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Junge Bühne #4 - Mwk-koeln.de

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Zwei Tänzerinnen <strong>de</strong>s<br />

Nrityagram Dance Ensembles.<br />

Zum dritten Mal reise ich im Februar 2010 in <strong>de</strong>n südindischen Staat Karnataka. Inzwischen mit weniger klopfen<strong>de</strong>m Herzen als<br />

beim ersten Mal, vier Jahre zuvor, aber voll Vorfreu<strong>de</strong> und Konzentration auf das, was ich in <strong>de</strong>n nächsten zwei Wochen erreichen<br />

will: Schauspieler engagieren aus <strong>de</strong>m Pool <strong>de</strong>r Freelancer am »Ranga Shankara«, unserem Partnertheater in Bangalore,<br />

mit <strong>de</strong>m wir eine Koproduktion planen. Außer<strong>de</strong>m will ich möglichst viel über die aktuelle Theaterpraxis Südindiens lernen.<br />

INDIEN<br />

Von Andrea Gronemeyer<br />

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44<br />

foto: nan melville<br />

Nirgendwo auf <strong>de</strong>r Welt habe ich mich bisher so fremd gefühlt<br />

wie in Indien, keine Kultur hat mich so fasziniert und neugierig<br />

gemacht. Aber ich habe auch schon ein paar Basics gelernt: zum<br />

Beispiel die Grundregeln <strong>de</strong>r Kommunikation mit <strong>de</strong>n höflichen<br />

und zurückhalten<strong>de</strong>n indischen Kollegen. Die acht Arten <strong>de</strong>s<br />

freundlich bis skeptischen Kopfwackelns, das alle Gespräche<br />

begleitet, sind mir kein Buch mit sieben Siegeln mehr. Ich versuche<br />

gut zuzuhören und zwischen <strong>de</strong>n Zeilen zu lesen. Es ist wichtig zu<br />

spüren, wann ein Ja eigentlich ein Nein ist und zu wissen, wann ein<br />

Insistieren nicht nur unhöflich son<strong>de</strong>rn schlicht sinnlos wäre. Ich<br />

erkenne inzwischen, was bei einem südindischen Mittagsmenue,<br />

<strong>de</strong>m Thali, auf meinem Bananenblatt liegt, kann anständig mit <strong>de</strong>n<br />

Fingern essen und weiß, dass die Verwendung <strong>de</strong>r linken Hand<br />

dabei absolut tabu ist. Ich habe gelernt, meine Vorstellungen von<br />

Zeitmanagement und Effizienz nicht mehr für normal zu halten<br />

und gelegentlich darauf zu vertrauen, dass es auch an<strong>de</strong>re Wege<br />

zum gemeinsamen Ziel geben kann als meine. Vor allem übe ich<br />

mich darin, mich durch <strong>de</strong>n Dschungel einer indischen Großstadt<br />

zu bewegen, Straßen zu überqueren, ohne mich vom halsbrecherischen<br />

Fahrstil <strong>de</strong>r In<strong>de</strong>r einschüchtern zu lassen.<br />

Orientierung in dieser frem<strong>de</strong>n Welt, das ist immer noch eine<br />

große Herausfor<strong>de</strong>rung und das erste was mir zu Indien einfällt,<br />

wenn mich Freun<strong>de</strong> in Deutschland nach meinen Eindrücken<br />

fragen, ist tatsächlich das Bild einer Straße in Bangalore. Die<br />

Heimat unseres Partnertheaters ist eine wirtschaftliche Boom-<br />

Town, bekannt auch als Silicon Valley Indiens, <strong>de</strong>ren Einwohnerzahl<br />

sich während <strong>de</strong>r letzten Jahrzehnte etwa verdreifacht hat auf<br />

neun Millionen. Dementsprechend fahren auf <strong>de</strong>n riesigen Straßen<br />

dicke Limousinen neben Eselskarren, überfüllten Autobussen und<br />

einer Unzahl von Motorrikschas und Motorrollern, auf <strong>de</strong>nen<br />

Waren transportiert wer<strong>de</strong>n. Dazwischen schleppt ein Familienvater<br />

seinen Umzugskarren mit allerlei Hausrat und <strong>de</strong>r ganzen<br />

Familie oben drauf mit eigener Muskelkraft hinter sich her, während<br />

zahlreiche Radfahrer und Fußgänger <strong>de</strong>n oft nur im Schritttempo<br />

vorankommen<strong>de</strong>n Autoinsassen Waren und Dienstleistungen<br />

anbieten. Und nicht selten trotten auch noch freilaufen<strong>de</strong><br />

heilige Kühe und manchmal sogar ein Elefant unbeeindruckt<br />

durch <strong>de</strong>n tosen<strong>de</strong>n Lärm aus knattern<strong>de</strong>n Zweitaktmotoren und<br />

dauern<strong>de</strong>m Gehupe. In Indien, so mein Eindruck, ist alles, was die<br />

