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Reichtum spricht, so denkt er nicht an seine Vermehrung, Am ...

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9.<br />

Ab<strong>er</strong> die Zeìth¿t die Hofnung v<strong>er</strong>kehrt, statt ali<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Beute<br />

Bin ich, nach mühsam<strong>er</strong> Fahrt, nun mit d<strong>er</strong> Ruhe v<strong>er</strong>gnügt. -<br />

'V/as Goethe <strong>an</strong> diesen V<strong>er</strong>sen beeindruckte, waren vor allem<br />

folgencle Züge <strong>an</strong> dem Dicht<strong>er</strong>: r) V/enn Tograi von <strong>seine</strong>m<br />

<strong>Reichtum</strong> <strong>spricht</strong>, <strong>so</strong> <strong>denkt</strong> <strong>er</strong> <strong>nicht</strong> <strong>an</strong> <strong>seine</strong> V<strong>er</strong>mehrung,<br />

was bei allen wirklich Reichen die Haupt<strong>so</strong>rge at sein pflegt.<br />

<strong>Am</strong> <strong>Reichtum</strong> und <strong>seine</strong>m Erw<strong>er</strong>ben int<strong>er</strong>essi<strong>er</strong>t Tograi<br />

üb<strong>er</strong>haupt nur, daß <strong>er</strong> die Möglichkeit gibt, ihn <strong>an</strong> BedürÊ<br />

tige zu v<strong>er</strong>teilen. Infolgedessen ist sein <strong>Reichtum</strong> auch keineswegs<br />

un<strong>er</strong>meßlich groß, <strong>er</strong> z<strong>er</strong>geht rasch wie alle Güt<strong>er</strong> in<br />

<strong>seine</strong>m Leben. V/ie Tograi als >'W<strong>an</strong>d<strong>er</strong><strong>er</strong>< auf <strong>seine</strong>n <strong>Reichtum</strong><br />

zugunsten <strong>an</strong>d<strong>er</strong><strong>er</strong> v<strong>er</strong>zichtet, ähnelt <strong>er</strong> dem >w<strong>an</strong>d<strong>er</strong>ndentsagenden<<br />

Helden tn Wilhelm Meist<strong>er</strong>s Whnd<strong>er</strong>jahren, d<strong>er</strong>n<br />

Rom<strong>an</strong>, <strong>an</strong> dem Goethe noch arbeitete, als <strong>er</strong> sich mit Tograis<br />

Elegie beschäftigte. ,\llen <strong>Reichtum</strong> inn<strong>er</strong><strong>er</strong> Kultur,<br />

den \[/ilhelm in den Lehrjahren <strong>er</strong>worben hatte, v<strong>er</strong>wendet <strong>er</strong><br />

in den W<strong>an</strong>d<strong>er</strong>jahren rTrrr zu einem einzigen Ztel: <strong>an</strong>d<strong>er</strong>n zu<br />

helfen, <strong>nicht</strong> nur <strong>seine</strong>m Sohn, <strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n auch den hilfsbedürÊ<br />

tigen Freunden. z) A1s Dicht<strong>er</strong>, d<strong>er</strong> zu <strong>Reichtum</strong> gel<strong>an</strong>gt, ist<br />

Tograi ein singulãr<strong>er</strong> Fall. Dicht<strong>er</strong> sind im allgemeirlen arm.<br />

Schill<strong>er</strong> hatte gezetgt, wie sie bei d<strong>er</strong> >Teilung d<strong>er</strong> Erde< zu<br />

kurz kamen, wie sie statt dessen ab<strong>er</strong> inn<strong>er</strong>lich die Reichsten<br />

wllrden: sie ieben im Reich d<strong>er</strong> Träume und genießen die<br />

Gastfreundschaft des ob<strong>er</strong>sten d<strong>er</strong> Gött<strong>er</strong>. 3) V<strong>er</strong>schenkt ein<br />

reich<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong> alles, was <strong>er</strong> hat, <strong>so</strong> m<strong>an</strong>ifesti<strong>er</strong>t sich sein inn<strong>er</strong><strong>er</strong><br />

<strong>Reichtum</strong> auf ungewöhnliche V/eise. Mit diesem Zug gehört<br />

<strong>er</strong> ins L<strong>an</strong>d d<strong>er</strong> Legende. So mag Tograi Goethe <strong>an</strong> den<br />

Hl. Rochus <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>t haben, auf den <strong>er</strong> r8r4 aufm<strong>er</strong>ksam geworden<br />

war, den <strong>er</strong> r8ró in'V/ort uncl Bild fei<strong>er</strong>te. St. Rochus<br />

>teilte alle sein <strong>er</strong><strong>er</strong>btes V<strong>er</strong>mögen unt<strong>er</strong> die Armen aus< und<br />

trat d<strong>an</strong>ach >völlig ausgebeutelt< <strong>seine</strong> rPilg<strong>er</strong>schaft< <strong>an</strong>.1<br />

V/ie Goethe das Bild Tograis im achten und neunten Distichon<br />

entgegentrat, behielt <strong>seine</strong> Charakt<strong>er</strong>istik >d<strong>er</strong> reich-<br />

1 WA r r+', zgf.; WA t 36, ro4.<br />

559


iichst Lebende von allen Dicht<strong>er</strong>n< ihre inn<strong>er</strong>e !üahrheit,<br />

âuch wenn m<strong>an</strong> sie im Sinne von >reich< nimmt. Die Stelle<br />

bezeugt äuß<strong>er</strong>en und inn<strong>er</strong>en <strong>Reichtum</strong>, beide wirken sich<br />

bei Tograi im Leben aus. Tograis Freigebigkeit, in d<strong>er</strong> d<strong>er</strong><br />

inn<strong>er</strong>e <strong>Reichtum</strong> <strong>nicht</strong> nur des Dicht<strong>er</strong>s, <strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n auch des<br />

Menschen h<strong>er</strong>vortritt, ließ Goethe <strong>an</strong> die Parallelisi<strong>er</strong>ung mit<br />

dem sprichwörtlich freigebigen Harem Thai denken. Freigebig<br />

wie ein Heilig<strong>er</strong> - gemäß Goethes V<strong>er</strong>gleich mit St. Georg<br />

- ist <strong>nicht</strong> wenig<strong>er</strong> als d<strong>er</strong> >alies gebende< Hatem Thai<br />

d<strong>er</strong> all <strong>seine</strong>n <strong>Reichtum</strong> v<strong>er</strong>schenkende Dicht<strong>er</strong> Tograi. Zu<br />

v<strong>er</strong>muten ist, daß die von Tograis <strong>Reichtum</strong> und Freigebigkeit<br />

sprechenden Distichen Goethe zu<strong>er</strong>st v<strong>er</strong>arllaßten, die<br />

Gestalt Tograis in <strong>seine</strong>m Namengebungsgedicht neben die<br />

Gestalt Hatem Thais zu stellen. Den Ged<strong>an</strong>ken, Tograi den<br />

Zunal:l'en Hatem zu geben - d<strong>er</strong> bei Hafis einen ùb<strong>er</strong> die Maßen<br />

Freigebigen bezeichnet -, dùrfte Goethe gleichfalls auf<br />

Grund dies<strong>er</strong> Distichen gefaßt haben.<br />

TOGRÀI_REMINISZENZEN BEI GOETHE<br />

UND MARIANNE_SULEIKA<br />

V/ie das Gedicht, in dem Tograi als Namensparron für Hatem<br />

auftritt, von einem prägn<strong>an</strong>ten Täge stammt - dem <strong>er</strong>sren<br />

Täg d<strong>er</strong> Rheinreise r 8 r j -, <strong>so</strong> bezieht sich gleichfalls auf<br />

einen prägn<strong>an</strong>ten Tag eine d<strong>er</strong> beiden Nied<strong>er</strong>schriften, in denen<br />

Goethe V<strong>er</strong>se von Tograi ziti<strong>er</strong>t, die Freunde im Glauben<br />

lassend, sie stammten von ihm. Rosine Städel,'Willem<strong>er</strong>s älteste<br />

Tocht<strong>er</strong>, schwârm<strong>er</strong>ische V<strong>er</strong>ehr<strong>er</strong>in Goethes, hatte für<br />

die Fei<strong>er</strong> von Goethes Geburtstag in Fr<strong>an</strong>kfurt r8r5 eine<br />

Zeichnung <strong>an</strong>gef<strong>er</strong>tigt rnit d<strong>er</strong> Aussicht von Goethes Fenst<strong>er</strong><br />

in d<strong>er</strong> G<strong>er</strong>b<strong>er</strong>mühle auf Fr<strong>an</strong>kfurt. Goethe ließ die Zeichnung<br />

in '$/eimar v<strong>er</strong>viel*iltigen. (Jnt<strong>er</strong> ein von ihm nach<br />

Fr<strong>an</strong>kfurt ges<strong>an</strong>dtes Exemplar setzte <strong>er</strong> die Unt<strong>er</strong>schrift:<br />

56C'


Ais die Tage noch wuchsen, gefiel das Leben mir wcnig<br />

Nun, abnehmend mit Eil', könnten gefailen sie mir.<br />

Zum Gedenken des 28. August r B r 5. Goethe .<br />

Die V<strong>er</strong>se stehen wörtlich <strong>so</strong> in Tograis Lamijat als Distichon<br />

40 d<strong>er</strong> Knebelschen Üb<strong>er</strong>setzung. Goethe w<strong>an</strong>delt ab<strong>er</strong> ihren<br />

Sinn durch absichtsvolle V<strong>er</strong>änd<strong>er</strong>ung eines Satzzeichens.<br />

Tograis ¡o. Distichon enthãlt eine tief schm<strong>er</strong>zliche Retlexion,<br />

d<strong>er</strong> Hauptstimmung des g<strong>an</strong>zen Gedichts entsprechend:<br />

im ,{lt<strong>er</strong> ist das Leben womöglich noch schw<strong>er</strong><strong>er</strong> zu<br />

<strong>er</strong>tragen als in d<strong>er</strong> Jugend. Das hi<strong>er</strong>auf deutende ironische<br />

Fragezeichen am Ende des Distichons änd<strong>er</strong>t Goethe in einen<br />

Punkt, wodurch sich die Pointe <strong>er</strong>gibt: das Leben, das mir in<br />

d<strong>er</strong>_]ugend mißfiel,_jetzt im Alt<strong>er</strong> könnte es mir gefallenl Indem<br />

Goethe <strong>so</strong> aus den 'Worten Tograis ein selbständiges<br />

Epigramm mit eigenwillig<strong>er</strong> Deutung formt, <strong>er</strong>hält <strong>er</strong> das<br />

<strong>seine</strong>n Absichten Entsprechende, eine D<strong>an</strong>ksagung mit<br />

orientalisi<strong>er</strong>endem Hint<strong>er</strong>grund, g<strong>er</strong>ichtet <strong>an</strong> die Fr<strong>an</strong>kfurt<strong>er</strong><br />

Freunde, die r8r5 <strong>seine</strong>n Geburtstag mit ihm fei<strong>er</strong>ten, g<strong>er</strong>ichtet<br />

natürlich vor allem <strong>an</strong> Mari<strong>an</strong>ne V/illem<strong>er</strong> als d<strong>er</strong><br />

Spend<strong>er</strong>in neu<strong>er</strong> Lebensfreude im Alt<strong>er</strong>.<br />

Obwohl die V<strong>er</strong>se <strong>nicht</strong> von Goethe stammten, <strong>so</strong> lag<br />

doch eine Pik<strong>an</strong>t<strong>er</strong>ie darin, daß sie denselben Ged<strong>an</strong>ken<br />

brachten, den <strong>er</strong> selbst schon einJahr zuvor in einem Gedicht<br />

des West-östlichen Diu<strong>an</strong>s sehr ähnlich ausgesprochen hate.<br />

Im Dezemb<strong>er</strong> r814 waren die folgenden, durch Hafis <strong>an</strong>g<strong>er</strong>egten<br />

V<strong>er</strong>se entst<strong>an</strong>den, die gleichfalls auf die Klage hinausliefen:<br />

das Leben <strong>er</strong>füllt gewisse V/ünsche <strong>er</strong>sr im Alt<strong>er</strong>, wenn<br />

es eigentlich zu spät ist:<br />

!7<strong>er</strong> wird von d<strong>er</strong> Welt v<strong>er</strong>l<strong>an</strong>gen<br />

'V/as sie selbst v<strong>er</strong>mißt und träumet,<br />

Rückwärts od<strong>er</strong> seitwärts blickend<br />

Stets dcn Täg des 'Iags v<strong>er</strong>sãumet?<br />

Ihr Be mühn, ihr gut<strong>er</strong> Wille<br />

5<br />

Hinkt nur nach dem raschen Leben,<br />

tJnd was du vorJahren brauchtest,<br />

Möchte sie dir heute geben.<br />

jór


Bei dem Gedicht dachte Goethe zurück <strong>an</strong> <strong>seine</strong>n früh<strong>er</strong>en<br />

Aufenthalt in Fr<strong>an</strong>kfurt-Heidelb<strong>er</strong>g von r814, <strong>so</strong> wie <strong>er</strong> mir<br />

dem Tograi-Epigramm von r 8 r 5 die Essenz des letzten Somm<strong>er</strong>s<br />

mit den Fr<strong>an</strong>kfurt<strong>er</strong> Freunden preist. D<strong>er</strong> K<strong>er</strong>nged<strong>an</strong>ke<br />

ist beidemal d<strong>er</strong> gleiche: dem alt<strong>er</strong>nden Dicht<strong>er</strong> gewährt das<br />

Leben nun, wâs es ihm in <strong>seine</strong>n bestenJahren v<strong>er</strong>weig<strong>er</strong>te:<br />

eine menschliche Umgebung, die zur Neu- und Wied<strong>er</strong>geburt<br />

<strong>seine</strong>s Schaffens stimuli<strong>er</strong>t. Seit sein<strong>er</strong> Rückkehr von<br />

Rom 1788, wo Goethe einmal einen <strong>so</strong>lchen dicht<strong>er</strong>ischen<br />

Aufschwung empf<strong>an</strong>gen hatte, suchte <strong>er</strong> v<strong>er</strong>geblich nach ein<strong>er</strong><br />

\Vied<strong>er</strong>holung. Sie wurde ihm ab<strong>er</strong> auf d<strong>er</strong> <strong>er</strong>sren Rhein/<br />

Mainreise zuteil durch die Begegnung mit Hafis und Mari<strong>an</strong>ne.<br />

D<strong>an</strong>ach konnte <strong>er</strong> seit r8r4 aIs Diu<strong>an</strong>-Dicht<strong>er</strong> sagen:<br />

rlch war wie neu geboren.


üb<strong>er</strong> ihre V<strong>er</strong><strong>an</strong>lassung hat m<strong>an</strong> keine Information. Doch lassen<br />

sich aus dem Inhalt, vor allem ab<strong>er</strong> aus d<strong>er</strong> benachbarten<br />

Stellung d<strong>er</strong> beiden Distichen 39 und 4o gewisse Schlüsse<br />

ziehen. Wie Goethe in Distichon 4o s e i n e Lebenssituation gespiegelt<br />

sah, <strong>so</strong> f<strong>an</strong>d Mari<strong>an</strong>ne die i h r e vorgezeichnet in Distichon<br />

39. Für die Liebe Suleikas zu Flatem gab es keine Erfüllung,<br />

<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n nur weite Hoffnung. (kn Div<strong>an</strong> v<strong>er</strong>eint <strong>er</strong>st das<br />

Paradies die beiden.) Daß in dem V/<strong>er</strong>k eines orientalischen<br />

Dicht<strong>er</strong>s vi<strong>er</strong> aufein<strong>an</strong>d<strong>er</strong> folgende V<strong>er</strong>se als richtungweisend<br />

<strong>er</strong>scheinen konnten für das Leben beid<strong>er</strong>, Hatems wie auch<br />

Suleikas, dürfte Goethe frappi<strong>er</strong>t haben. Es lag nahe, Mari<strong>an</strong>ne<br />

mit diesen V<strong>er</strong>sen bek<strong>an</strong>nt zu machen. Für das ihr<br />

Schicksal bezeichnende Distichon 39 faßte Mari<strong>an</strong>ne eine begreifliche<br />

Vorliebe. Das mag Goethe irgendw<strong>an</strong>n v<strong>er</strong><strong>an</strong>laßt<br />

haben, es für sie aufzuschreiben. Tograis Distichon 39 {<strong>an</strong>d<br />

sich noch auf ein<strong>er</strong> Ge<strong>denkt</strong>afel von V/illem<strong>er</strong>s >Mühlb<strong>er</strong>g-<br />

Häuschen< biszu dessenZ<strong>er</strong>störung imKrieg r944. M<strong>an</strong>hieit<br />

jene V<strong>er</strong>se für Goethesche. Mari<strong>an</strong>ne wahrte das Geheimnis<br />

d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>fass<strong>er</strong>schaft; korrekt<strong>er</strong>maßen schloß Goethe auchjene<br />

Tograi-V<strong>er</strong>se in d<strong>er</strong> Knebelschen Üb<strong>er</strong>tragung aus <strong>seine</strong>n<br />

\X/<strong>er</strong>ken aus. Als r825, al<strong>so</strong> noch zu Lebzeiten Goethes, ein<br />

unrechtmáßig<strong>er</strong> Druck Tograis Distichen 3 9 und 4o als <strong>an</strong>geblich<br />

Goethesche Gedichte druckte und beide hint<strong>er</strong>ein<strong>an</strong>d<strong>er</strong><br />

stellte, b<strong>er</strong>uhte das gewiß auflokalen Fr<strong>an</strong>kfurt<strong>er</strong>Mutmaßungen,<br />

wo m<strong>an</strong> im Freundeskreis d<strong>er</strong>'V/illem<strong>er</strong>s etwâs von d<strong>er</strong><br />

inn<strong>er</strong>en Zusammengehörigkeit d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>se und ihr<strong>er</strong> Bedeutung<br />

für Mari<strong>an</strong>ne und Goethe gehört od<strong>er</strong> gemunkelt hatte.<br />

Mari<strong>an</strong>ne spielt in ihren Briefen <strong>an</strong> Goethe auf Tograis<br />

Distichon 39 <strong>an</strong>, wenn sie den Freund be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>s nachdrücklich<br />

<strong>an</strong> ihre Hoffnung <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>t, ihn irgendw<strong>an</strong>n doch noch<br />

einmal zu einem Besuch in Fr<strong>an</strong>kfurt zu bewegen. In d<strong>er</strong> dicht<strong>er</strong>ischen<br />

Prosa ihr<strong>er</strong> Briefe bedient sie sich d<strong>er</strong> Tograischen<br />

'[/endungen als ein<strong>er</strong> Art Geheimsprache - ein Nachspiel zu<br />

d<strong>er</strong> Zeit d<strong>er</strong> Chiff<strong>er</strong>nbriefe, als rFlatem< und >suleika< sich<br />

durch Bezeichnung von Hafis-Stellen mitein<strong>an</strong>d<strong>er</strong> v<strong>er</strong>ständigten.<br />

Mitte,{.pril r8zr schreibt sie:<br />

Jó3


So wie die Natur aus ihrem l<strong>an</strong>gen V/int<strong>er</strong>schiafe <strong>er</strong>wachen will<br />

und d<strong>er</strong> <strong>er</strong>ste Athemzug das Erwachen von tausend Keimen und<br />

Leben zur Folge hat, <strong>so</strong> fàngt auch die Hoffnung sich <strong>an</strong> zu ¡egen,<br />

und l<strong>an</strong>g gcnährte und heimlich gepflegte Wünsche scheinen<br />

aús dem Schiafe <strong>er</strong>wachen zu wollen und bewegen von<br />

neucm das beschwichtigte H<strong>er</strong>z, wie denn üb<strong>er</strong>haupt d<strong>er</strong> Frühling<br />

die Jahrszeit d<strong>er</strong> Hoffnungen ist; ob d<strong>er</strong> Somn<strong>er</strong> die Blüte<br />

zur Reife und d<strong>er</strong> H<strong>er</strong>bst die Frucht bringt, das wird dte Zett<br />

lehren.l<br />

Als Goethe im Somm<strong>er</strong> r8z3 nach Marienbad und Karlsbad<br />

ging, statt, wie Mari<strong>an</strong>ne gehofft hatte, Fr<strong>an</strong>kfurt zu besuchen,<br />

schrcibt sie:<br />

Ich hoffte von einem Täg zum <strong>an</strong>d<strong>er</strong>n, . . . und es wird uns leicht<strong>er</strong>,<br />

eine fehlgeschlagene Hoffnung zu <strong>er</strong>tragen, wenn wir bedenken,<br />

wie viel d<strong>er</strong> Freund bei dem Tausch gew<strong>an</strong>n. [Auf Goethes<br />

crfolgreiche Kur in Böhmen bezüglich.] Doch ist [es] eine<br />

eigene Geschichte mit dem Aufgeben, und wenn ich schon früh<strong>er</strong><br />

mein H<strong>er</strong>z besänftigte, mit sülJ<strong>er</strong> Hoffnung ihm schmeichelnd<br />

