NEU: Sonderdruck "Orofazile Dysfunktionen" - dr. hinz
NEU: Sonderdruck "Orofazile Dysfunktionen" - dr. hinz
NEU: Sonderdruck "Orofazile Dysfunktionen" - dr. hinz
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Orofaziale Dysfunktionen<br />
Die Therapie orofazialer Dysfunktionen<br />
DZW Ausgabe 38/12 vom 19.09.2012<br />
DZW Ausgabe 39/12 vom 26.09.2012<br />
Orofaziale Dysfunktionen<br />
Frühzeitiges Erkennen und Behandeln sind eine interdisziplinäre Aufgabe von Medizinern<br />
und Therapeuten (1)<br />
Das frühzeitige Erkennen und Behandeln der orofazialen<br />
Dysfunktionen erfordert eine Zusammenarbeit<br />
zwischen Zahnärzten/Kieferorthopäden, Sprachtherapeuten,<br />
Hals-Nasen- Ohrenärzten, Orthopäden, Physiotherapeuten,<br />
Kinderärzten und Ernährungswissenschaftlern.<br />
Im ersten Teil eines Beitrags zur Erkennung<br />
und Behandlung von orofazialen Dysfunktionen<br />
beschreibt Sprachtherapeutin Ulrike Kopp Ursachen<br />
und Auswirkungen dieser Störungen.<br />
Das stomatognathe System ist eine funktionelle Einheit. Es bestehen<br />
Zusammenhänge zwischen der Morphologie der oralen<br />
Strukturen und der Funktion der umgebenden Weichteile [1]. Form<br />
und Funktion bedingen sich gegenseitig. Weichgewebe ver<strong>dr</strong>ängt und<br />
formt Hartgewebe [2].<br />
Orofaziale Dysfunktionen müssen stets mit der Gesamtpersönlichkeit,<br />
dem Gesamterscheinungsbild des Betroffenen gesehen werden. Sie<br />
beeinflussen das Schlucken, die Atmung, das Kauen, die Körperhaltung<br />
und können Auswirkungen auf die Artikulation sowie die Zahnund<br />
Kieferentwicklung haben. Konzentrationsprobleme und daraus<br />
resultierende Auswirkungen auf das Lernverhalten können auftreten.<br />
Orofaziale Dysfunktionen können vom Betroffenen als ästhetisches<br />
Problem empfunden werden und folglich die Emotionen beeinflussen.<br />
Das Geschehen und seine Auswirkungen sind komplex und erfordern<br />
eine interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung.<br />
Ziel der Zusammenarbeit zwischen zum Beispiel Zahnärzten, Kieferorthopäden<br />
und Sprachtherapeuten ist die Herstellung eines<br />
orofazialen Muskelgleichgewichts, um mögliche schädliche Auswirkungen<br />
auf die Dentition und Okklusion sowie die Artikulation zu<br />
vermeiden beziehungsweise zu beheben.<br />
Abb. 1: Mundvorhofplatten aus Kunststoff und Silikon<br />
Foto: Prof. Hinz
Abb. 2: Position Trainer (T4K TM )<br />
Foto: Prof. Hinz<br />
So kann oftmals eine vorausgehende kieferorthopädische Frühbehandlung<br />
durch Zahnmediziner oder die therapiebegleitende Anwendung<br />
konfektionierter Prophylaxegeräte (zum Beispiel durch<br />
Mundvorhofplatten oder Position Trainer (T4K TM ), alle Dr. Hinz Dental,<br />
Herne) durch Logopäden und Sprachtherapeuten unterstützt<br />
werden (Abb. 1 und 2).<br />
Auswirkungen auf die primären Funktionen<br />
Orofaziale Dysfunktionen haben Auswirkungen auf die primären<br />
Funktionen der Atmung, des Schluckens, Kauens und Beißens. Die<br />
Atmung geschieht bei Kindern mit einer orofazialen Dysfunktion<br />
häufig durch den Mund (Abb. 3 und 4), und es liegt eine Hochatmung<br />
(Brustatmung, Clavicular-Atmung) vor. Folgen der Mundatmung<br />
sind häufige Erkältungskrankheiten und Entzündungen im Nasen-Rachenraum.<br />
Entscheidend für eine gesunde Atmung, die den Körper mit ausreichend<br />
Sauerstoff versorgt, ist die Nasenatmung. Durch sie wird<br />
die Luft gesäubert, angefeuchtet und erwärmt. Die Nasenatmung unterstützt<br />
