrheit der<br />
englischen Nation als ein Beweis <strong>von</strong> Mangel an gesundem Verstand betrachtet. Gegenwärtig würde<br />
Mr. Trevertons Bart bloß seinem guten Rufe als achtbarer, solider Mann im Wege gestanden haben.<br />
Zu jener Zeit aber ward er als ein neuer Beweis der frühern Behauptung betrachtet, daß es mit ihm<br />
nicht ganz richtig sei.<br />
Dennoch war er gerade zu dieser Zeit, wie sein Makler hätte bezeugen können, einer der gewandtesten<br />
und schlauesten Geschäftsleute in London; er verstand die falsche Seite jeder beliebigen Frage mit<br />
einem Aufwand <strong>von</strong> Sophistik und Sarkasmen zu verteidigen, um welche ihn selbst Doktor Johnson<br />
beneidet haben würde; er hielt seine Bücher bis auf den Heller in der strengsten Ordnung; sein Tun<br />
und Wesen zeigte <strong>von</strong> früh an bis abends niemals etwas Außergewöhnliches; seine Augen waren der<br />
verkörperte Scharfblick – aber was nützten ihm in dem Urteil seiner Nachbarn alle diese vortrefflichen<br />
Eigenschaften, da er sich herausnahm, auf einem andern Fuße zu leben als sie und während er ein<br />
haariges Wahnsinnszeugnis am untern Teile seines Gesichts trug ?<br />
Wir haben in Bezug auf teilweise Duldung <strong>von</strong> Bärten seit jener Zeit einen kleinen Fortschritt<br />
gemacht, aber es bleibt uns immer noch ein bedeutender Weg zurückzulegen. Würde wohl selbst jetzt<br />
der zuverlässigste Komptoirist eines Bankiers in der ganzen Hauptstadt auch nur die entfernteste<br />
Aussicht haben, seine Stelle zu behalten, wenn er aufhörte, sein Kinn zu rasieren ?<br />
Das gemeine Gerücht, welches Mr. Treverton als Wahnsinnigen verleumdete, hatte, indem es ihn als<br />
einen Geizhals schilderte, einen zweiten Irrtum zu verantworten. Er sparte mehr als zwei Dritteile des<br />
<strong>Ein</strong>kommens <strong>von</strong> seinem ziemlich bedeutenden Vermögen, aber nicht weil er Gefallen daran gefunden<br />
hätte, Geld zusammenzuscharren, sondern weil er an den Bequemlichkeiten und Luxusgenüssen, auf<br />
welche man Geld zu verwenden pflegt, keinen Genuß fand. Wir müssen ihm die Gerechtigkeit<br />
widerfahren lassen zu sagen, daß seine Verachtung seines eigenen Reichtums ebenso aufrichtig war<br />
wie die des Reichtums seiner Nachbarn.<br />
Indem auf diese Weise das Gerücht bei Schilderung seines Charakters nach diesen beiden Seiten hin<br />
die Unwahrheit sprach, hatte es doch wenigstens in einer Beziehung sehr inkonsequenterweise Recht,<br />
nämlich bei der Schilderung seiner Lebensweise.<br />
Es war vollkommen gegründet, daß er das erste beste Haus gekauft, welches innerhalb seiner eigenen<br />
Mauern abgeschlossen war – es war begründet, daß niemandem unter irgendeinem Vorwand gestattet<br />
war, seine Schwelle zu überschreiten, und ebenso war es auch begründet, daß er in Mr. Shrowls<br />
Person einen Diener gefunden, der gegen die ganze Menschheit <strong>von</strong> noch bittererm Groll erfüllt war<br />
als er selbst.<br />
Das Leben, welches diese beiden Männer führten, kam der Existenz des Urmenschen oder Wilden so<br />
nahe, als die sie umgebenden Verhältnisse der Zivilisation gestatteten. Die Notwendigkeit des Essens<br />
und Trinkens zugebend, setzte Mr. Treverton seinen Ehrgeit vor allen Dingen darein, das Leben mit so<br />
wenig Abhängigkeit als möglich <strong>von</strong> der Menschenklasse zu erhalten, welche ein Geschäft daraus<br />
machte, für die körperlichen Bedürfnisse ihrer Nächsten zu sorgen und die, wie er glaubte, ihn eben<br />
auf Grund ihres Berufes hin auf die nichtswürdigste Weise betrog.<br />
Da Timon <strong>von</strong> London auf der hintern Seite des Hauses einen Garten hatte, so machte er den<br />
Gemüsehändler ganz entbehrlich, indem er seinen Kohl selbst baute. Um Weizen zu bauen, hatte er<br />
nicht Land genug, sonst wäre er auch für sein alleiniges Bedürfnis Ackersmann geworden, wohl aber<br />
konnte er den Müller und den Bäcker dadurch überlisten, daß er einen Sack Getreide kaufte, dasselbe<br />
auf seiner Handmühle mahlte und das Mehl dann <strong>von</strong> Shrowl zu Brot backen ließ.<br />
Nach demselben Prinzip ward das Fleisch <strong>von</strong> den Händlern der City im Ganzen gekauft, Herr und<br />
Diener aßen dann so viel als möglich in frischem Zustand, salzten das übrige ein und schlugen auf<br />
diese Weise den Fleischern ein Schnippchen.