[!1, <strong>so</strong> fehlt auch d<strong>er</strong> Nachsatz <strong>nicht</strong>: r¡Kurz ist das Lebeir<br />

fürwahr, ab<strong>er</strong> die Hoffnung ist l<strong>an</strong>g!< und ich k<strong>an</strong>n trotz allen<br />

Gründcn das wid<strong>er</strong>spenstige Wesen <strong>nicht</strong> dahin bringen, daß es<br />

schweigt und auf das nächsteJahr hofft-2<br />

AchtJahre wâren v<strong>er</strong>strichen, seit Mari<strong>an</strong>ne zum letztenmal<br />

mit Goethe gesprochen hatte. 'V/enn sie nach <strong>so</strong> l<strong>an</strong>g<strong>er</strong> Zeit<br />

noch Tograis 39. Distichon ziti<strong>er</strong>en k<strong>an</strong>n in d<strong>er</strong> Gewißheit,<br />

Goethe damit eine v<strong>er</strong>trauliche Botschaft zu sâgen, ist <strong>an</strong>zuneirmen:<br />

die V<strong>er</strong>se müssen in Gesprächen mit Goethe r8r5<br />

eine zentrale Rolle gespielt haben. Nun beweist ab<strong>er</strong> eine<br />

weit<strong>er</strong>e Anspielung auf eine Tograi-Stelle - Distichon z3 - in<br />

demselben Brief, den wir eben zíti<strong>er</strong>ten, daß Mari<strong>an</strong>ne und<br />

Goethe die gesamten Lamijat Tograis zusammen lasen, <strong>nicht</strong><br />

etwâ nur die von Goethe nied<strong>er</strong>geschriebenen Distichen 39<br />

und 4o. Es ist diese Anspielung Mari<strong>an</strong>nes auf Distichon z3<br />

zugleich ein sich<strong>er</strong>es Zeugnis dafür, daß Goethe die Knebelsche<br />

Tograi-Üb<strong>er</strong>setzung auf d<strong>er</strong> Reise r8r5 mit sich führte.<br />

1 Mari<strong>an</strong>ne und Joh<strong>an</strong>n JaÞob Mllemcr. Briefwethsel mít Coethe. Hg. von<br />

H<strong>an</strong>s-J.Weitz. Fr<strong>an</strong>kfurt a.M. I9ó5, S. logf.; vgl. dazu Weitz S. 4or.<br />

2 Ebd. S. 143; dcr ßrief stammt etwa vom zo" Sept. i823.<br />

s64


Zum V<strong>er</strong>ständnis d<strong>er</strong> betreffenden Stelle in Mari<strong>an</strong>nes<br />

Brief ist <strong>an</strong> folgendes zu <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>n. Während Goethes Aufenthalt<br />

in Fr<strong>an</strong>kfurt r8r4 wurde am r8. Oktob<strong>er</strong> die \[/ied<strong>er</strong>kehr<br />

d<strong>er</strong> Schlacht bei Leipzig nach Jahresfrist gefei<strong>er</strong>t. >Tausend<br />

und ab<strong>er</strong>tausend< Freudenfeu<strong>er</strong> leuchteten nachts von den<br />

Fr<strong>an</strong>kfurt umgebenden Hügeln - ein Schauspiel, das Goethe<br />

mit d<strong>er</strong> Familie V/illem<strong>er</strong> von d<strong>er</strong>en r>Türmchen auf dem<br />

Mühlb<strong>er</strong>g< genoß. Allen Beteiligten blieb d<strong>er</strong> Âbend unv<strong>er</strong>geßlich:<br />

oSooft fort<strong>an</strong> die Feu<strong>er</strong>zeichen des achzehnten Oktob<strong>er</strong>s<br />

d<strong>an</strong>kbar zum Himmel lod<strong>er</strong>n, ge<strong>denkt</strong> ein klein<strong>er</strong><br />

Kreis gut<strong>er</strong> Menschen eines unv<strong>er</strong>geßlichen Abends. Mögen<br />

doch auch Sie sich zuweilen wohlwoliendjenes Abends <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>n.(<br />

(Rosine Städel in Goethes Stammbuch, 9. Dezemb<strong>er</strong><br />

r8l4). Goethe und Mari<strong>an</strong>ne gedenken des r8. Oktob<strong>er</strong>s imm<strong>er</strong><br />

wied<strong>er</strong> in ihren Briefen. Die Feu<strong>er</strong> auf den Hügeln wurden<br />

ihnen zu ein<strong>er</strong> bildhaft symbolischen Erinn<strong>er</strong>ung <strong>an</strong> den<br />

Beginn ihr<strong>er</strong> Liebe.<br />

Als Goethe im April r8r5 Tograis Lamijat kennenl<strong>er</strong>nre,<br />

traf <strong>er</strong> darin auf folgende Stelle, die ihm in üb<strong>er</strong>raschend<strong>er</strong><br />

V/eise die Szen<strong>er</strong>ie des r8. Oktob<strong>er</strong>s vor Augen brachte, wie<br />

<strong>er</strong> sie r814 in Fr<strong>an</strong>kfurt <strong>er</strong>lebt hatte:<br />

23.<br />

Liebesfeu<strong>er</strong> durchnachtet von ihr [dem redlen Weib


grai-Knebel-M<strong>an</strong>uskript vor allem um dies<strong>er</strong> Stelle willen<br />

mit auf die Reise. Jedenfalls spielt Mari<strong>an</strong>ne auf das Distichon<br />

z3 <strong>an</strong>in demselben Brief, d<strong>er</strong> auch die Ânspielung auf das 39.<br />

Distichon enthält. Im Anschluß <strong>an</strong> den oben ziti<strong>er</strong>ten Passus<br />

vom Septemb<strong>er</strong> r8z3 schreibt sie:<br />

Ich zweifle <strong>nicht</strong>, daß d<strong>er</strong> Rest des Septemb<strong>er</strong>s und d<strong>er</strong> Anf<strong>an</strong>g<br />

des Oktob<strong>er</strong>s g<strong>an</strong>z ìn den Somm<strong>er</strong> hinüb<strong>er</strong>spieien w<strong>er</strong>den, den<br />

wir eigentlich jetzt <strong>er</strong>st haben, und daß, wenn schon die Feu<strong>er</strong><br />

des r 8. Oktob<strong>er</strong>s [!] <strong>nicht</strong> mehr die vat<strong>er</strong>ländischen Be rge e rhellen,<br />

doch in den Augen und H<strong>er</strong>zen [] d<strong>er</strong> Bewohn<strong>er</strong>innen<br />

Fr<strong>an</strong>kfurts noch m<strong>an</strong>che stille Flamme brennt [l], die zu <strong>nicht</strong><br />

unint<strong>er</strong>essânten Beobachtungen aufzufbrd<strong>er</strong>n scheint.<br />

Wie Mari<strong>an</strong>ne hi<strong>er</strong> auf Tograis 'V/endureg >brennende H<strong>er</strong>zen(<br />

<strong>an</strong>spieit und ciies in V<strong>er</strong>binciung bringt mit den Feu<strong>er</strong>n<br />

des r8. Oktob<strong>er</strong>s r8r4 in Fr<strong>an</strong>kfurt, das <strong>so</strong>llte Goethe <strong>an</strong> das<br />

Tograi-Distichon z3 <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>n und <strong>an</strong> dessen mirakulöse<br />

Üb<strong>er</strong>einstimmung mit dem gemeinsam Erlebten. Goethe<br />

be<strong>an</strong>twortete Mari<strong>an</strong>nes Brief <strong>nicht</strong> mit einem Schreiben,<br />

<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n mit symbolischen Geschenken. Er s<strong>an</strong>dte ihr Eck<strong>er</strong>m<strong>an</strong>ns<br />

<strong>so</strong>eben <strong>er</strong>schienene Beyträge zur Poesie mit be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong><strong>er</strong><br />

Hinweisung auf Coethe und v<strong>er</strong>wies die Freundin auf die Seitenzahl,<br />

wo Eck<strong>er</strong>m<strong>an</strong>n Mari<strong>an</strong>nes Lied >,A.ch um deine<br />

feuchten Schwingen< aus dem Buch Suleika in vollem \X/ortlaut<br />

ziti<strong>er</strong>t und als charakt<strong>er</strong>istische Goethesche Kunstleistung<br />

gepriesen hatte. Dem Buch fùgte Goethe einen Kr<strong>an</strong>z,<br />

geflochten aus Zweigen von Myrte und Lorbe<strong>er</strong> hinzu, eine<br />

Ehrung; Mari<strong>an</strong>nes als Liebende und Dicht<strong>er</strong>in. (Lorbe<strong>er</strong> ist<br />

dem Apollo, Myrte d<strong>er</strong> Aphrodite heilig.) Das wichtigste<br />

Geschenk wâren begleitende V<strong>er</strong>se, die den Kr<strong>an</strong>z <strong>er</strong>klärten,<br />

vor allem ab<strong>er</strong> ausdrückten, wie tief Goethe von Mari<strong>an</strong>nes<br />

letztem Brief b<strong>er</strong>ührt war:<br />

Myrt und Lorbe<strong>er</strong> hatten sich v<strong>er</strong>bunden<br />

Mögen sie vielleicht gctrcnnt <strong>er</strong>scheinen,<br />

!üollen sie, gedenkend selig<strong>er</strong> Stunden,<br />

Hoffnungsvoll sich ab<strong>er</strong>mal v<strong>er</strong>einen.<br />

d. r8. Oktbr. r8zr.<br />

566


In dem Gedicht tauchen noch einmal Reminiszenzen <strong>an</strong> Tograi<br />

auf. Goethe spielt <strong>an</strong> auf das, was Mari<strong>an</strong>ne in ihrem<br />

Brief üb<strong>er</strong> das >l<strong>an</strong>ge Hoffen< sagte, das ihr Leben ausmacht<br />

(Tograis Distichon 39 ziti<strong>er</strong>end). Mit dem beziehungsvollen<br />

Datum des Gedichts und d<strong>er</strong>'V/endung >gedenkend selig<strong>er</strong><br />

Stunden< respondi<strong>er</strong>t Goethe auf Mari<strong>an</strong>nes Erinn<strong>er</strong>ung <strong>an</strong><br />

die >Feu<strong>er</strong> des r8. Oktob<strong>er</strong>s< (mit den r\nklängen <strong>an</strong> Disrichon<br />

z3). Goethe schrieb die V<strong>er</strong>se wirklich âm r8. Oktobcr<br />

r823, wie <strong>er</strong> auch <strong>an</strong> diesem Täge den Kr<strong>an</strong>z flocht.1 Als <strong>er</strong><br />

das Gedicht Å27 in <strong>seine</strong>'$/<strong>er</strong>ke aufnahm,2 ließ <strong>er</strong> das Datum<br />

fort, fügte ab<strong>er</strong> eine Erläut<strong>er</strong>ung hinzu, die vor d<strong>er</strong> Offentlichkeit<br />

Suleika als Dicht<strong>er</strong>in und Liebende pries: >Dieses Gedicht<br />

begleitete einen geschlungenen Lorbe<strong>er</strong> und Myrtenkr<strong>an</strong>zzurn<br />

Symbol eines wie Hatem und Suleika in Liebe und<br />

Dichtung wetteif<strong>er</strong>nden Paares. o3<br />

Mari<strong>an</strong>ne v. Willem<strong>er</strong> k<strong>an</strong>nte al<strong>so</strong> Tograis Lamijat in sein<strong>er</strong><br />

Gesamtheit, <strong>nicht</strong> nur die von Goethe abgeschriebenen<br />

Stellen. Für beide, Goethe und Mari<strong>an</strong>ne, hate das \X/<strong>er</strong>k eine<br />

l<strong>an</strong>g<strong>an</strong>haltende, geheime Bedeutung. Im Hinblick hi<strong>er</strong>auf<br />

v<strong>er</strong>dient <strong>er</strong>wähnt zu w<strong>er</strong>den, daß eins d<strong>er</strong> b<strong>er</strong>ühmtesten Gedichte<br />

aus dem Buch Suleika auf Motiven b<strong>er</strong>uht, die für den<br />

Dicht<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Lamijat be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>s charakt<strong>er</strong>istisch waren. ,\uch<br />

dies Gedicht ist mit einem prägn<strong>an</strong>ten Datum v<strong>er</strong>knüpft, es<br />

stammt von dem Täg, <strong>an</strong> dem Goethe und Mari<strong>an</strong>ne sich in<br />

Heidelb<strong>er</strong>g zum letztenmal sahen und für imm<strong>er</strong> vonein<strong>an</strong>d<strong>er</strong><br />

Abschied nahmen, vom 26. Septemb<strong>er</strong> r8r5:<br />

Suleika<br />

Volk und Knecht und üb<strong>er</strong>wind<strong>er</strong><br />

Sie gestehn, zu jeð<strong>er</strong> Zett,<br />

Höchstes Glùck d<strong>er</strong> Erdenkind<strong>er</strong><br />

Sei nur die P<strong>er</strong>sönlichkeit.<br />

1 Vgl. sein Tägebuch vom r8. Okt. r8z3 (V/,{ ru 9, r3o): u[Vormittags] Mit<br />

Ottilien IG's Schwieg<strong>er</strong>tocht<strong>er</strong>] nach Belved<strong>er</strong>e. Lorbe<strong>er</strong> und Myrthcn geholt<br />

... Abencls ... Gedicht zu Eck<strong>er</strong>m<strong>an</strong>ns Schrifr.<<br />

2 Bd. 4, S. rz6.<br />

3 Ebd. S. r87: Aufkltirende Bem<strong>er</strong>kung. Vgl V/A I 4, 35, 8r: Nr. 4z; V/A 5',,<br />

23.<br />

567


Jedes Leben sei zu führen<br />

'Wenn m<strong>an</strong> sich <strong>nicht</strong> selbst v<strong>er</strong>mißt,<br />

Alles könne m<strong>an</strong> v<strong>er</strong>li<strong>er</strong>en<br />

Wcnn nl<strong>an</strong> blicbc was m<strong>an</strong> ist.<br />

Hatem<br />

K<strong>an</strong>n wohl sein! <strong>so</strong> wird gcmeinet;<br />

Doch ich bin auf<strong>an</strong>dr<strong>er</strong> Spur:<br />

Ailes Erdenglück v<strong>er</strong>einet<br />

Find' ich in Suleika nur.<br />

Wie sie sich <strong>an</strong> rnich v<strong>er</strong>schwendet!<br />

Bin ich mir ein w<strong>er</strong>tes Ich;<br />

Hätte sie sich weggewendet<br />

Augenblicks v<strong>er</strong>lör ich mich.<br />

rJ<br />

Nun, mit Hatem wärs zu Ende;<br />

Doch schon hab'ich umgelost<br />

Ich v<strong>er</strong>:körpre mich behende<br />

In den Holden den sie kost.<br />

Wollte, wo <strong>nicht</strong> gar ein Rabbi,<br />

Das will mir <strong>so</strong> recht <strong>nicht</strong> ein,<br />

Doch F<strong>er</strong>dusi, Mot<strong>an</strong>abbi,<br />

Allenfalls d<strong>er</strong> Kais<strong>er</strong> sein.1<br />

Den K<strong>er</strong>n des Gedichts bilden die <strong>er</strong>sten vi<strong>er</strong> Strophen, die<br />

auf Tograi-Motiven b<strong>er</strong>uhen. Strophe 5 und ó fügte Goetire<br />

nachträglich als Erweit<strong>er</strong>ung hinzu mit dem Darum des zó.<br />

Septemb<strong>er</strong> r8r5. Für den Hauptged<strong>an</strong>ken: Vorbedingung<br />

für alles Erdenglück sei, daß m<strong>an</strong> sich ))<strong>nicht</strong> selbsr v<strong>er</strong>missen(,<br />

sich ><strong>nicht</strong> v<strong>er</strong>li<strong>er</strong>en( dürfe, k<strong>an</strong>nte m<strong>an</strong> bish<strong>er</strong> keine<br />

orientalische Quelle. Goethe stieß auf ihn bei Tograi. Eine<br />

Reihe von Distichen in dessen Lamíjat enthäk das Bekenntnis,<br />

gleichsam ein Lebensprogramm: reich und glücklich<br />

habe <strong>er</strong> sich nur fühlen können, indem <strong>er</strong> stets <strong>an</strong> dem Be-<br />

\Ã/ußtsein des eigenen >'V/<strong>er</strong>ts< festhielt, indem <strong>er</strong> nie Mind<strong>er</strong>w<strong>er</strong>tigkeitsgefiihle<br />

âufkommen ließ. Wenn wir die betreffenden<br />

V<strong>er</strong>se lesen, stoßen wir bezeichnend<strong>er</strong>weise in ihr<strong>er</strong><br />

1 Ztt den Gedicht vgl. auch oben S. 5o4f.<br />

Jó8


Mitte auf die beiden Distichen 39 und 4o, die für Goethe und<br />

Mari<strong>an</strong>ne die geschild<strong>er</strong>te p<strong>er</strong>sönliche Bedeutung hatten.<br />

Mit dies<strong>er</strong> Partie d<strong>er</strong> Lamijat wâren sie al<strong>so</strong> bestens v<strong>er</strong>traut.<br />

Im Anschluß <strong>an</strong> die'V/orte, in denen Tograi das W<strong>an</strong>d<strong>er</strong>n als<br />

<strong>seine</strong> Lebensform <strong>er</strong>klärt (rV/<strong>an</strong>drungen seyen d<strong>er</strong> Ruhm<br />

welch<strong>er</strong> dem M<strong>an</strong>ne geziemt


allem beeindruckt. Tograis Distichon 4r regte die zweite<br />

Strophe <strong>an</strong>: >Jedes Leben sei zu führen / Wenn m<strong>an</strong> sich <strong>nicht</strong><br />

selbst v<strong>er</strong>mißt [!], I Alles könne m<strong>an</strong> v<strong>er</strong>li<strong>er</strong>en / Wenn m<strong>an</strong><br />

bliebe was m<strong>an</strong> ist. [!]< In V. r: >Bin ich mir ein w<strong>er</strong>tes lchEigenen'V/<strong>er</strong>rhes [!] Gefiihl<br />

ist mein<strong>er</strong> Seele für ReichthumNun abnehmend mit Eil' könnten gefallen<br />

sie mir< (4o) hattc Goethe in dem Sinne gelesen: durch<br />

die Liebe Suleikas könnte das Leben ihm noch in spät<strong>er</strong> Zeit<br />

gefallen.l Er v<strong>er</strong>knüpfte diesen Ged<strong>an</strong>ken mit dem bei Tograi<br />

unmittelbar folgenden Bekennrnis (4r): nur indem ich<br />

mir selb<strong>er</strong>'W<strong>er</strong>t gebe, fiihle ich mich reich, wend<strong>er</strong>e ihn ab<strong>er</strong><br />

geistreich um zu einem Kompliment <strong>an</strong> Suleika: rV/ie sie sich<br />

<strong>an</strong> mich v<strong>er</strong>schwendet / Bin ich mir ein w<strong>er</strong>tes lch.<<br />

TOGRAI ALS ANREGER<br />

IM BUCH DER BETRACHTUNGËN<br />

Irn Buch d<strong>er</strong> Betrachtungen des West-östlichen Diu<strong>an</strong>s steht gegen<br />

Ende das Gedicht:<br />

Freigebig<strong>er</strong> wird betrogen,<br />

Geizhaft<strong>er</strong> ausge<strong>so</strong>gen,<br />

V<strong>er</strong>stândig<strong>er</strong> irrgeleitet,<br />

V<strong>er</strong>nünftig<strong>er</strong> le<strong>er</strong> geweitet,<br />