die Bauchatmung und somit die Funktion des Zwerchfells<br />
als Hauptatemmuskel.<br />
Positive Auswirkungen der Nasenatmung sind der vorhandene<br />
Mundschluss, das Belüften und Säubern der Nasennebenhöhlen<br />
sowie die Förderung eines besseren Kieferwachstums. Eine offene<br />
Mundhaltung, die häufig mit einer Mundatmung einhergeht, kann<br />
sich schädlich auf die Frontzähne auswirken. Die Zahnoberflächen<br />
trocknen aus, die Speichelsubstanz verändert sich, der Schutz des<br />
Zahnschmelzes wird verhindert, was wiederum kariöse Defekte sowie<br />
Verfärbungen an den Zähnen zur Folge haben kann [3]. Ebenfalls<br />
betroffen können die Lippen sein, die trocken, rissig und spröde<br />
werden, mit der Folge, dass ständiges Lippenlecken zu einem Habit<br />
mit Schädigung der Hautareale um den Mund herum führt.<br />
Bei Betroffenen mit Mundatmung liegt ein viszerales Schluckmuster<br />
vor. Dies bedeutet, dass ein funktional irreguläres Bewegungsmuster<br />
der Zunge in der oralen Phase des Schluckmusters vorliegt.<br />
Die Zungenspitze liegt beim Schlucken nicht an der Rugae,<br />
sondern an oder zwischen den Schneidezähnen. Die Zungenränder<br />
<strong>dr</strong>ücken gegen oder zwischen die Seitenzähne. Die Folgen können<br />
durch die vielen bewussten und unbewussten Schluckvorgänge<br />
frontal offene Bisse sein, die zu weiteren funktionellen Störungen<br />
führen [4]. Die Kraft der Zunge wird nicht vom Gaumen aufgefangen,<br />
sondern gegen die Zähne gerichtet und wirkt wie eine „falsche<br />
Zahnspange“ [5]. Dem Druck der Zunge ist nicht nur beim viszeralen<br />
Schluckmuster Beachtung zu schenken, sondern ebenso der<br />
Kraft der Zunge bei der unphysiologischen Zungenruhelage (interdental<br />
oder addental an den Zähnen des Unter- oder Oberkiefers<br />
und nicht an der Rugae).<br />
Eine offene Mundhaltung geht immer mit einer unphysiologischen<br />
Zungenruhelage einher. Dies kann zu Veränderungen des<br />
umliegenden Hartgewebes führen in Bezug auf die Zahnstellung<br />
(zum Beispiel offener Biss) oder Einfluss nehmen auf die Entwicklung<br />
der Gaumenform und der Gaumenfalten (hoher, spitzer Gaumen<br />
mit stark ausgeprägten Gaumenfalten). Folgen können ein zu<br />
schmaler Oberkiefer und ein- oder beidseitige Kreuzbisse sein.<br />
Liegt eine offene Mundhaltung mit einhergehender Mundatmung<br />
vor, ist über den Hals-Nasen-Ohrenarzt abzuklären, ob die Nasenatmung<br />
aufgrund von organischen Ursachen (zum Beispiel chronische<br />
Entzündungen der Tonsillen, Adenoide oder Allergien) behindert<br />
ist.<br />
Die Hypotonie im orofazialen Bereich zeigt sich häufig ebenso beim<br />
Musculus masseter, der einseitig oder beidseitig hypoton ist. Betroffene<br />
Kinder bevorzugen häufig weiche und süße Kost oder weichen<br />
die Nahrung durch Getränke bei den Mahlzeiten auf oder<br />
Abb. 3 u. 4: Offene Mundhaltung mit sichtbaren unteren Schneidezähnen und aufgerollter Unterlippe
spülen die Nahrung damit hinunter. Folge ist, dass die Kaumuskulatur<br />
kaum oder gar nicht gekräftigt wird.<br />
In einem triangulären Kraftfeld wirken also unterschiedliche<br />
Kräfte auf den orofazialen Komplex ein. Dass diese sich im Gleichgewicht<br />
befinden, ist Voraussetzung dafür, dass keine strukturellen<br />
Veränderungen auftreten. Form und Funktion bedingen sich gegenseitig.<br />
„Die Form ist gegeben für eine Funktion und durch eine<br />
Funktion“ [6].<br />
Auswirkungen auf die sekundären Funktionen<br />
