Ein biographisch-kritischer Versuch von Ernst Freiherr von Wolzogen
Ein biographisch-kritischer Versuch von Ernst Freiherr von Wolzogen
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in einem einigermaßen kultivierten Hause ein Spiegel gehangen haben würde, hing in dem Hause<br />
Timons <strong>von</strong> London eine Speckseite. Auf dem Tisch am Kaminfeuer lag ein halbes Laib schwammig<br />
aussehenden braunen Brotes; in einer Ecke des Zimmers lag ein Faß Bier mit zwei alten zinnernen<br />
Kannen an in der Wand oben darüber eingeschlagenen Nägeln, und unter dem Herd des Kamins lag<br />
ein verräucherter alter Bratrost gerade noch so, wie er, nachdem er zum letzten Male Dienst geleistet,<br />
hingeworfen worden.<br />
Mr. Treverton nahm ein schmieriges <strong>Ein</strong>schlagemesser aus der Tasche seines Schlafrocks, schnitt ein<br />
Stück Speck ab, setzte den Bratrost über das Feuer und begann sein Frühstück zu bereiten.<br />
Eben hatte er die Speckschnitte umgewendet, als die Tür sich öffnete und Shrowl mit der Pfeife im<br />
Munde ins Zimmer trat, um dieselbe Verrichtung vorzunehmen, welcher sein Herr oblag.<br />
Was das Äußere betraf, so war Shrowl klein, dick, aufgedunsen und vollkommen kahl, ausgenommen<br />
an der Hinterseite seines Kopfes, wo ein Ring borstigen, eisengrauen Haares hervorragte wie ein in<br />
Unordnung geratener schmutziger Hemdkragen. Um den Mangel an Haar zu ersetzen, wuchs der Bart,<br />
den er auf Wusnch seines Herrn kultivierte, weit über das Gesicht hinweg und fiel in zwei zottigen<br />
Spitzen bis auf die Brust herab.<br />
Er trug einen sehr alten langschößigen Schlafrock, den er einmal hundebillig auf dem Trödelmarkt<br />
gekauft, ein verschossenes gelbes Hemd mit einer breiten zerrissenen Brustkrause, an den Knöcheln<br />
aufgeschlagene Manchesterhosen und Halbstiefeln, die seit dem Tage, wo sie die Werkstatt des<br />
Schuhstickers verlassen, nie wieder gewichst worden waren.<br />
Seine Farbe war krankhaft rot, seine dicken Lippen kräuselten sich mit boshaftem Feixen aufwärts und<br />
seine Augen hatten an Form und Ausdruck ungemein viel Ähnliches mit denen eines Spürhundes.<br />
<strong>Ein</strong> Maler, welcher in dem Gesicht und der Gestalt eines und desselben Individuums gleichzeitig<br />
Kraft, Unverschämtheit, Häßlichkeit, Gemeinheit und Hinterlist auszudrücken gewünscht, hätte zu<br />
diesem Zweck in der ganzen Welt kein besseres Modell finden können als in der Person des würdigen<br />
Mr. Shrowl.<br />
Weder Herr noch Diener wechselten bei der ersten Begegnung an diesem Tage ein Wort oder nahmen<br />
die mindeste Notiz <strong>von</strong> einander. Shrowl blieb, mit den Händen in den Taschen träg zuschauend,<br />
stehen und wartete, bis für ihn Platz am Feuer würde.<br />
Mr. Treverton trug, als er fertig war, seinen Speck auf den Tisch, schnitt sich eine Rinde Brot ab und<br />
begann nun zu frühstücken. Als er den ersten Bissen hinuntergewürgt hatte, ließ er sich herab, zu<br />
Shrowl aufzublicken, der in diesem Augenblick sein Taschenmesser öffnete und sich mit<br />
schlurfendem Tritt und schläfrig gierigen Augen ebenfalls der Speckseite näherte.<br />
„Was soll das heißen ?“ fragte Mr. Treverton, indem er mit Entrüstung und Erstaunen auf Shrowls<br />
Brust zeigte. „Ihr dummer Kerl habt ja ein reines Hemd an !“<br />
„Ich danke Ihnen, Sir, daß Sie Notiz da<strong>von</strong> nehmen“, sagte Shrowl mit sarkastisch erheuchelter,<br />
übertriebener Demut. „Die Veranlassung dazu ist eine sehr freudige. Heute ist ja meines Herrn<br />
Geburtstag und da konnte ich unmöglich weniger tun als ein reines Hemd anziehen. Möge Ihnen<br />
dieser Tag noch oft wiederkehren, Sir ! Vielleicht haben Sie geglaubt, ich würde nicht daran denken,<br />
daß heute Ihr Geburtstag sei ? Gott segne Ihr gutes liebes Gesicht, ich würde so etwas unter keiner<br />
Bedingung vergessen haben. Wie alt werden Sie denn heute, Sir ? Es ist nun eine hübsche Zeit her,<br />
Sir, seitdem Sie ein kleiner, freundlicher, dicker Junge waren mit einer Krause um den Hals und<br />
Marmorkügelchen in der Tasche und eingeknöpften Hosen und Küssen und Geschenken <strong>von</strong> Papa und<br />
Mama und Onkel und Tante an Ihrem Geburtstage. – Fürchten Sie nicht, daß ich dieses Hemd durch<br />
allzuhäufiges Waschen abnutzen werde. Ich gedenke es in Lavendelkraut bis zu Ihrem nächsten<br />
Geburtstag oder auch zu Ihrem Leichenbegängnis aufzuheben, was in Ihrem Alter ebenso<br />
wahrscheinlich ist – meinen Sie nicht auch, Sir ?“<br />
„Verschwendet kein reines Hemd an mein Leichenbegängnis“, entgegnete Mr. Treverton. „Ich habe<br />
Euch in meinem Testament kein Geld vermacht, Shrowl ! Wenn ich auf dem Wege nach dem Grabe<br />
bin, seid Ihr auf dem Wege nach dem Armenhaus.“<br />
„Haben Sie wirklich einmal Ihr Testament gemacht, Sir ?“ fragte Shrowl, indem er mit dem Anschein<br />
des größten Interesses im Abschneiden seiner Speckschnitte innehielt; „ich bitte gehorsamst um<br />
Verzeihung, aber ich glaubte immer, Sie scheuten sich es zu tun.“<br />
Der Diener hatte augenscheinlich mit Absicht eine der wunden Stellen seines Herrn berührt. Mr.<br />
Treverton schlug mit seiner Brotrinde auf den Tisch und sah Shrowl zornig an.<br />
„Ich sollte mich scheuen, mein Testament zu machen, Ihr Narr !“ sagte er. „Ich mache aus Grundsatz<br />
keins und werde keins machen.“