APPARAT BAND
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April 2012 21<br />
DIE TITANIC IM HAFEN<br />
VON SOUTHAMPTON.<br />
›Noordam‹ und die ›Amerika‹ ebenso. Eine<br />
Eisbergwarnung von der ›Baltic‹ wird dem<br />
Kapitän persönlich überbracht, der gibt sie<br />
an Bruce Ismay, seinen Schiffs-Reeder weiter,<br />
der sie kommentarlos in die Tasche steckt.<br />
Bis 21.45 Uhr gehen sieben Funkmeldungen<br />
an die Titanic, die vor einem riesigen Eisfeld<br />
direkt auf Kurs des Ozeanriesen warnen,<br />
nur ein einziger davon erreicht tatsächlich<br />
die Brücke. Der Kapitän sitzt derweilen unter<br />
Deck beim Abendmahl, das Kommando<br />
lautet weiterhin ›Volle Kraft voraus‹. Weitere<br />
Warnmeldungen gehen ein — und im Stress<br />
der Bordfunker unter, die seit Tagen ununterbrochen<br />
damit beschäftigt sind, private<br />
Telegramme durchzugeben, die ihnen<br />
die Passagiere gegeben haben.<br />
Telegramme zu schicken ist der<br />
neueste Schrei, dementsprechend<br />
umfangreich der Stapel an Botschaften,<br />
die die Bordfunker abzuarbeiten<br />
haben. Welcher Vorrang diesen<br />
Telegrammen eingeräumt wird,<br />
bekommt der Funker des Frachters<br />
›Californian‹ zu spüren, der etwa<br />
20 Meilen entfernt von der ›Titanic‹<br />
bereits von Treibeismassen aufgehalten<br />
wird und wiederholt Warnungen<br />
an alle Schiffe in der Umgebung<br />
funkt.<br />
Als die ›Californian‹ kurz vor 22<br />
Uhr die ›Titanic‹ über die Eislage<br />
informieren will, wird der Funker<br />
durch ein rüdes »Schluß jetzt! Sie<br />
stören mein Signal!« des ›Titanic‹-<br />
Funkers unterbrochen — die Meldung,<br />
die das Schiff vor dem unmittelbar<br />
bevorstehenden Unglück hätte bewahren<br />
können, kommt so nie auf<br />
der Brücke an. Bezeichnenderweise<br />
verstieß der ›Titanic‹-Funker damit<br />
noch nicht einmal gegen geltende<br />
Vorschriften, da die gerade erst aufgekommene<br />
Kommunikation per Funk<br />
zu diesem Zeitpunkt noch nicht als essentielles<br />
Hilfsmittel für die Führung<br />
eines Schiffes betrachtet wurde.<br />
Der Funker der ›Californian‹ legt<br />
es nicht darauf an, noch einmal vor<br />
dem Eis zu warnen, hört die privaten<br />
Funkmeldungen, die die ›Titanic‹ gen<br />
amerikanisches Festland sendet, noch ein<br />
wenig mit, schaltet dann aber um 22.30 Uhr<br />
das Funkgerät ab und legt sich wie gewöhnlich<br />
ins Bett. Die ›Titanic‹ hält währenddessen<br />
unbeirrt weiter Kurs aufs Eis.<br />
TRAUMSCHIFF OHNE VORAUSBLICK<br />
Natürlich hat die ›Titanic‹ ganz ›traditionell‹<br />
auch zwei Matrosen im Mastkorb am<br />
Bug stehen, die nach etwaigen Eisbergen<br />
Ausschau halten sollten — nur, so modern<br />
und auf dem neuesten Stand das Schiff auch<br />
gewesen sein mag, hatte man auf etwas Wesentliches<br />
offenbar schlichtweg verzichtet:<br />
Ferngläser für den Ausguck. Eisberge hatte<br />
dieser mit dem bloßen Auge zu sichten. Hätte<br />
wenigstens ein Suchscheinwerfer auf dem<br />
mit 10.000 Glühbirnen illuminierten Luxusdampfer<br />
existiert, mit dem man das voraus<br />
liegende Meer hätte durchleuchten können,<br />
wäre das Eisfeld, auf das die ›Titanic‹ um<br />
kurz nach 23.30 Uhr zusteuerte, für den Ausguck<br />
im Mast eher auszumachen gewesen.<br />
Und da ein knapp 270 Meter langes Schiff seine<br />
Zeit und jede Menge Wegstrecke braucht,<br />
um Hindernissen auszuweichen oder gar<br />
zum Stehen zu kommen, spielte es eigentlich<br />
auch keine große Rolle mehr als der Matrose<br />
Frederick Fleet hoch oben im Krähennest gegen<br />
23.40 Uhr in 500 Meter Entfernung einen<br />
Eisberg in der Dunkelheit steuerbord voraus<br />
ausmacht und sofort dreimal die Alarmglocke<br />
läutet.<br />
Der Steuermann dreht zwar noch das Rad<br />
so schnell es geht, um ein Ausweichmanöver<br />
einzuleiten, doch das Schiff reagiert zu<br />
träge — der Eisberg ist schon da. Der 300.000<br />
Tonnen-Koloss trifft die Titanic auf der rechten<br />
Bugseite, schrammt gemächlich die stählerne<br />
Außenhaut des Schiffes unterhalb der<br />
Wasserlinie entlang, reißt dabei auf einer<br />
Länge von 35 Metern schmale Risse in sechs<br />
der sechzehn wasserdichten Kammern, in<br />
die der Schiffsrumpf aufgeteilt ist und verschwindet<br />
wieder im Dunkel der Neumondnacht.<br />
Von der Sichtung des Eisbergs bis zum<br />
Zusammenstoß sind 37 Sekunden vergangen<br />
— mit jeder folgenden Sekunde strömen<br />
hunderte Liter Wasser in leckgeschlagenen<br />
Kammern des Vorderschiffs hinein und verwandeln<br />
den allgemeinen Glauben an eine<br />
›unsinkbare‹ Titanic in die unumstößliche<br />
Einsicht, dass die Reise dieses Traumschiffs<br />
an diesem Punkt zu Ende ist.<br />
In weniger als 20 Seemeilen Entfernung<br />
liegt die vom Packeis eingeschlossene<br />
› Californian‹ vor Anker. Das Funkgerät ist<br />
abgestellt, die Mannschaft schläft. Ein paar<br />
Besatzungsmitglieder sehen in der Ferne die<br />
Lichter eines Schiffes, vereinzelte Raketen<br />
steigen von diesem in den Himmel empor.<br />
Kapitän Lord lässt den Bordfunker schlafen,<br />
versucht stattdessen mit der Morselampe<br />
Verbindung aufzunehmen. Eine Reaktion erhält<br />
er nicht — es scheint nur eine Party zu<br />
sein. Und die ›Titanic‹ war endgültig verloren.<br />
(mei)