Die Auswirkungen auf die Sekundärfunktionen können die Artikulation<br />
sowie die Stimme betreffen. Häufig betroffen sind die S-<br />
Laute (Sigmatismus), die zum Beispiel interdental, addental oder<br />
lateral gebildet werden.<br />
Fehlgebildet werden zum Teil auch die Laute der zweiten Artikulationszone<br />
„l, t, d, n“ (multiple Interdentalität). Diese Fehlbildung<br />
ist nicht hörbar, sondern nur sichtbar. Ein schwacher Musculus orbicularis<br />
oris kann zur Folge haben, dass der Sch-Laut durch ein „S“<br />
ersetzt wird, da zum Beispiel die Kraft zum Vorstülpen der Lippen<br />
nicht gegeben ist.<br />
Schwierigkeiten in der Bewegungskoordination der Zunge können<br />
zudem zu Lautersetzungen bei folgenden Konsonanten und Konsonantenverbindungen<br />
führen: „ch“ durch „ß“, „k, g“ durch „t, d“,<br />
„kr, gr“ durch „tr, <strong>dr</strong>“. Die Artikulation kann verwaschen und undeutlich<br />
sein, in den Mundwinkeln kann Speichel sichtbar werden,<br />
schließlich kann der Stimmklang gestört sein.<br />
Auswirkungen auf das Hören<br />
Die offene Mundhaltung, verbunden mit einem viszeralen Schluckmuster,<br />
hat negative Auswirkungen auf das Hören, was in der Praxis<br />
leider häufig übersehen beziehungsweise vernachlässigt wird.<br />
Die Ohrtrompete (Eustachische Röhre oder auch Tube genannt) verbindet<br />
das Mittelohr mit dem Nasenrachen und vermeidet Druckunterschiede<br />
zwischen beiden Räumen.<br />
Beim Schluckakt beteiligte Muskeln (Gaumensegelmuskeln,<br />
Schlundheber) sind mit der Tubenwand verbunden, und so ist es möglich,<br />
den Druckunterschied durch mehrfaches Schlucken zu beseitigen,<br />
zum Beispiel beim Flugzeugstart [7]. Durch die ungenügende<br />
Belüftung der Eustachischen Röhre beim viszeralen Schluckmuster<br />
können Tubenfunktionsstörungen und Schleimhautansammlungen<br />
im Mittelohr entstehen, die wiederum zu einer verminderten<br />
Hörfähigkeit führen [6]. Nachfolgend können geringgradige<br />
Schallleitungsschwerhörigkeiten auftreten [8].<br />
Gesamtkörperspannung<br />
Kinder mit Bewegungseinschränkungen im orofazialen Bereich<br />
haben häufig Schwierigkeiten, Bewegungsabläufe des gesamten<br />
Körpers zu steuern [9]. Bewegungsmangelerscheinungen des Gesamtorganismus<br />
bei Kindern sind mitverantwortlich für Fehlformen<br />
im Mund- und Kieferbereich [10]. Fehlende Körperspannung<br />
kann zu Energie- und Lustlosigkeit sowie zu fehlender Motivation<br />
führen.<br />
Kinder mit orofazialen Störungen hatten in ihrer motorischen<br />
Entwicklung häufig keine oder nur eine kurze „Krabbelphase“. Die<br />
Phase des physiologischen Krabbelns ist jedoch wichtig, um Gelenke<br />
und Muskeln zu trainieren, die im Zusammenhang mit der<br />
orofazialen Muskulatur stehen.<br />
Ein weiterer Meilenstein der motorischen Entwicklung ist der Ellbogen-Becken-Stütz.<br />
Wird er nicht gelernt und geübt, kann eine hypotone<br />
Grundspannung im orofazialen Bereich die Folge sein, die<br />
mit einer Vorverlagerung der Zunge, einem fehlenden Mundschluss<br />
und Hypersalivation einhergeht.<br />
Von Bedeutung für die orofazialen Funktionen ist die Nackenaufrichtung<br />
bei Neugeborenen. Sie entscheidet über die Trennung<br />
von Unterkiefer- und Zungenbewegung [9]. Findet diese Trennung<br />
nicht statt, bewegt sich der Unterkiefer bei Zungenbewegungen<br />
mit. Kinder mit einer orofazialen Dysfunktion können neben möglicher<br />
Auffälligkeiten in der Grobmotorik auch Auffälligkeiten in der<br />
