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Full text (pdf) - von Katharina Mommsen

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N eophilologus<br />

Driemaandelijks tijdschrift<br />

voor de wetenschappelijke beoefening van<br />

levende vreemde talen en van hun letterkunde<br />

en voor de studie van de klassieke talen<br />

in hun verband met de<br />

moderne<br />

*<br />

J. B. WOLTERS-GRONINGEN<br />

1966


Reviews 153<br />

Mia I. Gerhardt, The Art of Story-telling. A literary study of the Thousand and<br />

One Nights. Leiden, 1963, xii + 500 pages, cloth Gld. 52,-.<br />

Seit die Sammlung <strong>von</strong> 1001 Nacht vor zweieinhalb Jahrhunderten in Europa<br />

heimisch wurde, zog dieses Hauptwerk orientalischer Erzählkunst unzählige<br />

Leser in seinen Bann. Bestimmte Motive und Lieblingsgestalten aus 1001 Nacht<br />

erobern meist schon <strong>von</strong> Kindheit an ihren festen, nie wieder aufgegebenen<br />

Platz in der Einbildungskraft. Darüber hinaus übt das arabische Sammelwerk<br />

einen noch unübersehbareren indirekten Einfluß aus dadurch, daß Dichter und<br />

Schriftsteller vieler Länder und Epochen sich seiner mit Vorliebe als Quelle der<br />

Inspiration bedienen. Angesichts dieser ungewöhnlich großen Wirkung des<br />

Werks ist es erstaunlich, wie wenig bisher <strong>von</strong> seiten der Literaturwissenschaft<br />

geschehen ist, um das Phänomen 1001 Nacht genauer unter die Lupe zu nehmen.<br />

Verglichen etwa mit dem Bemühungen der Homer-Forschung wurde<br />

bisher kaum etwas getan, um die Geheimnisse der erzählerischen Mittel und<br />

der literarischen Qualität <strong>von</strong> 1001 Nacht aufzuhellen. Eine literar-kritische<br />

Untersuchung mit der Zielsetzung, den Strukturgesetzen des Werks nachzuspüren<br />

und 1001 Nacht gleichsam <strong>von</strong> innen her zu beleuchten, fehlte bislang.<br />

Diese Lücke der Forschung wird nun durch Mia I. Gerhardts Buch geschlossen.<br />

Es setzt zunächst in Erstaunen, daß eine Nicht-Arabistin eine solche Aufgabe<br />

in Angriff genommen und ihre Untersuchungen lediglich auf Grund <strong>von</strong><br />

europäischen lool-Nacht-Übersetzungen durchgeführt hat. Doch die <strong>von</strong> der<br />

Verf. angeführten Argumente - die klare Trennung ihrer literarkritischen AufgabensteIlung<br />

<strong>von</strong> jeder literarhistorischen, nur <strong>von</strong> Orientalistenseite durchführbaren<br />

Arbeit - sind durchaus plausibel; und vollends schwinden etwaige<br />

Zweifel an der Berechtigung oder Fruchtbarkeit ihres Unternehmens angesichts<br />

der vielen überzeugenden Resultate des Buches. Im übrigen bedient sich<br />

M.G. überall dort, wo sie für ihre Untersuchung der literarhistorischen Information<br />

bedarf, der <strong>von</strong> Seiten der orientalistischen Fachwissenschaft geleisteten<br />

Arbeit als Grundlage.<br />

Jede lool-,Nacht-Erzählung ruft Fragen hervor nach dem Wann und Wo<br />

ihrer Entstehung, Fragen der Priorität, der Echtheit etc. Für den Literaturkritiker<br />

sind solche literarhistorischen Fragen nicht unbedingt <strong>von</strong> Wichtigkeit.<br />

Er fragt auch nicht danach, was 1001 Nacht for ein ursprüngliches Publikum<br />

bedeutete, sondern er denkt an den normalen europäischen Leser. Er betrachtet<br />

das Werk als eine Sammlung lebendiger Geschichten, mit denen es<br />

einen unmittelbaren Kontakt herzustellen gilt. Es geht ihm um die Erzählungen<br />

selbst, um das Buch als literarische Leistung, als Kunstwerk.<br />

Da es keinen "Kanon" gibt, mit dessen Hilfe man "echte" und "unechte"<br />

lool-Nacht-Erzählungen unterscheiden könnte, beschloß M.G. die Frage,<br />

welche Erzählungen sie in ihrem Buch behandeln solle, dadurch zu lösen, daß<br />

sie die Littmannsche Übersetzung zugrunde legte. Dieser Entscheidung ging<br />

eine gründliche Beschäftigung mit den anderen wichtigsten Übersetzungen voraus,<br />

deren Ergebnisse in einer umfangreichen, hochinteressanten Charakteristik<br />

festgehalten werden. In der Geschichte der lool-Nacht-Übersetzungen<br />

fehlt es nicht an skandalösen Vorgängen: so beruft Habicht sich auf eine Tunesische<br />