D<strong>er</strong> Harte wird umg<strong>an</strong>gen, j<br />

D<strong>er</strong> Gimpel wird gef<strong>an</strong>gen.<br />

Beh<strong>er</strong>rsche diese Lügc.<br />

Betrogen<strong>er</strong> betrüge!<br />

Weltschm<strong>er</strong>zliche Betrachtungen wie die, daß jed<strong>er</strong>jeden belüge<br />

und das Leben dadurch un<strong>er</strong>trãglich w<strong>er</strong>de, sind für<br />

Goethe untypisch. Die Schlußv<strong>er</strong>se mit ihr<strong>er</strong> provozi<strong>er</strong>enden<br />

Auffô'rd<strong>er</strong>un g üb<strong>er</strong>treffen no ch die Zy nisnen des Mephi s to-<br />

1 Vgl. oben S. 5ór.<br />

570


pheles. Die V<strong>er</strong>mutung liegt nahe, Goethe sei einem lit<strong>er</strong>ari*<br />

schen Vorbild gefolgt, das d<strong>er</strong>art pessimistische Ged<strong>an</strong>ken in<br />

ihm weckte. Dennoch k<strong>an</strong>nte m<strong>an</strong> bish<strong>er</strong> für das Gedicht<br />

keine orientaiische Quelle. Sie läßt sich ab<strong>er</strong> nachweisen,<br />

nachdem Tograis Lamíjat aus d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>borgenheit <strong>an</strong>s Licht<br />

trat. In Tograis Gedicht ist das Betrogenw<strong>er</strong>den d<strong>er</strong> Menschen<br />

durch Wid<strong>er</strong>sach<strong>er</strong>, <strong>an</strong>alog zu den obigen Diu<strong>an</strong>-Y<strong>er</strong>sen,<br />

Thema ein<strong>er</strong> läng<strong>er</strong>en V<strong>er</strong>sreihe. Sie gilt es zu betrachten.<br />

>Freigebig<strong>er</strong> wird betrogen( entst<strong>an</strong>d während d<strong>er</strong> zweiten<br />

Rhein/Mainreise, zwischen Mai und Oktob<strong>er</strong> r8r5.1 Es<br />

war das die Zeit, in d<strong>er</strong> Goethe sich am intensivsten mit Tograi<br />

beschäftigte, <strong>er</strong> führte den Text d<strong>er</strong> ihm g<strong>er</strong>ade bek<strong>an</strong>nt<br />

gewordenen Lamijat mit sich. Gegen Schluß d<strong>er</strong>selben finden<br />

sich die V<strong>er</strong>se üb<strong>er</strong> das Thema Betrug. Sie leiten die Endphase<br />

des Gedichts ein mit ihr<strong>er</strong> düst<strong>er</strong>en P<strong>er</strong>spektive: Tograis<br />

B<strong>er</strong>uf als Staatsm<strong>an</strong>n bringt es mit sich, daß <strong>er</strong> stets das<br />

Schlimmste zu gewãrtigen hat:<br />

48.<br />

Dem du v<strong>er</strong>trautest, d<strong>er</strong> Freund, d<strong>er</strong> ist dein widrigstçr Feind<br />

Hüte vor Menschen dich! Gcgen die Schlauen ,.y..hl".rlttt<br />

Das ist d<strong>er</strong> M<strong>an</strong>n d<strong>er</strong>'Welt, und einzig gehört <strong>er</strong> für sie nur,<br />

D<strong>er</strong> <strong>nicht</strong> trauet d<strong>er</strong>'V/elt, nirgend auf sie sich v<strong>er</strong>läßt.<br />

49.<br />

Allzugtitige Meinung von <strong>an</strong>d<strong>er</strong>n hegen ist Schwachheit:<br />

Halte sie böse, zu viel Sich<strong>er</strong>heit bringet Gefahr.<br />

5o.<br />

Ji.<br />

Mein V<strong>er</strong>trauen wurde getäuscht, mit List ich beniiket,<br />

Zwischen dem 'Wort und d<strong>er</strong> That zeigte sich offen<strong>er</strong> Trug.<br />

1 Das V/icsbaden<strong>er</strong> Regist<strong>er</strong> vom 3o. Mai r8r5 enthält das Gedicht noch<br />

<strong>nicht</strong>. Goethe schrieb es nied<strong>er</strong> aufPapi<strong>er</strong>, das <strong>er</strong> vom f)ezemb<strong>er</strong> r8r4 bis<br />

Oktob<strong>er</strong> r8r5 benutztc. Vgl. hi<strong>er</strong>üb<strong>er</strong> H<strong>an</strong>s Alb<strong>er</strong>t Mai<strong>er</strong> in: Coethes Wtstöstlírh<strong>er</strong><br />

Diy<strong>an</strong>. Tübingen rgó5. Kommentarb<strong>an</strong>d S. r89.<br />

571


52.<br />

Deine wahre Gestalt entstellt m<strong>an</strong> mir Lügen bei Menschen;<br />

Hat das Krumme sich je zu dem G<strong>er</strong>aden gepaßt?<br />

53.<br />

'[/<strong>an</strong>n noch etwas v<strong>er</strong>mag beim rechten V/ort sie zu haiten,<br />

Muß das Schw<strong>er</strong>t nur allein kommen dem Tädel zuvor.<br />

Augenfillig ist die Üb<strong>er</strong>einstimmung zwischen Goethes<br />

Schlußpointe ))Betrogen<strong>er</strong> betrüge!< und d<strong>er</strong> 'V/endung >Gegen<br />

die Schlauen sei schlau!< (in Distichon 48). übelst<strong>an</strong>d<br />

und Abwehrmittel w<strong>er</strong>den jeweils durch ein und dasselbe<br />

'$/ort bezeichnet. Im Ton v<strong>er</strong>gleichsweise zurückhaltend,<br />

<strong>spricht</strong> Tograi als eigene Lebens<strong>er</strong>fahrung die Lehre aus, dem<br />

tückischen Feind könne m<strong>an</strong> <strong>nicht</strong> aufrecht begegnen. Goethe,<br />

hi<strong>er</strong>in ein Gesetz des Lebens unt<strong>er</strong> Menschen <strong>er</strong>kennend,<br />

trifft mit humorvollem Zynismus freih<strong>er</strong>aus den Nagel auf<br />

den Kopf.<br />

Doch auch <strong>an</strong>d<strong>er</strong>es in dem Div<strong>an</strong>-Gedicht weist auf Tograi<br />

als Anreg<strong>er</strong>. Das Betrogenw<strong>er</strong>den durch die Welt exemplifrzí<strong>er</strong>t<br />

Goethe <strong>an</strong> sechs menschlichen Typen. Fürjeden hat<br />

die Welt eine be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>e Variation d<strong>er</strong> Hint<strong>er</strong>gehung b<strong>er</strong>eit.<br />

Ahntich führte schon Tograi eine Anzahl menschlich<strong>er</strong> Beispieie<br />

vor, auch bei ihm k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> sechs Variationen unt<strong>er</strong>scheiden:<br />

den Freund hint<strong>er</strong>geht d<strong>er</strong> Freund (48), den V/eltm<strong>an</strong>n<br />

die Welt (a9), den Gutmütigen üb<strong>er</strong>vorteilt d<strong>er</strong> Heuch-<br />

1<strong>er</strong> (5o), den V<strong>er</strong>trauensseligen d<strong>er</strong> Listige (5r), den Wahren<br />

v<strong>er</strong>leumdet d<strong>er</strong> Lügn<strong>er</strong> (52), den G<strong>er</strong>aden d<strong>er</strong> Krumme (52).<br />

So hat al<strong>so</strong> auch die Struktur bei Tograi das Gedicht >Freigebig<strong>er</strong><br />

wird betrogen< beeinflußt. Bei sein<strong>er</strong> Auswahl d<strong>er</strong> Typen<br />

greift Goethe zu Tograis Bezeichnungen, je zwei und<br />

zwei w<strong>er</strong>den durch Kontrasti<strong>er</strong>ung v<strong>er</strong>bunden. Spürbar ist<br />

das Bedürfnis nach klassisch<strong>er</strong> Klarheit und Kürze. Für Tograi<br />

sind die Gestalten wenig<strong>er</strong> wichtig als sein Leid, üb<strong>er</strong> das<br />

<strong>er</strong> sich mit orientalischem V/ortreichtum v<strong>er</strong>breitet.<br />

Die glückliche Wirkung d<strong>er</strong> Schlußpoinre des Diu<strong>an</strong>-<br />

Gedichts b<strong>er</strong>uht darauf, daß Goethe hi<strong>er</strong>, wie <strong>so</strong> oft, durch<br />

572


V/id<strong>er</strong>spruch produktiv wurde.l ln d<strong>er</strong> Lamijat-Partte traf <strong>er</strong><br />

aufeine <strong>an</strong>d<strong>er</strong>e, ihm mißfallende Schlußpointe: >das Schw<strong>er</strong>t<br />

alleinD<strong>er</strong> Harte wird umg<strong>an</strong>gen( - auch das Hartsein<br />

schützt <strong>nicht</strong> gegen Hint<strong>er</strong>list und Hint<strong>er</strong>g<strong>an</strong>genw<strong>er</strong>den. Die<br />

richtig<strong>er</strong>e Lösung wâr von Tograi schon gefunden mit dem<br />

Rat: rGegen die Schlauen sei schlaulo Goethes Meinung nach<br />

hatte <strong>er</strong> ihre Bedeutung v<strong>er</strong>k<strong>an</strong>nt, <strong>so</strong>nst hätte <strong>er</strong> sie <strong>nicht</strong> beiläufig<br />

<strong>an</strong> den Anf<strong>an</strong>g (48) sein<strong>er</strong> Betrachtungen gestellt, <strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n<br />

<strong>an</strong>s Ende, wo sie als das beste Resümee hingehörte. D<strong>er</strong><br />

Fehlgriff gab Goethe die Idee ftir den wirksamen Àufbau <strong>seine</strong>s<br />

Gedichts: mit dem '$/ort >Betrogen<strong>er</strong> betrüge!< am<br />

Schluß korrigi<strong>er</strong>te <strong>er</strong> Tograi und sich<strong>er</strong>te <strong>seine</strong>m eigenen Gedicht<br />

die schlagkräftige Pointe.<br />

Möglich<strong>er</strong>weise war d<strong>er</strong> Schlußv<strong>er</strong>s und das ihm vorauÊ<br />

gehende Durchdenken des Tograi-Textes d<strong>er</strong> Keim zur Entstehung<br />

des l-Jnmut-Gedichts. Goethes intensives Int<strong>er</strong>esse<br />

<strong>an</strong> diesem Abschnitt ð<strong>er</strong> Lamijat <strong>er</strong>klärt sich u.a. dadurch,<br />

daß d<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong> Tograi hi<strong>er</strong> von den speziellen Leiden <strong>seine</strong>s<br />

politischen B<strong>er</strong>ufs <strong>spricht</strong>. [Jnd g<strong>er</strong>ade in dem Staatsm<strong>an</strong>n<br />

Tograi sah Goethe einen V<strong>er</strong>w<strong>an</strong>dten, d<strong>er</strong> ihn <strong>an</strong> eigene bitt<strong>er</strong>e<br />

Lebens<strong>er</strong>fahrungen denken ließ.<br />

In Anbetracht alles dessen wird m<strong>an</strong> es <strong>nicht</strong> mehr als Zufall<br />

betrachten, daß Goethe <strong>seine</strong> Aufzählung d<strong>er</strong> Betrogenen<br />

mit dem Typ des Freigebigen beginnt. Bewußt huldigt <strong>er</strong><br />

vielmehr mit dem <strong>er</strong>sten V<strong>er</strong>s >Freigebig<strong>er</strong> wird betrogen<<br />

jenem >Hatem Zograi


Sinn in d<strong>er</strong> Anspielung auf Tograi, da dies<strong>er</strong> Goethe die Idee<br />

zu dem Gedicht eingegeben hatte. Zugleich weist d<strong>er</strong> Gedicht<strong>an</strong>f<strong>an</strong>g<br />

natürlich auch auf die Freigebigkeit, nach d<strong>er</strong><br />

Goethe als Hatem strebt. Übrigens endet die Stelle ð,<strong>er</strong> Lamijat,<br />

die Tograi als Freigebigen <strong>er</strong>weisr - Distichon 8, wo vom<br />

Erw<strong>er</strong>ben des <strong>Reichtum</strong>s, um ihn zu v<strong>er</strong>schwenden, die<br />

Rede ist -, mit dem Bekenntnis, daß auch <strong>er</strong> als Freigebig<strong>er</strong><br />

enttäuscht worden war:<br />

9.<br />

Ab<strong>er</strong> die Zeithat die Hoffnung v<strong>er</strong>kehrt, srârt all<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Beute<br />

Bin ich, nach mühsam<strong>er</strong> Fahrt, nun mit d<strong>er</strong> Ruhe v<strong>er</strong>gnügt.<br />

TOGR,\I ,A.LS ANREGER IN DEN ZAHMEN XENJEN<br />

M<strong>an</strong>che klein<strong>er</strong>e Gedichte, zu denen Goethe durch sein<br />

Orientstudium âng<strong>er</strong>egt wurde, v<strong>er</strong>öffentlichte <strong>er</strong> <strong>nicht</strong> im<br />

West-östlichen Diu<strong>an</strong>, <strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n in <strong>seine</strong>n Zahmen Xenien, die<br />

seit r 82o in Üb<strong>er</strong> Kunst und Ak<strong>er</strong>tum zu <strong>er</strong>scheinen beg<strong>an</strong>nen.<br />

Oft ist in <strong>so</strong>lchen Fällen Goethes Orientalisi<strong>er</strong>en <strong>nicht</strong> unmirtelbar<br />

kenntlich, doch wurden von d<strong>er</strong> Forschung imm<strong>er</strong><br />

wied<strong>er</strong> Nachweise gebracht.l Die V<strong>er</strong>borgenheit des Textes<br />

von Tograis Lamijat v<strong>er</strong>hind<strong>er</strong>te bish<strong>er</strong> die Erkenntnis, daß<br />

folgende V<strong>er</strong>se durch dies \X/<strong>er</strong>k <strong>an</strong>g<strong>er</strong>egt wurden:<br />

Wie das Gesrirn<br />

Ohne Hast,<br />

Ab<strong>er</strong> ohne Rast<br />

Drehe sichjed<strong>er</strong><br />

lJm die eigene Last.2<br />

Die Metaph<strong>er</strong> von dem Gestirn, das keine Rast kennt, weil<br />

die Natur ihm Bewegung und Bahn vorgezeichnet hat, fin-:<br />

1 Vgl. oben S. r r7-r33, dazu die Zusammenstellung d<strong>er</strong> durch den Orientalisten<br />

Diez <strong>an</strong>g<strong>er</strong>egten Zahmen Xeníen ln: K. Mommsen, Coethe rmd Diez.<br />

Quellenunt<strong>er</strong>suchungen zu Gedichten d<strong>er</strong> Div<strong>an</strong>-Epoche. B<strong>er</strong>lin 196r S.<br />

z6o-z9o: j49f.<br />

2 Zahme Xeníen. At:t. r¡, V. z8off., <strong>er</strong>schienen t8zr.<br />

574


det sich bei Tograi <strong>an</strong> ein<strong>er</strong> Stelle, die Goethes be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>e Anteiinahme<br />

<strong>er</strong>weckte: am Ende d<strong>er</strong> Distichenreihe, wo Tograi<br />

das >W<strong>an</strong>d<strong>er</strong>n< als die ihm gemäße Form d<strong>er</strong> Selbst<strong>er</strong>füllung<br />

bezeichnet.l Nachdem Tograi >läßige Ruh< als die Gewohnheit<br />

>nied<strong>er</strong><strong>er</strong> Seelen< v<strong>er</strong>schmäht hat (Distichen 3o, 33), b<strong>er</strong>uft<br />

<strong>er</strong> sich aufdas >wahre< Diktum: >'W<strong>an</strong>drungen seyen d<strong>er</strong><br />

Ruhm welch<strong>er</strong> dem M<strong>an</strong>ne geziemt( und fihrt d<strong>an</strong>n fort:<br />

Wär es gedeihliches Glück <strong>an</strong> hoh<strong>er</strong> Srelle zu rasten [!],<br />

Wùrde dìe Sonne denn je wechseln die Zeichen d<strong>er</strong> Bahn?<br />

V<strong>er</strong>gleiche des Dicht<strong>er</strong>s mit d<strong>er</strong> Sonne hatte Goethe auch<br />

<strong>so</strong>nst in orientalisch<strong>er</strong> Dichtung <strong>an</strong>g<strong>er</strong>roffen. Hafis läßt<br />

m<strong>an</strong>chmal mit d<strong>er</strong>n Sonnenv<strong>er</strong>gleich sein stolzes Selbstgefühl<br />

aufnlammen, das <strong>er</strong> gewöhnlich hint<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Bettl<strong>er</strong>- und<br />

D<strong>er</strong>wischmaske zu v<strong>er</strong>b<strong>er</strong>gen sucht. Ahnlich escheint die<br />

Sonnenmetaph<strong>er</strong> auch im West-östlichen Diu<strong>an</strong>. Charakt<strong>er</strong>istisch<br />

ist die Einschrânkung, die Goethe ihr gelegentlich im<br />

Buch Suleika folgen làßt (Nachkl<strong>an</strong>g):<br />

3ó.<br />

Es klingt <strong>so</strong> prächtig, wenn d<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong><br />

D<strong>er</strong> Sonne bald, dem Kais<strong>er</strong> sich v<strong>er</strong>gleicht . . .<br />

Das orientalische >Prahlenohne Rast< ihrem Bewegungsgesetz<br />

folgt, v<strong>er</strong>trug sich mit okzidentalen Vorstellungen<br />

von Aufgaben- und Pflicht<strong>er</strong>füllung. Als Narur<strong>er</strong>eignis<br />

entsprach es Goethes Geschmack; <strong>so</strong> eignete <strong>er</strong> es sich bedenkenlos<br />

<strong>an</strong> und formte dabei Tograis Selbstcharakt<strong>er</strong>istik um<br />

in eine Darstellung <strong>seine</strong>s eigenen Wesens. Die zugrunde liegende<br />

P<strong>er</strong>spektive des \X/<strong>an</strong>d<strong>er</strong>nmüssens kam zudem d<strong>er</strong> augenblicklichen<br />

Beschäftigung Goethes entgegen; <strong>er</strong> been-<br />

1 Vgl. oben S.SSSt<br />

2Ygl. Zahnte Xenien Abt. lr, V. 248: rln Orient l<strong>er</strong>nt'ich das Prahlen


digte g<strong>er</strong>ade Wílhelm Meist<strong>er</strong>s W<strong>an</strong>d<strong>er</strong>jahre.l ,tuf die Sitbe<br />

rRast< bei Tograi <strong>er</strong>f<strong>an</strong>d <strong>er</strong> die <strong>er</strong>giebigen Reimworte ))Hast(<br />

und rLast


Britenl habt sie aufgefaßt:<br />

>Tätigen Sinn, das Tun gezügelt;<br />

Stetig Streben, ohne Hast.w<strong>er</strong>tes lchVolk<br />

und Knecht und Üb<strong>er</strong>wind<strong>er</strong>. . .( aus dem Bu,ch Suleíka.3 Mit<br />

Recht v<strong>er</strong>wies ein Kommentator auf V. 5-8 dieses Gedichts:<br />

Jedes Leben sei zu führen<br />

'Wenn m<strong>an</strong> sich <strong>nicht</strong> selbst v<strong>er</strong>mißt,<br />

Alles könne m<strong>an</strong> v<strong>er</strong>li<strong>er</strong>en<br />

'V/enn m<strong>an</strong> bliebe was m<strong>an</strong> ist.4<br />

Das diese V<strong>er</strong>se <strong>an</strong>regende Distichon 4r von Tograis Lami,jat<br />

darf folglich auch als Parallele und Vorbild für dies Gedicht<br />

rVonJahren zu Jahren. . .( aus den ZahmenXenienbetrachtet<br />

w<strong>er</strong>den:<br />

4f.<br />

Eigenen \V<strong>er</strong>thes Gefiihl ist mein<strong>er</strong> Seele fìir Reichthum;<br />