Feinmotorik zeigen. Die Stifthaltung ist zum Beispiel unsicher,<br />
Schwierigkeiten beim Malen und Schneiden werden sichtbar, und das<br />
Auffädeln von Perlen gelingt nur mühsam.<br />
Die Teile des Zentralen Nervensystems für die Mund- und Handfunktion<br />
liegen direkt nebeneinander und sind überproportional<br />
ausgebildet. Dies führt zu der Annahme, dass die Mund- und Han<strong>dr</strong>egion<br />
zusammenhängende Einheiten in ihren biologischen Strukturen<br />
und psychosozialen Funktionen darstellen [11]. Fingerspiele<br />
fördern folglich die Bewegungskoordination der Zunge. Eine hypotone<br />
Gesamtkörperspannung im Sinne einer ungünstigen Körperhaltung<br />
begünstigt zudem eine unphysiologische Atem- und<br />
Zwerchfellfunktion.<br />
Ulrike Kopp, akademische Sprachtherapeutin,<br />
Uetze<br />
■
Die Therapie orofazialer Dysfunktionen<br />
Früherkennung und Behandlung sind eine interdisziplinäre Aufgabe (Teil 2)<br />
Wie Sprachtherapeutin Ulrike Kopp im ersten Teil des<br />
Beitrags zur Erkennung und Behandlung orofazialer Dysfunktionen<br />
(DZW 38/12) beschrieb, können orofaziale<br />
Dysfunktionen als ein ästhetisches Problem empfunden<br />
werden und Einfluss auf die Emotionen nehmen. Insbesondere<br />
Jugendliche können unter Zahnfehlstellungen oder<br />
eines hyperaktiven Musculus mentalis leiden, was Auswirkungen<br />
auf ihr Selbstbewusstsein haben kann.<br />
Eine Hypotonie der Gesamtmuskulatur sowie der orofazialen Muskulatur<br />
beeinflusst die eigene Außenwirkung und kann somit Einfluss<br />
auf die Beziehungsebene nehmen. Diese Aspekte finden bisher<br />
in der Literatur kaum Eingang und können auch an dieser Stelle<br />
nicht weiter erläutert werden. Gegenstand dieses Beitrags ist die<br />
Ätiologie und Therapie orofazialer Dysfunktionen. Die Ursachen<br />
dieser Störungen sind multifaktoriell zu betrachten, da mehrere<br />
und nicht immer offensichtliche Ursachen zugrunde liegen.<br />
Mögliche Ursachen können sein:<br />
• eine lange Flaschenernährung, eventuell mit Vergrößerung des<br />
Sauglochs,<br />
• Schnabel-, Sigg- und Sportlerflaschen,<br />
• Habits (Lutschgewohnheiten, zum Beispiel Nuckeln am Daumen<br />
oder Schnuller),<br />
• vergrößerte Rachen- oder Gaumenmandeln,<br />
• persistierende frühkindliche Reaktionen,<br />
• vererbte Konstitution,<br />
• Nachahmung [4].<br />
Wichtig ist eine frühe Aufklärung der Eltern, dass zum Beispiel das<br />
Stillen über eine Dauer von sechs Monaten die orofaziale Muskulatur<br />
am Besten stärkt, und dass jegliche Lutschgewohnheiten spätestens<br />
im <strong>dr</strong>itten Lebensjahr abgewöhnt werden sollten, da schädliche Gewohnheiten<br />
zu weiteren Dysfunktionen und Zahnfehlstellungen führen.<br />
Die Bedeutung der Ernährung (harte, feste Nahrung, Brot mit Rinde)<br />
auf die orofaziale Muskulatur sollte den Eltern aufgezeigt werden.<br />
Von Bedeutung ist hierbei das gemeinsame Tätigwerden von Zahnmedizinern,<br />
Kinderärzten und Sprachtherapeuten. Die Erlangung des<br />
orofazialen Muskelgleichgewichts und der Erfolg einer Therapie sind<br />
nur möglich, wenn eventuell bestehende Habits abgebaut werden.<br />
Therapieziele sind das Herstellen und Stabilisieren eines orofazialen<br />
Muskelgleichgewichts unter Einbeziehung der Gesamtkörperspannung<br />
sowie das Erlangen eines physiologischen Schluckablaufs.<br />
Die Therapie sollte so früh wie möglich beginnen. Je länger falsche<br />
