Positionspapier (302 kB, PDF) - schule.sg.ch
Positionspapier (302 kB, PDF) - schule.sg.ch
Positionspapier (302 kB, PDF) - schule.sg.ch
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Erfordernisse<br />
und Perspektiven<br />
für wirksame<br />
Begabungsförderung<br />
Ein <strong>Positionspapier</strong><br />
mit Reflexions<strong>ch</strong>arakter<br />
Netzwerk Begabungsförderung
Erfordernisse und Perspektiven für wirksame<br />
Begabungsförderung<br />
Einleitung<br />
Das im Jahr 2000 gegründete Netzwerk Begabungsförderung konnte an der zur<br />
Tradition gewordenen Herbst-Tagung vom 30. Oktober 2010 auf sein zehnjähriges<br />
Bestehen zurückblicken. Seit der Gründung wurde im Netzwerk der Wissens- und<br />
Erfahrungsaustaus<strong>ch</strong> unter den Mitgliedern der Gremien wie au<strong>ch</strong> mit externen<br />
Fa<strong>ch</strong>leuten gepflegt. Dabei wurden vers<strong>ch</strong>iedene Aspekte der s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Begabungsförderung,<br />
die au<strong>ch</strong> Begabtenförderung umfasst, und der damit zusammenhängenden<br />
S<strong>ch</strong>ulentwicklungsarbeit diskutiert. Die im Netzwerk vertretenen<br />
Konzeptionen wurden immer wieder hinterfragt und weiterentwickelt. Das<br />
vorliegende Dokument fasst die konzeptionellen Vorstellungen auf ihrem aktuellen<br />
Stand zusammen und verweist auf Instrumente und Handrei<strong>ch</strong>ungen, die im<br />
Netzwerk und in seinem Umfeld entstanden sind. Das Rahmenpapier soll ni<strong>ch</strong>t<br />
abs<strong>ch</strong>liessend sein, es wird vielmehr als «Work in Progress» weiterentwickelt und<br />
dient vorab als interne Orientierungshilfe. In diesem Sinne dient es au<strong>ch</strong> der<br />
Si<strong>ch</strong>erung der Ergebnisse der in den Netzwerkgremien geleisteten Arbeit.<br />
Grundsätze und Leitgedanken<br />
Im Zentrum der Netzwerkarbeit steht die Prämisse, dass Begabungsförderung Teil<br />
der Unterri<strong>ch</strong>ts-, S<strong>ch</strong>ul- und Qualitätsentwicklung ist und perspektivis<strong>ch</strong> nur in<br />
einer «S<strong>ch</strong>ule der Vielfalt» vollständig umgesetzt werden kann.<br />
Bildungspolitis<strong>ch</strong>e Leitgedanken:<br />
Die Volks<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> gewährleistet allen Kindern und Jugendli<strong>ch</strong>en eine Bildung<br />
gemäss ihren Eignungen und Neigungen und fördert ihre Entwicklung zu selbständigen<br />
und verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gemeins<strong>ch</strong>aft. Wegleitend<br />
ist der Gedanke, dass jeder Mens<strong>ch</strong> sein Potential in Auseinandersetzung mit<br />
seiner Mit- und Umwelt entfalten und im Laufe des lebenslangen Lernens für die<br />
Gemeins<strong>ch</strong>aft und si<strong>ch</strong> selbst fru<strong>ch</strong>tbringend einsetzen kann.<br />
Dies bedeutet, dass die Volks<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> in integrativer Weise sowohl individualisierend<br />
wie au<strong>ch</strong> gemeins<strong>ch</strong>aftsbildend arbeitet und Motivation, Fähigkeit und<br />
Bereits<strong>ch</strong>aft zum Lernen unterstützt. Sie trägt sowohl der Persönli<strong>ch</strong>keitsbildung<br />
wie dem Kompetenzaufbau Re<strong>ch</strong>nung und a<strong>ch</strong>tet auf Bildung<strong>sg</strong>ere<strong>ch</strong>tigkeit. Im<br />
Zentrum des s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Prozesses stehen das Lernen der S<strong>ch</strong>ülerinnen und<br />
S<strong>ch</strong>üler und die darauf au<strong>sg</strong>eri<strong>ch</strong>tete Zusammenarbeit aller an S<strong>ch</strong>ule beteiligten<br />
Personen.<br />
Bildungstheoretis<strong>ch</strong>e Leitgedanken:<br />
Lernen wird verstanden als sozial konstituierter, konstruktiver Prozess. Das bedeutet,<br />
dass Wissen und Können ni<strong>ch</strong>t vermittelt werden können, sondern in einem<br />
interaktiven Prozess aufgebaut werden müssen. Dabei spielen das Vorwissen<br />
und Persönli<strong>ch</strong>keitsmerkmale der Lernenden sowie die materiale und emotionale<br />
Qualität der Lernumgebung eine wi<strong>ch</strong>tige Rolle.<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
1
Vor diesem Hintergrund ist eine Lernkultur gefordert, die einen breiten Zugang<br />
zu Wissensressourcen mit dem Bereitstellen offener, herausfordernder Lernumgebungen<br />
verbindet und sowohl selbständige, selbstgesteuerte wie au<strong>ch</strong> begleitete<br />
und kooperative Lernformen zulässt. Kursoris<strong>ch</strong>e Formen we<strong>ch</strong>seln si<strong>ch</strong> ab<br />
mit Selbstlernphasen und projektorientiertem Arbeiten. Lernprozesse und Lernergebnisse<br />
werden reflektiert und dokumentiert sowie angemessen beurteilt. Im<br />
Rahmen des in der S<strong>ch</strong>ule Mögli<strong>ch</strong>en werden Anstösse zur spezifis<strong>ch</strong>en Interessenentwicklung<br />
gegeben und Entwicklungsmögli<strong>ch</strong>keiten für individuelle Stärken<br />
geboten oder vermittelt.<br />
S<strong>ch</strong>ulorganisatoris<strong>ch</strong>e Leitgedanken:<br />
Eine sol<strong>ch</strong>e Lernkultur erfordert eine S<strong>ch</strong>ule, die na<strong>ch</strong> innen und aussen kooperiert<br />
und ihre Organisation (Lerngefässe, Zeitrahmen) wie au<strong>ch</strong> ihre Arbeit (Unterri<strong>ch</strong>t,<br />
Lernbegleitung) flexibel gestaltet. Die Lehrpersonen verfügen über vers<strong>ch</strong>iedene<br />
Qualifikationsprofile und Stärken, die sie in der Zusammenarbeit im Team<br />
fru<strong>ch</strong>tbringend einsetzen können. Die Grenzen der Jahrgangsklassen sind dur<strong>ch</strong>lässig;<br />
übergreifendes, alter<strong>sg</strong>emis<strong>ch</strong>tes Lernen wie au<strong>ch</strong> die Flexibilisierung der<br />
individuellen Lernzeit sind mögli<strong>ch</strong>. In diesem Sinne nutzen S<strong>ch</strong>ulen ihren Gestaltungsspielraum.<br />
Anstrengung und Leistung von S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>ülern wie<br />
au<strong>ch</strong> von Lehrpersonen finden Werts<strong>ch</strong>ätzung und besondere Leistungen von<br />
Lernenden und Lehrenden werden in geeigneter Form präsentiert. Die S<strong>ch</strong>ule<br />
versteht si<strong>ch</strong> als lernende Gemeins<strong>ch</strong>aft, die au<strong>ch</strong> externe Partner in die Zusammenarbeit<br />
einbezieht.<br />
Massnahmen der Begabungsförderung<br />
Dur<strong>ch</strong>gesetzt hat si<strong>ch</strong> eine Si<strong>ch</strong>tweise, die Begabungsförderung als ureigene Aufgabe<br />
der Volks<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> versteht und Massnahmen in einem systemis<strong>ch</strong>en Sinne auf<br />
allen Ebenen des Bildungswesens ansiedelt. So können si<strong>ch</strong> Massnahmen der<br />
Binnendifferenzierung im Unterri<strong>ch</strong>t (z. B. Curriculum-Compacting und selbständige<br />
Projektbearbeitung), klassenübergreifende Angebote auf der S<strong>ch</strong>ulhaus ebene<br />
(Enri<strong>ch</strong>ment, Fördergruppen, Akzeleration) und kommunal oder kantonal zentralisierte<br />
Gruppenangebote ergänzen. Der Talentförderung im sportli<strong>ch</strong>en oder<br />
künstleris<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> dienen S<strong>ch</strong>ulen mit spezifis<strong>ch</strong>-strukturierten Angeboten,<br />
zu denen der Zugang über eine interkantonale Vereinbarung geregelt wird.<br />
Im oben erwähnten systemis<strong>ch</strong>en Sinne kommt Begabungsförderung auf allen<br />
Ebenen des S<strong>ch</strong>ulsystems zum Tragen, auf der nationalen und kantonalen Ebene<br />
ebenso wie auf jener der Gemeinde, der Einzel<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> und der Klasse. Ein umfassendes<br />
Konzept der Begabungsförderung sieht ni<strong>ch</strong>t nur direkt den S<strong>ch</strong>ülerinnen<br />
und S<strong>ch</strong>ülern zugute kommende Angebote vor, sondern au<strong>ch</strong> Supportmassnahmen<br />
für Lehrpersonen (Handrei<strong>ch</strong>ungen, Weiterbildung, Ausbildung) und S<strong>ch</strong>ulen<br />
(Konzeptentwicklung, Qualitätssi<strong>ch</strong>erung). All diese Angebote, Massnahmen und<br />
Unterstützungsleistungen werden na<strong>ch</strong> den in unserem Bildungssystem gängigen<br />
Prinzipien konzipiert und müssen den übli<strong>ch</strong>en Qualitätsansprü<strong>ch</strong>en genügen<br />
(wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Fundierung, qualifiziertes Personal, geregelter Zugang,<br />
Chancen gere<strong>ch</strong>tigkeit etc.).<br />
2 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
S<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Begabungsförderung geht Hand in Hand mit der Förderung in der<br />
Familie und in aussers<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Angeboten bzw. Aktivitäten (Freizeitgestaltung,<br />
Musik<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong>, Sportverein etc.).<br />
Entwicklungss<strong>ch</strong>ritte, Konzeptionen, Instrumente<br />
für eine begabungsfördernde S<strong>ch</strong>ule<br />
Auf dem Weg zu einer S<strong>ch</strong>ule, die na<strong>ch</strong> den oben bes<strong>ch</strong>riebenen Grundsätzen<br />
arbeiten kann, sind Entwicklungss<strong>ch</strong>ritte notwendig. An vielen Orten wurden diese<br />
bereits vollzogen, an anderen stehen sie no<strong>ch</strong> aus. Im Folgenden wird auf eins<strong>ch</strong>lägige<br />
Literatur verwiesen sowie auf Instrumente und Handrei<strong>ch</strong>ungen, die<br />
im Rahmen des Netzwerkes und seines Umfeldes entstanden sind. Die na<strong>ch</strong>folgende<br />
Zusammenstellung ist geordnet na<strong>ch</strong> Unterri<strong>ch</strong>tsebene (A), S<strong>ch</strong>ulebene (B),<br />
Support massnahmen (C).<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
3
A. Entwicklungss<strong>ch</strong>ritte auf der Unterri<strong>ch</strong>tsebene<br />
1. Transparenz der Klassen- und Lernziele für alle<br />
Beteiligten als Orientierungsrahmen für<br />
individuelles Lernen<br />
Für die Lernentwicklung der Einzelnen spielt das Lern- und Unterri<strong>ch</strong>tsklima eine<br />
wi<strong>ch</strong>tige Rolle. Wenn die Regeln für das Zusammenleben und Lernen in der Klasse<br />
unter Beteiligung aller S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler erarbeitet werden und für<br />
alle verständli<strong>ch</strong> und zugängli<strong>ch</strong> sind, s<strong>ch</strong>affen sie Orientierung und einen verlässli<strong>ch</strong>en<br />
Rahmen für Verhalten, Zusammenleben und gemeinsame Lernarbeit.<br />
Ein zentrales Element ist dabei der respektvolle Umgang mit Diversität (Grossrieder,<br />
2010).<br />
Der in Arbeit befindli<strong>ch</strong>e Lehrplan 21 erhebt den Anspru<strong>ch</strong>, Lernziele und Kompetenzerwartungen<br />
transparenter zu ma<strong>ch</strong>en als dies bei herkömmli<strong>ch</strong>en Lehrplänen<br />
der Fall war. Es wird zu prüfen sein, ob die Lernziele im Sinne der Begabungsförderung<br />
«na<strong>ch</strong> oben offen» formuliert sind und neben den verbindli<strong>ch</strong> zu<br />