Welt heute ausmacht, gleichzeitig und auf engstem Raum zu<br />

bestaunen. Aberwitziger Luxus und bittere Armut, hochentwickelte<br />

Technik und traditionelle Arbeitsweisen, hierarchisches<br />

Miteinan<strong>de</strong>r und Individualisierung nach westlichem Vorbild.<br />

Und obwohl sich Indien rasant wie kaum ein an<strong>de</strong>res Land auf<br />

<strong>de</strong>r Welt verän<strong>de</strong>rt, scheint es – bei allen Bemühungen, <strong>de</strong>n<br />

Westen wirtschaftlich einzuholen – die eigene Kultur entschie<strong>de</strong>n<br />

gegen die Vereinnahmung und Vereinheitlichung nach europäischamerikanischem<br />

Muster zu verteidigen. So sind zum Beispiel<br />

ausländische Markennamen be<strong>de</strong>utungslos und die westliche<br />

Mo<strong>de</strong> ist weit davon entfernt, <strong>de</strong>n Sari als das bevorzugte Kleidungsstück<br />

indischer Frauen zu ersetzen. Westlicher Fastfood setzt<br />

sich ebenso wenig durch wie Hollywood, <strong>de</strong>ssen Filme noch nie<br />

mehr als 5 Prozent <strong>de</strong>s indischen Filmmarktes besetzten. Filmemacher,<br />

Schriftsteller und Theaterkünstler <strong>de</strong>s postkolonialen Indien<br />

haben die Herausfor<strong>de</strong>rung angenommen, ein neues indisches<br />

Selbstverständnis zu entwickeln. Sie suchen nach einer kulturellen<br />

I<strong>de</strong>ntität, die nicht auf Mo<strong>de</strong>llen <strong>de</strong>s Westens beruht, son<strong>de</strong>rn auf<br />

<strong>de</strong>n eigenen Wurzeln, <strong>de</strong>n Geschichten, Traditionen und Formensprachen<br />

sowie <strong>de</strong>n spezifischen Erfahrungen <strong>de</strong>r Menschen.<br />

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Ich habe gelernt, meine Vorstellungen von<br />

Zeitmanagement und Effizienz nicht mehr<br />

für »normal« zu halten ...<br />

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Meine Expedition in die indische Theaterwelt soll mich zunächst<br />

einmal mit einem Stück <strong>de</strong>r großen indischen Tradition bekannt<br />

machen und beginnt mit einer Aufführung <strong>de</strong>r klassischen südindischen<br />

Volkstheaterform Yakshagana. Es gibt kein <strong>Bühne</strong>nbild, <strong>de</strong>n<br />

Hintergrund bil<strong>de</strong>t eine Gruppe Musiker, Trommeln, Harmonium<br />

und Gesang. Nach und nach treten die Akteure auf, in farbenprächtigen<br />

Kostümen, großem Kopfputz und mit aufwändiger<br />

Gesichtsbemalung. Sie zeigen eine Episo<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m alten indischen<br />

Epos »Mahabharatha«: Es geht um die Tapferkeit eines<br />

Kin<strong>de</strong>rkriegers, <strong>de</strong>r alle möglichen Fein<strong>de</strong> besiegt, bis er letztlich<br />

<strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>ntod für die Ehre seiner Familie stirbt. In einer Mischung<br />

aus Tanz und Drama spielen die Darsteller mit großen Gesten<br />

und stilisierten Bewegungen Götter, Hel<strong>de</strong>n und schöne<br />

Frauen, kämpfen, lei<strong>de</strong>n und sterben. Sie <strong>de</strong>klamieren <strong>de</strong>n Text<br />

ohne erkennbare Zwischentöne in einem ausrufen<strong>de</strong>n Gestus. Die<br />

zahlreichen Kämpfe wer<strong>de</strong>n durch stilisierte akrobatische<br />

Sprünge und atemberauben<strong>de</strong> Pirouetten dargestellt, für die<br />

es Szenenapplaus gibt wie bei einer Eistanzshow. Im Yakshagana<br />

wer<strong>de</strong>n seit jeher auch die Frauenfiguren von Männern gespielt,<br />

bei <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Truppe Saligrama Makkala Mela han<strong>de</strong>lt es<br />

sich freilich um Knaben zwischen acht und 15 Jahren. Das Kin<strong>de</strong>r-<br />

Yakshagana erfreut sich heute beson<strong>de</strong>rer Popularität und seine<br />

min<strong>de</strong>rjährigen Darsteller, die die Spielform ab <strong>de</strong>m fünften.<br />

Lebensjahr trainieren, gelten nicht als Laien, son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n als<br />

Profis verehrt. Das Publikum begeistert sich vor allem für <strong>de</strong>n<br />

jüngsten Darsteller <strong>de</strong>r Truppe. Der älteste, <strong>de</strong>r – wie ich später<br />

erfahre – die Truppe bald verlassen muss, quittiert diese Bevorzu-<br />

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