Ein biographisch-kritischer Versuch von Ernst Freiherr von Wolzogen
Ein biographisch-kritischer Versuch von Ernst Freiherr von Wolzogen
Ein biographisch-kritischer Versuch von Ernst Freiherr von Wolzogen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
über die Backen liefen, über das kleine Tier, wie es da auf seinen Hinterbeinen saß, mit gespitzten<br />
Ohren, den Kopf auf die eine Seite geneigt und wie ihm der Mund nach den Nahrungsmitteln<br />
wässerte. Ich möchte wohl wissen, ob ich damals recht bei Sinnen war; ich glaube es beinahe nicht.<br />
Nachdem der Hund die Überreste meines Abendbrots ganz verzehrt hatte, fing er an zu winseln, um<br />
wieder auf die Straße hinausgelassen zu werden. Als ich die Haustür öffnete, um das Tier<br />
hinauszulassen, sah ich meinen Mann gerade über die Straße auf das Haus zukommen. „Bleibe fort“,<br />
rief ich ihm zu, „nur diese Nacht bleibe fort.“ Er war zu betrunken, um meine Worte zu hören, ging an<br />
mir vorüber und stolperte die Treppe hinauf. Ich folgte ihm und horchte auf der Treppe, und hörte, wie<br />
er seine Tür öffnete, wieder zuschlug und verschloß. Ich wartete ein wenig und ging dann ein paar<br />
Stufen weiter hinauf. Jetzt hörte ich, wie er aufs Bett fiel. <strong>Ein</strong>e Minute später war er fest eingeschlafen<br />
und schnarchte laut. So war alles gekommen, wie es kommen mußte. Nach Verlauf <strong>von</strong> zwei Minuten<br />
hätte ich ihn, ohne das mindeste zu tun, was geeignet gewesen wäre, einen Verdacht gegen mich rege<br />
zu machen, ersticken können. Ich ging auf mein Zimmer und nahm das Tuch, das ich bereit gelegt<br />
hatte, zur Hand. Im Begriff, es zu tun, überkam mich plötzlich etwas, ich kann nicht deutlich sagen,<br />
was es eigentlich war, das Entsetzen packte mich und trieb mich fort zum Hause hinaus. Ich setzte<br />
meinen Hut auf, verschloß die Haustür <strong>von</strong> außen und nahm den Schlüssel zu mir.<br />
Es war noch nicht zehn Uhr. Wenn irgendetwas in meinem verwirrten Kopf klar war, so war es der<br />
Wunsch, fortzulaufen und dieses Haus und meinen Mann nie wiederzusehen. Ich ging nach rechts hin<br />
bis ans Ende der Straße und kehrte wieder um; ich machte einen zweiten <strong>Versuch</strong>, Straße auf, Straße<br />
ab, aber zuletzt trieb es mich doch wieder nach dem Hause zurück. Ich sollte nicht fort, das Haus hielt<br />
mich an sich gefesselt, wie ein Hundehaus den an dasselbe geketteten Hund. Und wenn es mein Leben<br />
gekostet hätte, ich hätte nicht fort gekonnt.<br />
In dem Augenblick, wo ich wieder ins Haus treten wollte, ging gerade eine Gesellschaft <strong>von</strong> lustigen<br />
jungen Männern und Frauen an mir vorüber. Sie hatten es sehr eilig.<br />
„Beeilt euch“, sagte einer der Männer, „das Theater ist hier ganz in der Nähe, und wir können gerade<br />
noch die Posse sehen.“<br />
Ich kehrte wieder um und folgte ihnen. Ich war sehr fromm erzogen worden und noch nie in meinem<br />
Leben in einem Theater gewesen. Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, daß es mich vielleicht,<br />
sozusagen, aus mir selbst herausreißen könnte, wenn ich etwas zu sehen bekäme, was mir ganz neu<br />
wäre, und was mich auf andere Gedanken bringen könnte. Die jungen Leute gingen ins Parterre und<br />
ich folgte ihnen dahin. Das Ding, was sie Posse nannten, hatte eben angefangen. Männer und Frauen<br />
kamen auf die Bühne, liefen hin und her, sprachen und gingen wieder weg. Es dauerte nicht lange und<br />
alle Leute im Parterre um mich her lachten aus vollem Halse und klatschten in die Hände. Der Lärm,<br />
den sie machten, ärgerte mich. Ich weiß nicht, wie ich den Zustand, in dem ich mich befand, schildern<br />
soll.<br />
Meine Augen und meine Ohren versagten mir ihren Dienst zu sehen und zu hören, was die anderen<br />
Leute sagen und hörten. Es muß wohl etwas in meinem Gemüt gewesen sein, was sich zwischen mich<br />
und das auf der Szene Vorgehende drängte. Das Stück schien ganz lustig, aber dahinter steckte doch<br />
Gefahr und Tod. Die Schauspieler schwatzten und lachten, um die Leute zu betrügen und ihre<br />
Mordgedanken zu verbergen.<br />
Und das merkte keiner außer mir, und meine Zunge war gefesselt, als ich versuchen wollte, es den<br />
anderen zu sagen.<br />
Ich stand auf und lief hinaus. Kaum war ich auf der Straße, als mich meine Füße unwillkürlich nach<br />
dem Hause zurückbrachten. Ich rief einen Fiaker an, und hieß den Kutscher, mich soweit er es für<br />
einen Schilling könne, in der entgegengesetzten Richtung zu fahren.<br />
Er setzte mich, ich weiß selbst nicht wo, ab. An der anderen Seite der Straße sah ich über einer offenen<br />
Tür eine illuminierte Inschrift. Auf meine Frage antwortete der Kutscher, es sei ein Tanzlokal. Tanzen<br />
war für mich etwas eben so Neues wie Theater. Ich hatte gerade noch einen Schilling bei mir, und gab<br />
ihn für das Entrée aus, um zu sehen, was mir das Tanzen für einen <strong>Ein</strong>druck machen würde. Die<br />
Lichter eines Kronleuchters machten den Saal so hell als wenn er in Flammen gestanden hätte. Die<br />
Musik machte einen fürchterlichen Lärm. Das Herumwirbeln <strong>von</strong> Männern und Weibern, die einander<br />
in den Armen lagen, war ein Anblick zum Tollwerden. Ich weiß nicht, was hier in mir vorging. Das<br />
Licht, das sich vom Kronleuchter her über den Saal ergoß, erschien mir plötzlich blutrot. Der Mann,<br />
der vor den Musikanten stand, und einen Stock in der Luft hin und her schwenkte, sah für mich aus<br />
wie der Satan, wie er auf einem Bilde in unserer Familienbibel zu sehen war.