errei<strong>ch</strong>enden Grundkompetenzen den Lehrpersonen au<strong>ch</strong> eine gewisse Orientierung<br />
bezügli<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong>er Entwicklungshorizonte (im Sinne Vigotskys) liefern. Das<br />
Netzwerk Begabungsförderung widmet sein Jahresthema 2013 dem Lehrplan 21.<br />
2. Lernziele individualisieren<br />
Die Individualisierung der Lernziele setzt pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik und regelmässige<br />
Lernstandsanalyse voraus. Pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik fragt na<strong>ch</strong> den Lernau<strong>sg</strong>angslagen<br />
und -bedürfnissen der Lernenden und nutzt die gewonnenen<br />
Erkenntnisse für eine adaptive Unterri<strong>ch</strong>t<strong>sg</strong>estaltung und individuelle Lernförderung<br />
(Buholzer, 2010). Am Anfang aller Diagnostik steht die Beoba<strong>ch</strong>tung der<br />
S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler. Um diese zu systematisieren und auf die Begabungsförderung<br />
zu fokussieren, wurden Beoba<strong>ch</strong>tungsbogen entwickelt, die – au<strong>ch</strong> von<br />
Eltern au<strong>sg</strong>efüllt – als Grundlage für eine förderli<strong>ch</strong>e Unterri<strong>ch</strong>tsplanung sowie<br />
Lern- und Beurteilung<strong>sg</strong>esprä<strong>ch</strong>e dienen können (Huser, 2011).<br />
Zu Beginn eines grösseren Bildungszyklus kann au<strong>ch</strong> ein mehrdimensionales<br />
Screeningverfahren eingesetzt werden (Ziegler & Stöger, 2003).<br />
Für die konkrete differenzierende Unterri<strong>ch</strong>tsplanung sind fa<strong>ch</strong>spezifis<strong>ch</strong>e Instrumente<br />
zur Lernstandsanalyse notwendig.<br />
3. Erweiterte und offene Lehr- und Lernformen,<br />
Lernumgebungen<br />
Unterri<strong>ch</strong>tsformen, die das Bes<strong>ch</strong>reiten individueller Lernwege zulassen und Lernen<br />
in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>em Tempo ermögli<strong>ch</strong>en, offen sind für eigene Interessen<br />
und Fragestellungen der Lernenden und eine unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Tiefe der Auseinandersetzung<br />
mit den Lerninhalten erlauben, sind in einer begabungsfördernden<br />
S<strong>ch</strong>ule unerlässli<strong>ch</strong> (Müller-Oppliger, 2010).<br />
4 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
Lernumgebungen, Lern-, Anwendungs-, Übungs- und Prüfungsaufgaben<br />
haben einen Einfluss auf die Qualität des Lernens und die Motivation. Sind Lernumgebungen<br />
so gestaltet, dass sie vers<strong>ch</strong>iedene Zugänge ermögli<strong>ch</strong>en und «Rampen»<br />
bereitstellen, lassen sie Problemlösungen auf vers<strong>ch</strong>iedenen Kompetenzstufen<br />
zu (Hengartner et al., 2010).<br />
4. Lernjournal, Entwicklungsportfolio<br />
Als Grundlage für die Lernbegleitung, das Monitoring von Lernforts<strong>ch</strong>ritten und<br />
die Lernberatung dienen Lernjournale, in denen S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler ihre<br />
Lerns<strong>ch</strong>ritte festhalten und darüber untereinander, aber au<strong>ch</strong> mit Lehrpersonen<br />
und Eltern kommunizieren können (Ruf & Winter, 2012).<br />
Portfolios sind dazu geeignet, Lernwege stärkenorientiert zu reflektieren und<br />
die Leistungen der Lernenden zu dokumentieren (Eisenbart, S<strong>ch</strong>elbert & Stokar-<br />
Bis<strong>ch</strong>ofberger, 2010).<br />
5. Leistungsbewertung<br />
Die Leistungsbewertung erfolgt zweckbestimmt (formativ, summativ oder prognostis<strong>ch</strong>),<br />
sie ist transparent hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> Verfahren und Kriterien, und sie orientiert<br />
si<strong>ch</strong> an den angestrebten Lernzielen. Die gewählten Mittel sind ihren Zwecken<br />
dienli<strong>ch</strong> (Nües<strong>ch</strong>, Bodenmann & Birri, 2009).<br />
6. Mögli<strong>ch</strong>keiten zu interessen- und<br />
fähigkeit<strong>sg</strong>eleitetem Lernen<br />
Freiarbeit, Fors<strong>ch</strong>ungsräume und Ressourcenzimmer oder Begabungs-Pull-Outs<br />
sind einige der Mögli<strong>ch</strong>keiten, um Raum zu s<strong>ch</strong>affen für interessen- und fähigkeit<strong>sg</strong>eleitetes<br />
Lernen. Sie ermögli<strong>ch</strong>en selbständiges und begleitetes Arbeiten<br />
an individuellen Projekten und sie öffnen den Zugang zu Informationsressourcen,<br />
anspru<strong>ch</strong>svollen Lernmaterialien und Experimentierfeldern (Müller-Oppliger,<br />
2009). Die Präsenz von spezialisierten Lehrpersonen oder Fa<strong>ch</strong>leuten ermögli<strong>ch</strong>t<br />
vertiefte Einblicke in Interessengebiete, qualifiziertes Arbeiten an eigenen Fragestellungen<br />
und den Aufbau von Expertise (Stiftung für ho<strong>ch</strong>begabte Kinder &<br />
Stiftung Mercator S<strong>ch</strong>weiz, 2009).<br />
7. Selbstlernkompetenzen vermitteln,<br />
Selbstkonzept aufbauen<br />
Selbstgesteuertes Lernen will gelernt sein. Zur Reflexion und Steuerung des eigenen<br />
Lernens brau<strong>ch</strong>t es metakognitive Strategien, methodis<strong>ch</strong>e Kompetenzen und<br />
geeignete Instrumente zur Unterstützung der Selbstreflexion (Guldimann, 2010;<br />
Rogalla & Müller-Hostettler, 2009).<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Einflussfaktoren für erfolgrei<strong>ch</strong>es selbstgesteuertes Lernen sind<br />
Selbstkonzept, Attributionsstile und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, die bei<br />
Angehörigen von Minderheiten und insbesondere in ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsuntypis<strong>ch</strong>en<br />
Fa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong>en verzerrt sein können (Stöger et al. 2012).<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
5
B. Entwicklungss<strong>ch</strong>ritte auf der S<strong>ch</strong>ulebene<br />
1. Fokus Begabungsförderung in S<strong>ch</strong>ulentwicklung<br />
bea<strong>ch</strong>ten<br />
Begabungsförderung ist ein Aspekt der S<strong>ch</strong>ulentwicklung und es gilt, im Rahmen<br />
der S<strong>ch</strong>ulentwicklungsarbeit diesen Blickwinkel immer wieder bewusst einzunehmen<br />
und si<strong>ch</strong> zu fragen, ob die S<strong>ch</strong>ule mit ihren weiterentwickelten Unterri<strong>ch</strong>tsund<br />
Organisationsformen allen S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>ülern, au<strong>ch</strong> den besonders<br />
begabten, mögli<strong>ch</strong>st gere<strong>ch</strong>t wird (Lienhard, 2012).<br />
2. Klassen- und jahrgangübergreifendes<br />
Lernen ermögli<strong>ch</strong>en<br />
In S<strong>ch</strong>ulen, die klassen- und jahrgangübergreifend arbeiten, wird Heterogenität<br />
zur Normalität und der Umgang mit ihr zur Selbstverständli<strong>ch</strong>keit. In alter<strong>sg</strong>emis<strong>ch</strong>ten<br />
Lerngruppen finden individuelle Lernwege Platz und die Verweil dauer<br />
in einem S<strong>ch</strong>uljahrgang kann sehr flexibel gehandhabt werden (A<strong>ch</strong>ermann &<br />
Gehrig 2011).<br />
3. Flexibilisierung der S<strong>ch</strong>uldur<strong>ch</strong>laufzeit<br />
(Akzeleration)<br />
Au<strong>ch</strong> in S<strong>ch</strong>ulen, die im Jahrgangsprinzip arbeiten, besteht die Mögli<strong>ch</strong>keit, Klassen<br />
zu überspringen oder gewisse Lerninhalte in einer nä<strong>ch</strong>sten Jahrgangsklasse<br />
oder an einer weiterführenden S<strong>ch</strong>ule zu besu<strong>ch</strong>en (Heinbokel, 2009).<br />
4. Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams<br />
Grundlage integrativer und begabungsfördernder S<strong>ch</strong>ulen ist die Zusammenarbeit<br />
der Lehrpersonen, die dann besonders fru<strong>ch</strong>tbar wird, wenn unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Kompetenzprofile in die Zusammenarbeit eingebra<strong>ch</strong>t werden. S<strong>ch</strong>ulen, die<br />
Kooperation systematis<strong>ch</strong> anlegen, werden zu professionellen Lerngemeins<strong>ch</strong>aften<br />
(Es<strong>ch</strong>elmüller, 2012; Hofer & Boscardin, 2011).<br />
6 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
C. Supportmassnahmen<br />
1. Integrative Gestaltung von Begabungsförderung<br />
In der Deuts<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>weiz wird Begabungsförderung zu einem grossen Teil im Rahmen<br />
der integrativen S<strong>ch</strong>ulungsform bzw. der allgemeinen Förderangebote angesiedelt.<br />
Wie der Einführung zu diesem Papier zu entnehmen ist, wird Begabungsförderung<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> integrativ gestaltet (Keller, 2009).<br />
2. Abklärungsverfahren<br />
Liegt zwis<strong>ch</strong>en den Lernvoraussetzungen oder -bedürfnissen des Kindes und den<br />
Mögli<strong>ch</strong>keiten der S<strong>ch</strong>ule ein Misfit vor, kann eine psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Abklärung sinnvoll<br />
sein. Abklärungsverfahren sind teilweise au<strong>ch</strong> nötig zur Auslösung von Ressourcen<br />
für die Begabungs- und Begabtenförderung. Abklärungsverfahren, die<br />
umfassend gestaltet sind, berücksi<strong>ch</strong>tigen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Begabungsdomänen<br />
und sind dafür geeignet, au<strong>ch</strong> begabte Minderheiten zu erfassen (Stamm, 2010).<br />
3. Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen<br />
und Fa<strong>ch</strong>kräften<br />
Eine zentrale Ressource für die integrative Begabungsförderung ist die Qualifikation<br />
der Lehrpersonen. In dieser Perspektive werden in der Grundausbildung<br />
Kenntnisse und Erfahrungen über den Umgang mit Heterogenität vermittelt und<br />
Gelegenheiten ges<strong>ch</strong>affen, si<strong>ch</strong> mit subjektiven Begabungstheorien auseinanderzusetzen<br />
sowie Begabungsmodelle und Konzepte der Begabungsförderung kennen<br />
zu lernen, um Lehrpersonen zu befähigen, begabte Kinder zu erkennen und<br />
gegenüber Eltern als erste Anspre<strong>ch</strong>person aufzutreten (Brunner, Gyseler & Lienhard,<br />
2002). Der Prozess der Integration von Kompetenzen zur Begabungs- und<br />
Begabtenförderung in die Grundausbildung von Lehrpersonen ist ni<strong>ch</strong>t abges<strong>ch</strong>lossen<br />
(Tanner & Tettenborn, 2013).<br />
Auf internationaler Ebene wurden Empfehlungen für spezialisierende Ausresp.<br />
Weiterbildungen in der Begabtenförderung formuliert. An diesem Prozess<br />
waren au<strong>ch</strong> Experten aus der S<strong>ch</strong>weiz beteiligt (IPEGE 2009; 2012).<br />
4. Personalentwicklung in begabungsfördernden<br />
S<strong>ch</strong>ulen<br />
S<strong>ch</strong>ulen, die na<strong>ch</strong> den eingangs des Papiers dargestellten Grundsätzen arbeiten,<br />
nehmen eine Vielzahl von Aufgaben wahr, die nur mit multiprofessionellen<br />
Teams zu bewältigen sind. In diesem Sinne ist eine gezielte Personalentwicklung<br />
in S<strong>ch</strong>ulen von zentraler Bedeutung. Sie steht zum einen im Dienste der Weiterentwicklung<br />
von S<strong>ch</strong>ulen und stellt zum andern die Weiterbildung und Laufbahnentwicklung<br />
der Lehrpersonen in einen übergeordneten Rahmen (Böckelmann,<br />