Handschrift, die niemals existiert hat. Burton plagiiert die Paynesche<br />

Übersetzung, und Mardrus schmuggelt Erotica eigener Fabrikation in die Erzählungen<br />

ein. Der Hang zum Abenteuerlichen und Unseriösen spielt bei den


154 Reviews<br />

roor-Nacht-Übersetzern eine erstaunlich große Rolle. Über alle diese Vorgänge<br />

wird man hier informiert.<br />

Vielleicht hätte im Zusammenhang mit den Übersetzungsfragen die Tatsache<br />

nicht so ohne weiteres hingenommen werden sollen, daß Littmann bei<br />

fünf Erzählungen <strong>von</strong> seinem Prinzip der möglichst originalgetreuen Wiedergabe<br />

in befremdlicher Weise abgewichen ist. In diesen fünf Fällen sind die Erzählungen<br />

einzig durch Galland überliefert, Originalmanuskripte fehlen. Statt<br />

nun Gallands Text zugrunde zu legen, folgt Littmann Burtons Wiedergabe<br />

einer indischen, mit allerlei Zutaten versehenen Rückübersetzung aus Galland.<br />

Vom philologischen Standpunkt aus ist das kaum begreiflich. Die Fälle sind<br />

darum <strong>von</strong> Bedeutung, weil es sich um einige der literarisch wertvollsten 1001-<br />

Nacht-Geschichten handelt.<br />

Grundsätzliche Erörterungen erfährt die Frage nach dem Autor bzw. den<br />

Autoren des Werks. 1001 Nacht ist eine Sammlung, die planlos wuchs, bis die<br />

ersten Editionen ihr eine mehr oder weniger organisierte oder zufällige Form<br />

gaben. Eine große Schar anonymer Autoren war dabei am Werk. Auf die"Schöpfer"<br />

<strong>von</strong> Geschichten, folgten die "Erzähler", die "Redaktoren", die "Kompilatoren",<br />

die "Übersetzer". Sie alle haben zusammengewirkt; was die 6 Bände<br />

der Littmannsehen Übersetzung darbieten, ist das Endprodukt eines über tausendjährigen<br />

Wachstumsprozesses. Um den Aufbau der Sammlung zu verdeutlichen,<br />

teilt die Verf. sie zunächst in drei große <strong>von</strong>einander unterscheidbare<br />

Blöcke auf, an denen sie zeigt, wie die Redaktoren des Werks die Fülle des<br />

Stoffs zu organisieren versuchten. Weiterhin gibt es auch innerhalb dieser<br />

Blöcke deutliche Anzeichen für ein bewußtes Organisieren der Sammlung.<br />

Die Erzählungen werden nach den verschiedensten Gesichtspunkten klassifiziert:<br />

nach formalen Kriterien (Kürze, Länge . .. ) und nach inhaltlichen Gesichtspunkten<br />

(Themen, Leitmotive ... ). Die Hauptelemente und Merkmale<br />

jeder Geschichte werden gründlich untersucht, Typen und Gruppen zusammengestellt.<br />

Das zentrale Kapitel behandelt den Stoff der Geschichten. Die<br />

Liebesgeschichten der Sammlung werden unterteilt in vier Gruppen: persische,<br />

früharabische, Liebesgeschichten aus Bagdad und ägyptische Liebesgeschichten,<br />

wobei interessante typologische und qualitative Unterschiede zutage treten.<br />

Auch die Kriminalgeschichten werden in vier Gruppen eingeteilt: Detektivgeschichten,<br />

Geschichten, die über Verbrechen berichten, Räubergeschichten<br />

und Gaunergeschichten. Wenn sich <strong>von</strong> 1001 Nacht insgesamt sagen läßt,<br />

daß diese Sammlung die Interessen und Vorlieben einer städtischen, kaufmännischen,<br />

erträglich geordneten und kulturell gereiften Gesellschaft widerspiegelt,<br />

so bilden hier die Kriminalgeschichten keine Ausnahme. Sogar <strong>von</strong> ihnen<br />

gilt, daß sie Abstoßendes und Schockierendes vermeiden und grundsätzlich für<br />

Ordnung und Anstand plädieren. Auf die Sichtung der Reisegeschichten folgt<br />

eine Untersuchung der Märchenerzählungen. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten<br />

Meinung, daß 1001 Nacht eine Märchensammlung sei, stellt die Verf.<br />

fest, daß es in der Sammlung nur 47 Geschichten gibt, die ihrer Definition vom<br />

Märchen entsprechen. Als letzte Gruppe werden unter den Stichworten Gelehrsamkeit,<br />