(Jnw<strong>er</strong>th, d<strong>er</strong> sich <strong>nicht</strong> schätzt, hielr'ich ihr imm<strong>er</strong> entf<strong>er</strong>nr.<br />

Zusàtzlich seien hi<strong>er</strong> noch einige <strong>an</strong>d<strong>er</strong>e Stellen d<strong>er</strong> Lamíjaf.<br />

als Parallelen <strong>an</strong>geführt. Für Tograi war das Bestreben, W<strong>er</strong>t<br />

1 Das Gedicht <strong>er</strong>schien crstmals r 83 r im Cåaos, d<strong>er</strong> von Goethes Schwieg<strong>er</strong>tocht<strong>er</strong><br />

Ottilìc h<strong>er</strong>ausgegebenen, sehr <strong>an</strong>glophilen Privatzeitschrift.<br />

2 Zahnte Xenien Abl u, Y. 47off.<br />

3 Vgl. oben S. So+ff.<br />

4 Eduard von d<strong>er</strong> Hellen in: Coethes Sämtliche W<strong>er</strong>þe. Jubiläums-Ausgabe.<br />

Sttrttgart nnd B<strong>er</strong>lin. Bd. 4lrgozl S. 277.<br />

577


und <strong>Reichtum</strong> <strong>seine</strong>s Inn<strong>er</strong>n gegen alle Ânfechtungen zu<br />

schützen, von <strong>so</strong> zentral<strong>er</strong> Bedeutung, daß <strong>er</strong> schon die Exposition<br />

<strong>seine</strong>s Gedichts auf entsprechende Betrachtungen<br />

gründet. l)ie Lamij at beginnen folgend<strong>er</strong>maß en :<br />

Mich hat ein edles Gemüth Ul*rn., vor nied<strong>er</strong>em Leichtsinn;<br />

Fremd<strong>er</strong> Zi<strong>er</strong>den b<strong>er</strong>aubt, sucht' ich die Zi<strong>er</strong>den in mir.<br />

'V/ie <strong>er</strong> im Anfàng *r. .o ..r'-ein Ruhm noch am Ende,<br />

Und die Sonne die sinkt glânzt wie am hellen Mittag.<br />

Die G<strong>er</strong>ings chàtntng weltlich<strong>er</strong> Ehren ( > fremd<strong>er</strong> Zi<strong>er</strong>dennied<strong>er</strong><strong>er</strong> Leichtsinn< <strong>er</strong>wirbt (Distichon r), stimmt<br />

zu d<strong>er</strong> Abweisung des >vielen Fremden< in Goethes Vi<strong>er</strong>zeil<strong>er</strong>.<br />

Es kommt auf die Reinhaltung d<strong>er</strong> eigenen Ehre <strong>an</strong>. In<br />

Distichon z gleicht das Gelöbnis Tograis, den Gl<strong>an</strong>z des Inn<strong>er</strong>n<br />

bis zum Tod zu bewahren - v<strong>er</strong><strong>an</strong>schaulicht durch das<br />

unv<strong>er</strong>âncl<strong>er</strong>liche Glühen d<strong>er</strong> Sonne - , dem Streben Goethes,<br />

in einem i<strong>an</strong>gen Leben >imm<strong>er</strong> d<strong>er</strong>selbe zu bleiben


himmel mit <strong>seine</strong>n unv<strong>er</strong>änd<strong>er</strong>lich wachen St<strong>er</strong>naugen deutet<br />

daraufhin, daß d<strong>er</strong> treulos Schlafende, dessen Seele sich<br />

geärld<strong>er</strong>t hat, im V/id<strong>er</strong>spruch m d<strong>er</strong>. Gesetzen d<strong>er</strong> Gottnatur<br />

und ihren wachen St<strong>er</strong>nenaugen ist. Wegen d<strong>er</strong> Eindringlichkeit<br />

d<strong>er</strong> Stelle bei einem arabischen Dicht<strong>er</strong> v<strong>er</strong>dienen auch<br />

diese V<strong>er</strong>se h<strong>er</strong>vorgehoben zu w<strong>er</strong>den. Goethe mag sie im<br />

Sinn gehabt haben, als <strong>er</strong> wied<strong>er</strong>holt - im West-östlichen Diu<strong>an</strong><br />

und in den Zahtnen Xenien- betonte: alies komme darauf <strong>an</strong>,<br />

daß >m<strong>an</strong> bleibe was m¿n istnur imm<strong>er</strong> d<strong>er</strong>selbe<br />

bleibtn.<br />

TEXT DER LAMIJAT.WEITERE EINWIRKUNGEN<br />

\X/enn hi<strong>er</strong> zum Abschluß d<strong>er</strong> Gesamtrexr d.<strong>er</strong> Lamijat nochmals<br />

abgedruckt wird in d<strong>er</strong> Form, wie <strong>er</strong> Goethes spont<strong>an</strong>e<br />

Teilnahme <strong>er</strong>weckte, <strong>so</strong> geschieht das ein<strong>er</strong>seits, weil m<strong>an</strong>ches,<br />

was d<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong> aufgriff, im Kontext gelesen zu w<strong>er</strong>den<br />

v<strong>er</strong>dient. M<strong>an</strong> v<strong>er</strong>steht z. B. Goethes Int<strong>er</strong>esse <strong>an</strong> d<strong>er</strong> Gestalt<br />

des treulosen Freundes bess<strong>er</strong>, .wenn m<strong>an</strong> alle auf diesen bezüglichen<br />

V<strong>er</strong>se liest (Distichon 5, V. ro-r9). Die wichtige<br />

Stelle vom <strong>Reichtum</strong> und dessen V<strong>er</strong>schwenden, die Goethes<br />

Tograi-Bild bestimmte, ist einprägsam durch die Art, wie<br />

hi<strong>er</strong> ein bedeutendes Bekenntnis unvorb<strong>er</strong>eitet und plötzlich<br />

h<strong>er</strong>vortritt. And<strong>er</strong>seits sind auch größ<strong>er</strong>e Partien d<strong>er</strong> Lamíjat,<br />

die bish<strong>er</strong> <strong>nicht</strong> besprochen wurden, inhaltlich zweifellos<br />

von Bedeutung, weil sie Goethes Liebe zu dem'$/<strong>er</strong>k v<strong>er</strong>ständlich<br />

machen. Das gilt be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>s von d<strong>er</strong> garlzen <strong>er</strong>sten,<br />

mehr <strong>er</strong>zähl<strong>er</strong>ischen Hälfte, wo das arabische Milieu <strong>an</strong>*<br />

schaulich geschild<strong>er</strong>t wird. Hi<strong>er</strong> traf Goethe ab<strong>er</strong>mals auf den<br />

>Beduinen Zust<strong>an</strong>d


studi<strong>er</strong>t. Für ihn, d<strong>er</strong> aus Ir<strong>an</strong> stammte, war das eine Sache<br />

d<strong>er</strong> gelehrten tadition und Bildung, denn zum Beduinenleben<br />

hatte <strong>er</strong> als Städt<strong>er</strong> und Hofm<strong>an</strong>n keine konkreten Beziehungen<br />

mehr. Dennoch üb<strong>er</strong>trug <strong>er</strong> <strong>seine</strong> eigenen Lebensumstände<br />

in Bagdad auf jene Vorstellungswelt des mit<br />

<strong>seine</strong>m Kamel von Lag<strong>er</strong>platz zú L^getplatz ziehenden Beduinen.<br />

Die l<strong>an</strong>ge .V/üstenw<strong>an</strong>d<strong>er</strong>ung, die Ermattung des<br />

mâg<strong>er</strong>en Kamels, das Dunkel d<strong>er</strong> Nacht, die schlafenden Gefihrten,<br />

die leuchtenden St<strong>er</strong>ne, die entschwundene Geliebte,<br />

d<strong>er</strong>en Schönheit mit ein<strong>er</strong> Gazelle v<strong>er</strong>glichen wird, all<br />

das <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>t <strong>an</strong> die klassische Kaside. Doch war es stilisi<strong>er</strong>te<br />

Dichtung, und <strong>so</strong>weit Seelenzustände durch Metaph<strong>er</strong>n des<br />

Beduinenlebens ausgedrückt w<strong>er</strong>den, symbolistische Dichtung.<br />

Goethe konnte hi<strong>er</strong> ein Beispiel vorfinden, wie ein<br />

Dicht<strong>er</strong> viel spät<strong>er</strong><strong>er</strong> Zeit aus dem klassischen Motivvorrat<br />

schöpfte und dabei dennoch eine sehr p<strong>er</strong>sönliche lyrische<br />

.tussage schuf, Das Beispiel mag ihn <strong>er</strong>mutigt haben, als <strong>er</strong><br />

selb<strong>er</strong> sein Gedicht >Laßt mich weinen, umschränkt von<br />

Nacht . . .< in Anlehnung <strong>an</strong> die altarabische Kaside schuf<br />

Inn<strong>er</strong>halb d<strong>er</strong> <strong>er</strong>sten Hâlfte d<strong>er</strong> Lamijat war ein ,tttraktionspunkt<br />

für Goethe die Erzählung von d<strong>er</strong> Liebe Tograis<br />

zu einem schönen Beduinenmädchen. Sie war <strong>so</strong>zusagen von<br />

aktuell<strong>er</strong> Bedeutung für ihn, da <strong>er</strong> <strong>so</strong>eben das V<strong>er</strong>hältnis zwischen<br />

>Hatem< und >Suleika< auszugestalten beabsichtigte.<br />

Bei Goethes seltsam plötzlich<strong>er</strong> Identifizi<strong>er</strong>ung mit Tograi,<br />

die in d<strong>er</strong> B<strong>er</strong>ufung auf ihn unt<strong>er</strong> dem Namen >HlatemZograi<<br />

zum Ausdruck kam, dürfte d<strong>er</strong> LJmst<strong>an</strong>d mitgewirkt<br />

haben, daß in d<strong>er</strong> Liebesepi<strong>so</strong>de d<strong>er</strong> Lamijat die Gestalt ein<strong>er</strong><br />

Geliebten v<strong>er</strong>h<strong>er</strong>rlicht wurde, daß es al<strong>so</strong> auch hi<strong>er</strong> eine Konfiguration<br />

gab, v<strong>er</strong>gleichbar d<strong>er</strong> von Flatem und Suleika. Mit<br />

welch<strong>er</strong> Aufm<strong>er</strong>ksamkeit Goethe charakt<strong>er</strong>istische Liebespaare<br />

in d<strong>er</strong> Orientlit<strong>er</strong>atur beobachtete, zeigen die Div<strong>an</strong>-<br />

Gedichte Must<strong>er</strong>bilil<strong>er</strong> und No¿å eín Paar im Buch d<strong>er</strong> Líebe.<br />

In Tograis Schild<strong>er</strong>ung des arabischen Mädchens traf<br />

Goethe auf die gleichen Zuge, mit denen Hafis v<strong>er</strong>führ<strong>er</strong>ische<br />

Schönheit charakt<strong>er</strong>isi<strong>er</strong>t. Besungen w<strong>er</strong>den vor allem<br />

J80


die Macht und Schönheit d<strong>er</strong> Augen, d<strong>er</strong> fi/imp<strong>er</strong>n, d<strong>er</strong><br />

Blicke. Sie treffen wie Pfeile, <strong>er</strong>schrecken und entzück en ztrgleich<br />

(Distichon z8), heilen ab<strong>er</strong> auch die von ihnen geschlagenen<br />

Wunden (Distichon z7). Ðie Stelle im Buch Suleiþ.a,<br />

wo Flatem von den >Wimp<strong>er</strong>n-Pfeilen, Locken-Schl<strong>an</strong>gen<<br />

Suleikas >tausendfältige Gefahr< droht, b<strong>er</strong>uht v<strong>er</strong>mutlich<br />

auf Hafis-Gaselen. Goethe schrieb sie ab<strong>er</strong> zar Zeit, als <strong>er</strong><br />

Tograis Lamijat zusammen mit Mari<strong>an</strong>ne Willem<strong>er</strong> ias.l So<br />

ist eine zusàtzliche,\nregung durch Tograi durchaus denkbar,<br />

zumindest f<strong>an</strong>d Goethe bestãtigt, daß <strong>er</strong> <strong>seine</strong> orientalisi<strong>er</strong>cnden<br />

Akzente richtig setzre.<br />

In einem <strong>an</strong>d<strong>er</strong>en Fall führte ab<strong>er</strong> wirklich die Liebesepi<strong>so</strong>de<br />

d<strong>er</strong> Lamijat Goethe zu einem schönen Ap<strong>er</strong>çu. üb<strong>er</strong> die<br />

gefihrliche V/irkung d<strong>er</strong> ,\ugen sagt Tograi:<br />

27.<br />

Doppelte Wunde v<strong>er</strong>setzen die Pfeile d<strong>er</strong> mächtigen Augen;<br />

Ab<strong>er</strong> <strong>so</strong> groß sie auch ist schm<strong>er</strong>z<strong>er</strong> die V/unde doch <strong>nicht</strong>.<br />

Tograis Bild von d<strong>er</strong> doppelten 'ü/unde, die jedoch <strong>nicht</strong><br />

schm<strong>er</strong>zt wegen d<strong>er</strong> zugleich heilsam lind<strong>er</strong>nden Kraft d<strong>er</strong><br />

Augen, schenkte Goethe den Einfall von dem >Doppelblickv<strong>er</strong>wundetheilt


Niem<strong>an</strong>d k<strong>an</strong>n ich glücklich preisen 3r<br />

D<strong>er</strong> des Doppelblicks <strong>er</strong>m<strong>an</strong>gelt . -,1<br />

Goethe hat sich al<strong>so</strong> mit d<strong>er</strong> Frauengestalt in Tograis Lamijat<br />

gründlich v<strong>er</strong>traut gemacht. M<strong>an</strong> darf dah<strong>er</strong> eine in d<strong>er</strong><br />

Forschung ausgesprochene These richtigstellen, d<strong>er</strong>zufolge<br />

Goethe eine Tograis Geiiebte betreffende Charakt<strong>er</strong>isi<strong>er</strong>ung<br />

gànzhch mißv<strong>er</strong>st<strong>an</strong>den hãtte. Es h<strong>an</strong>delt sich um Distichon<br />

Ja<br />

22.<br />

es <strong>er</strong>höhet den Sch<strong>er</strong>z in d<strong>er</strong> edlen Männ<strong>er</strong> Gesprächen,<br />

Zeigt sich das edle Weib furchtsam und sparsamen Sinns.<br />

H<strong>an</strong>s-J. V/eitz hielt es für möglich, daß Goethe hi<strong>er</strong> die V/endung<br />

>sparsamen Sinns< als Kennzeichnung ein<strong>er</strong> >geizigen<br />

Frau< betrachtet hätte. Zu dies<strong>er</strong> ,tuffâssung sei d<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong><br />

gekommen, nachdem ihrn bei <strong>seine</strong>n Orientstudien ein folgenreich<strong>er</strong><br />

lrrtum unt<strong>er</strong>laufen wãre. In Rehbind<strong>er</strong>s Buch<br />

üb<strong>er</strong> Mohammed habe Goethe die kurze Charakt<strong>er</strong>istik eines<br />

Dicht<strong>er</strong>s >Flatem Abu<strong>so</strong>f<strong>an</strong>a< gelesen, d<strong>er</strong> eine geizige Frau<br />

besaß. Goethe sei zu d<strong>er</strong> Ansicht gekommen, es h<strong>an</strong>dle sich<br />

bei diesem Dicht<strong>er</strong> um Tograi und bei d<strong>er</strong> sparsamen Frau in<br />

Distichon 22 d<strong>er</strong> Lamijat um eine Erwähnung d<strong>er</strong> geizigen<br />

Frau des >Flatem Abu<strong>so</strong>f<strong>an</strong>aHatem Thai< die Rede war, d<strong>er</strong> Beiname >Thai< biieb<br />

m<strong>er</strong>kwürdig<strong>er</strong>weise ungen<strong>an</strong>nt. (>Abu<strong>so</strong>f<strong>an</strong>a< war ab<strong>er</strong> ein<strong>er</strong><br />

d<strong>er</strong> Namen Hatem Thais, wie Goethe aus H<strong>er</strong>belot wissen<br />

konnte!) V/eitz wies auf ein Exz<strong>er</strong>pt Goethes aus Rehbind<strong>er</strong><br />

hin, wo <strong>er</strong> üb<strong>er</strong> ))Flatem Abu<strong>so</strong>f<strong>an</strong>a


Mavia geizige Frau<br />

S. Rehbind<strong>er</strong> p. 73 Reiske Gedicht desselb[en]<br />

Gegenstände<br />

Täpf<strong>er</strong>keit<br />

\X/ohltätigkeitl<br />

Als Goethe Knebels Tograi-Üb<strong>er</strong>tragung <strong>er</strong>hielt, glaubte <strong>er</strong><br />

- \X/eitz zvfolge - auf Grund d<strong>er</strong> obigen Rehbind<strong>er</strong>-Notiz, es<br />

gäbe einen zweiten Dicht<strong>er</strong> Hatem, identifizi<strong>er</strong>bar als M<strong>an</strong>n<br />

ein<strong>er</strong> geizigen Frau. D<strong>er</strong> V<strong>er</strong>fass<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Lamija¡ heiße folglich<br />

Hatem Tograi- Dies nun habe Goethe zu sein<strong>er</strong> irrtümlichen<br />

Prägung von >Flatem Zograi< geführt!<br />

Für Goethes Irrtum führt lVeitz zwei<strong>er</strong>lei Begründungen<br />

<strong>an</strong>. Die eine könnte gelten: die A.ngabe, daß d<strong>er</strong> Orientalist<br />

Reiske ein Geclicht auf die >geizige Mavia< <strong>er</strong>wähnte, hatte<br />

eine scheinbare Parallele in einem Brief Knebeis, in dem <strong>er</strong><br />

Goethe mitteilte, <strong>er</strong> habe Tograis Lamijat nach ein<strong>er</strong> Âusgabe<br />

des ¡¡b<strong>er</strong>ühmten Reislee< üb<strong>er</strong>setzt.2 Die Nennung Reiskes<br />

könnte Goethe zu dem Glauben v<strong>er</strong><strong>an</strong>laßt haben, es sei bei<br />

Knebel und Rehbind<strong>er</strong> von ein und demselben Gedicht die<br />

Rede. Unhaltbar ist ab<strong>er</strong> V/eitz' zweite, wichrig<strong>er</strong>e Begründung:<br />

Rehbind<strong>er</strong>s inhaltliche Charakt<strong>er</strong>isi<strong>er</strong>ung des Gedichts<br />

von Hatem Ab.u<strong>so</strong>f<strong>an</strong>a habe bei Goethe eine V<strong>er</strong>wechslung<br />

mit den Lamijat h<strong>er</strong>vorrufen können. Schon die<br />

Angabe Rehbind<strong>er</strong>s: >Täpf<strong>er</strong>keit und \X/ohltãtigkeit waren<br />

d<strong>er</strong> Gegenst<strong>an</strong>d sein<strong>er</strong> Muse< paßt <strong>nicht</strong> zu Tograi. Die in<br />

den Lamijat beh<strong>an</strong>delten Hauptth<strong>er</strong>.nen sind <strong>an</strong>d<strong>er</strong>e als Täpf<strong>er</strong>keit<br />

und [/ohltätigkeit. Das ü/<strong>er</strong>k h<strong>an</strong>delt in <strong>er</strong>sr<strong>er</strong> Linie<br />

von den Enttäuschungen <strong>an</strong> l/elt und Mitmenschen, <strong>er</strong>lebt<br />

in bitt<strong>er</strong>en Lebens<strong>er</strong>fahrungen eines Staatsm<strong>an</strong>nes. Knebel<br />

faßt den lnhalt d<strong>er</strong> Lamijat viel treffend<strong>er</strong> zusammen mit dem<br />

Satz: das W<strong>er</strong>k stellt den uehrgeizigen Stolz des Ârab<strong>er</strong>s vollkommen<br />

daru.J<br />

G<strong>an</strong>z undenkbar ab<strong>er</strong> ist es, daß Goethe das bei Tograi<br />

1 AA 3, 88: Paralipomenon ro7.<br />

2 !{/ortlaut des Briefes unt<strong>er</strong>r S. ç86.<br />

3 Vgl. unten S.588.<br />

s83


<strong>er</strong>wãhnte Dsparsame, edle $Øeib< für identisch hielt mit d<strong>er</strong><br />

ofìlzigen Maviaschönes Gedicht,<br />

worin <strong>er</strong> d<strong>er</strong> filzigen Mavia sehr liebreiche Belehrungen<br />

gibt. < unt<strong>er</strong> keinen lJmständen wäre d<strong>er</strong> Inhalt von Tograis<br />