2008).<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
7
5. Voneinander lernen, Erfahrungen austaus<strong>ch</strong>en,<br />
Netze knüpfen<br />
Begabungs- und Begabtenförderung sind Aspekte der S<strong>ch</strong>ulentwicklung und<br />
diese verläuft als Prozess, der ni<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>liessbar ist. Laufend entstehen neue<br />
Erkenntnisse, Erfahrungen, Handrei<strong>ch</strong>ungen und weiterführende Ideen.<br />
Die Kantone und die Einzelpersonen, die im Netzwerk Begabungsförderung<br />
zusammenges<strong>ch</strong>lossen sind, bemühen si<strong>ch</strong>, ihr Wissen mit andern zu teilen. Da<br />
die s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Strukturen und Organisationsmuster in den Kantonen vers<strong>ch</strong>ieden<br />
sind, wurden dort zahlrei<strong>ch</strong>e mas<strong>sg</strong>es<strong>ch</strong>neiderte Unterlagen und Informationsmaterialien<br />
erarbeitet. Sie sind auf der zentralen Plattform des Netzwerks<br />
Begabungsförderung abgelegt.<br />
Dort finden si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Links zu andern Organisationen und Fa<strong>ch</strong>personen<br />
sowie deren Angeboten, Hinweise zu Weiterbildungsmögli<strong>ch</strong>keiten sowie ein<br />
Fundus an kommentierten Publikationen (www.begabungsfoerderung.<strong>ch</strong>).<br />
6. Begriffe klären<br />
Um die vielen Fa<strong>ch</strong>begriffe, die im Berei<strong>ch</strong> Begabungs- und Begabtenförderung<br />
verwendet werden, zu klären und zu erläutern, wird dieses Rahmenpapier um ein<br />
Glossar ergänzt, das si<strong>ch</strong> im Anhang und auf der Website des Netzwerks befindet.<br />
8 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
Literatur:<br />
A<strong>ch</strong>ermann, E. & Gehrig, H. (2011). Altersdur<strong>ch</strong>mis<strong>ch</strong>tes Lernen – auf dem Weg zur<br />
Individualisierenden Gemeins<strong>ch</strong>afts<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong>. Bern: S<strong>ch</strong>ulverlag plus<br />
Böckelmann, C. (2008). Individuelle Weiterbildung im Kontext der Personalentwicklung –<br />
Überlegungen zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Funktionen. Beiträge zur Lehrerbildung, 1, 35 – 42<br />
www.bzl-online.<strong>ch</strong>/ar<strong>ch</strong>iv/heft/2008/1/35 ( 1. 3. 2013 )<br />
Buholzer, A. (2010). Lernprozesse förderorientiert diagnostizieren. In: A. Buholzer &<br />
A. Kummer Wyss (Hr<strong>sg</strong>.): Alle glei<strong>ch</strong> – alle unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>! Zum Umgang mit<br />
Heterogenität in S<strong>ch</strong>ule und Unterri<strong>ch</strong>t. Zug: Klett und Balmer, 97–108<br />
Brunner, E.; Gyseler, D. & Lienhard, P. (2002). Qualitätsstandards Begabtenförderung in der<br />
Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Expertenberi<strong>ch</strong>t im Auftrag der EDK-Ost Fa<strong>ch</strong>gruppe<br />
Begabtenförderung. Züri<strong>ch</strong>: HfH<br />
www.begabungsfoerderung.<strong>ch</strong>/seiten/kantone/kantone.html ( 1. 3. 2013 )<br />
Eisenbart, U.; S<strong>ch</strong>elbert, B. & Stokar-Bis<strong>ch</strong>ofberger, E. (2010). Stärken entdecken –<br />
erfassen – entwickeln. Das Talentportfolio in der S<strong>ch</strong>ule. Bern: S<strong>ch</strong>ulverlag plus<br />
Es<strong>ch</strong>elmüller, M. (2012). Unterri<strong>ch</strong>tsteams in integrativen S<strong>ch</strong>ulen. Präsentation an der<br />
Tagung «Gemeinsam unterri<strong>ch</strong>ten und fördern in einer S<strong>ch</strong>ule für alle», Luzern, 17. 11. 2012<br />
www.begabungsfoerderung.<strong>ch</strong>/pdf/tagungen/unterlagen_12/WS10_Es<strong>ch</strong>elmueller.pdf<br />
( 1. 3. 2013 )<br />
Grossrieder, I. (2010). Glei<strong>ch</strong>es und Unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>es anerkennen. In: A. Buholzer &<br />
A. Kummer Wyss (Hr<strong>sg</strong>.): Alle glei<strong>ch</strong> – alle unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>! Zum Umgang mit<br />
Heterogenität in S<strong>ch</strong>ule und Unterri<strong>ch</strong>t. Zug: Klett und Balmer, 87 – 96<br />
Guldimann, T. (2010). Lernen verstehen und eigenständiges Lernen fördern.<br />
In: A. Buholzer & A. Kummer Wyss (Hr<strong>sg</strong>.): Alle glei<strong>ch</strong> – alle unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>! Zum Umgang<br />
mit Heterogenität in S<strong>ch</strong>ule und Unterri<strong>ch</strong>t. Zug: Klett und Balmer, 109 – 121<br />
Heinbokel. A. (2009). Handbu<strong>ch</strong> Akzeleration. Was Ho<strong>ch</strong>begabten nützt. Berlin: LIT<br />
Hengartner, E.; Hirt, U. & Wälti, B. (2010). Lernumgebungen für Re<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e bis<br />
Ho<strong>ch</strong>begabte. Natürli<strong>ch</strong>e Differenzierung im Mathematikunterri<strong>ch</strong>t, 1. bis 6. S<strong>ch</strong>uljahr.<br />
Zug: Klett und Balmer (2. aktualisierte und erweiterte Auflage)<br />
Hofer, C. & Boscardin, N. (2011). Führen von multiprofessionellen Teams. In: F. Brückel,<br />
M.C. Dietiker und R. Guerra Lig-Long (Hr<strong>sg</strong>.): Tages<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong>n heute. Theoretis<strong>ch</strong>e<br />
Grundlagen und praktis<strong>ch</strong>e Modelle. Züri<strong>ch</strong>: Verlag Pestalozzianum<br />
Huser, J. (2011). Li<strong>ch</strong>tblick für helle Köpfe. Ein Wegweiser zur Erkennung und Förderung<br />
von hohen Fähigkeiten bei Kindern und Jugendli<strong>ch</strong>en auf allen S<strong>ch</strong>ulstufen. Züri<strong>ch</strong>:<br />
Lehrmittelverlag des Kantons Züri<strong>ch</strong> [Beoba<strong>ch</strong>tungsbogen für Eltern stehen in 7 Spra<strong>ch</strong>en<br />
zur Verfügung: www.begabungsfoerderung.<strong>ch</strong>/seiten/fundus/practises/practises.html<br />
( 1. 3. 2013 )]<br />
IPEGE [International Panel of Experts for Gifted Education] (2009). Professionelle<br />
Begabtenförderung. Empfehlungen zur Qualifizierung von Fa<strong>ch</strong>kräften in der<br />
Begabtenförderung. Salzburg: özbf<br />
www.oezbf.net/cms/tl_files/Publikationen/Veroeffentli<strong>ch</strong>ungen/iPEGE_1_web.pdf ( 1. 3. 2013 )<br />
IPEGE [International Panel of Experts for Gifted Education] (2012). Professionelle<br />
Begabtenförderung. Erprobte Studienmodule. Salzburg: özbf<br />
www.oezbf.net/cms/tl_files/Publikationen/Veroeffentli<strong>ch</strong>ungen/iPEGE_3_WEB.pdf<br />
(1 .3. 2013)<br />
Keller, M. (2009). Begabungsförderung brau<strong>ch</strong>t Unterri<strong>ch</strong>tsentwicklung. In: Stiftung für<br />
ho<strong>ch</strong>begabte Kinder & Stiftung Mercator S<strong>ch</strong>weiz (Hr<strong>sg</strong>.): Begabungsförderung lei<strong>ch</strong>t<br />
gema<strong>ch</strong>t. Unterlagen und Konzepte von LISSA-Preisträgern. Bern: hep, 21 – 30<br />
Lienhard, P. (2012). Geht die Begabtenförderung in der integrativen S<strong>ch</strong>ule auf oder unter?<br />
Referat an der Tagung «Gemeinsam unterri<strong>ch</strong>ten und fördern in einer S<strong>ch</strong>ule für alle»,<br />
Luzern, 17. 11. 2012<br />
www.begabungsfoerderung.<strong>ch</strong>/pdf/tagungen/unterlagen_12/Referat_Lienhard.pdf<br />
(1. 3. 2013)<br />
Müller-Oppliger, V. (2009). Kritis<strong>ch</strong>e Würdigung der LISSA-Projekte aus internationaler<br />
Perspektive. In: Stiftung für ho<strong>ch</strong>begabte Kinder & Stiftung Mercator S<strong>ch</strong>weiz (Hr<strong>sg</strong>.):<br />
Begabungsförderung lei<strong>ch</strong>t gema<strong>ch</strong>t. Unterlagen und Konzepte von LISSA-Preisträgern.<br />
Bern: hep, 33 – 46<br />
Müller-Oppliger, V. (2010). Von der Begabtenförderung zu Selbstgestaltendem<br />
Lernen. Selbstgesteuertes und selbstsorgendes Lernen als Prinzipien na<strong>ch</strong>haltiger<br />
Begabungsförderung. Journal für Begabtenförderung, 1, 51 – 62<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
9
Nües<strong>ch</strong>, H.; Bodenmann, M. & Birri, T. (2009). Fördern und fordern. S<strong>ch</strong>ülerinnen- und<br />
S<strong>ch</strong>ülerbeurteilung in der Volks<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong>. Frauenfeld: Amt für Volks<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong>, Kanton Thurgau<br />
avk.formular.tg.<strong>ch</strong>/online/get.cfm?contentID=4129 ( 1. 3. 2013 )<br />
Rogalla, M. & Müller-Hostettler, D. (2009). Methodentraining für eigenständige<br />
Projektarbeiten. Journal für Begabtenförderung, 1, 24 – 31<br />
Ruf, U. & Winter, F. (2012). Dialogis<strong>ch</strong>es Lernen: die gemeinsame Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Qualitäten.<br />
Zeits<strong>ch</strong>rift für Inklusion, 1 – 2<br />
www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/146/138 ( 1. 3. 2013 )<br />
Stamm, M. (2010). Begabte Minoritäten. Eine Black Box unseres Bildungssystems und wie<br />
sie geknackt werden könnte. Zeits<strong>ch</strong>rift für Sozialpädagogik, 4, 339 – 356<br />
Stöger, H.; Ziegler, A. & Heilemann, M. (Hr<strong>sg</strong>.) (2012). Mäd<strong>ch</strong>en und Frauen in MINT.<br />
Bedingungen von Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsunters<strong>ch</strong>ieden und Interventionsmögli<strong>ch</strong>keiten. Berlin: LIT<br />
Tanner, Sabine & Tettenborn, Annette (2013). Untersu<strong>ch</strong>ung zum IST-Zustand der<br />
Vermittlung von Kompetenzen im Berei<strong>ch</strong> Begabungs- und Begabtenförderung in<br />
der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung (Primarstufe) der Deuts<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>weiz. Luzern:<br />
Pädagogis<strong>ch</strong>e Ho<strong>ch</strong><strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> Zentrals<strong>ch</strong>weiz, Ho<strong>ch</strong><strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> Luzern (Fors<strong>ch</strong>ungsberi<strong>ch</strong>t Nr. 36)<br />
Ziegler, A. & Stöger, H. (2003). ENTER – Ein Modell zur Identifikation von Ho<strong>ch</strong>begabten.<br />
Journal für Begabtenförderung, 1, 8 – 21<br />
10 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
verbindet si<strong>ch</strong> mit der Begabungszus<strong>ch</strong>reibung zuglei<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ein Verständnis<br />
des Besonderen. Ein dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittli<strong>ch</strong>er Klavierspieler wird in der Regel ni<strong>ch</strong>t als<br />
«begabt» bes<strong>ch</strong>rieben. Die Zus<strong>ch</strong>reibung einer Begabung verweist daher au<strong>ch</strong><br />
auf ein → Potential, das gefördert werden könnte/sollte (→ Begabungsförderung).<br />
S<strong>ch</strong>wierig wird es dann, wenn zuges<strong>ch</strong>riebene Begabungen ni<strong>ch</strong>t oder ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
«si<strong>ch</strong>tbar» werden: Au<strong>ch</strong> das Alltagsverständnis von Begabung kennt bereits die<br />
Differenz zwis<strong>ch</strong>en → Disposition und Leistung.<br />
Im Rahmen vers<strong>ch</strong>iedener wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Fa<strong>ch</strong>disziplinen wie der Pädagogik<br />