Bewegungsmuster bestehen bleiben, und je älter das Kind ist, umso<br />
schwieriger wird die Umstellung der Bewegungen. Das Kind<br />
muss neue Funktions- und Bewegungsmuster erlernen, damit die etablierten<br />
gespeicherten, „unreifen“ Muster überschrieben werden<br />
können [12]. Eine Selbstregulation bei offener Mundhaltung und einhergehender<br />
unphysiologischer Zungenruhelage ist nicht zu erwarten.<br />
Erst durch den Abbau des viszeralen Schluckmusters kommt<br />
es ohne andere interdentale Zungendyskinesen und Habits zu einer<br />
schnellen sichtbaren Selbstausheilung dentoalveolärer Veränderungen<br />
[13].<br />
Der Therapieablauf richtet sich in seinen Inhalten nach den Bedürfnissen<br />
und dem Alter des Kindes. Für Kinder ab zehn Jahren kann unter<br />
anderem die Myofunktionelle Therapie (MFT) nach Garliner<br />
zur Herstellung und Stabilisierung einer Gesichtsmuskelbalance und zur<br />
Anbahnung des korrekten Schluckablaufs durchgeführt werden [14].<br />
Übungen zur Stärkung der orofazialen Muskulatur, in Kombination<br />
mit Übungen zur Gesamtkörperspannung als „vorbeugende Kieferorthopädie“,<br />
können bei Kindern bis zu zehn Jahren spielerisch<br />
geübt werden. Zur Erlangung eines orofazialen Muskelgleichgewichts<br />
bedarf es täglicher Übungen. Voraussetzung für einen erfolgreichen<br />
Therapieverlauf ist die Mitarbeit der Eltern bei den Übungen<br />
zu Hause.<br />
Die Therapie beinhaltet folgende acht Übungsbereiche:<br />
1. Gesamtkörperkoordination/Gesamtkörperspannung,<br />
2. Mun<strong>dr</strong>aumwahrnehmung (Stereognosefähigkeit),<br />
3. physiologische Zungenruhelage,<br />
4. Stärkung der Zungenmuskulatur,<br />
5. Stärkung der Lippenmuskulatur,<br />
6. Anregung der Nasenatmung,<br />
7. Pusten und Blasen,<br />
8. Saugen.<br />
Therapiebegleitend, effektiv und effizient ist bei vielen Kindern der<br />
Einsatz von konfektionierten Prophylaxegeräten wie dem Stoppi,<br />
dem Infant-Trainer und dem Position Trainer (alle Dr. Hinz Dental,<br />
Herne). Denn nach der Geburt erworbene Dysfunktionen und Zahnfehlstellungen<br />
können durch prophylaktische Maßnahmen der<br />
Zahnärzte behoben werden. Sie sind der wichtige Schlüssel für die<br />
interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Sprachtherapeuten/Logopäden<br />
und Voraussetzung, um orofaziale Dysfunktionen – wie oben<br />
beschrieben – wirkungsvoll zu therapieren [4].<br />
Der Entwöhnungssauger Stoppi ist ein Ersatz für schädliche Lutschgegenstände<br />
mit grazilen Aufbissschienen – aber ohne den deformierenden<br />
Fremdkörper, der bei allen üblichen Saugern zwischen den<br />
Schneidezähnen liegt. Nach dem zweiten Lebensjahr lassen sich mithilfe<br />
des Entwöhnungssaugers Lutschgewohnheiten am Beruhigungssauger<br />
oder an der Dauernuckelflasche abbauen und damit frühzeitig<br />
die Entstehung von Kieferanomalien verhindern (Abb. 1) [4].<br />
Der Infant-Trainer kann ab dem vierten Lebensjahr ebenfalls im<br />
Milchgebiss eingesetzt werden (Abb. 2). Mit seiner Hilfe können Lutschgewohnheiten<br />
abgebaut und bei vorliegender Mundatmung auf<br />
gesunde Nasenatmung umgestellt werden. Eingearbeitete Luftfedern<br />
sollen ein sanftes Training der Kiefer- und Gesichtsmuskulatur<br />
bewirken und der Zunge durch eine stimulierende Zungenlasche<br />
zu einer korrekten Lage in Ruheposition und beim Schlucken am vorderen<br />
Gaumenabschnitt verhelfen. Das Kind wird damit zum Kauen<br />
unter Einsatz der Kaumuskulatur angeregt [4].