Gedicht auf eine <strong>so</strong>lche Formel zu bringen, wie m<strong>an</strong><br />

sich aus dem Gesamttext üb<strong>er</strong>zeugen k<strong>an</strong>n. Die Lamijat sind<br />

kein Lehrgedicht für eine Frau. Goethes genaue Kenntnis des<br />

V/<strong>er</strong>ks schloß die Möglichkeit d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>wechslung aus.<br />

z. In Distichor'22kzrr' Dsparsam( als Kennzeichnung für<br />

das >edle V/eib< <strong>nicht</strong> im Sinne von >geizig< v<strong>er</strong>st<strong>an</strong>den w<strong>er</strong>den.<br />

Im B<strong>er</strong>eich d<strong>er</strong> Möglichkeit läge es nur, wenn m<strong>an</strong> die<br />

Stelle ironisch nähme. Dies ab<strong>er</strong> schließt eine Anm<strong>er</strong>kung<br />

Knebels zu Distichon zz aus.l Knebel weist hi<strong>er</strong> eigens darauf<br />

hin, daß Sparsamkeit d<strong>er</strong> Frau bei den Arab<strong>er</strong>n <strong>nicht</strong> als<br />

Fehl<strong>er</strong> getadelt, <strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n als Tugend geford<strong>er</strong>t wird.<br />

3. Die Ansicht, daß Sparsamkeit bei d<strong>er</strong> Frau eine Tugend<br />

sei, stimmte übrigens mit Goethes Üb<strong>er</strong>zeugungen<br />

üb<strong>er</strong>ein - ein Grund mehr für ihn, Tograis Distichon zz nícht<br />

ironisch mißzuv<strong>er</strong>stehen. Eine Lobrede auf die sparsame<br />

Frau hatte <strong>er</strong> selbst als Dicht<strong>er</strong> v<strong>er</strong>öffentlicht. In sein<strong>er</strong> frauenfreundlichen<br />

Schrift Die gufen Weíb<strong>er</strong> von rSoo war zu<br />

lesen:<br />

Ein wenig Geiz schadet dem V/eibe <strong>nicht</strong>s, <strong>so</strong> übel sie die V<strong>er</strong>schwendung<br />

kleidet. Freigebigkeit ist eine Tugend die dem<br />

M<strong>an</strong>n ziemt, und Festhalten ist die Tirgend eines Weibes. So hat<br />

es die Natur gewollt, und uns<strong>er</strong> Urteil wird im G<strong>an</strong>zen imm<strong>er</strong><br />

naturgemäß ausfallen.<br />

Goethe läßt d<strong>an</strong>n eine <strong>an</strong>mutige Kurzgeschichte folgen, die<br />

einen Lobpreis d<strong>er</strong> sparsamen Frau enthält. Ein junges Ehepaar<br />

g<strong>er</strong>ãt in Schwi<strong>er</strong>igkeiten. weil d<strong>er</strong> mãnnliche Partn<strong>er</strong><br />

rnit >gutmütig<strong>er</strong> Freigebigkeit< viel Geld v<strong>er</strong>schwendet. Die<br />

1 Siehe unten im Gesamttext S. 59o.<br />

J84


Frau weiß mit findig<strong>er</strong> und listig<strong>er</strong> Sparsamkeit >alles auf das<br />

strengste zusammenzuhalten


Für die Dau<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Einwirkung Tograis auf Goethe <strong>er</strong>gibt<br />

sich damit einZeitraum von üb<strong>er</strong> dreiJahrzehnten- Auf ein<br />

Gedicht von r 83 r als spätestes Zeugnis hatten wir hinweisen<br />

können.1 Doch scheinen die Lamíjat Goethe zum <strong>er</strong>stenmal<br />

schon rSoo <strong>an</strong>g<strong>er</strong>egt zu haben. Damit gehört Tograis Gedicht<br />

zu den seltenen Quellenw<strong>er</strong>ken des West-östlichen Diu<strong>an</strong>s,<br />

mit denen d<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong> sich schon vor Beginn sein<strong>er</strong> speziellen<br />

Orientstudien von r8r4/rJ befaßt hatte.<br />

Goethes vielseitig lit<strong>er</strong>arisch gebildet<strong>er</strong> Freund Knebel bezog<br />

auch den Orient in den B<strong>er</strong>eich sein<strong>er</strong> Int<strong>er</strong>essen ein. Das<br />

<strong>er</strong>klãrt <strong>seine</strong> im M<strong>er</strong>kur r8oo <strong>er</strong>schienene Tograi-üb<strong>er</strong>tragung.<br />

[Jnr den Dicht<strong>er</strong> bei sein<strong>er</strong> Arbeit am West-östlichen<br />

Diu<strong>an</strong> zu unt<strong>er</strong>stützen, schickte Knebel dem Freunde zu Beginn<br />

desJahres r8r5 einige >orientalische P<strong>er</strong>lenn aus <strong>seine</strong>m<br />

Besitz, für die Goethe d<strong>an</strong>kte und zugleich um mehr rd<strong>er</strong>gleichen<<br />

Mitteilungen bat.2 In Knebels Erwid<strong>er</strong>ung vom<br />

13. Februar r8r5 wird nun <strong>seine</strong> Tograi-üb<strong>er</strong>tragung gen<strong>an</strong>nt:3<br />

. . . Von orientalischen Gedichten habe ich jetzt weit<strong>er</strong> <strong>nicht</strong>s als<br />

die b<strong>er</strong>ührnte arabische Elegie, die ich vor mehr<strong>er</strong>en Jahren in<br />

Distichen gebracht habe und die im M<strong>er</strong>kur abgedruckr worden<br />

ist.<br />

Als Goethe darauf <strong>nicht</strong> reagi<strong>er</strong>re, kam Knebel nochmals am<br />

7. April r8r5 auf <strong>seine</strong> Tograi-üb<strong>er</strong>tragung zurück, <strong>er</strong> bot<br />

Goethe jetzt eine,{.bschrift <strong>an</strong>:<br />

Das Gedicht von Abu-Ismaelrlhograi habe ich unr<strong>er</strong> meinen<br />

Papi<strong>er</strong>en gefunden. Es besteht aus óo- Distichen, und hat, wie<br />

die Nachrichten sagen, <strong>seine</strong>m V<strong>er</strong>fass<strong>er</strong> den grösten Ruhm bei<br />

sein<strong>er</strong> Nation gebracht, ja ihm <strong>so</strong>gar zur Vesirstelie v<strong>er</strong>holfen.<br />

D<strong>er</strong> b<strong>er</strong>ühmte Reísþe hat <strong>so</strong>lches mit <strong>seine</strong>n Auslegungen und<br />

Noten in einem g<strong>an</strong>zen B<strong>an</strong>de h<strong>er</strong>ausgegeben, den ich einmal<br />

bei dem hiesigen Einsiedel f<strong>an</strong>d und es d<strong>an</strong>ach übe¡s<strong>er</strong>zre. Solltest<br />

Du es zu sehen wünschen, <strong>so</strong> k<strong>an</strong>n ich Dir es abschreiben<br />

1 Vgl. oben S. SZóf<br />

2 Ân Knebel, 8. Febr. r815 (WA w, 25, r9o).<br />

3 Die beiden im folgenden zit<strong>er</strong>ten Knebelschen Briefstellen fehlen im BrieÊ<br />

wechsel Goethe-Knebel. Text hi<strong>er</strong> nach AA 3, z5 r f.<br />

58ó


lassen. Es scheint mehr aus aphoristischen Sätzen zusammengesetzt,<br />

ais zu einem g<strong>an</strong>zeî Gedichte v<strong>er</strong>bunden zu seyn. . .<br />

.iena den 7. April r 8 r 5.<br />

Knebel<br />

Eine briefliche Antwort Goethes existi<strong>er</strong>t <strong>nicht</strong>. Möglich<strong>er</strong>weise<br />

hat ab<strong>er</strong> August v. Goethe, d<strong>er</strong> am lo. Âpril für einen<br />

Täg nach Jena fuhr, Knebel die Bitte des Vat<strong>er</strong>s üb<strong>er</strong>mittelt,<br />

ihm die <strong>an</strong>gebotene Abschrift <strong>an</strong>f<strong>er</strong>tigen zu lassen. Bald darauf<br />

wird die Sendung <strong>er</strong>folgt sein. Das in Knebels Brief <strong>er</strong>wähnte<br />

Tograi-Buch von Reiske war schon H<strong>an</strong>s.-J. 'Weitz<br />

<strong>nicht</strong> zugänglich, eben<strong>so</strong>wenig mir. ,'Üb<strong>er</strong>setzt< hat Knebel<br />

jedenfalls aus d<strong>er</strong>n Lateinischen, ob nach Golius, Pocockiús<br />

od<strong>er</strong> Reiske war <strong>nicht</strong> festzustellen. V/eitz führt Beispiele aus<br />

Pococks lateinisch<strong>er</strong> V<strong>er</strong>sion von róór <strong>an</strong>, die <strong>nicht</strong> in Distichen<br />

abgefaßt sind. Knebel war als Üb<strong>er</strong>setz<strong>er</strong> von Prop<strong>er</strong>z<br />

und Lukrez ân <strong>an</strong>tike V<strong>er</strong>smaße gewöhnt. Distichen zu wählen,<br />

entsprach klassizistisch<strong>er</strong> Mode. Dies<strong>er</strong> folgte auch noch<br />

Joseph v. Hamm<strong>er</strong>, d<strong>er</strong> in sein<strong>er</strong> Hafis-Üb<strong>er</strong>s etzrtrrg oft Distichen<br />

brachte. Klassizistisch<strong>er</strong> Mode entsprach gleichfails<br />

d<strong>er</strong> Titel uElegieElegie<<br />

von r8oo. Die M<strong>er</strong>þur-Fassung blieb hi<strong>er</strong> unb<strong>er</strong>ücksichtigt,<br />

mit ,\usnahme von Satzzeichen in Distichon zz.<br />

s87


Eine arabische EIegíe.<br />

Das Gedicht<br />

Âbu-Ismaëls-Tograï.<br />

(Dieses einzige Ge dicht hat <strong>seine</strong>m V<strong>er</strong>fass<strong>er</strong> bei sein<strong>er</strong> Nation großen<br />

Ruhm gebracht. Es stellt den ehrgeizigen Stolz des Arab<strong>er</strong>s<br />

vollkommen daE und hat noch trefliche Züge. |,<strong>er</strong> V<strong>er</strong>fass<strong>er</strong><br />

schw<strong>an</strong>g sich zur Steile eines Vezirs empor, kam ab<strong>er</strong> elend<strong>er</strong> Weise<br />

um.)<br />

Mich hat ein edles Gemüth ¡l*"nr, vor nied<strong>er</strong>em Leichtsinn<br />

Fremd<strong>er</strong> Zí<strong>er</strong>den b<strong>er</strong>aubt, sucht' ich die Zi<strong>er</strong>den in mir.<br />

\[/ie <strong>er</strong> im Anf<strong>an</strong>g war <strong>so</strong> sey mein Ruhm noch am Ende,<br />

Und die Sonne die sinkr glänzr wie am helien Mittag.<br />

2.<br />

3.<br />

'Warum<br />

weil'ich inZalura*, wo meine Geliebten <strong>nicht</strong> wohnen,<br />

Meine Kameiin ist f<strong>er</strong>n, f<strong>er</strong>ne von mir mein Kamel.<br />

4.<br />

Von den Meinen entf<strong>er</strong>nt, v<strong>er</strong>lassen, dürftig und einsam,<br />

Bin ich dem Schw<strong>er</strong>dte gleich, das m<strong>an</strong> ã<strong>er</strong> Scheide b<strong>er</strong>aubt.<br />

F<strong>er</strong>ne von mir ist d<strong>er</strong> Freund, d<strong>er</strong> meìne Klage v<strong>er</strong>nehme,<br />

Und d<strong>er</strong> süsse Genoß mein<strong>er</strong> Ergötzungen f<strong>er</strong>n.<br />

Meine W<strong>an</strong>d<strong>er</strong>ung ist <strong>so</strong> l<strong>an</strong>g, daß meine Kamelin<br />

Seufzet, d<strong>er</strong> Sattel mit ihr, und d<strong>er</strong> getrocknete Pfeil;<br />

J.<br />

6.<br />

lJnd mein magres Kamel <strong>er</strong>liegt mir unt<strong>er</strong> Ermârtung,<br />

Klaget mein Leiden selbst: Tädel nur rön<strong>er</strong> um mich.<br />

7.<br />

8.<br />

Reichthum sucht' ich, um ihn aus offene¡ H<strong>an</strong>d zu v<strong>er</strong>theilen,<br />

[Jnd zu befriedgen die Schuld meines <strong>er</strong>habnen Gefühls;<br />

* Bagdad<br />

588


9.<br />

,\b<strong>er</strong> die Zeithat die Hoffnung v<strong>er</strong>kehrt, statt all<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Beute<br />

Bin ich, nach mühsam<strong>er</strong> Fahrt, nun mit d<strong>er</strong> Ruhe v<strong>er</strong>gnügt. -<br />

IO.<br />

Nahte mir plötzlich d<strong>er</strong> Freund, <strong>an</strong> Gestalt d<strong>er</strong> <strong>er</strong>habenen L<strong>an</strong>ze<br />

Gleich, die am Sattel ihm stâck; rüstig, ein M<strong>an</strong>n in Gefahr,<br />

tT-<br />

Lieblich im Sch<strong>er</strong>z, und Strenge zum Ernst, mit trotzig<strong>er</strong> Härte<br />

Paarend des süßen Gesprächs zârtes v<strong>er</strong>trauliches Spiel;<br />

r2.<br />

Ihm v<strong>er</strong>scheucht ich die He<strong>er</strong>den des Schlaß, die sich nahen dem<br />

,{uge,<br />

'W<strong>an</strong>n die weidende Schaar sendet ihm Schlumm<strong>er</strong> die Nacht.<br />

r3.<br />

Doch die Gefährten w<strong>an</strong>kten auf ihren Sätteln; d<strong>er</strong> Eine<br />

Eben vom Täumel <strong>er</strong>wacht, trunken d<strong>er</strong> <strong>an</strong>dre vom Schlaf;<br />

14.<br />

Und da sagt ich zu ihm: um Hülfe hab'ich g<strong>er</strong>ufen<br />

Doch bei schw<strong>er</strong>em Geschick hast du mir Hülfe v<strong>er</strong>sagt.<br />

r5.<br />

Du vcrläßt mich und schläfst? doch wachen die Augen d<strong>er</strong><br />

St<strong>er</strong>ne!<br />

Und du änd<strong>er</strong>st, da <strong>nicht</strong> änd<strong>er</strong>t von Farbe die Nacht?<br />

ló.<br />

V/irst du vielleicht mich befreyn von meinem willigen lrrthum?<br />

Ach, zuweilen v<strong>er</strong>treibt Irrthum den furchtsamen Sinn!<br />

17.<br />

Nächtlich v<strong>er</strong>l<strong>an</strong>g' ich zu gehn zum Sammeiplatze von Edam,<br />

,tb<strong>er</strong> von Thoals Stamm wahren die Schützen den Ort;<br />

r8.<br />

Und sie v<strong>er</strong>theid'gen mit Schw<strong>er</strong>dt<strong>er</strong>n und glatten L<strong>an</strong>zen die<br />

Mädchen,<br />

Schwarzgelocket von Haar, röthlich von Kleid<strong>er</strong>n und Gold.<br />

589


9.<br />

Dahin gehe mit mir, geschützt vom Dunkel d<strong>er</strong> Nachtzeit;<br />

Ihr süßduftend<strong>er</strong> Hauch leit' uns zu ihrem GezeÌt.<br />

20.<br />

Meine Freundin, sie schlãft, wo Feinde liegen und Löwen<br />

(Jm das Dickicht des Rehs; Wãld<strong>er</strong> von Spiessen gepfl<strong>an</strong>zt.<br />

2r.<br />

Ich v<strong>er</strong>l<strong>an</strong>ge das Mãdchen des einsamen Thales; die Wimp<strong>er</strong>n<br />

Sind ihr mit Sch<strong>er</strong>zen bethaut, schwarz sind die Bogen des<br />

Âug's.<br />

Ja<br />

22.<br />

es <strong>er</strong>höhet den Sch<strong>er</strong>z in d<strong>er</strong> edlen Männ<strong>er</strong> Gesprächen,<br />

Zeigt sich, das edle \Veib, furchtsam und sparsamen Sinns.*<br />

23.<br />

Liebesfcu<strong>er</strong> durchnachtet von ihr in brennenden Fl<strong>er</strong>zen;<br />

Gastiiches Feu<strong>er</strong> des Freunds lod<strong>er</strong>t vom Hügel h<strong>er</strong>ab.**<br />

24.<br />

Jene tödten mit Liebe, v<strong>er</strong>zehren und schmelzen die H<strong>er</strong>zen;<br />

Diese, dem Freundesbesuch, schlachten sie Pf<strong>er</strong>d und Kamel.<br />

Nur ein einzig<strong>er</strong> Bech<strong>er</strong>, in ih¡en Hütten getrunken,<br />

Honig od<strong>er</strong> des 'Weins, heilet die Wunden des Pfeils.<br />

'Vl/ohnt ich vielleicht mit ihr in d<strong>er</strong>¡ abgelegenen Thale,<br />

Haucht ein Lüftchen mich <strong>an</strong>, und ich genäse davonl<br />

25.<br />

26.<br />

27.<br />

Doppelte Wunde v<strong>er</strong>setzen die Pfeite d<strong>er</strong> mãchtigen Augen;<br />

Ab<strong>er</strong> <strong>so</strong> groß sie auch ist schm<strong>er</strong>zet die V/unde doch <strong>nicht</strong>.<br />

* Die ,\rab<strong>er</strong> haben das Sprichwort: Freigebigkeit ist bei dem Weibe, was<br />

d<strong>er</strong> Geitz bei dem M<strong>an</strong>ne. Nemlich beides <strong>nicht</strong> <strong>an</strong>stãndig.<br />

** Die ,{rab<strong>er</strong> sind von <strong>so</strong>lch<strong>er</strong> Gastfreundiichkeit, daß sie zu Nachts Feu<strong>er</strong><br />

auf den Hügeln <strong>an</strong>ztinden, um Fremde zu sich einzuladen.<br />

t90


28.<br />

Und es <strong>er</strong>schrecken mich <strong>nicht</strong> die beiden schwimmenden<br />

Schw<strong>er</strong>dt<strong>er</strong>;<br />

Blickend durch des Gewebs Vorh<strong>an</strong>g entzücken sie mich.<br />

29.<br />

Und ich jage ihr nach d<strong>er</strong> Gazelle, um mit ihr zu spielen,<br />

Droht schon mit grimmigem Blick aus dem Gehölze d<strong>er</strong><br />

Löw<br />

3o-<br />

Liebe sich selbst zu <strong>er</strong>halten v<strong>er</strong>scheucht <strong>er</strong>habn<strong>er</strong>e Tiiebe,<br />

Und es gewöhnt sich ein M<strong>an</strong>n endlich <strong>an</strong> läßige Ruh;<br />

Hängest du dies<strong>er</strong> nach, <strong>so</strong> grabe dir Höhlen d<strong>er</strong> Erde,<br />

Klett're die Luft hin<strong>an</strong>, <strong>so</strong>ndre von Menschen dich ab;<br />

3r.<br />

32.<br />

Laß das Hohe für die, die den Pfad zu <strong>er</strong>steigen sich miìhen,<br />

Und begnùge dich nur mit clem v<strong>er</strong>ächtlichen Theil.<br />

Nied<strong>er</strong>e Seelcn laß sich genügen in nied<strong>er</strong><strong>er</strong> Armuth;<br />

Ruhm ist in des Kamels rasch<strong>er</strong> gespornetem G<strong>an</strong>g:<br />

33.<br />

34.<br />

Wirf dich mit ihm in Schlünde d<strong>er</strong> 'Wüsten, daß deines Kamels<br />

Halft<strong>er</strong> <strong>er</strong>reich im Lauf muthig<strong>er</strong> Rosse Gebiß.<br />