bzw. der Pädagogis<strong>ch</strong>en Psy<strong>ch</strong>ologie werden eindimensional-statis<strong>ch</strong>e von<br />
mehrdimensional-dynamis<strong>ch</strong>en, stärker kontext-sensitiven Begabungsbegriffen<br />
unters<strong>ch</strong>ieden. Die jeweiligen Begabungsbegriffe sind als begriffli<strong>ch</strong>e Konzepte<br />
Teil von Begabungsmodellen. Bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> das Begabungsmodell auf die allgemeine<br />
Denkfähigkeit, so wird eine besondere (kognitive) Begabung zumeist an<br />
einem statistis<strong>ch</strong> festgelegten Grenzwert in einem Intelligenztest (z.B. IQ ≥130)<br />
festgema<strong>ch</strong>t. Neuere mehrdimensionale Begabungsmodelle s<strong>ch</strong>liessen dagegen<br />
ein breiteres Begabungsspektrum mit ein. Zu den Begabungsfaktoren zählen<br />
neben den intellektuellen Fähigkeiten dann au<strong>ch</strong> etwa künstleris<strong>ch</strong>-kreative,<br />
te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>-praktis<strong>ch</strong>e oder au<strong>ch</strong> sozial-emotionale Fähigkeiten.<br />
Begabte<br />
Als «begabt» werden in der Regel Personen bezei<strong>ch</strong>net, die si<strong>ch</strong> im Verglei<strong>ch</strong> zu<br />
anderen dur<strong>ch</strong> eine grössere Leistungsfähigkeit und ein grösseres Förderpotential<br />
auszei<strong>ch</strong>nen. Begabte zeigen zumeist weitere ni<strong>ch</strong>t kognitive Persönli<strong>ch</strong>keitsmerkmale<br />
in hoher Ausprägung, wel<strong>ch</strong>e der Entwicklung ihres Leistungspotentials<br />
förderli<strong>ch</strong> sind. Dies sind u.a. eine hohe Leistungsmotivation, au<strong>sg</strong>ereifte Arbeitsund<br />
Lernstrategien und ein positives Selbstkonzept der eigenen → Begabung(en).<br />
Damit eine → Begabung si<strong>ch</strong> ausprägen kann und Begabte überhaupt erst<br />
«si<strong>ch</strong>tbar» werden, müssen vers<strong>ch</strong>iedene Faktoren zusammenspielen. So unterstützen<br />
eine anregende familiäre Lernumwelt und ein auf → Begabungsförderung<br />
au<strong>sg</strong>eri<strong>ch</strong>teter Unterri<strong>ch</strong>t die Begabungsentwicklung.<br />
Begabungsförderung<br />
Die Betonung des Auftrags zur Begabungsförderung in Bildung und Erziehung ist<br />
Folge eines neueren Lehr-Lernverständnisses, wel<strong>ch</strong>es das Individuum mit seinem<br />
(vorläufigen) Wissen und Können und seinen je spezifis<strong>ch</strong>en Lernprozessen,<br />
Interessen und Motivationen ins Zentrum rückt. S<strong>ch</strong>ule und Unterri<strong>ch</strong>t sollen den<br />
individuellen Bildungs- und Entwicklungsprozessen der S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler<br />
besser gere<strong>ch</strong>t werden. Begabungsförderung wird zur Persönli<strong>ch</strong>keitsbildung.<br />
S<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Begabungsförderung erfordert von den Lehrpersonen, si<strong>ch</strong> stärker an<br />
den Lern- und Leistungspotentialen der S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler zu orientieren<br />
und Lernmaterial und Lernmethodik entspre<strong>ch</strong>end angepasst zu gestalten. Die<br />
Rolle der Lehrperson wird um den Aspekt des Begleitens und Beratens von Lernprozessen<br />
erweitert, die Vers<strong>ch</strong>iedenheit der S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
ihrer → Begabungen und Förderbedürfnisse wird als Au<strong>sg</strong>angspunkt unterri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Handelns akzeptiert (→ Pädagogik der Vielfalt).<br />
Begabtenförderung<br />
Die Förderung au<strong>sg</strong>eprägt begabter junger Mens<strong>ch</strong>en mit hohem Leistungspotential<br />
erfordert bisweilen besondere Massnahmen, die über die Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />
im Regelunterri<strong>ch</strong>t hinau<strong>sg</strong>ehen. Dies ist insbesondere in Begabungsdomänen<br />
12 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
der Fall, die im s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>t nur eine untergeordnete Rolle spielen<br />
(z.B. körperli<strong>ch</strong>-sportli<strong>ch</strong>e, künstleris<strong>ch</strong>-gestaltende, musikalis<strong>ch</strong>e, soziale Begabung).<br />
Es ist au<strong>ch</strong> dann der Fall, wenn es um Interessengebiete geht, die ausserhalb<br />
des s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Lehrplanes liegen. Es kann au<strong>ch</strong> dann der Fall sein, wenn<br />
das Leistungspotential der S<strong>ch</strong>ülerin oder des S<strong>ch</strong>ülers die fa<strong>ch</strong>spezifis<strong>ch</strong>en Kompetenzen<br />
der zuständigen Lehrperson übersteigt. Der Begriff Begabtenförderung<br />
ums<strong>ch</strong>reibt sol<strong>ch</strong>e Massnahmen (→ Compacting des Basisslehrplans zur Gewinnung<br />
von Trainings- und Übungszeit, → Akzeleration im Sinne eines vorzeitigen<br />
Besu<strong>ch</strong>s von Vorlesungen an einer Ho<strong>ch</strong><strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> im spezifis<strong>ch</strong>en Interessengebiet,<br />
→ Pull-out Lösungen zur Bearbeitung persönli<strong>ch</strong>er Projekte, → Mentoring dur<strong>ch</strong><br />
eine fa<strong>ch</strong>spezifis<strong>ch</strong> qualifizierte Fa<strong>ch</strong>person). Um der Spezifität sol<strong>ch</strong>er Leistungspotentiale<br />
(z.B. in einer bestimmten Sportart) und der Kleinräumigkeit unseres<br />
Landes Re<strong>ch</strong>nung zu tragen, haben die Kantone 2003 eine Interkantonale Vereinbarung<br />
für S<strong>ch</strong>ulen mit spezifis<strong>ch</strong>-strukturierten Angeboten für Ho<strong>ch</strong>be gabte<br />
getroffen.<br />
Compacting<br />
Compacting ist ein systematis<strong>ch</strong>es Verfahren, bei dem der Basislehrplan gestrafft<br />
und intensiviert wird. Dadur<strong>ch</strong> soll die Wiederholung von bereits gelerntem Stoff<br />
vermieden, die Herausforderung innerhalb des regulären Unterri<strong>ch</strong>ts erhöht und<br />
Zeit für angemessene → Enri<strong>ch</strong>ment- und → Akzelerationsmassnahmen gewonnen<br />
werden. Begabte Kinder und Jugendli<strong>ch</strong>e arbeiten ni<strong>ch</strong>t zwangsläufig s<strong>ch</strong>neller<br />
als ihre Klassenkameraden, sie lernen aber s<strong>ch</strong>neller und brau<strong>ch</strong>en deshalb weniger<br />
Einführungs- und Übungszeit als andere. Wenn feststeht, dass jemand etwas<br />
s<strong>ch</strong>on beherrs<strong>ch</strong>t, so kann die überflüssig gewordene Übungszeit zur Vertiefung<br />
des Themas verwendet werden. Bevor man ein Kind von einer Übungsphase oder<br />
gar einer ganzen Lernsequenz befreit, muss feststehen, dass keine erhebli<strong>ch</strong>en<br />
Lücken bestehen, die den späteren Ans<strong>ch</strong>luss behindern würden. Mit einem Vortest,<br />
der die relevanten Lernziele ab<strong>ch</strong>eckt, kann dieser Gefahr begegnet werden.<br />
Disposition<br />
Die Disposition (von lat. dispositio = Anordnung, Anlage) wird oft als relativ stabile<br />
und situationsüberdauernde Neigung einer Person definiert, si<strong>ch</strong> in bestimmten<br />
Situationen in bestimmter Art und Weise zu verhalten. Oft wird von ererbten Dispositionen<br />
im Sinn von «es besteht eine innere Disposition, eine Anlage zu einer<br />
bestimmten Verhaltensweise oder Entwicklung» au<strong>sg</strong>egangen. Der Dispositionsbegriff<br />
beinhaltet u.a. die Vorstellung, dass bestimmte Persönli<strong>ch</strong>keitseigens<strong>ch</strong>aften<br />
vorhersagbar ma<strong>ch</strong>en, wie si<strong>ch</strong> eine Person in einer bestimmten Situation<br />
entwickeln kann oder verhalten wird.<br />
Enri<strong>ch</strong>ment<br />
Enri<strong>ch</strong>ment umfasst einerseits Aktivitäten zur Vertiefung und Erweiterung des<br />
Lernstoffs, andrerseits Aktivitäten, die über den Lehrplan hinau<strong>sg</strong>ehen oder Themen<br />
beinhalten, die ni<strong>ch</strong>t lehrplanrelevant sind. Mit Enri<strong>ch</strong>ment werden interessierte<br />
und motivierte S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler angeregt, si<strong>ch</strong> in ihrem Begabung<strong>sg</strong>ebiet<br />
spezifis<strong>ch</strong> weiter zu entwickeln oder neue Interessen<strong>sg</strong>ebiete zu<br />
entdecken. Ein umfassendes s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>es Enri<strong>ch</strong>ment Modell wurde Ende der<br />
1990er-Jahre dur<strong>ch</strong> Joseph Renzulli und Sally Reis entwickelt.<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
13
Heterogenität<br />
Während Vielfalt (diversity) die Tatsa<strong>ch</strong>e ums<strong>ch</strong>reibt, dass jeder Mens<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong><br />
vom andern dur<strong>ch</strong> unzählige individuelle Merkmale unters<strong>ch</strong>eidet, bezieht si<strong>ch</strong><br />
der Begriff Heterogenität auf die Zusammensetzung von Gruppen na<strong>ch</strong> sozialen<br />
Kategorien (Alter, Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, Nationalität, Ethnizität, Spra<strong>ch</strong>e u.a.). Der Begriff<br />
Heterogenität wird in Abgrenzung von Homogenität gebrau<strong>ch</strong>t. Im Bildungswesen<br />
der Moderne wurde Homogenität im Sinne der Gruppenzusammensetzung<br />
na<strong>ch</strong> verglei<strong>ch</strong>barem Entwicklungs- und Leistungsstand angestrebt (Jahrgangsklassenprinzip,<br />
Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe I, separative Sonders<strong>ch</strong>ulung).<br />
Homogen zusammengesetzte Lerngruppen sollten das Unterri<strong>ch</strong>ten erlei<strong>ch</strong>tern<br />
und das Lehren wirksamer gestalten. Die Homogenisierbarkeit erwies si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong><br />
als Fiktion; glei<strong>ch</strong>wohl wurde der Unterri<strong>ch</strong>t lange gemäss dieser Fiktion auf einen<br />
«mittleren Normals<strong>ch</strong>üler» au<strong>sg</strong>eri<strong>ch</strong>tet. S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler, die der Norm<br />
ni<strong>ch</strong>t entspra<strong>ch</strong>en, konnten von diesem Unterri<strong>ch</strong>t wenig profitieren und liefen<br />
Gefahr, au<strong>sg</strong>esondert zu werden.<br />
Mit der Individualisierung und Pluralisierung der Gesells<strong>ch</strong>aft sowie der<br />
zunehmenden Sensibilität für Bildungsungere<strong>ch</strong>tigkeit aufgrund zuges<strong>ch</strong>riebener<br />
Merkmale wie Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t und soziale Herkunft kam diese Konzeption an ihre<br />
Grenzen und erwies si<strong>ch</strong> zunehmend als problematis<strong>ch</strong>. Denn die soziale Gruppierung<br />
aufgrund zuges<strong>ch</strong>riebener Merkmale (Etikette, Stigma) wirkt si<strong>ch</strong> für das<br />
Lernen weniger förderli<strong>ch</strong> aus als erhofft und kann au<strong>ch</strong> zur Bena<strong>ch</strong>teiligung der<br />
Lernenden in den au<strong>sg</strong>esonderten Gruppen führen. Deshalb ist im Bildungswesen<br />
heute eine Trendwende hin zur bewussten Akzeptanz heterogen zusammengesetzter<br />
Lerngruppen zu beoba<strong>ch</strong>ten.<br />