Weisheit und Frömmigkeit fast hundert kurze und sehr kurze<br />

Stücke verschiedener Natur zusammengestellt. Hier steht die Tendenz, in<br />

moralischer, religiöser oder kultureller Hinsicht bildend zu wirken, im Vordergrund.<br />

Dabei ist aber auch die künstlerische Qualität <strong>von</strong> beträchtlichem Wert.<br />

Da 1001 Nacht nicht nur ein Geschichtenbuch, sondern auch ein Buch über


Reviews 155<br />

das Erzählen <strong>von</strong> Geschichten ist, wird in einem besonderen Kapitel auf die<br />

verschiedenen Methoden und Funktionen des Geschichtenerzählens hingewiesen.<br />

Da gibt es zunächst die indirekte Methode, wo eine Figur der Geschichte<br />

<strong>von</strong> den Abenteuern anderer Personen oder <strong>von</strong> Ereignissen in ihrem Leben erzählt,<br />

als sei sie Zeuge da<strong>von</strong> gewesen. Hierdurch wird diesen Ereignissen der<br />

Anschein <strong>von</strong> Wahrheit verliehen, der für die ernsthafte Literatur des arabischen<br />

Mittelalters eine conditio sine qua non war. Sodann gibt es den Typus der<br />

eingefügten Geschichte, der innerhalb der langen Erzählungen vorkommt. Hier<br />

wird der Handlungsablauf unterbrochen durch Erzählungen <strong>von</strong> Personen, die<br />

ein eigenes Erlebnis oder eine Geschichte zum besten geben, wodurch ein<br />

Kernpunkt der Hauptgeschichte aufgehellt oder einfach für Zeitvertreib gesorgt<br />

werden soll. Die eingefügten Geschichten sind viel kürzer als die Hauptgeschichte,<br />

und niemals liegt bei ihnen das eigentliche Gewicht. Solche eingefügten<br />

Geschichten - dem Erzähltypus nach vermutlich indischer Provenienz -<br />

kommen nur im ersten Teil <strong>von</strong> 1001 Nacht vor. Die meisten dieser Geschichten<br />

werden erzählt, um einen moralischen Rat zu erteilen. Sodann gibt es den<br />

Typus der eingerahmten Geschichten. Wie der Bilderrahmen das Bild, so umfaßt<br />

die Rahmengeschichte die "eingerahmte" Geschichte (oder deren mehrere),<br />

wobei die Rahmengeschichte selbst <strong>von</strong> kleinerem Umfang und untergeordnetem<br />

Interesse ist. Ihr Thema ist das Geschichtenerzählen als solches.Zu<br />

unterscheiden sind drei Arten <strong>von</strong> Rahmengeschichten : I. die unterhaltende,<br />

wo eine Figur eine Geschichte erzählt - oder es erzählen mehrere der Reihe<br />

nach -, um einen oder mehrere Zuhörer zu unterhalten. Die Rahmengeschichte<br />

schafft die rechte Stimmung für die eingerahmte Geschichte. 2. die zeitgewinnende<br />

Rahmengeschichte. Sie dient dazu, eine ausgedehnte Reihe <strong>von</strong> Geschichten<br />

aneinanderzufügen, um dadurch eine Hinrichtung oder ein anderes<br />

unheilvolles Ereignis aufzuschieben. Eine 3. Art <strong>von</strong> Rahmengeschichten hat<br />

"Lösegeld" -Charakter. Hier werden die eingerahmten Geschichten erzählt,<br />

um ein Menschenleben loszukaufen. Dabei sind in besonderem Maße ihre<br />

Qualität und der Geschmack der Zuhörer entscheidend. Wenn etwas imstande<br />

ist, lebendige Auswirkung und Macht großer Erzählkunst zu demonstrieren,<br />

so ist es diese Gruppe <strong>von</strong> 1001 -Nacht-Geschichten.<br />

Das letzte Kapitel ist einer gründlichen Sichtung des Harun-Cyklus gewidmet.<br />

Bibliographie und Index vervollständigen das Buch. Die Verf. hat ein<br />

außerordentlich umfangreiches Material bewältigt, und ihre Untersuchungen<br />

zeichnen sich aus durch imponierende Klarheit und Übersichtlichkeit - auch<br />

da noch, wo sie durch labyrinthische Gebiete führen muß. Man verdankt Mia<br />

Gerhardt eine grundlegende Arbeit. Mit ihrer Strukturuntersuchung gibt sie<br />

de facto mehr als nur eine Charakteristik und Systematik der IooI-Nacht-Geschichten,<br />

insofern als viele ihrer Feststellungen und Begriffsbestimmungen<br />

auch für weitere Bereiche der Erzählkunst fruchtbare Anwendung finden können.<br />

Ber/in.<br />

KATHARINA MOMMSEN.

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