35.<br />

Sagtc mir <strong>nicht</strong> ein hohes Gefühl; wahr bleibet sein Ausspruch:<br />

'fi/<strong>an</strong>drungen seyen d<strong>er</strong> Ruhm welch<strong>er</strong> dem M<strong>an</strong>ne geziemt.<br />

36.<br />

Wär es gedeihliches Glück <strong>an</strong> hoh<strong>er</strong> Stelle zu rasten,<br />

Y/ürde die Sonne denn je wechseln die Zeichen d<strong>er</strong> Bahn?<br />

37.<br />

Und ich flehte dem Giück, ob irgend es gönnet sein Ohr mir;<br />

Ab<strong>er</strong> entf<strong>er</strong>net von mir neigt' es den Thoren sich zu.<br />

59r


38.<br />

Säh' sein Auge vielleicht von mir den W<strong>er</strong>th, und den Unw<strong>er</strong>th<br />

Jen<strong>er</strong>, schlief es für sie, und es <strong>er</strong>wachte für mich.<br />

39.<br />

Ich besänft'ge mein H<strong>er</strong>z, mit süss<strong>er</strong> Hoffnung ihm<br />

schmeichelnd;<br />

Eng ist das Leben fürwahq ab<strong>er</strong> die Hoffnung ist weit.<br />

Als die'Iage noch wuchsen gefiel das Leben mir wenig,<br />

Nun abnehmend mit Eil' könnten gefallen sie mir?<br />

40.<br />

4r. .<br />

Eigenen V/<strong>er</strong>thes Gefìihl isr mein<strong>er</strong> Seele für Reichthum;<br />

ljnw<strong>er</strong>th, d<strong>er</strong> sich <strong>nicht</strong> schätzt, hielt' ich ihr imm<strong>er</strong> enrf<strong>er</strong>nr.<br />

42.<br />

Schimm<strong>er</strong>nd<strong>er</strong> Fläche Gl<strong>an</strong>z ist jedem Schw<strong>er</strong>dte gewöhnlich;<br />

Doch in des Starken H<strong>an</strong>d prüft sich d<strong>er</strong> eigene ü/<strong>er</strong>th.<br />

43.<br />

Sollt' ich imm<strong>er</strong> nur sehn die H<strong>er</strong>rschaft d<strong>er</strong> Nied<strong>er</strong>n und<br />

Schlechten,<br />

.Wünscht' ich die Täge mir <strong>nicht</strong> läng<strong>er</strong> v<strong>er</strong>zög<strong>er</strong>r zu sehn.<br />

44.<br />

Menschen die <strong>nicht</strong> mich v<strong>er</strong>mochten in ihrem Lau{ zu<br />

<strong>er</strong>reichen,<br />

Schritt ich auch l<strong>an</strong>gsam dah<strong>er</strong>, sind mir gekommen zuvor.<br />

45.<br />

Al<strong>so</strong> belohnt m<strong>an</strong> den M<strong>an</strong>n, d<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Zeitgenossen <strong>so</strong> viele<br />

IJeb<strong>er</strong>lebend, sich selbst läng<strong>er</strong>e Täge gewünscht!<br />

46.<br />

Ab<strong>er</strong> wundre dich <strong>nicht</strong>, daß unt<strong>er</strong> dem Nied<strong>er</strong>n du stehest;<br />

Steht die Sonneja selbst unt<strong>er</strong> dem kleinen Saturn.<br />

592<br />

47.<br />

Dulte dah<strong>er</strong>, und v<strong>er</strong>schmähe die Künste, nur harre g<strong>er</strong>uhig;<br />

Dir gewährt noch die Zeit, daß du d<strong>er</strong> Künste <strong>nicht</strong> brauchst.


48.<br />

Dem du v<strong>er</strong>trâutest, d<strong>er</strong> Freund, d<strong>er</strong> ist dein widrigst<strong>er</strong> Feind<br />

nun;<br />

Hüte vor Menschen dich! Gegen die Schlauen sey schlau!<br />

49.<br />

Das ist d<strong>er</strong> M<strong>an</strong>n d<strong>er</strong>'V/eìt, und einzig gehörr <strong>er</strong> für sic nur,<br />

D<strong>er</strong> <strong>nicht</strong> trauet d<strong>er</strong>'V/elt, nirgend auf sie sich v<strong>er</strong>läßt.<br />

Alizugütige Meinung von <strong>an</strong>d<strong>er</strong>n hegen ist Schwachheit:<br />

Halte sie böse, zu viel Sich<strong>er</strong>heit bringet Gefahr.<br />

5o.<br />

5r.<br />

Mein V<strong>er</strong>trauen wurde getäuscht, mit List ich b<strong>er</strong>ücket,<br />

Zwischen dem [/ort und d<strong>er</strong> That zeigte sich offen<strong>er</strong> Trug.<br />

52.<br />

Deine wahre Gestalt entstellt m<strong>an</strong> mit Lügen bei Menschen;<br />

Hat das Krumme sich je zu dem G<strong>er</strong>aden gepaßt?<br />

53.<br />

'W<strong>an</strong>n noch etwas v<strong>er</strong>mag beim rechten Wort sie zu halten,<br />

Muß das Schw<strong>er</strong>dt nur allein kommen dem Tadel zuvor-<br />

Höre, d<strong>er</strong> du noch suchst vom trüben Leben die Reste,<br />

Früh in d<strong>er</strong>Jugend schon hast du das Reine v<strong>er</strong>zehrt.<br />

54.<br />

5J.<br />

Darum stürzest du dich, zu durchrud<strong>er</strong>n das Me<strong>er</strong>, in die Tiefe;<br />

Da dir ein Tiöpfchen <strong>so</strong>nsr sart d<strong>er</strong> Erquickung v<strong>er</strong>lieh.<br />

5ó.<br />

In d<strong>er</strong> Genügsamkeit Reich befìirchre m<strong>an</strong> <strong>nicht</strong>s, m<strong>an</strong> bedarf<br />

<strong>nicht</strong>s,<br />

Nicht aufwartenden Dienst, noch des beschirmenden Schutz.<br />

57.<br />

Hoffest du Dau<strong>er</strong> im Hause, das wed<strong>er</strong> Stütze noch Grund hat?<br />

Hast du von Schatten gehört, welche vorüb<strong>er</strong> <strong>nicht</strong> gehn?<br />

593


58.<br />

Alleskundig<strong>er</strong> M<strong>an</strong>n, d<strong>er</strong> alle Geheimnisse kennet,<br />

Schweige! nur dieß allein rettet vom Falle dich noch.<br />

59.<br />

Z'¡ d<strong>er</strong>' Geschäften des Staats warst du geschickt und gebildet,<br />

Und kein <strong>an</strong>dreq wie du, trieb sie mit ähnlichem Fleiß;<br />

óo.<br />

Hüte dich, daß rn<strong>an</strong> dich nun <strong>nicht</strong> treibt auf mag<strong>er</strong>e V/iesen,<br />

Wo dem gebrauchten Kamel Niem<strong>an</strong>d die Weide be<strong>so</strong>rgt.<br />

KInebel].


SPRICHV/ÖRTLICHES<br />

Z, altenr-.u.'*,.i,Jï<br />

""":.'J;, -J;-.,,<br />

sprichwörtliche Redewendungen, Spruchgedichte, Bau<strong>er</strong>nregeln,<br />

Parabeln, Gnomen, Apophtegmata, Epigramme,<br />

d. h. alle Arten von pointi<strong>er</strong>ten, didaktischen Kurzformen int<strong>er</strong>essi<strong>er</strong>t,<br />

g<strong>an</strong>z be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>sjedoch in <strong>seine</strong>n Alt<strong>er</strong>sjahren. Seit<br />

Beginn <strong>seine</strong>s sechsten Jahrzehnts läßt sich eine gesteig<strong>er</strong>te<br />

,tufm<strong>er</strong>ksamkeit für Sprichwörtliches feststellen, was psychologisch<br />

mit kausalen Zusammenhängen zwischen d<strong>er</strong><br />

Existenzform des Spruches und d<strong>er</strong> des Alt<strong>er</strong>s <strong>er</strong>klärt w<strong>er</strong>den<br />

k<strong>an</strong>n: zunehmend<strong>er</strong> Neigung zur Reflexion, zurBetrachtung<br />

des V/eltlauß statt jugendlichen H<strong>an</strong>delns, mit dem v/unsch<br />

Erfahrungen zum Abschluß zu bringen, d<strong>er</strong> Tendenz zum<br />

didaktischen und apodiktischen Sprechen, dem Bedürfnis,<br />

sich kurz zu fassen.l Selbst <strong>an</strong> Goethes Bibliotheksentleihungen<br />

läßt sich sein Int<strong>er</strong>esse"<strong>an</strong> Spruchweisheiten ablesen. lJm<br />

<strong>an</strong>d<strong>er</strong>e Völk<strong>er</strong> genau<strong>er</strong> kennenzul<strong>er</strong>nen, v<strong>er</strong>tiefte <strong>er</strong> sich in<br />

d<strong>er</strong>en Spruchgut, wie es d<strong>er</strong> Volksmund bewahrt hat. Die<br />

Erfahrung sagte ihm:<br />

Sprichwort bezeichnet Nationen;<br />

Mußt ab<strong>er</strong> <strong>er</strong>st unt<strong>er</strong> ihnen wohnen.2<br />

Als Les<strong>er</strong> von Sprichwört<strong>er</strong>sâmmlungen und ähnlichen v/'<strong>er</strong>ken<br />

v<strong>er</strong>hielt Goethe sich, wie bei ihm <strong>nicht</strong> <strong>an</strong>d<strong>er</strong>s zu <strong>er</strong>warten,<br />

keineswegs nur rezeptt. Oft wurde <strong>er</strong> dabei zu schöpf<strong>er</strong>ischen<br />

Gegenleistungen <strong>an</strong>g<strong>er</strong>egt, <strong>er</strong> mußte sich gegenüb<strong>er</strong><br />

dem Gelesenen >produktiv v<strong>er</strong>halten


druck für <strong>so</strong>lche kreative Reaktionsweise lautete. M<strong>an</strong>chmai<br />

gewinnt m<strong>an</strong> den Eindruck, daß <strong>er</strong> absichtlich zu bestimmten<br />

Büch<strong>er</strong>n grifl um sich durch sie zu Gedichten stimuli<strong>er</strong>en<br />

zu lassen.V<strong>er</strong>mutlich war das auch d<strong>er</strong> Fall bei sein<strong>er</strong> Beschäftigung<br />

mit arabischen Sprichwört<strong>er</strong>n während d<strong>er</strong><br />

Diu<strong>an</strong>-Epoche. Auß<strong>er</strong> in Sammlungen arabisch<strong>er</strong> Sprichwört<strong>er</strong>,<br />

die <strong>er</strong> sich zu v<strong>er</strong>schaffen wußte,l traf <strong>er</strong> bei <strong>seine</strong>m<br />

Studium des Nahen und Mittl<strong>er</strong>en Orients <strong>so</strong>zusagen auf<br />

Schritt und Tiitt auf Sprichwörtliches, meist in Form von<br />

Zitaten aus dem Kor<strong>an</strong>, aus d<strong>er</strong> Sunna od<strong>er</strong> aus Dicht<strong>er</strong>texten.<br />

Von Fãllen, wo Lektüre des Kor<strong>an</strong>s od<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Sunna Goethezu<br />

Spruchgedichten v<strong>er</strong><strong>an</strong>laßte, war b<strong>er</strong>eits die Rede,2 desgleichen<br />

von d<strong>er</strong> Vielzahl d<strong>er</strong> Fälle, in denen sentenzartige Partien<br />

d<strong>er</strong> Moallakat Goethe zu spruchartigen Zahmen Xenien<br />

<strong>an</strong>regten.3<br />

Bek<strong>an</strong>ntlich spielen in d<strong>er</strong> arabischen 'V/elt sprichwörtliche<br />

Redewendungen eine enorm große Rolle. Die rtrab<strong>er</strong> neigen<br />

dazu, in ihre Rede Zitate ein:ruflechten. So kommt es, daß<br />

I Auf die frühste Entleihung von arabischen Sprichwört<strong>er</strong>n trifft m<strong>an</strong> im<br />

Entleihungsv<strong>er</strong>zeichnis d<strong>er</strong>Jena<strong>er</strong> Schloßbibliothek (Bulling Nr. zz: vom z.<br />

Dez. r8r3 bis 9,J<strong>an</strong>. r8l4):Joh.J. Pteiske, Sammlung ei.n.ig<strong>er</strong> arabisth<strong>er</strong> Sprüchwört<strong>er</strong><br />

die yon den Sletken od<strong>er</strong> Stàben h<strong>er</strong>genommen sind . . . Leipzig r 758. - Aus<br />

d<strong>er</strong> 'Weimar<strong>er</strong> Bibliothek entiieh Goethe von Dezemb<strong>er</strong> r8r4 bis Juni r8r9<br />

wied<strong>er</strong>holt H<strong>er</strong>belots Bibliothèque orientale, die einen Anh<strong>an</strong>g mit arabischen<br />

Sprichwört<strong>er</strong>n enthält (Keudell-Deeden Nr.94j, 946, to75, tt6z).- Spríchuõrt<strong>er</strong><br />

d<strong>er</strong> Arab<strong>er</strong> enthiehen auch die ,{usgaben von Adam Olearius' P¿rs.<br />

Reisebesthreibung von ró54 <strong>so</strong>wie die Colligirten Reisebesthreibungen.von ró96.<br />

Ebd. findet sich auch des Olearius Üb<strong>er</strong>setzung von Saadis üb<strong>er</strong>aus spruchreichem<br />

Culist<strong>an</strong> (Rosen-Thøl) und die durch Olearius v<strong>er</strong><strong>an</strong>laßte Üb<strong>er</strong>setzung<br />

des gleichfalls sehr spruchreichen Bust<strong>an</strong> (Baum-Garten) von Saadi.<br />

Goethe entlieh die betr. Bände seit März l8r 5 bisJuni r 8 19 imm<strong>er</strong> wied<strong>er</strong> in<br />

zeitiichen Abständen aus d<strong>er</strong>'Weimar<strong>er</strong> Bibliothek (Keudell-Deetjen Nr.<br />

g1o,974, tr67, rz3o).-Vom zz. Nov. r8z8 bis g. Febr. r8z9 entlieh Goethe<br />

aus d<strong>er</strong>'Weimar<strong>er</strong> Bibliothek (Keudell-Deetjen Nr. r g5o) : Scalig<strong>er</strong>, Josephus<br />

et Thomas Erpenius: Prov<strong>er</strong>biorum Atabicorum centuriae ¡r ... Cum int<strong>er</strong>pret.<br />

Latina . . . Lugduni Bat. 1623. Durch welches spezielie Anliegen diese letzte<br />

Entleihung v<strong>er</strong><strong>an</strong>laßt wurde, konnte bish<strong>er</strong> <strong>nicht</strong> <strong>er</strong>mittelt w<strong>er</strong>den.<br />

2 Vgl. oben S. z6gff.; z6+ff.<br />

3 Vgl. oben S. rrTfL<br />

596


m<strong>an</strong> sprichwörtliche Redensarten auch in Reisebeschreibungen,<br />

in geschichtlichen Darstellungen, Biographien des Propheten<br />

usw. oft <strong>er</strong>wähnt findet. D<strong>er</strong> West-iistliche Diu<strong>an</strong> sptegelt<br />

mit <strong>seine</strong>n vielen Spruchgedichten realistisch wide¡<br />

welche Bedeutung die Spruchform im Leben d<strong>er</strong> Bevölk<strong>er</strong>ung<br />

des Nahen und Mittl<strong>er</strong>en Ostens spielt. Absichtlich hat<br />

Goethe spruchartige Kurzgedichte im gesamten Diu<strong>an</strong> >z<strong>er</strong>streut


Kommt Goethe hi<strong>er</strong> bei Charakt<strong>er</strong>isi<strong>er</strong>ung des Buchs d<strong>er</strong> Betrachtungen<br />

auf einen Hauptaspekt islamisch<strong>er</strong> Frömmigkeit<br />

zu sprechen, <strong>so</strong> betont <strong>er</strong> bei <strong>an</strong>d<strong>er</strong><strong>er</strong> Gelegenheit, daß das<br />

Buch d<strong>er</strong> Betrachtwngen, das Buch des {.Jnmuts und das Buch d<strong>er</strong><br />

Sprüche ein<strong>an</strong>d<strong>er</strong> >g<strong>an</strong>z nahe v<strong>er</strong>w<strong>an</strong>dt< seien.l Das Buch d<strong>er</strong><br />

Sprüche nimmt Goethe zum Anlaß, auf spezielle Qualitäten<br />

d<strong>er</strong> orientalischen Spruchdichtungen hinzuweisen, wodurch<br />

sie ihm als nachahmensw<strong>er</strong>te Must<strong>er</strong> <strong>er</strong>scheincn:<br />

Orientalische Sprüche . . . behalten den eigentümlichen Charakt<strong>er</strong><br />

d<strong>er</strong> gàîzeî Dichtkunst, daß sie sich sehr oft auf sinnliche,<br />

sichtbare Gegenstände bcziehen; und es finden sich viele darunt<strong>er</strong>,<br />

die m<strong>an</strong> mit Recht lakonische Parabeln nennen könnte.<br />

Diese Art bleibt dem V/estländ<strong>er</strong> die schw<strong>er</strong>ste, weil uns<strong>er</strong>e<br />

Umgebung zu trocken. g<strong>er</strong>egelt und prosaisch <strong>er</strong>scheint. Alte<br />

deutsche Sprùchwört<strong>er</strong> jedoch, wo sich d<strong>er</strong> Sinn zum Gleichnis<br />

umbiidet, können hi<strong>er</strong> gleichfalls uns<strong>er</strong> Must<strong>er</strong> sein.2<br />

Wied<strong>er</strong> h<strong>an</strong>delt es sich um die gleichen poetischen Qualitãten,<br />

die Goethe schon <strong>an</strong> d<strong>er</strong> vorislamischen Beduinendichtung<br />

g<strong>er</strong>ühmt hatte: echte Naturnähe, frohe Sinnenhaftigkeit,<br />

klare Gegenständlichkeit, lebendige Ursprünglichkeit,3<br />

die auf den ,tbendländ<strong>er</strong> beiebend wirken, weil sie<br />

auf <strong>er</strong>frischende Wcise mit sein<strong>er</strong> trocken-prosaischen.<br />

nücht<strong>er</strong>n-g<strong>er</strong>egelten lJmwelt kontrasti<strong>er</strong>en. Durch Zoheir<br />

und m<strong>an</strong>che <strong>an</strong>d<strong>er</strong>e arabische Vorgäng<strong>er</strong> hatte Goethe sich<br />

zu Spruchgedichten inspiri<strong>er</strong>t gefühlt, dìe <strong>er</strong> als >Ausbrüche<br />

des lJnmutsL;uft zt machen trachtetKrinftig<strong>er</strong> Div<strong>an</strong>Künftig<strong>er</strong> Div<strong>an</strong>


Zu ihnen gehören auch dieim Medschnun-Kapitel <strong>er</strong>wähnren<br />

Fälle.1<br />

Durch ihr Vorbild gaben mehr<strong>er</strong>e arabische Dicht<strong>er</strong> Goethe<br />

damals die Möglichkeit, sich auch sein<strong>er</strong>seits >Luft zu machenmit Heit<strong>er</strong>keit und Wohlwolieno2 aufnehmen<br />

k<strong>an</strong>n, wohltuend wirken, indem sie ihm helGn, sich<br />

gleichfalls in ähnlich bedrängenden und quãlenden Lebenssituationen<br />

>Luft zu machenein Gleichgewichtdaß d<strong>er</strong> Mensch<br />

gesundctu.a<br />

Eine Hauptabsicht Goethes, ais <strong>er</strong> das Buch d<strong>er</strong> Sprüche rm<br />

West-östlichen Díu<strong>an</strong> schuf, war es: >Talism<strong>an</strong>e< âuszustreuen,<br />

gemäß dem <strong>er</strong>sten Vi<strong>er</strong>zeil<strong>er</strong> dieses Buches:<br />

Talism<strong>an</strong>e w<strong>er</strong>d'ich in dem Buch z<strong>er</strong>streuen,<br />