Identifikation<br />
Das Identifizieren von Begabungen orientiert si<strong>ch</strong> einerseits an Modellvorstellungen,<br />
was unter → Begabung verstanden wird und andererseits an der Frage,<br />
wer dazu autorisiert ist, Begabungen mit wel<strong>ch</strong>en Methoden zu diagnostizieren.<br />
Initiiert dur<strong>ch</strong> die Arbeiten von Lewis Terman (1916) zur Intelligenzfors<strong>ch</strong>ung<br />
wurden anfängli<strong>ch</strong> vor allem herausragende kognitive Aspekte von Ho<strong>ch</strong>leistung<br />
anhand traditioneller Intelligenztests als Indikatoren für Ho<strong>ch</strong>begabung beigezogen.<br />
Mit der Erweiterung der Intelligenzkonzepte dur<strong>ch</strong> Howard Gardner (Multiple<br />
Intelligences, 1983), Robert Sternberg (Successful Intelligence, 1986) und der<br />
glei<strong>ch</strong>zeitigen Ausweitung der Begabungsmodelle auf künstleris<strong>ch</strong>-gestaltende,<br />
körperli<strong>ch</strong>-sportli<strong>ch</strong>e, musikalis<strong>ch</strong>e und soziale Ho<strong>ch</strong>leistungen ist in Fa<strong>ch</strong>kreisen<br />
jedo<strong>ch</strong> unbestritten, dass die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Begabungen ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong><br />
mittels klassis<strong>ch</strong>er Intelligenztests erfasst werden können. Verstärkt wird diese<br />
Erkenntnis dur<strong>ch</strong> sämtli<strong>ch</strong>e anerkannten Begabungsmodelle ab 1978 (Renzulli’s<br />
Three-Ring Concept), die au<strong>ch</strong> die weiteren (über messbare Intelligenz hinausführenden)<br />
persönli<strong>ch</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften und den sozialen Kontext für die Entstehung<br />
von Ho<strong>ch</strong>begabungen mit einbeziehen. Au<strong>ch</strong> aktuelle Fors<strong>ch</strong>ungsergebnisse der<br />
Expertise und Exzellenzfors<strong>ch</strong>ung relativieren die Bedeutung des IQ als alleinigen<br />
und zentralen Faktor für Ho<strong>ch</strong>begabung.<br />
Entspre<strong>ch</strong>end wurden in den vergangenen Jahren breitere Verfahren entwickelt<br />
wie etwa das mehrdimensionale «Identification-Model» von Renzulli (1997), das<br />
«ENTER-Modell» von Stoeger und Ziegler (2003) oder breitere Screening-Verfahren,<br />
in denen ganze Klassen auf Begabungspotenziale der S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler<br />
hin beoba<strong>ch</strong>tet werden. Alle diese neueren Identifikationsverfahren berücksi<strong>ch</strong>tigen<br />
sowohl kognitive Intelligenzleistungen als au<strong>ch</strong> darüber hinaus gehende personale<br />
Potenziale (co-kognitive Fähigkeiten) sowie Affinitäten der Lernenden und<br />
Leistungen in allen unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Bildungs- und Leistungsdomänen.<br />
14 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
Ein wesentli<strong>ch</strong>er Unters<strong>ch</strong>ied der Identifikation von Begabungen besteht zwis<strong>ch</strong>en<br />
den deuts<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Bildungssystemen Zentraleuropas und dem angloamerikanis<strong>ch</strong>en<br />
Ansatz. Während in Deuts<strong>ch</strong>land, Österrei<strong>ch</strong> und der S<strong>ch</strong>weiz die<br />
Identifikation von Begabungen seit Mitte der 90er-Jahre vielerorts der S<strong>ch</strong>ulpsy<strong>ch</strong>ologie<br />
unterstellt wurde, ist die Identifikation von Begabungspotenzialen in den<br />
übrigen Bildungsnationen Aufgabe der Lehrpersonen und im Sinn einer → pädagogis<strong>ch</strong>en<br />
Diagnostik eine Grundaufgabe des regulären Berufsauftrages.<br />
Aus dem Ansatz einer breiten und systemis<strong>ch</strong>en Begabungserfassung dur<strong>ch</strong><br />
alle am Bildungsprozess Beteiligten heraus entstanden denn au<strong>ch</strong> parallel zu<br />
den Testverfahren der S<strong>ch</strong>ulpsy<strong>ch</strong>ologie (Intelligenztest, Kreativitätstest, u.a.)<br />
Erhebungsverfahren, die Lehrpersonen, Eltern und Lernende zentral einbeziehen.<br />
Dementspre<strong>ch</strong>end existieren für die Hand von Lehrpersonen und Begabungsfa<strong>ch</strong>personen<br />
eine Vielzahl von Beoba<strong>ch</strong>tungsbögen und Checklisten, die das Entdecken<br />
von Begabungspotenzialen im S<strong>ch</strong>ulalltag in heterogenen S<strong>ch</strong>ulklassen<br />
ermögli<strong>ch</strong>en sollen.<br />
Unbestritten bleibt die Auffassung, dass im speziellen Fall von Undera<strong>ch</strong>ievement<br />
(→ Minderleistung) oder → Twice Exceptional Students (Begabung und<br />
Behinderung) die spezifis<strong>ch</strong>e Abklärung im Aufgabenberei<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>ulpsy<strong>ch</strong>ologie<br />
liegt.<br />
Integration<br />
Der unter dem Sti<strong>ch</strong>wort → Heterogenität bes<strong>ch</strong>riebene Versu<strong>ch</strong> homogene Lerngruppen<br />
herzustellen, führte zur Separation von S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>ülern, die<br />
von der Norm abwi<strong>ch</strong>en, in ein immer differenzierter werdendes System von Kleinbzw.<br />
Sonderklassen (für Leistungss<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e, Fremdspra<strong>ch</strong>ige, Verhaltensauffällige<br />
etc.). Kinder mit Behinderungen blieben vom Regelklassenunterri<strong>ch</strong>t au<strong>sg</strong>es<strong>ch</strong>lossen<br />
und besu<strong>ch</strong>ten den Unterri<strong>ch</strong>t in Sonder<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong>n. Die Kinder wurden<br />
ausserhalb des Regelunterri<strong>ch</strong>ts sonderpädagogis<strong>ch</strong> betreut und damit blieben<br />
au<strong>ch</strong> der Aufbau und die Weiterentwicklung des sonderpädagogis<strong>ch</strong>en Fa<strong>ch</strong>wissens<br />
ausserhalb der Regelklasse angesiedelt.<br />
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts setzte eine Gegenbewegung<br />
ein. Die separiert ges<strong>ch</strong>ulten S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler sollten in die<br />
Regelklassen zurückgeführt und mit sonderpädagogis<strong>ch</strong>er Unterstützung dem<br />
Regelunterri<strong>ch</strong>t folgen. Diese «Rückführung» wird als Integration oder integrative<br />
S<strong>ch</strong>ulungsform bezei<strong>ch</strong>net. International wurde diese Bewegung dur<strong>ch</strong> die UN-<br />
Kinderre<strong>ch</strong>tskonvention (1989), die Erklärung der UNESCO von Salamanca (1994)<br />
und die UN-Behindertenre<strong>ch</strong>tskonvention (2006) unterstützt. Auf der nationalen<br />
Ebene unterstrei<strong>ch</strong>en das Behindertenglei<strong>ch</strong>stellung<strong>sg</strong>esetz (BehiG, 2002) sowie<br />
die Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Berei<strong>ch</strong> der Sonderpädagogik<br />
(Sonderpädagogik-Konkordat, 2011) das Prinzip der Integration.<br />
In dieser neuen Konzeption wird die Regelklasse mit sonderpädagogis<strong>ch</strong>en<br />
und anderen Ressourcen angerei<strong>ch</strong>ert (kollektiv zugespro<strong>ch</strong>ene Lektionen). Für<br />
Kinder mit Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen, die verstärkte sonderpädagogis<strong>ch</strong>e Massnahmen<br />
erforderli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en, stehen na<strong>ch</strong> wie vor individuell zugespro<strong>ch</strong>ene Ressourcen<br />
zur Verfügung. Diese können – vereinfa<strong>ch</strong>t gesagt – zur Unterstützung des Kindes<br />
in der Regelklasse (integrative Sonders<strong>ch</strong>ulung) oder für die Platzierung in einer<br />
Sonder<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> eingesetzt werden.<br />
Als die im Netzwerk Begabungsförderung zusammenges<strong>ch</strong>lossenen Kantone<br />
Ende der 1990er Jahre Konzepte zur Begabungs- und Begabtenförderung formulierten,<br />
sahen diese in der Regel die integrative Förderung begabter Kinder vor. Als<br />
die Kantone in den vergangenen Jahren die sonderpädagogis<strong>ch</strong>e Förderung na<strong>ch</strong><br />
den oben erwähnten Prinzipien neu regelten, wurde die → Begabungsförderung<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
15
in die (sonderpädagogis<strong>ch</strong>en) Förderkonzepte einbezogen. Entspre<strong>ch</strong>end werden<br />
bei der Vorgabe zur kollektiven Ressourcenzuteilung sol<strong>ch</strong>e für Begabungs- und<br />
Begabtenförderung subsumiert oder explizit au<strong>sg</strong>ewiesen.<br />
In den S<strong>ch</strong>ulen führt die Integration zu verstärkter Zusammenarbeit von Regellehrpersonen<br />
und speziell qualifizierten Fa<strong>ch</strong>personen und damit zu → multiprofessionellen<br />
Teams.<br />
Inklusion<br />
Der Begriff Inklusion meint den wüns<strong>ch</strong>baren Endzustand der Integrationsbewegung,<br />
also die vollständige Rückführung der au<strong>sg</strong>esonderten S<strong>ch</strong>ülerinnen und<br />
S<strong>ch</strong>üler in die Regel<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> bzw. den vorbehaltlosen Einbezug aller in die Regel<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong>.<br />
Inklusion bedeutet au<strong>ch</strong>, dass die «S<strong>ch</strong>ule für alle» tragfähig und mit<br />
genügenden Ressourcen und Qualifikationen au<strong>sg</strong>estattet sein muss, um angemessen<br />
auf die individuell unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Lernvoraussetzungen und Förderbedürfnisse<br />
der Kinder und Jugendli<strong>ch</strong>en eingehen zu können.<br />
Mentoring<br />
Ein Mentor/eine Mentorin unterstützt eine/n Mentee in der Selbstverwirkli<strong>ch</strong>ung<br />
innerhalb eines Kontextes (einer Institution, eines Fa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong>s, etc). Dies mit<br />
dem Ziel, dass die/der Mentee lernt, si<strong>ch</strong> selbst weiter zu entwickeln. Der Begriff<br />
«Mentor» stammt aus der grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Mythologie: Der Weise Mentor wurde<br />
von Odysseus gebeten si<strong>ch</strong> während seiner Abwesenheit seines Sohnes Telema<strong>ch</strong>os<br />
anzunehmen. Mentoren sind Rollenmodelle. Sie sind sowohl Fa<strong>ch</strong>experten<br />
wie «väterli<strong>ch</strong>er Freund» (Mythologie). Sie verbinden Expertise in ihrem Fa<strong>ch</strong> mit<br />
Lebenserfahrung und Praxis in ihrem Spezialgebiet und dem Wohlwollen, einen<br />
jungen Mens<strong>ch</strong>en zu seiner Bestimmung hin (fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und persönli<strong>ch</strong>) zu be gleiten.<br />
Mentorate basieren auf Freiwilligkeit, gegenseitiger Anerkennung von Mentor<br />
und Mentee, Vers<strong>ch</strong>ränkung von Leben und Lernen, sowie auf einer reflektierten<br />
Vorbildkultur. Mentoren widmen si<strong>ch</strong> den persönli<strong>ch</strong>en Begabungen und Interessen<br />
ihrer Mentees, helfen bei Zielfindung, Orientierung und Prioritätensetzung<br />
und versu<strong>ch</strong>en, Fehlverhalten oder ungünstige Lernbedingungen zu korrigieren.<br />
Sie regen an und eröffnen neue Horizonte.<br />
Mentoring ist ein Prozess, in dem Mentor/innen die Entwicklung von Mentees<br />
