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Unterhalb der Stromschnelle, wir rätseln im dichten<br />
Nebel noch, ob es das jetzt war oder ob noch<br />
eine Stufe kommt, hören wir Motorenlärm von<br />
oben näher kommen. Nach ewiger Zeit sehen wir<br />
auch schemenhaft ein Boot auftauchen. Zwei<br />
waldläufermäßige Typen in einer großen Ilimka<br />
(langes, traditionelles Holzboot) voller Geraffel<br />
(Autoreifen, Fässer und noch alles Mögliche) begutachten<br />
flüchtig unser Boot, fragen, nordisch<br />
kurz angebunden, woher und wohin und bieten<br />
uns ihre Hilfe an. Wir lehnen dankend ab – ist ja<br />
alles im Lack – und die Brüder setzen mit einem<br />
freundlichen Nicken ihren Weg fort.<br />
Wir legen am Baikit an, ein relativ großer Zufluss,<br />
der genau so heißt wie das Nest, in dem wir gestartet<br />
sind. „Guter Ort“, bedeutet das wohl auf<br />
Ewenkisch, und der Name stimmt. Piet fängt<br />
zwei Lenok – mit zwei Würfen! Ruck-zuck hat<br />
auch Fab einen an der Angel, und nach fünf Minuten<br />
ist das Angeln abgehakt. Unterhalb des Zuflusses<br />
liegt am Ufer ein großer Kutter, etwa 10<br />
m. lang. Auf dem Vordeck sind an Wäscheleinen<br />
sicherlich 100 Fische zum Trocknen aufgehängt.<br />
Von der Besatzung sehen wir nichts, treffen aber<br />
später den rauschebärtigen Käpt`n, der mit einem<br />
kleineren Beiboot unterwegs ist. Er will eigentlich<br />
weiter den Fluss hoch, muss aber wegen des<br />
niedrigen Wasserstandes eine Pause einlegen und<br />
vertreibt sich die Zeit mit Fischen.<br />
Bei Km 293 erreichen wir Andryushkino an, wo<br />
wir übernachten wollen. Früher lebten hier einmal<br />
dauerhaft einige Familien, inzwischen gibt es<br />
aber nur noch eine Hütte, die von den Altgläubigen<br />
aus dem nicht weit entfernten Velmo beim<br />
Heumachen genutzt wird. Drinnen ist es sauber,<br />
aufgeräumt, und ein riesiges Bärenfell liegt auf<br />
dem Boden. Die Hütte liegt ziemlich weit vom<br />
Ufer entfernt auf einem Hügel, also kochen wir<br />
am Fluss (leckerste Ucha, der Herr Fab hat Blut<br />
geleckt) und marschieren dann durch die Dunkelheit<br />
hinauf ins Bett, wobei wir den einheimischen<br />
Bären laut das Lied vom Hund vorsingen, der für<br />
den Diebstahl von, unter anderem, Szer-welaaatwurst,<br />
mit Löffel, Gabel und Hackebeilchen<br />
totgeschlagen und von anderen Hunden beigesetzt<br />
wird, in einem Ma-hause-leeum unter dem blauweißen<br />
Schriftzug „HA-HO-HE, Hertha BSC!“.<br />
(Worauf man sich halt so einigen kann als Gladbach-<br />
respektive Werderfan in der Taiga).<br />
Unterhalb des Bolshoi Porog beginnt das Gebiet<br />
der Altgläubigen. Sie sind Anhänger einer Glaubensrichtung,<br />
die sich im 17. Jahrhundert gegen<br />
eine von Patriarch Nikon initiierte Reform der<br />
Liturgie wendete, daraufhin als Raskolniki, also<br />
Abspalter verfolgt wurden und sich unter diesem<br />
Druck in die abgelegensten Winkel des russischen<br />
Reiches zurückzogen. Erst 1905 wurden die letzten<br />
sie diskriminierenden Gesetze aufgehoben.<br />
Bis heute haben sich, vor allem in Sibirien, vereinzelt<br />
altgläubige Gemeinschaften gehalten, die<br />
zwar technische Errungenschaften nicht per se<br />
ablehnen, sich aber ansonsten streng gegen Einflüsse<br />
von außen abgrenzen und ein weitgehend<br />
autarkes, weltabgewandtes Leben führen.<br />
An der Tunguska leben sie in den Ortschaften Velmo,<br />
Kuzmovka und Kochumdek. Sie scheinen<br />
fleißig zu arbeiten und mit Verstand zu wirtschaften,<br />
denn die Orte zeigen trotz aller sibirischen<br />
Rumpeligkeit nicht die Anzeichen von Suff und<br />
Verfall, wie sie anderswo vorzufinden sind. Die<br />
Altgläubigen selber sind wie aus einem Bilderbuch<br />
unterwegs: die Männer mit langem Rauschebart,<br />
die Frauen mit langen Röcken und Kopftuch.<br />
Allerdings geben sie sich alle Mühe, uns<br />
aus dem Weg zu gehen, und zeigen sich auch<br />
sonst als ungehobelte Sektierer, die nicht einmal<br />
zurückgrüßen, wenn man ihnen auf dem Fluss von<br />
weitem zuwinkt.