Der Position Trainer (Abb. 3) ist im frühen Wechselgebiss für Kinder<br />
ab sechs Jahren indiziert. Er unterstützt ebenfalls die korrekte<br />
Zungenruhelage, führt zur Nasenatmung und fördert den Mundschluss.<br />
Der Position Trainer hält den Zungen-, Lippen- und Wangen<strong>dr</strong>uck<br />
von den Zähnen und steuert den Zahndurchbruch bleibender<br />
Zähne [4].<br />
Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ist die Bedeutung<br />
der interdisziplinären Diagnostik und Behandlung von Kindern mit<br />
orofazialen Dysfunktionen deutlich geworden. Folglich müssen Vorsorgeuntersuchungen<br />
zur Zahngesundheit die kieferorthopädische<br />
Befunderhebung und Analyse des funktionellen Status mit einschließen<br />
[13].<br />
Zur Vereinfachung und Förderung der Kommunikation der unterschiedlichen<br />
Fachdisziplinen hat die Autorin gemeinsam mit Dr. An<strong>dr</strong>ea<br />
Barth (Zahnärztin, Hannover) einen Kommunikationsbogen für<br />
Eltern zur Vorlage bei Ärzten oder Therapeuten entwickelt.<br />
Ziel des Kommunikationsbogens ist es, dass jeder „Kommunikationspartner“<br />
einen schnellen Überblick über die Entwicklung<br />
des Kindes erhält und zusätzlich einen Blick über die eigene Fachdisziplin<br />
hinaus bekommt. Dieser kann per Mail bei der Autorin angefordert<br />
werden.<br />
Zur Erlangung eines orofazialen Muskelgleichgewichts können<br />
Zahnärzte und Kieferorthopäden Sprachtherapie zum Beispiel mit<br />
der Diagnose „Viszerales Schluckmuster“ und/oder „Störungen der<br />
Artikulation“ (SP3) auf Muster 16 verordnen.<br />
Orofaziale Dysfunktionen sollten bereits im Milchgebiss behandelt<br />
werden, um den daraus resultierenden Dysgnathien und Sprechstörungen<br />
vorzubeugen oder sie zu reduzieren [4]. „Wird nicht früh<br />
genug eingegriffen, nehmen Häufigkeit und Schwere der Zahnfehlstellungen<br />
sogar noch zu. Rund 75 Prozent aller Zahnfehlstellungen<br />
sind durch Angewohnheiten mitbedingt, also nicht nur angeboren,<br />
und daher im Rahmen der Frühbehandlung gut zu beeinflussen“<br />
[15].<br />
Will man der Forderung nach „präventionsorientierter (Zahn-) Medizin“<br />
gerecht werden, darf es nicht sein, dass orofaziale Dysfunktionen<br />
nicht behandelt werden, um einen richtlinienkonformen Behandlungsbedarfsgrad<br />
und damit die Kostenübernahme durch die<br />
Krankenkasse zu erreichen [4]. Zur Reduzierung späterer Kosten<br />
besteht hier <strong>dr</strong>ingender Handlungsbedarf sowohl der Krankenkassen<br />
als auch des Bundesausschusses: In den GKV-Leistungskatalog<br />
sollten mehr präventive Maßnahmen als bisher aufgenommen<br />
und die Einschränkung der Frühbehandlung aufgehoben werden<br />
[4].<br />
Abb. 1: Ab dem <strong>dr</strong>itten Lebensjahr können mit dem Silikon-<br />
Entwöhnungssauger Stoppi Lutschgewohnheiten abtrainiert<br />
werden.<br />
Abb. 2: Ab dem vierten Lebensjahr eignet sich der MRC-Infantneu<br />
zur Behandlung von Mundatmung, offener Mundhaltung<br />
und Lutschgewohnheiten.<br />
Ulrike Kopp, Akademische Sprachtherapeutin,<br />
Abb. 3: Der MRC-PT1 kann ab dem sechsten Lebensjahr beziehungsweise<br />
im frühen Wechselgebiss therapiebegleitend<br />
eingesetzt werden.<br />
Fotos: Prof. Hinz, Herne