ausserhalb der normalen Unterri<strong>ch</strong>tsbeziehung unterstützen. In der s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en<br />
Begabungsförderung kann si<strong>ch</strong> dies sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> au<strong>sg</strong>estalten. Mentor/in<br />
kann etwa eine Lehrperson aus einer höheren S<strong>ch</strong>ulstufe für einen Primars<strong>ch</strong>üler<br />
sein, die in einem spezifis<strong>ch</strong>en Fa<strong>ch</strong>gebiet Expertin ist; das können aber au<strong>ch</strong><br />
aussers<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Künstler, Fors<strong>ch</strong>er oder Berufsleute mit überdur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittli<strong>ch</strong>em<br />
Engagement und Expertise sein (au<strong>ch</strong> Senioren).<br />
In deuts<strong>ch</strong>en und niederländis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ulen sind sogenannte Betreuungslehrer/innen<br />
(Mentor/innen) in S<strong>ch</strong>ulen der Begabungsförderung der Normalfall.<br />
Au<strong>ch</strong> in der angelsä<strong>ch</strong>sis<strong>ch</strong>en Begabungsförderung nimmt Mentoring einen grossen<br />
Stellenwert ein; viele S<strong>ch</strong>ulen haben Mentoringprogramme und feste lokale<br />
Mentorengruppen, die – in Zusammenarbeit mit der S<strong>ch</strong>ule – einzelne S<strong>ch</strong>üler/<br />
innen individuell in ihren Begabungen fördern. Dazu gehört au<strong>ch</strong> das Wissen darum,<br />
dass S<strong>ch</strong>ule ni<strong>ch</strong>t in allen Begabungsdomänen über Exzellenz und Expertise<br />
verfügen kann, und dass Begabungsförderung im «real life» und mit «professionals»<br />
authentis<strong>ch</strong> und gerade deshalb eine wirksame Ergänzung zu s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en<br />
Förderprogrammen sein kann (ni<strong>ch</strong>t nur im Leistungssport und Musikunterri<strong>ch</strong>t).<br />
Mentoring kann deshalb sowohl innerhalb einer S<strong>ch</strong>ule stattfinden – aber au<strong>ch</strong><br />
über die S<strong>ch</strong>ule und die S<strong>ch</strong>ulprogramme hinausführen.<br />
16 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
Minderleistung<br />
Minderleistung (engl. undera<strong>ch</strong>ievement von to a<strong>ch</strong>ieve = etwas zustande bringen,<br />
ein Ziel errei<strong>ch</strong>en) lässt si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>einbar einfa<strong>ch</strong> definieren: Sie liegt dann vor,<br />
wenn → Potenzial ni<strong>ch</strong>t zur Realisierung geführt werden kann. Diese konzeptuelle<br />
Definition ist sehr weit gefasst. Minderleister wäre demna<strong>ch</strong> jeder, der in<br />
einem Teilgebiet ni<strong>ch</strong>t das zustande bringt, was er eigentli<strong>ch</strong> zu leisten vermö<strong>ch</strong>te.<br />
Für die S<strong>ch</strong>ule wird deshalb gern eine operationale Definition verwendet, etwa<br />
«Minderleistende sind Kinder und Jugendli<strong>ch</strong>e, deren S<strong>ch</strong>ulleistungen s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter<br />
ausfallen, als ihre intellektuellen Fähigkeiten vermuten lassen» (Brunner, Gyseler,<br />
Lienhard, 2005). Diese Definition kann dazu führen, dass ein hoher IQ (→ Begabung)<br />
mit tiefen S<strong>ch</strong>ulnoten in Relation gesetzt wird, um damit besondere Fördermassnahmen<br />
zu begründen.<br />
Stedtnitz (2008) gibt zu bedenken, dass Ho<strong>ch</strong>leistungen (und damit au<strong>ch</strong> Minderleistungen)<br />
ni<strong>ch</strong>t auf S<strong>ch</strong>ulleistungen bes<strong>ch</strong>ränkt werden können und dass<br />
das Leistungspotenzial eines Mens<strong>ch</strong>en nur bes<strong>ch</strong>ränkt messbar ist. Sie s<strong>ch</strong>lägt<br />
folgende Definition vor: «Minderleistung ist, wenn i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>en kann oder<br />
konnte, was i<strong>ch</strong> errei<strong>ch</strong>en mö<strong>ch</strong>te oder wollte.» Diese Definition s<strong>ch</strong>liesst den<br />
Misserfolg und das Leiden daran mit ein.<br />
Bei Verda<strong>ch</strong>t auf Minderleistung im s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> ist eine vertiefte<br />
→ Abklärung der psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en Hintergründe dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>ulpsy<strong>ch</strong>ologen<br />
angezeigt. Kennt man die dahinterliegenden Gründe (wie z.B. → s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>er Misfit,<br />
Persönli<strong>ch</strong>keitsmerkmale oder familiäre Einflüsse), so können die individuell<br />
erforderli<strong>ch</strong>en Massnahmen besser bestimmt werden.<br />
Misfit, s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>er<br />
Der Kinderarzt Remo Largo hat mit dem sogenannten «Zür<strong>ch</strong>er Fit-Konzept» den<br />
Begriff im Kontext der S<strong>ch</strong>weiz bekannt gema<strong>ch</strong>t. Das Konzept zielt darauf ab,<br />
dem Kind zu helfen, seine Stärken zu verwirkli<strong>ch</strong>en, seine S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en zu akzeptieren<br />
und damit umgehen zu lernen sowie ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln.<br />
Dazu müssen die drei Hauptbedürfnisse na<strong>ch</strong> emotionaler Si<strong>ch</strong>erheit, na<strong>ch</strong><br />
sozialer Akzeptanz sowie na<strong>ch</strong> Entwicklungsmögli<strong>ch</strong>keiten und Lernerfahrungen<br />
erfüllt werden. Das Fit-Konzept strebt in diesem Sinne eine Übereinstimmung<br />
zwis<strong>ch</strong>en Kind und sozialer Umwelt an. Ist die Übereinstimmung zwis<strong>ch</strong>en kindli<strong>ch</strong>en<br />
Bedürfnissen und den Angeboten aus seiner Umgebung ni<strong>ch</strong>t vorhanden,<br />
kommt es zu einem Misfit.<br />
Ursula Hoyningen-Süess und Dominik Gyseler (2006) haben das Konzept des<br />
Misfits auf den pädagogis<strong>ch</strong>en und sonderpädagogis<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> angewendet.<br />
Sie unters<strong>ch</strong>eiden drei Formen:<br />
— interner Misfit: mangelnde Übereinstimmung zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Entwicklungsmerkmalen des Kindes (z.B. Perfektionismus als Misfit zwis<strong>ch</strong>en<br />
individuellen Bedürfnissen und Kompetenzen oder sozio-emotionale<br />
S<strong>ch</strong>wierigkeiten als Misfit zwis<strong>ch</strong>en kognitiven und sozio-emotionalen<br />
Kompetenzen);<br />
— klassis<strong>ch</strong>er Misfit: mangelnde Übereinstimmung zwis<strong>ch</strong>en bestimmten<br />
Entwicklungsmerkmalen des Kindes und bestimmten Umweltmerkmalen<br />
(z.B. s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Unterforderung als Misfit zwis<strong>ch</strong>en kognitiven Kompetenzen<br />
bzw. Bedürfnissen und Anforderungen des Unterri<strong>ch</strong>ts oder<br />
Kontakts<strong>ch</strong>wierigkeiten als Misfit zwis<strong>ch</strong>en kognitiven bzw. sozialen<br />
Kompetenzen und sozialen Erwartungen);<br />
— externer Missfit: mangelnde Übereinstimmung zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Umweltmerkmalen (z.B. didaktis<strong>ch</strong>e Differenzen als Misfit zwis<strong>ch</strong>en<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
17
methodis<strong>ch</strong>-didaktis<strong>ch</strong>en Vorstellungen der Eltern und dem Unterri<strong>ch</strong>tsstil<br />
der Lehrperson).<br />
Besteht ein Misfit über längere Zeit kann es zu Entwicklungsbeeinträ<strong>ch</strong>tigungen<br />
des Kindes, Verhaltensauffälligkeiten oder psy<strong>ch</strong>osomatis<strong>ch</strong>en Symptomen<br />
kommen.<br />
Multiprofessionelle Teams<br />
Die si<strong>ch</strong> verändernden und zunehmenden Anforderungen an die Tragfähigkeit<br />
und Problemlösefähigkeit der S<strong>ch</strong>ulen führen dazu, dass nebst dem Lehrberuf<br />
au<strong>ch</strong> weitere Professionen (z.B. Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Heilpädagogik)<br />
in den S<strong>ch</strong>ulteams vertreten sind. Zudem erwerben immer mehr Lehrpersonen<br />
Zusatzqualifikationen und spezialisieren si<strong>ch</strong> in vers<strong>ch</strong>iedenen Berei<strong>ch</strong>en (z.B.<br />
Begabungsförderung, Deuts<strong>ch</strong> als Zweitspra<strong>ch</strong>e, Interkulturelle Pädagogik). Dies<br />
bedeutet, dass professionell unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> qualifizierte Fa<strong>ch</strong>leute si<strong>ch</strong> gemeinsam<br />
am Bewältigen einer Aufgabe beteiligen und zusammenarbeiten. Multiprofessionelle<br />
Teams können aufgrund ihres breiten Kompetenzspektrums komplexe<br />
Aufgaben erfolgrei<strong>ch</strong>er lösen, brau<strong>ch</strong>en dazu aber geeignete Rahmenbedingungen<br />
(z.B. Zeitgefässe für Abspra<strong>ch</strong>en). Die Zusammenarbeit in multiprofessionellen<br />
Teams stellt hohe Anforderungen an die Kooperationsfähigkeit der Beteiligten<br />
sowie an die Koordinationskompetenz der S<strong>ch</strong>ulleitungen.<br />
Pädagogik der Vielfalt<br />
Der Vorstellung einer inklusiven «S<strong>ch</strong>ule für alle» entspri<strong>ch</strong>t die Pädagogik der<br />
Vielfalt. Sie beinhaltet eine Abkehr von dualistis<strong>ch</strong>en und hierar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Einteilungen<br />
(Frauen vs. Männer, Ni<strong>ch</strong>tbehinderte vs. Behinderte, Einheimis<strong>ch</strong>e vs.<br />
Fremde, Ho<strong>ch</strong>begabte vs. S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>begabte). Dabei wird Vielfalt weder negiert<br />
no<strong>ch</strong> als Defizit interpretiert oder als Differenz betont, sondern sie wird als glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigtes<br />
Miteinander des Vers<strong>ch</strong>iedenen gesehen. Das Konzept der Pädagogik<br />
der Vielfalt geht hervor aus dem Zusammendenken von Ansätzen wie der<br />
Koedukation (von Knaben und Mäd<strong>ch</strong>en), der interkulturellen Pädagogik (für Einheimis<strong>ch</strong>e<br />
und [fremdspra<strong>ch</strong>ige] Zugewanderte) und des integrativen Unterri<strong>ch</strong>ts<br />
(mit Behinderten und Ni<strong>ch</strong>t-Behinderten), die si<strong>ch</strong> jeweils nur mit einem Aspekt<br />
der Vers<strong>ch</strong>iedenheit auseinandersetzen. Die Pädagogik der Vielfalt berücksi<strong>ch</strong>tigt<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> die → Heterogenität der Lerngruppen und stellt si<strong>ch</strong> auf die Vers<strong>ch</strong>iedenheit<br />
der S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler ein. Dies setzt Zuständigkeit und Tragfähigkeit,<br />
Zusammenarbeit in unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> qualifizierten Teams und Kooperation<br />
mit den Eltern voraus. Pädagogik der Vielfalt umfasst auf der Haltungsebene<br />
die Bereits<strong>ch</strong>aft zu Beziehung und Bindung, Vertrauen und Zumutung, auf der<br />
didaktis<strong>ch</strong>en Ebene ein ko-konstruktives Verständnis von Kompetenzaufbau und<br />
auf der organisatoris<strong>ch</strong>en Ebene viel Flexibilität in der Zusammensetzung der<br />