Das bewirkt ein Gleichgewicht.<br />

.W<strong>er</strong> mit gläub'g<strong>er</strong> Nadel sticht<br />

Üb<strong>er</strong>all <strong>so</strong>ll gutes Worr ihn freuen.<br />

Ein rTälism<strong>an</strong>< ist eigentlich ein mit ein<strong>er</strong> Inschrift v<strong>er</strong>sehen<strong>er</strong><br />

geschnitten<strong>er</strong> Stein, von dem die magischen Kräfte des Glückspendens<br />

und Schutzv<strong>er</strong>leihens ausgehen <strong>so</strong>llen. Die üb<strong>er</strong>zeugLtr'g,<br />

daß magische Kräfte <strong>an</strong> bestimmte Steine und Inschriften<br />

gebunden sind, geht auf heidnischeZeiten zurück,<br />

mischte sich ab<strong>er</strong> im Orient, wie <strong>an</strong>d<strong>er</strong>e ab<strong>er</strong>gläubische Vorsteliungen<br />

auch, mit religiösen Glaubensformen. In den<br />

t Vgl. oben S. 537fF.<br />

t*T:.." und Abh<strong>an</strong>dlungen,Kap. >Künftig<strong>er</strong> Div<strong>an</strong>q, Abschnitt Buch des IJn-<br />

3 Vgi. uTàlism<strong>an</strong>e w<strong>er</strong>d' ich in dem Buch z<strong>er</strong>streüen . . .<br />

( im Buch d<strong>er</strong> Sprüche:<br />

4 Vgl. das Gedicht Drektígkeit (o Worauf kommr es üb<strong>er</strong>all <strong>an</strong> . . .


Bazaren d<strong>er</strong> Länd<strong>er</strong> des Nahen und Mittl<strong>er</strong>en Orients findet<br />

m<strong>an</strong> Glaubensvorstellungen islamisch<strong>er</strong> Prägung, die vor allem<br />

in Kor<strong>an</strong>-Sprüchen ihren Ausdruck finden, auf Inschriftsteinen,<br />

<strong>Am</strong>uletten, Siegelringen und <strong>an</strong>d<strong>er</strong>n rSegenspfind<strong>er</strong>n


Das war g<strong>an</strong>z tn des Diw<strong>an</strong>-Dicht<strong>er</strong>s Hatem Sinne, dessen<br />

Freundin Suleika auch <strong>seine</strong> und des Hafis V<strong>er</strong>se statt eines<br />

<strong>Am</strong>ulettes od<strong>er</strong> Talism<strong>an</strong>s <strong>er</strong>griff. 'Wenn V<strong>er</strong>se <strong>an</strong> die Stelle<br />

d<strong>er</strong> mit magischen Kräften ausgestatteten r<strong>Am</strong>uiette( treten<br />

können, <strong>so</strong> gehören auch sie zu den Schutz v<strong>er</strong>leihenden,<br />

Glück spendenden >Segenspfind<strong>er</strong>nBuchorakelu die V<strong>er</strong>se aus<br />

dem Buch d<strong>er</strong> Sprüche<br />

basi<strong>er</strong>en:<br />

W<strong>er</strong> mit gläub'g<strong>er</strong> Nadel sticht<br />

Üb<strong>er</strong>all <strong>so</strong>ll gutes V/ort ihn freuen.l<br />

Diese bei den Mohammed<strong>an</strong><strong>er</strong>n übiiche Art, durch das AuÊ<br />

schlagen eines b<strong>er</strong>ühmten Gedichts wahrzusagen, wird Istichare<br />

gen<strong>an</strong>nt, und geschieht durch eine Nadel, womit m<strong>an</strong> in das Gst<br />

zugeschlagene Buch sticht. Jene Stelle, auf welche das Ungefihr<br />

die Nadel gefihret, ist Orakelspruch üb<strong>er</strong> das Ereigniß, worùb<strong>er</strong><br />

m<strong>an</strong> das Schicksal befragt.2<br />

D<strong>er</strong> Diu<strong>an</strong>-Dicht<strong>er</strong> schloß sich <strong>so</strong>mit bewußt arabischem<br />

Brauchtum <strong>an</strong>, wenn <strong>er</strong> in sein W<strong>er</strong>k >Tälism<strong>an</strong>e< einstreute,<br />

die als V/eisheits- und tostsprüche den Les<strong>er</strong>n zum nötigen<br />

seelischen rGleichgewicht< v<strong>er</strong>helfen <strong>so</strong>llen. Er hoffte, daß<br />

auch dem West-iistlichen Díu<strong>an</strong> wie den Díw<strong>an</strong>en arabisch<strong>er</strong><br />

und p<strong>er</strong>sisch<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong> die Ehre wid<strong>er</strong>fahren möge, als Orakelbüchlein<br />

zu dienen:<br />

D<strong>er</strong> injedem Täg düst<strong>er</strong> bef<strong>an</strong>gene, nach ein<strong>er</strong> aufgehellten Zukunft<br />

sich umschauende Mensch greift begi<strong>er</strong>ig nach Zufallígkeiten,<br />

um irgend eine weissagende Andeutung aufzuhaschen.<br />

D<strong>er</strong> (Jnentschlossene findet nur sein Heil im Entschluß dem<br />

,\usspruch des Loses sich zu unt<strong>er</strong>w<strong>er</strong>fen. Solch<strong>er</strong> Art ist die<br />

üb<strong>er</strong>all h<strong>er</strong>kömmliche Orakelfrage <strong>an</strong> irgend ein bedeutendes<br />

1 V. ¡. +. von rTälism<strong>an</strong>e w<strong>er</strong>d'ich in dem Buch z<strong>er</strong>streuen...(.<br />

2 Latif: od<strong>er</strong> biographische Nacl*ichten uon uorzüglichen türþischen Dícht<strong>er</strong>n,<br />

nebst ein<strong>er</strong> Blumenlese aus íhren W<strong>er</strong>þen..Aus dem Türkischen des Monia Abdul<br />

Larifi uncl des Aschick Hass<strong>an</strong> Tschelebe, üb<strong>er</strong>setzt von T[homas von]<br />

Chab<strong>er</strong>t. Zürich rSoo. S. r¿2.<br />

óor


Buch, zwischen dessen Blätt<strong>er</strong> m<strong>an</strong> eine Nadel v<strong>er</strong>senkt und die<br />

dadurch hezeichn<strong>er</strong>e Stelle beim Aufschlagen gläubig beacht<strong>er</strong>.<br />

. Wir waren frühcr mit P<strong>er</strong><strong>so</strong>nen genau v<strong>er</strong>bunden, welche sich<br />

auf diese Weise bei d<strong>er</strong> Bibei, dem Scharzkästlein und ähnlichen<br />

Erbauungsw<strong>er</strong>ken zutraulich Rats <strong>er</strong>holten und mehrmals in<br />

den größten Nöten Trost, ja Bestärkung fürs g<strong>an</strong>ze Leben ge-<br />

*âr.tat<strong>er</strong>t.l<br />

Im Orient finden wir diese Sitte gleichfalls in übung; sie wird<br />

Fal gen<strong>an</strong>nt, und die Ehre d<strong>er</strong>selben begegnete Hafisen gleich<br />

nach <strong>seine</strong>m Tode. Denn als clie Strenggläubigen ihn <strong>nicht</strong> fei<strong>er</strong>lich<br />

be<strong>er</strong>digen wollten, befragte m<strong>an</strong> seinc Gedichte, und als die<br />

bezeichnete Stelle <strong>seine</strong>s Grabes <strong>er</strong>wãhnt, das die-V/<strong>an</strong>dcr<strong>er</strong> d<strong>er</strong>einst<br />

v<strong>er</strong>ehren würden, <strong>so</strong> folg<strong>er</strong>te m<strong>an</strong> daraus, daß <strong>er</strong> auch<br />

müsse ehrenvoll begraben w<strong>er</strong>den. D<strong>er</strong> westliche Dicht<strong>er</strong> spielt<br />

ebenfalls auf diese Gewohnheit <strong>an</strong> und wünscht, daß <strong>seine</strong>m<br />

Büchlein gleiche Ehre wid<strong>er</strong>fahren möge.2<br />

V/ährend mân im Ëuropa d<strong>er</strong> Goethezeir nur die Bibel und<br />

religiöse Büch<strong>er</strong> wie das Güldene Schatzkästlein d<strong>er</strong> Kínd<strong>er</strong><br />

Cottes, al<strong>so</strong> religiöse Erbauungsbüch<strong>er</strong>, zu Orakelzwecken<br />

v<strong>er</strong>wendete, \À/ar es im islamischen Orient durchaus üblich,<br />

auch die V/<strong>er</strong>ke d<strong>er</strong> großen Dicht<strong>er</strong> in dies<strong>er</strong> V/eise um Rar zu<br />

fragen. Noch heute pilg<strong>er</strong>nja viele Menschen nâch Schiras zu<br />

den Sarkophagen des Hafìs und Saadi, um dort d<strong>er</strong>en Diw<strong>an</strong>e<br />

auf die beschriebene Weise als Orakelbüch<strong>er</strong> zu benutzen. Im<br />

,tnschluß <strong>an</strong> arabisch-p<strong>er</strong>sisches Brauchtum mâcht Goethe<br />

<strong>seine</strong> Les<strong>er</strong> auf Möglichkeiten aufm<strong>er</strong>ksam, auch die V/<strong>er</strong>ke<br />

ihr<strong>er</strong> Dicht<strong>er</strong> in diesem Sinne als >weltliche Ev<strong>an</strong>gelien< zu<br />

brauchen. Darum streut <strong>er</strong> >Tälism<strong>an</strong>e< in sein Buch ein, die<br />

als Weisheits- und Tfostsprüche dem Les<strong>er</strong> zum seelischen<br />

>Gleichgewicht< v<strong>er</strong>helfen können.<br />

Nur noch einige Beispiele von Anregungen, die Goethe arabisch<strong>er</strong><br />

Spruchdichtung v<strong>er</strong>d<strong>an</strong>kte: bei <strong>seine</strong>n Orientstudien<br />

zu Beginn desJahres r8r5 war ihm eine Sammlung Etlíche<br />

feine Sprich-Wört<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Arab<strong>er</strong> in d<strong>er</strong> barocken üb<strong>er</strong>setzung<br />

1 Goethe dachte hi<strong>er</strong> vor allem <strong>an</strong> die eigene Mutt<strong>er</strong> und <strong>an</strong> die von ihm hoch<br />

v<strong>er</strong>ehrte Pietistin Sus<strong>an</strong>na Katharina v. Klettenb<strong>er</strong>g.<br />

2 N o ten und Abh<strong>an</strong> dl ungen, Kap. uBuch*Orakel < (W A r 7, r zz f .).<br />

6oz


von rtdam Olearius begegnet.l Daß hi<strong>er</strong> die Tügend d<strong>er</strong> Freigebigkeit<br />

wied<strong>er</strong>holt g<strong>er</strong>ühmt wird, nimmt <strong>nicht</strong> wund<strong>er</strong>,<br />

da den ,trab<strong>er</strong>n von jeh<strong>er</strong> Freigebigkeit als Haupttugend galt.<br />

Schon in den Moallakat wurden ja \Mohltätigkeit und v<strong>er</strong>schwend<strong>er</strong>ische<br />

Gastfreundschaft auß höchste g<strong>er</strong>ühmt;<br />

auch sei nochmals <strong>an</strong> die zahlreichen Aufford<strong>er</strong>ungen zûr<br />

Mildtätigkeit <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>t, die d<strong>er</strong> Kor<strong>an</strong>und die Sunna enthalten,<br />

und die, wie gezeigt w<strong>er</strong>den konnte, <strong>an</strong>regend auf Goethe<br />

wirkten.2 Nur folg<strong>er</strong>ichtig <strong>er</strong>scheint es dah<strong>er</strong>, wenn d<strong>er</strong><br />

Diu <strong>an</strong>-Dícht<strong>er</strong> bei sein<strong>er</strong> produktiven Ausein<strong>an</strong>d<strong>er</strong>setzung<br />

mit d<strong>er</strong> arabischen Üb<strong>er</strong>lief<strong>er</strong>un g irn Buch d<strong>er</strong> Sprüche die<br />

Tugend d<strong>er</strong> Freigebigkeit gebührend h<strong>er</strong>ausstreicht. Hi<strong>er</strong><br />

war b<strong>er</strong>eits von zwei Spruchgedichten die Rede, die mit dem<br />

identischen V<strong>er</strong>s rGutes tu rein aus des Guten Liebe< beginnen.3<br />

A.uf diese V<strong>er</strong>se müssen wir noch einmal kurz zurückkommen,<br />

weil die trmmediat<strong>an</strong>regung dazu von d<strong>er</strong> Sammlung<br />

Etliche feíne Sprích-Wärt<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Arab<strong>er</strong> des Olearius ausging,<br />

wo Goethe las:<br />

25.<br />

'W<strong>er</strong> was gutes fhut und treibet/<br />

Dessen Lohn gewisse bleibet.<br />

z6<br />

'V/enn v<strong>er</strong>gehen Gütcr mit d<strong>er</strong> Erden/<br />

Gute V/<strong>er</strong>cke dennoch bleiben w<strong>er</strong>den.4<br />

Im gleichen Kontext <strong>er</strong>weckte ein arabisch<strong>er</strong> Spruch Goethes<br />

be<strong>so</strong>nd<strong>er</strong>e Aufm<strong>er</strong>ksamkeit, d<strong>er</strong> in direkt<strong>er</strong> Rede von d<strong>er</strong><br />

1 Er f<strong>an</strong>d sie als ,{nh<strong>an</strong>g zu einem Buch, das <strong>er</strong> vom 8. J<strong>an</strong>uar bis 19. Mai<br />

r815 aus d<strong>er</strong> Weimar<strong>er</strong> Bibliothek entlieh: [Saadi] , P<strong>er</strong>si<strong>an</strong>isch<strong>er</strong> [!] Rosenthal<br />

. . . Yor 4oo Jahren von . . . Scheich Saadi in P<strong>er</strong>s. Sprach beschr., jetzo<br />

ab<strong>er</strong> von Adamo Oleario ... üb<strong>er</strong>s. . .. Schleßwig ró54 (Keudell-f)eetjen<br />

Nr. 95o). Den gleichen Etlichenfei.nen Sprich-Wrt<strong>er</strong>n d<strong>er</strong> Arab<strong>er</strong> begegn<strong>er</strong>e<br />

Goethe wied<strong>er</strong> in Adam Olearius, Colligirte und uiel y<strong>er</strong>mehrte Reíse-Beschreibungen.<br />

Hzmburg 1696, einem Großfoliob<strong>an</strong>d, den <strong>er</strong> vom r r. März bis r.<br />

Aprii r8r5 aus d<strong>er</strong>'lüeimar<strong>er</strong> Bibliothek entiieh (Keudell-Deeden Nr. SZ+).<br />

2 Vgl. oben S. zSzlf<br />

J Vgl. obcn S. z8ó.<br />

4 a.a.O. S. ri8.<br />

óo3


Kalamität dessen <strong>spricht</strong>, d<strong>er</strong> g<strong>er</strong>n freigebig wäre, ab<strong>er</strong> <strong>nicht</strong><br />

üb<strong>er</strong> die entsprechenden Mittel v<strong>er</strong>fügt:<br />

rg.<br />

Es hat zwar die Narur mir kargheit <strong>nicht</strong> gegeben/<br />

Es fehlt mir nur/wordurch freygebig ich k<strong>an</strong> leben.l<br />

Goethe formte die barocken V<strong>er</strong>se fürs Buch d<strong>er</strong> Sprüche in<br />

eine wenig<strong>er</strong> umständliche und <strong>so</strong>gar recht forsch klingende<br />

Aussage um:<br />

Ihr nennt mich einen kargen M<strong>an</strong>n<br />

Gebt mir, was ich v<strong>er</strong>prassen k<strong>an</strong>n.<br />

[/ie alle Gedichte im Buch d<strong>er</strong> Sprüche hat dies<strong>er</strong> Zweizetl<strong>er</strong><br />

allgemeingültigen und zugleich p<strong>er</strong>sönlich bekenntnishaften<br />

Charakt<strong>er</strong>, d. h. die V<strong>er</strong>se enthalten auch einen privaten<br />

Stoßseufz<strong>er</strong> des Dicht<strong>er</strong>s. Denn <strong>er</strong> war zwar von Natur äuß<strong>er</strong>st<br />

freigebig und k<strong>an</strong>nte nur allzu gut die >'Wonne des GebensLieblich ist des<br />

Mädchens Blick


D<strong>er</strong> nãchste Zweizeil<strong>er</strong> im Buch d<strong>er</strong> Sprüche wurde gleichfalls<br />

durch des Adam Olearius arabische Sprichwört<strong>er</strong>sammlung<br />

<strong>an</strong>g<strong>er</strong>egt. Goethe war dort auf folgendenZweízeil<strong>er</strong> getroffen:<br />

41.<br />

So etwa du <strong>nicht</strong> wilt hinauff zur Tiöppen steigen/<br />

<strong>so</strong> wirstu auch wohl <strong>nicht</strong> dich auff dem Dache zeigen.<br />

Olearius gab dazu eine Erläut<strong>er</strong>ung, wonach die Quintessenz<br />

des pädagogischen Spruches darin besteht, daß m<strong>an</strong> <strong>er</strong>st dienen<br />

l<strong>er</strong>nen müsse, ehe m<strong>an</strong> selbst zur H<strong>er</strong>rschaft gel<strong>an</strong>gen<br />

könne und dafür tauglich sei:<br />

Das ist/ k<strong>an</strong>stu <strong>nicht</strong> einen H<strong>er</strong>rn unt<strong>er</strong>th<strong>an</strong> seyn/ <strong>so</strong> dienstu auch<br />

<strong>nicht</strong> ein H<strong>er</strong>r zu seyn. D<strong>an</strong>n d<strong>er</strong> <strong>nicht</strong> zuvor ein Dien<strong>er</strong> gewesen/<br />

weiss <strong>nicht</strong> wie <strong>er</strong> einen Dien<strong>er</strong> halten <strong>so</strong>l. D<strong>er</strong> Dienst ist gleich d<strong>er</strong><br />

Weg zur H<strong>er</strong>rschaft/ gleich wie die Leit<strong>er</strong> zum Dache/ darauff<br />

spatzi<strong>er</strong>en zu gehen. D<strong>an</strong>n in den Morgenländ<strong>er</strong>n seynd die Däch<strong>er</strong><br />

d<strong>er</strong> Häus<strong>er</strong> alle platt/ dass m<strong>an</strong> darauff w<strong>an</strong>deln k<strong>an</strong>.<br />

In sein<strong>er</strong> umformung des arabischen Sprichworts für den<br />

West-östlichen Diu<strong>an</strong> wr<strong>an</strong>delt Goethe die Pointe ab - ein typisch<strong>er</strong><br />

Fall <strong>seine</strong>s > Sich-Produktiv-V<strong>er</strong>haltens < :<br />

Soll ich dir die Gegend zeigen<br />

Mußt du <strong>er</strong>st das Dach besteigen.<br />

Zwar ist auch Goethes Spruch pädagogisch gemeint, doch<br />

geht es bei ihm <strong>nicht</strong> darum, eine Anstrengung auf sich zu<br />

nehmen, um sich selbst oben auf dem Dache sehen zu lassen.<br />

D<strong>er</strong> Lohn d<strong>er</strong> Anstrengung liegt vielmehr im Gewinn eines<br />

größ<strong>er</strong>en Üb<strong>er</strong>blicks, in d<strong>er</strong> Erweit<strong>er</strong>ung des eigenen Horizonts.<br />

.!Vie dem auch sei, in allen'Fällen - dem arabischen<br />

Original, d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>sion des Olearius und d<strong>er</strong>jenigen Goethes -<br />

läuft d<strong>er</strong> Spruch auf etwas Ahnliches hinaus wie beim deutschen<br />

Sprich\Mort ))Ohne Fleiß kein Preis


che feíne Sprich-Wört<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Arab<strong>er</strong> enrhalten, gleichfalls eine<br />

Zusammenstellung von Des weisen Lolem<strong>an</strong>s sínnreiche Cedichte<br />

und Fabeln.l Auch <strong>so</strong>nst war Goethe bei <strong>seine</strong>n Orientstudien<br />

dem Namen Lokm<strong>an</strong>s als eines sagenhaften, l<strong>an</strong>glebigen<br />

arabischen Spruch- und Fabeldicht<strong>er</strong>s begegnet. Schon<br />

d<strong>er</strong> Kor<strong>an</strong> schreibt Lokm<strong>an</strong> Y/<strong>an</strong>d<strong>er</strong>sprüche zu. Die Lol