Lerngruppen und der Zusammenarbeit der Teams.<br />
Pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik<br />
Pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik war in vorwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Ausprägung s<strong>ch</strong>on immer<br />
Bestandteil des pädagogis<strong>ch</strong>en Handelns. Sie umfasst alle diagnostis<strong>ch</strong>en Tätigkeiten,<br />
dur<strong>ch</strong> die bei einzelnen Lernenden und/oder in Lerngruppen Bedingungen<br />
erfasst, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um<br />
individuelles Lernen zu verstehen, zu bewerten und zu optimieren. Unter diagnostis<strong>ch</strong>er<br />
Tätigkeit wird dabei ein Vorgehen verstanden, in dem (mit oder ohne<br />
18 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
diagnostis<strong>ch</strong>e Instrumente) Lernen beoba<strong>ch</strong>tet und befragt wird und die Beoba<strong>ch</strong>tungs-<br />
und Befragungsergebnisse interpretiert und mitgeteilt werden, um Verhalten<br />
zu bes<strong>ch</strong>reiben, Gründe für dieses Verhalten zu erläutern und / oder künftiges<br />
Verhalten vorherzusagen. Die Hauptaufgabe der Pädagogis<strong>ch</strong>en Diagnostik<br />
besteht darin, für den Lernenden und seine Lernentwicklung – im Sinn individualisierter<br />
→ Begabungsförderung – ri<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen zu treffen.<br />
Dabei steht die pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik als Kernkompetenz der Lehrperson<br />
in engem Zusammenhang mit dem S<strong>ch</strong>affen und der professionellen Reflexion<br />
einer förderorientierten und begabungsfördernden Lernkultur, der Erfassung individueller<br />
Leistungen und einer formativen Rückmeldekultur.<br />
Pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik wird oft in Zusammenhang mit Förderdiagnostik<br />
gebra<strong>ch</strong>t, die Lernwege und Entwicklungen der S<strong>ch</strong>üler/innen im Verlauf des<br />
Lernens (als Prozessdiagnostik) begleiten und die Lernprozesse individuell optimal<br />
gestalten will. Dialogis<strong>ch</strong>es Lernen, Lernvereinbarungen, Lerncoa<strong>ch</strong>ing und<br />
das Lernen mit Entwicklungsportfolios können Ausdruck einer Lernprozes<strong>sg</strong>estaltung<br />
sein, in der Lernen und Lernergebnisse individuell bespro<strong>ch</strong>en und – im<br />
Sinn pädagogis<strong>ch</strong>er Förderdiagnostik – zum Au<strong>sg</strong>angspunkt fürs weitere Lernen<br />
werden. Sie können wertvolle Instrumente der pädagogis<strong>ch</strong>en Diagnostik und der<br />
darauf aufbauenden Lernberatung sein.<br />
Einseitige Orientierung an Methoden der Bere<strong>ch</strong>tigungs- und Selektionsbeurteilung<br />
haben in den vergangenen Jahren die Weiterentwicklung didaktis<strong>ch</strong> und<br />
s<strong>ch</strong>üler-orientierter pädagogis<strong>ch</strong>er Diagnostik stark behindert. Dur<strong>ch</strong> die Didaktik<br />
der Heterogenität erhält sie ihre Bedeutung als berufli<strong>ch</strong>e Kernkompetenz der<br />
Lehrpersonen zurück.<br />
Portfolio<br />
Zur Funktion von Portfolios gibt es vers<strong>ch</strong>iedene Auffassungen. Für die einen ist<br />
es eher eine Dokumentation des Lernprozesses, für die anderen ist es eher eine<br />
Sammlung von Meisterstücken. Für S<strong>ch</strong>ulen, die S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler beim<br />
Lernen beratend und beurteilend unterstützen wollen, ist das Portfolio ein Dokumentations-<br />
und Reflexionsinstrument für die individuelle Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des Lernens.<br />
Es ist eine begründete, exemplaris<strong>ch</strong>e und kontinuierli<strong>ch</strong> zusammengestellte<br />
Sammlung von Arbeiten der vers<strong>ch</strong>iedensten Stadien und von Reflexionen und<br />
Beurteilungen von Lehrenden und Lernenden. Mit Hilfe des Portfolios setzen si<strong>ch</strong><br />
die S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler mit der Qualität ihres Lernens auseinander, stärken<br />
ihr Selbstbewusstsein und ihre Lernmotivation.<br />
Potenzial<br />
Als Potenzial (von lat. potentia = Stärke, Ma<strong>ch</strong>t) werden Entwicklungsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
resp. no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t au<strong>sg</strong>es<strong>ch</strong>öpfte Fähigkeiten zur Entwicklung bezei<strong>ch</strong>net. Dabei<br />
entstehen Potenziale aus der biographis<strong>ch</strong>en Verbindung von vererbten Dispositionen<br />
und bereits erfolgten Lernprozessen. Aus Potenzialen können – bei entspre<strong>ch</strong>ender<br />
Erfahrung, Förderung von aussen und innerer Beteiligung (Motivation /<br />
Volition) – (Ho<strong>ch</strong>-)Leistungen oder bestimmte Verhaltensweisen (z.B. Leistungsfreude,<br />
Leistungswille) entstehen. Potenziale sind deshalb in einem gewissen<br />
Rahmen dynamis<strong>ch</strong> und veränderbar.<br />
Die Potenzialanalyse misst den aktuellen Entwicklungsstand im Sinn einer<br />
Momentaufnahme. Darunter wird eine strukturierte Untersu<strong>ch</strong>ung auf das Vorhandsein<br />
bestimmter Fähigkeiten (Stärken und S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en) verstanden, um Au<strong>sg</strong>angspunkte<br />
zur Förderung zu finden. Die Potenzialanalyse nutzt dazu vers<strong>ch</strong>iedene<br />
Erfassungsmögli<strong>ch</strong>keiten: Dazu gehören sowohl Messinstrumente, die das<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
19
Kind selber ausfüllt, wie sol<strong>ch</strong>e, bei denen die Eins<strong>ch</strong>ätzung von Eltern, Lehrpersonen<br />
oder sonstigen Fa<strong>ch</strong>personen erforderli<strong>ch</strong> ist, aber au<strong>ch</strong> Testverfahren, die<br />
einzelne Fähigkeitsberei<strong>ch</strong>e zu erfassen vermögen. Das Ziel besteht immer in der<br />
Abs<strong>ch</strong>ätzung eines Ist-Zustandes oder in der Vorhersage dessen, was mögli<strong>ch</strong><br />
oder wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> ist.<br />
Eine s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Entspre<strong>ch</strong>ung mag in den zunehmenden S<strong>ch</strong>ulentwicklungen<br />
gesehen werden, in denen versu<strong>ch</strong>t wird, etwa anhand von Lernstandanalysen,<br />
mittels Entwicklungsportfolios oder dur<strong>ch</strong> lernprozessbegleitende Lernberatung<br />
mit den Lernenden zusammen Potenziale für eine vertiefte Förderung ihrer Begabungspotenziale<br />
zu entdecken. (→ Pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik)<br />
Psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Diagnostik<br />
Psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Diagnostik will unter Zuhilfenahme besonderer Verfahren zielgeri<strong>ch</strong>tete<br />
Informationen über die psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Merkmale eines (oder mehrerer)<br />
Mens<strong>ch</strong>en gewinnen. Der Prozess psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>er Diagnostik umfasst die Klärung<br />
der Fragestellung, die Auswahl, Anwendung und Auswertung einzusetzender<br />
Verfahren, der Interpretation und Guta<strong>ch</strong>tenerstellung sowie die Festlegung<br />
von Interventionen. Dabei interessiert ni<strong>ch</strong>t nur das Bes<strong>ch</strong>reiben und Erklären,<br />
sondern besonders das Messen psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>er bzw. psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>er Phänomene.<br />
Im psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong> diagnostis<strong>ch</strong>en Verfahren nehmen Tests denn au<strong>ch</strong> eine wi<strong>ch</strong>tige<br />
Stellung ein. Diese wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en und standardisierten Routineverfahren<br />
haben die Untersu<strong>ch</strong>ung eines oder mehrerer empiris<strong>ch</strong> abgrenzbarer Persönli<strong>ch</strong>keitsmerkmale<br />
im Fokus mit dem Ziel einer mögli<strong>ch</strong>st quantitativen Aussage über<br />
den Grad der individuellen Merkmalsausprägung in Bezug auf eine Verglei<strong>ch</strong><strong>sg</strong>ruppe.<br />
Standardisierte Testbedingungen sollen dabei die überindividuelle Verglei<strong>ch</strong>barkeit<br />
der Ergebnisse ermögli<strong>ch</strong>en und Störeffekte auss<strong>ch</strong>alten.<br />
Ein typis<strong>ch</strong>es Beispiel für den Einsatz eines psy<strong>ch</strong>ometris<strong>ch</strong>en Tests im Berei<strong>ch</strong><br />
der Begabtenförderung ist etwa der Einsatz des HAWIK IV-Intelligenztests zur<br />
Erfassung des IQ als Personenmerkmal und Teil-Indikator für hohe intellek tuelle<br />
→ Begabung.<br />
Über Tests hinaus verfügt die psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Diagnostik über weitere Verfahren<br />
wie die Anamneseerhebung, sowie vers<strong>ch</strong>iedene Verfahren der Exploration<br />
oder Verhaltensbeoba<strong>ch</strong>tung. Im Gegensatz zur Förderdiagnostik, die Lernprozesse<br />
und Entwicklungsverläufe in der Regel näher begleitet, bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong><br />
die psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Diagnostik oft auf die Feststellung eines Befundes zu einem<br />
bestimmten Erhebungszeitpunkt.<br />
Pull-out<br />
Angebote, die anstelle des Regelunterri<strong>ch</strong>ts stattfinden. Die Lernenden verlassen<br />
den regulären Unterri<strong>ch</strong>t, um bestimmte Themenberei<strong>ch</strong>e selbständig oder<br />
in einer Lerngruppe zu bearbeiten. Pull-out-Angebote können einen mehr oder<br />
weniger direkten Bezug zum regulären Unterri<strong>ch</strong>t haben oder völlig unabhängig<br />
davon sein. Sie können s<strong>ch</strong>ulhaus- oder s<strong>ch</strong>ulstufenübergreifend organisiert<br />
werden.<br />
S<strong>ch</strong>ulentwicklung<br />
Weit gefasst meint der Begriff die laufende, dur<strong>ch</strong> den gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Wandel<br />
bedingte, Veränderung der S<strong>ch</strong>ule. Präziser gefasst ist damit die willentli<strong>ch</strong>e und<br />
systematis<strong>ch</strong>e Weiterentwicklung des S<strong>ch</strong>ulsystems und der Einzel<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> gemeint.<br />
Auf der Ebene der Einzel<strong>s<strong>ch</strong>ule</strong> s<strong>ch</strong>liesst der Begriff die Organisation-, Personal-<br />
20 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
und oft au<strong>ch</strong> → die Unterri<strong>ch</strong>tsentwicklung mit ein. In der Regel hat S<strong>ch</strong>ulentwicklung<br />
zum Ziel, das Lernangebot für S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler zu verbessern,<br />
und au<strong>ch</strong> die Professionalität der S<strong>ch</strong>ule und ihres Personals zu fördern.<br />
S<strong>ch</strong>ulentwicklung umfasst Leitbildprozesse, S<strong>ch</strong>ulprogrammgestaltung, Umsetzung<br />
von Systemreformen, Ablaufoptimierung sowie die Verarbeitung interner<br />
und externer Evaluationsergebnisse. Die Umsetzung einer systemis<strong>ch</strong> konzipierten<br />