Durch all diese Informationen fühlte Goethe sich motivi<strong>er</strong>t,<br />

auch diesem schwarzen Arab<strong>er</strong> aus Äthiopien od<strong>er</strong> Nubienl<br />

in West-ô stlichen Diu<strong>an</strong> ein Ehrendenkmal zu setzen. Die Immediat<strong>an</strong>regung<br />

dazu kam ihm aus Saadis Bust<strong>an</strong> und. CuIist<strong>an</strong>.<br />

D <strong>er</strong> Bust<strong>an</strong> enthâlt Saadis,\usspruch:<br />

Lokm<strong>an</strong> hatte das Unglück/ daß <strong>er</strong> schwartz von Farbe/ dick und<br />

fett war.2<br />

während Saadi im Culist<strong>an</strong> am Beispiel des Zuck<strong>er</strong>rohrs den<br />

möglichen Kontrast zwischen Äuß<strong>er</strong>em und Inn<strong>er</strong>em demonstri<strong>er</strong>t:<br />

Die Liebligkeit und H<strong>er</strong>rligkeit des Zuck<strong>er</strong>s ist <strong>nicht</strong> dem Rohr/<br />

darinnen es wächst/ <strong>so</strong>nd<strong>er</strong>n sein<strong>er</strong> eigenen Natur zuzuschreibett.3<br />

Olearius als Saadi-Üb<strong>er</strong>setz<strong>er</strong>und H<strong>er</strong>ausgeb<strong>er</strong>kommenti<strong>er</strong>t<br />

dies durch Hinweise auf Parallelen inn<strong>er</strong>halb d<strong>er</strong> Menschenwelt,<br />

im B<strong>er</strong>eich von Körp<strong>er</strong> und Geist:<br />

. . . Ein Weis<strong>er</strong> ist wie ein Geûiß voll h<strong>er</strong>rliches Gewürtzes/ welches<br />

in d<strong>er</strong> Stille <strong>seine</strong>n lieblichen G<strong>er</strong>uch umb sich wirfft/ und<br />

<strong>seine</strong> Tirgend v<strong>er</strong>spùhren 1ässet.4<br />

In <strong>seine</strong>m kurzen Preisgedicht auf Lokm<strong>an</strong>, das Goethe fürs<br />

Buch d<strong>er</strong> Sprüche schrieb, kombini<strong>er</strong>te <strong>er</strong> beide Morive, wor-<br />

1 Vgl. H<strong>er</strong>belot , Bibliothèque oríentale, ArtlkeltocueN Al Haþin: >Locm<strong>an</strong> le<br />

sage. Le chapitre 3 r de l'Alcor<strong>an</strong> qui porte le nom de Locm<strong>an</strong>. s'appelle Soørar<br />

Lotm<strong>an</strong>. Mahomet y fait parl<strong>er</strong> Dieu, qui dit ces paroles: . . . nous âvons donné<br />

la sagesse à Locm<strong>an</strong>... A l'égard de <strong>so</strong>n pays, tous conviennent qu'il étoit<br />

Habaschi, c'est-à-dire Abissin, natif d'Ethiopie ou de Nubic, de la race de ces<br />

esclaves noirs à grosses levres.<<br />

2 Saadis Baumgartenw. Buch, xxx. Cap., S. 6o im Anh<strong>an</strong>g zu den Colligirten<br />

Reisebesthreíbungeø des Adam O1earius. Hamburg ró96.<br />

3 P<strong>er</strong>si<strong>an</strong>ísch<strong>er</strong> f!) Rosenthal. . . . Vor 4oo Jahren von Scheich Saadi in P<strong>er</strong>s.<br />

Sprach beschr., jetzo ab<strong>er</strong> von Adamo Oleario . . . üb<strong>er</strong>s. . . . Schleßwig r654,<br />

I)as Aclrte Buch, Nr. 7ó, S. ró5. Gleichfalls enthalten in denColligirten Reisebesthrei.hungen<br />

des Olearius von ró9ó.<br />

4 Ebd. Buch vrtr, Kapitel 7ó (s. oben Fußnote 3).<br />

6o7


auf schon früh<strong>er</strong>e Div<strong>an</strong>-Kornmentatoren hingewiesen haben:<br />

>'Was brachte Lokm<strong>an</strong> <strong>nicht</strong> h<strong>er</strong>vor,<br />

Den m<strong>an</strong> den garst'gen hieß!<<br />

Die Süßigkeit liegt nichr im Rohr,<br />

D<strong>er</strong> Zuck<strong>er</strong> d<strong>er</strong> ist süß.1<br />

D<strong>er</strong> Vi<strong>er</strong>zeil<strong>er</strong> gibt - durch den demonstri<strong>er</strong>ten Kontrast<br />

zwischen d<strong>er</strong> un<strong>an</strong>sehnlichen schilfartigen Hülle und dem süßen<br />

Inhalt des Zuck<strong>er</strong>rohrs - einen pädagogischen Wink:<br />

K<strong>er</strong>n und Schale, Äuß<strong>er</strong>es und Inn<strong>er</strong>es <strong>nicht</strong> zu v<strong>er</strong>wechseln.<br />

Zugleich huldigt Goethe dem weisen Lokm<strong>an</strong> - wie auch insgeheim<br />

und nur für den Kenn<strong>er</strong> wahrnehmbar, dem p<strong>er</strong>sischen<br />

Dicht<strong>er</strong> Saadi. Auf diese 'Weise konnte <strong>er</strong> <strong>seine</strong> deutschen<br />

L<strong>an</strong>dsleute auf einen schwarzen Arab<strong>er</strong> aufm<strong>er</strong>ksam<br />

machen, d<strong>er</strong> im Orient jahrhund<strong>er</strong>tel<strong>an</strong>g ein <strong>so</strong> hohes Ansehen<br />

genossen hatte wie Ä<strong>so</strong>p bei den durch die Schule des<br />

klassischen Alt<strong>er</strong>tums geg<strong>an</strong>genen Europä<strong>er</strong>n.<br />

Wie <strong>er</strong>wähnt, haben arabische Sprichwört<strong>er</strong> durchaus <strong>nicht</strong><br />

nur auf das Buch d<strong>er</strong> Sprüche eingewirkt. Zum Beispiel findet<br />

m<strong>an</strong> die sprichwörtliche Redensart >Für Liebende ist Bagdad<br />

<strong>nicht</strong> weit< irn Buch Suleiþ,a.<br />

Bist du von dein<strong>er</strong> Geliebten getrennt<br />

'[/ie Orient vom Okzidenr.<br />

Das H<strong>er</strong>z durch alle V/ùsten rennt;<br />

Es gibt sich üb<strong>er</strong>all seibst das Geleit,<br />

Für Liebende ist Bagdad <strong>nicht</strong> weit.2<br />

Goethe hatte sich die V/endung aus dem Spiegel d<strong>er</strong> Länd<strong>er</strong> des<br />

tùrkischen Staatsm<strong>an</strong>ns und Dicht<strong>er</strong>s Kjatibi Rumi noti<strong>er</strong>t:<br />

Laufnur o H<strong>er</strong>z<br />

Für Liebende ist Bagdad <strong>nicht</strong> weit3<br />

27. l<strong>an</strong>. t8t6<br />

1 [/A r ó, r3o.<br />

2WAr6, r7r.<br />

3 AA 3, r59: Paralipomenon t4ó a. Dzs Zitat stammt aus H.F. von Diez,<br />

6o8


D<strong>er</strong> V<strong>er</strong>fass<strong>er</strong> des Spiegels dey Lrind<strong>er</strong> würzt <strong>seine</strong> Rede mit<br />

zahllosen redensartlichen Sprüchen und Dicht<strong>er</strong>-Zitaten-<br />

Âuch die von Goethe noti<strong>er</strong>te V/endung wird von Kjatibi<br />

Rumi als Dicht<strong>er</strong>-Zitat eingeführt:<br />

Ich <strong>er</strong>wied<strong>er</strong>te ab<strong>er</strong> mit Nedschati: wenns von dir bis zur Geliebten<br />

<strong>so</strong> weit seyn <strong>so</strong>llte als vom Orient bis Occident;<br />

<strong>so</strong> lauf nur, o H<strong>er</strong>z! denn für Liebende ist Bagdad nichr weit.<br />

Goethe scheint sich gefragt zu haben, warum g<strong>er</strong>ade die Stadt<br />

Bagdad im heutigen Irak diese Bedeurung für Liebende hat<br />

gewinnen können, um in sprichwörtlich<strong>er</strong>'V/eise zum Heilort<br />

für die Sehnsuchtskr<strong>an</strong>ken zu w<strong>er</strong>den. Ein <strong>an</strong>d<strong>er</strong>es arahisches<br />

Sprichwort half ihm auf die rechte Spur. Er f<strong>an</strong>d es in<br />

d<strong>er</strong> Bibliothèque orientale. Es lautet:<br />

C'est faire venir de la Th<strong>er</strong>iaque de Bagdet<br />

Die Erklärung auch dies<strong>er</strong> sprichwörtlichen [/endung <strong>er</strong>gibt<br />

sich aus dem Faktum, daß die alte Kalifenstadt Bagdad b<strong>er</strong>ühmt<br />

war für die H<strong>er</strong>stellung von Th<strong>er</strong>iak, d<strong>er</strong> Arznei, die<br />

als Gegengift gegen Schl<strong>an</strong>genbiß und auch <strong>so</strong>nst als Heilmittel<br />

benutzt wird.t<br />

Auch die auf den Th<strong>er</strong>iak von Bagdad bezügliche sprichwörtliche<br />

l/endung regte Goethe zur Nachbildung <strong>an</strong>. [Jnt<strong>er</strong><br />

den Paralipomenazum West-östlichen Diu<strong>an</strong> findet sich das<br />

sprucharti ge V<strong>er</strong>spaar:<br />

Denkwürdigkeitenuon Asien. Bd. z. S. z3r, d<strong>er</strong>die üb<strong>er</strong>setzung des obengen<strong>an</strong>nten<br />

W<strong>er</strong>ks enthälr.<br />

1 D<strong>er</strong> ,trtikel r¡ni¡x in d<strong>er</strong> ßibliothèque orientale b<strong>er</strong>ichtet: >Les Arabes . . .<br />

disent, que ia plus excellente Th<strong>er</strong>iaque de l'Orient, esr ceiie de 1a province<br />

d'lraque, ou de Bagdet qui en est 1a Capitale, & l'on raconte que le<br />

Khalife Motaouakkel en avoit de si exquise, qu'il fài<strong>so</strong>it mordre exprés de<br />

gens par des Vip<strong>er</strong>es, pour les gu<strong>er</strong>ir sur le champ, & cette Th<strong>er</strong>iaque de<br />

Bagdet est reputé si <strong>so</strong>uv<strong>er</strong>aine contre les morsures de toutes <strong>so</strong>rtes de bestes<br />

venimeuses, qu'il y a un Prov<strong>er</strong>be en P<strong>er</strong>se pour signifi<strong>er</strong> qu'un remède, ou<br />

Lrn secours vient trop tard, qui porte: C'est faire venir de la Th<strong>er</strong>iaque de<br />

l'Iraque . . .o<br />

6o9


Eh m<strong>an</strong> Th<strong>er</strong>iac von Bagdad holt<br />

Ist d<strong>er</strong> Kr<strong>an</strong>ke längst v<strong>er</strong>schieden.l<br />

Die Redensart >Für Liebende ist Bagdad <strong>nicht</strong> weit< findet<br />

al<strong>so</strong> ihre Erkiärung cladurch, daß die beste Medizin in Bagdad<br />

zu finden war, d<strong>er</strong> weit entf<strong>er</strong>nten, ja zLt weit entlegenen<br />

Stadtl Zum Symbol d<strong>er</strong> weiten Entf<strong>er</strong>nung zwischen Fr<strong>an</strong>kfurt<br />

und 'ü/eimar scheint >Bagdad< auch für die Liebenden<br />

Goethe-Hatem und Mari<strong>an</strong>ne-Suleika geworden zu sein.<br />

Darauf läßt ein Nachlaßgedicht für Mari<strong>an</strong>ne schließen, wo<br />

wied<strong>er</strong> die sprichwörtliche V/endung vom Bagdad d<strong>er</strong> Lieo-enden<br />

ziti<strong>er</strong>t wird. Die V<strong>er</strong>se sind dem Liebesboten >Hudhudu<br />

- dem lcgendären Wiedehopfi d<strong>er</strong> zwischen Salomon<br />

und d<strong>er</strong> Königin von Saba den Boten gemacht hatte -<br />

'Worte als<br />

Suleikas <strong>an</strong> Flatem in den Mund gelegt:<br />

.<br />

Hudhud<br />

als einladend<strong>er</strong> Bote.<br />

Dich beglùckte ja mein Ges<strong>an</strong>g,<br />

Nun dräng' <strong>er</strong> g<strong>er</strong>n zu dir in's F<strong>er</strong>ne,<br />

Ich singe Morgen und,\bend entl<strong>an</strong>g,<br />

Sie sagen: Bess<strong>er</strong>! Das hör'ich g<strong>er</strong>ne;<br />

Kommt auch ein Blatt von Zeit nt Zeit,<br />

Bringt einen Gruß, laß dich <strong>nicht</strong> stören!<br />

Ab<strong>er</strong> ist denn Bagdad <strong>so</strong> weit?<br />

Willst du mich denn gar <strong>nicht</strong> wied<strong>er</strong> hören?2<br />

Die V<strong>er</strong>wendung d<strong>er</strong> arabischen Redensart ist hi<strong>er</strong> sehr privat<strong>er</strong><br />

Natur, die Vorstellung von ihrem zu weit entf<strong>er</strong>nten<br />

>Bagdad< gehörte auch zur geheimen Chiff<strong>er</strong>nsprache Goethes<br />

und Mari<strong>an</strong>nes.<br />

Noch ein <strong>an</strong>d<strong>er</strong>es Beispiei sei <strong>an</strong>geführt, wo eìne arabische<br />

sprichwortliche V/endung den Dicht<strong>er</strong> üb<strong>er</strong> Jahre hin beschäftigt<br />

und spezielle Bedeutung für ihn p<strong>er</strong>sönlich <strong>an</strong>genommen<br />

hat: dem g<strong>an</strong>z <strong>an</strong> den Anf<strong>an</strong>g des Diu<strong>an</strong> gestellten<br />

Motto zum Buch des Säng<strong>er</strong>s liegt die sprichwörtliche arabi-<br />

1 AA 3, z3: Paralipomenon 28.<br />

2 AA :, 59: Paralipornenon 89.<br />

6to


sche Redensart: >Schön wie das Zeitalt<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Barmekiden<<br />

zugrunde, die Goethe in einem W<strong>er</strong>k üb<strong>er</strong> den Propheten<br />

Mohammed gefunden hatte.l Er griff sie aufund v<strong>er</strong>wendete<br />

sie zu ein<strong>er</strong> sehr v<strong>er</strong>schlüsselten p<strong>er</strong>sönlichen ,{ussage:<br />

Zw<strong>an</strong>zìgJahre ließ ich gehn<br />

Und genoß was mir beschieden;<br />

Eine Reihe völlig schön<br />

Wie die Zeit ð<strong>er</strong> Barmekiden.2<br />

Die Redensart >Schön wie das Zettalt<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Barmekiden<<br />

v<strong>er</strong><strong>an</strong>laßte Goethe, sich genau<strong>er</strong> umzutun, was für ein Geschlecht<br />

und was für eine Epoche im arabischen Volksmund<br />

<strong>so</strong> hohe Bewund<strong>er</strong>ung <strong>er</strong>l<strong>an</strong>gen konnte. Von den Ergebnissen<br />

sein<strong>er</strong> Rech<strong>er</strong>chen geben die Noten und Abh<strong>an</strong>dlungen<br />

Kunde, wo im Kapitel uAlt<strong>er</strong>e P<strong>er</strong>s<strong>er</strong>< b<strong>er</strong>ichtet wird, daß<br />

die Barmekiden von den Feu<strong>er</strong><strong>an</strong>bet<strong>er</strong>n in Balch h<strong>er</strong> stammten,<br />

ein<strong>er</strong> Stadt, in welch<strong>er</strong> sich<br />

die Tempel des reinen Feu<strong>er</strong>s <strong>er</strong>hielten, große Klöst<strong>er</strong> dieses Bekenntnisses<br />

entst<strong>an</strong>den und eine IJnzahl Mobeden sich v<strong>er</strong>sammelten.<br />

Wie h<strong>er</strong>rlich ab<strong>er</strong> die Einrichrung <strong>so</strong>lch<strong>er</strong> Anstalten<br />

müsse gewesen sein, bezeugen die auß<strong>er</strong>ordentlichen Mãnn<strong>er</strong><br />

die von dort ausgeg<strong>an</strong>gen sind. Die Familie d<strong>er</strong> Barmekiden<br />

stammte dahel die <strong>so</strong> l<strong>an</strong>ge als einflußreiche Staatsdien<strong>er</strong> glànzten,<br />

bis sie zuletzt, wie ein ungefähr ähnliches Geschlecht dies<strong>er</strong><br />

Art zu uns<strong>er</strong>n Zeiten, ausg<strong>er</strong>ottet und v<strong>er</strong>trieben worden.3<br />

Noch einmal kommt Goethe im Kapitel r>Kaliphen< auf das<br />

Barmekiden:Thema zu sprechen, diesmal unt<strong>er</strong> B<strong>er</strong>ufung<br />

auf die arabische Redensart:<br />

1 K.E. Oelsn<strong>er</strong>, Mahomed. Darstellung des Eínflusses sein<strong>er</strong> Claubenslehre auf<br />

die WIþ<strong>er</strong> des Mittelalt<strong>er</strong>s. A. d. Fr<strong>an</strong>z. übe¡s. von E.D.M, Fr<strong>an</strong>kfurt a.M.<br />

¡8¡o. S- rór. Vgl- Goethes Exz<strong>er</strong>pte aus diesem vom23. Febr. bis ó. Mai<br />

r8r5 entliehenen W<strong>er</strong>k in,{A 3, rTT,Paralipornenon r7r: >Schön wie das<br />

Zeitalt<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Barmeciden


Dah<strong>er</strong> bleibt noch imm<strong>er</strong> als die glânzendste Epoche b<strong>er</strong>ühmt<br />

áie Zett wo die Barmekiden Einfluß hatten zu Bagdad. Diese,<br />

von Balch abstammend, <strong>nicht</strong> <strong>so</strong>wohl selbst Mönche als Patrone<br />

und Beschütz<strong>er</strong> groß<strong>er</strong> Klöst<strong>er</strong> und Bildungs<strong>an</strong>stalten, bewahrten<br />

unt<strong>er</strong> sich das heilige Feu<strong>er</strong> cl<strong>er</strong> Dicht- und Redekunst und<br />

behaupteten durch ihre Welt-Klugheit und Charakt<strong>er</strong>-Grölle einen<br />

hohen R<strong>an</strong>g auch in d<strong>er</strong> politischen Sphäre. Die Zeít d<strong>er</strong><br />

Barmekiden heißt dah<strong>er</strong> sprichwörtiich: eine Zeit lokalen, lebendigen<br />

Wesens und Wirkens, von d<strong>er</strong> m<strong>an</strong>, wenn sie vorüb<strong>er</strong><br />

ist, nur hoffen k<strong>an</strong>n, daß sie <strong>er</strong>st nach g<strong>er</strong>aumenJahren <strong>an</strong> fremden<br />

Orten unt<strong>er</strong> ähnlichen lJmständen vielleicht wied<strong>er</strong> aufquellen<br />

w<strong>er</strong>de.l<br />

Daß d<strong>er</strong> Volksmund g<strong>er</strong>ade dieses unkonformistische Geschlecht<br />

von eigentlich And<strong>er</strong>sgläubigen <strong>so</strong> hoch pries und<br />

eine Epoche als must<strong>er</strong>gültig empf<strong>an</strong>d, in d<strong>er</strong> die Bildungs<strong>an</strong>stâlten<br />

flori<strong>er</strong>ten und das >heilige Feu<strong>er</strong>

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