Begabungsförderung setzt S<strong>ch</strong>ulentwicklungsprozesse voraus beziehungsweise<br />
in Gang. S<strong>ch</strong>ulen gestalten dabei ihre Organisation, S<strong>ch</strong>ulkultur, Zusammenarbeit<br />
und den Unterri<strong>ch</strong>t so um, dass Begabungen entdeckt, geweckt und<br />
gefördert werden können.<br />
Talent<br />
Im deuts<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Diskurs um Begabungen werden die beiden Begriffe «Begabung»<br />
und «Talent» oft synonym benutzt. Meist im Sinn einer förderbaren Anlage<br />
eines Mens<strong>ch</strong>en. Etwas differenzierter ers<strong>ch</strong>liesst si<strong>ch</strong> ein Unters<strong>ch</strong>ied aus der<br />
englis<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Formulierung «Gifted education» (Förderung von gegebenen<br />
Potenzialen) und «Talent development» (Entwicklung von Begabungen).<br />
In den deuts<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Fa<strong>ch</strong>kreisen wird der Begriff Talent aufgrund seiner<br />
Unpräzisiertheit selten gebrau<strong>ch</strong>t. Er gelangt au<strong>ch</strong> in den mas<strong>sg</strong>ebli<strong>ch</strong>en Begabungskonzepten,<br />
ausser bei François Gagné, ni<strong>ch</strong>t zur Anwendung. Gagné geht<br />
davon aus, dass Begabungen dur<strong>ch</strong> Förderprozesse in Talente (Ho<strong>ch</strong>leistungsverhalten)<br />
transformiert werden. Mit dieser Festlegung steht er aber alleine da.<br />
Weil sowohl die Begriffe «Begabung» wie «Talent» re<strong>ch</strong>t unspezifis<strong>ch</strong> benutzt<br />
werden, wird eine alternative Unters<strong>ch</strong>eidung in die Begriffe «Begabungspotenziale»<br />
(für die förderbaren Voraussetzungen der Lernenden) und «Ho<strong>ch</strong>leistung»<br />
(als realisierte Leistung) in der Begabungsdiskussion vorges<strong>ch</strong>lagen.<br />
Twice-exceptional<br />
Als «twice-exceptional students» bezei<strong>ch</strong>net man S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler, die<br />
in mehrfa<strong>ch</strong>er Hinsi<strong>ch</strong>t den Normvorstellungen ni<strong>ch</strong>t entspre<strong>ch</strong>en, weil sie ho<strong>ch</strong>begabt<br />
und glei<strong>ch</strong>zeitig von einer Behinderung betroffen sind. Ihre Identifikation<br />
kann s<strong>ch</strong>wierig sein, weil das Entwicklungs- und Lernpotential aufgrund der<br />
Behinderung übersehen wird oder weil die Beeinträ<strong>ch</strong>tigung aufgrund hoher Leistungen<br />
ni<strong>ch</strong>t erkannt wird. Eine sorgfältige und umfassende Abklärung und darauf<br />
aufbauende Förderplanung kann verhindern, dass es zu einem → Misfit kommt.<br />
Unterri<strong>ch</strong>tsentwicklung<br />
Im Rahmen der S<strong>ch</strong>ulentwicklung wird au<strong>ch</strong> der Unterri<strong>ch</strong>t zum Gegenstand<br />
gemeinsamer Reflexion und Weiterentwicklung. Im Zentrum des Na<strong>ch</strong>denkens<br />
über Unterri<strong>ch</strong>t steht die Frage, wie die Lernangebote und die Mögli<strong>ch</strong>keiten für<br />
S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler, diese Lernangebote zu nutzen, verbessert werden können.<br />
Unterri<strong>ch</strong>tsentwicklung erfolgt unter Einbezug von Erfahrungen der beteiligten<br />
Lehrpersonen und gestützt auf Ergebnisse aus Fors<strong>ch</strong>ung und Fa<strong>ch</strong>literatur;<br />
sie kann dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ulinterne Weiterbildung, Beratung oder den Austaus<strong>ch</strong> mit<br />
anderen Lehrteams unterstützt werden.<br />
Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung<br />
21
Literatur:<br />
A<strong>ch</strong>ermann, E. (2005). Unterri<strong>ch</strong>t gemeinsam ma<strong>ch</strong>en. Ein Modell für den Umgang<br />
mit Heterogenität. (Orientierungshilfen für die Praxis, Heft 1: Lernen steuern und<br />
unterstützen). Bern: S<strong>ch</strong>ulverlag<br />
A<strong>ch</strong>ermann, E. (2005). Unterri<strong>ch</strong>t gemeinsam ma<strong>ch</strong>en. Ein Modell für den Umgang mit<br />
Heterogenität. (Lerntheoretis<strong>ch</strong>e und pädagogis<strong>ch</strong>e Grundlagen, Heft 2: Pädagogik der<br />
Vielfalt). Bern: S<strong>ch</strong>ulverlag<br />
Brunner, E.; Gyseler D. & Lienhard P. (2005). Ho<strong>ch</strong>begabung – (k)ein Problem? Zug:<br />
Klett & Balmer<br />
Callahan, C. M. & Kyburg Dickson R. (2008). Mentoring. In: J. A. Plucker & C. M. Callahan<br />
(Eds.): Critical issues and practices in gifted education. Waco, Texas: Prufrock Press<br />
DuBois, D. L.; Holloway, B. E.; Valentine, J. C, & Cooper, H. (2002). Effectiveness of<br />
mentoring programs for youth: A meta-analytic review. American Journal of Community<br />
Psy<strong>ch</strong>ology, 30, 157–197<br />
Gardner, H. (1999). Intelligence Reframed: Multiple Intelligences for the 21st Century.<br />
New York: Basic<br />
Grassinger, R.; Porath, M. & Ziegler, A. (2010). Mentoring the gifted: A conceptual analysis.<br />
High Ability Studies, 2, 27–46<br />
Guilford, J. P. (1977). Way beyond the IQ. Buffalo, New York: Bearly Limited<br />
Hoyningen-Süess, U. & Gyseler, D. (2006). Ho<strong>ch</strong>begabung aus sonderpädagogis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t.<br />
Bern: Haupt<br />
Ingenkamp, K. H. & Lissmann, U. (2008 6 ). Lehrbu<strong>ch</strong> der Pädagogis<strong>ch</strong>en Diagnostik.<br />
Weinheim: Beltz<br />
Jürgens, E. & Sa<strong>ch</strong>er, W. (2008). Leistungserziehung und Pädagogis<strong>ch</strong>e Diagnostik in der<br />
S<strong>ch</strong>ule. Grundlagen und Anregungen. Stuttgart: Kohlhammer<br />
Krapp, A. & Weidenmann, B. (Hr<strong>sg</strong>.) (2001 4 ). Pädagogis<strong>ch</strong>e Psy<strong>ch</strong>ologie. Weinheim:<br />
Beltz, (S. 22)<br />
Kubinger, K. D. (2009 2 ). Psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Diagnostik. Theorie und Praxis psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en<br />
Diagnostizierens. Göttingen: Hogrefe (S. 14, 239, 241, 263, 349)<br />
Liernert, G. A. & Raatz, U. (1998 6 ). Testaufbau und Testanalyse. Weinheim: PVU<br />
McDougall, W. (1908). An introduction to social psy<strong>ch</strong>ology. In: A. Krapp & B. Weidenmann<br />
(Hr<strong>sg</strong>.) (2001 4 ): Pädagogis<strong>ch</strong>e Psy<strong>ch</strong>ologie. Weinheim: Beltz (S. 411)<br />
Müller-Oppliger, V. (2012). Portfolio – ein Kernelement der Begabungs- und<br />
Begabtenförderung. Erkennen von Potenzialen und Fähigkeiten aufgrund reflexiver<br />
Auseinandersetzung mit individuellen Leistungen und Lernwegen In: PH Steiermark<br />
(Hr<strong>sg</strong>.): Begabungs- und Begabtenförderung. Graz: Leykam-Studienverlag (in Druck)<br />
Preckel, F.; S<strong>ch</strong>neider, W. & Holling, H. (2010). Diagnostik von Ho<strong>ch</strong>begabung. Jahrbu<strong>ch</strong> der<br />
pädagogis<strong>ch</strong>-psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en Diagnostik, N.F. Band 8. Göttingen: Hogrefe<br />
Prengel, A. (2011). Selektion versus Inklusion – Glei<strong>ch</strong>heit und Differenz im s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en<br />
Kontext. In: H. Faulsti<strong>ch</strong>-Wieland (Hr<strong>sg</strong>.): Umgang mit Heterogenität und Differenz.<br />
Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer, Band 3. Baltmannsweiler: S<strong>ch</strong>neider<br />
Renzulli, J. S.; Reis S. & Stedtnitz, U. (2001). Das S<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Enri<strong>ch</strong>ment Modell SEM. Aarau:<br />
Sauerländer<br />
Renzulli, J. S. (2002). Expanding the Conception of Giftedness to Include Co-Cognitive Traits<br />
and to Promote Social Capital. Phi Delta Kappan, 84(1), 33–58<br />
Renzulli, J. S. (2004). Identifikation of students for gifted and talented programs. Thousand<br />
Oaks, CA: Corwin Press<br />
Renzulli, J. S.; Systema Reed, R. E. (2008). Intelligences outside the normal curve:<br />
Co-cognitive traits that contribute to giftedness. In: J. A. Plucker & C. M. Callahan (Eds.):<br />
Critical issues and practices in gifted educations. Waco, Texas: Prufrock Press, 303–320<br />
Renzulli, J. S. (2009). The S<strong>ch</strong>oolwide Enri<strong>ch</strong>ment Model: A focus on student strengths and<br />
interests. In: J. S. Renzulli, E. J. Gubbins, K. S. McMillen, R. D. Eckert & C. A. Little (Eds.):<br />
Systems and models for developing programs for the gifted and talented. Mansfield, CT:<br />
Creative Learning Press, 323–352<br />
Rolff, H.-G. (2010). S<strong>ch</strong>ulentwicklung als Trias von Organisations-, Unterri<strong>ch</strong>ts- und<br />
Personalentwicklung. In: Bohl, Th., Helsper, W., Holtappels, H.G. & S<strong>ch</strong>elle, C. (Hr<strong>sg</strong>,):<br />
Handbu<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>ulentwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 29–36<br />
Runco, M. A. (2010). Prädiktoren und Kriterien, Potenzial und Leistung: Methoden zur<br />
Erfassung von Kreativität – eine Übersi<strong>ch</strong>t. In: F. Preckel, W. S<strong>ch</strong>neider & H. Holling (Hr<strong>sg</strong>.):<br />
Diagnostik von Ho<strong>ch</strong>begabung. Göttingen: Hogrefe, 45–64<br />
22 Netzwerk Begabungsförderung — Erfordernisse und Perspektiven für wirksame Begabungsförderung
Stedtnitz, U. (2008). Mythos Begabung. Vom Potential zum Erfolg. Bern: Huber<br />
Sternberg R. J. (1986). Triar<strong>ch</strong>ic theory of intellectual giftedness. In: R. J. Sternberg &<br />
E. Davidson (Eds.): Conceptions of giftedness. New York: Cambridge University<br />
Press, 223–243<br />
Sternberg R. J. (1997). Successful Intelligence. How practical and creative intelligence<br />
determine success in life. New York: Penguin<br />
Stoeger, H.; Ziegler, A. & S<strong>ch</strong>imke, D. (2009). Mentoring: Theoretis<strong>ch</strong>e Hintergründe,<br />
empiris<strong>ch</strong>e Befunde und praktis<strong>ch</strong>e Anwendungen. Lengeri<strong>ch</strong>: Pabst<br />
Zeidner, M, G.; Matthews, G. & Roberts, R.D. (2009). What we know about emotional<br />
intelligence. How it affects learning, work, relationships and our mental health.<br />
New York: MIT Press / Oxford University Press<br />
Ziegler, A. (2008). Ho<strong>ch</strong>begabung. Mün<strong>ch</strong>en: Reinhardt (=UTB Profile <strong>302</strong>7)<br />
Zimbardo, P. G. (1995). Psy<strong>ch</strong>ologie. Berlin: Springer (S. 264, 292, 411)
Impressum<br />
Aarau, 2013<br />
Netzwerk Begabungsförderung<br />
c /o SKBF<br />
Entfelderstr. 61, 5000 Aarau<br />
www.begabungsfoerderung.<strong>ch</strong><br />
Das Papier wurde im Austaus<strong>ch</strong> mit den kantonalen Projektverantwortli<strong>ch</strong>en im<br />
Netzwerk Begabungsförderung verfasst von:<br />
Silvia Grossenba<strong>ch</strong>er (Koordinatorin Netzwerk Begabungsförderung),<br />
Brigitte Mühlemann, Victor Müller-Oppliger, Wolfgang Stern, Annette Tettenborn,<br />
Urs Wilhelm (Mitglieder der Begleitgruppe im Netzwerk Begabungsförderung)<br />
Gestaltung und Satz: belle vue, Sandra Walti Niklaus, Aarau<br />
Fotografie: Siggi Bu<strong>ch</strong>er, Züri<strong>ch</strong><br />
Druck: rb druck ag, S<strong>ch</strong>enkon