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Ges<strong>ch</strong><strong>i<strong>ch</strong></strong>te<br />
Wettlauf zum Südpol<br />
Zum hundertsten Mal jährt s<strong>i<strong>ch</strong></strong> diesen Dezember das letzte grosse Abenteuer in der Ges<strong>ch</strong><strong>i<strong>ch</strong></strong>te der<br />
Eroberung unserer Erde: Als erster Mens<strong>ch</strong> stand Roald Amundsen am Südpol. Damit fing die Tragödie<br />
des Verlierers Robert Falcon Scott erst r<strong>i<strong>ch</strong></strong>tig an.<br />
Von Wolf S<strong>ch</strong>neider (Text)<br />
Bilder: Scott <strong>Polar</strong> Resear<strong>ch</strong> Institute /<br />
Fram Museum<br />
Wenn ein englis<strong>ch</strong>er Gentleman gegen einen<br />
blossen Fa<strong>ch</strong>mann aus Norwegen verliert, so<br />
kann nur der Engländer der Sieger gewesen<br />
sein – zumal wenn er seine Niederlage mit<br />
einer Art Heldentod verklärt: Das war die<br />
Stimmung in Grossbritannien, als 1913 das<br />
Ergebnis des verrücktesten und tragis<strong>ch</strong>sten<br />
Wettlaufs der Weltges<strong>ch</strong><strong>i<strong>ch</strong></strong>te bekannt geworden<br />
war.<br />
Siegerbild am Donnerstag, 14. Dezember 1911, 15 Uhr:<br />
Amundsen und seine Crew haben den Südpol erre<strong>i<strong>ch</strong></strong>t.<br />
Einem uns<strong>i<strong>ch</strong></strong>tbaren Fleck in unvorstellbarer<br />
Öde hatte er gegolten: dem südl<strong>i<strong>ch</strong></strong>en<br />
«Dur<strong>ch</strong>stosspunkt» der Rotationsa<strong>ch</strong>se der<br />
Erde, kurz Südpol genannt.<br />
Was ist ein Punkt? Per Definition nur ein<br />
ausdehnungsloses Gebilde. Haben denn<br />
Amundsen und vier Wo<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong> ihm Scott<br />
ihren Fuss auf dieses Gebilde setzen können?<br />
Wahrs<strong>ch</strong>einl<strong>i<strong>ch</strong></strong> n<strong>i<strong>ch</strong></strong>t.<br />
Denn um bis zu zehn Meter entfernt s<strong>i<strong>ch</strong></strong> der<br />
Punkt von seiner mittleren Position – zum<br />
Beispiel wenn ein Erdbeben den Planeten ein<br />
biss<strong>ch</strong>en ins S<strong>ch</strong>lingern bringt.<br />
Amundsen nahm dafür 99 Tage auf Skiern im<br />
ewigen Eis in Kauf, Scott fast fünf Monate bis<br />
zu seinem Tod – von bis zu 60 Grad Kälte<br />
gebissen und von S<strong>ch</strong>neestürmen bis zu 130<br />
Stundenkilometern angefau<strong>ch</strong>t; unter Leiden,<br />
Strapazen und hygienis<strong>ch</strong>en Verhältnissen, die<br />
die meisten Mens<strong>ch</strong>en kaum vier Tage lang<br />
ertragen würden; Scott und seine zwei letzten<br />
Männer na<strong>ch</strong> einem Fussmars<strong>ch</strong> von 2400<br />
Kilometern s<strong>ch</strong>liessl<strong>i<strong>ch</strong></strong> im Zelt verhungerten<br />
und erfroren.<br />
Da der «Fa<strong>ch</strong>mann» seine Expedition perfekt<br />
organisiert, der «Gentleman» aber bei der<br />
Vorbereitung le<strong>i<strong>ch</strong></strong>tfertig gehandelt hatte, war<br />
dessen Leistung in der Tat die no<strong>ch</strong> erstaunl<strong>i<strong>ch</strong></strong>ere<br />
– ein Weltrekord an Zähigkeit, Nerven -<br />
stärke und Überlebenswillen. Do<strong>ch</strong> keinen,<br />
der Scott kannte, wunderte es, dass er der<br />
Verlierer war, der Antarktis einfa<strong>ch</strong> n<strong>i<strong>ch</strong></strong>t ge -<br />
wa<strong>ch</strong>sen.<br />
Eroberer-Stimmung<br />
Gewaltig breitet s<strong>i<strong>ch</strong></strong> der se<strong>ch</strong>ste, der bis dahin<br />
ignorierte Kontinent rund um den Südpol aus,<br />
grösser als Europa, unbewohnbar, zu n<strong>i<strong>ch</strong></strong>ts<br />
nütze und bis zu vier Kilometer dick mit Eis<br />
bepackt.<br />
Etwa seit 1820 wurden seine Küsten zur<br />
Robbenjagd und zum Walfang angelaufen;<br />
von 1901 bis 1904 leitete der junge Captain<br />
Scott eine Antarktis-Unternehmung, die s<strong>i<strong>ch</strong></strong><br />
vor allem der Fors<strong>ch</strong>ung widmete, als<br />
Kommandant des Expeditionss<strong>ch</strong>iffs<br />
«Discovery».<br />
Von dem aus drang ein Stosstrupp ein paar<br />
Hundert Kilometer auf den Eiss<strong>ch</strong>ild vor.<br />
Scott selbst war dabei und der fünf Jahre jüngere<br />
Leutnant Ernest Shackleton. Sie mo<strong>ch</strong>ten<br />
einander n<strong>i<strong>ch</strong></strong>t, und in seinem Bu<strong>ch</strong> über die<br />
Fahrt deutete Scott an, dass Shackleton ein<br />
Versager gewesen sei.<br />
Da war es für Shackleton ein Triumph, dass es<br />
ihm 1909 gelang, s<strong>i<strong>ch</strong></strong> dem Südpol bis auf 156<br />
Kilometer zu nähern – als Spitze einer neuen<br />
Expedition, an der Scott n<strong>i<strong>ch</strong></strong>t teilnahm.<br />
Im Jahr zuvor behauptete der amerikanis<strong>ch</strong>e<br />
Arzt Frederick Cook, er habe den Nordpol er -<br />
re<strong>i<strong>ch</strong></strong>t. Gelogen, sagte sein Landsmann Robert<br />
Peary 1909 – erst <strong>i<strong>ch</strong></strong> habe es ges<strong>ch</strong>afft!<br />
Wel<strong>ch</strong>er, oder ob keiner von beiden, ist bis<br />
heute umstritten. Damals glaubte man Peary,<br />
und Unruhe ma<strong>ch</strong>te s<strong>i<strong>ch</strong></strong> breit unter den<br />
Letzten, die hofften, sie könnten no<strong>ch</strong> zu den<br />
Entdeckern gehören.<br />
Der 36-jährige Roald Amundsen zumal war<br />
entsetzt: Von 1903 bis 1906 war ihm die seemännis<strong>ch</strong>e<br />
Grosstat gelungen, die Nord -<br />
westpassage zu eröffnen, die bis dahin nur<br />
erhoffte S<strong>ch</strong>ifffahrtsroute um Kanada herum.<br />
Er bewältigte sie mit drei Überwinterungen im<br />
Eis – und unterstellte, dass der Nordpol jetzt<br />
eigentl<strong>i<strong>ch</strong></strong> nur ihm gehören könne.<br />
Wenn, dann ein Engländer<br />
Der vier Jahre ältere britis<strong>ch</strong>e Kapitän Robert<br />
Falcon Scott aber sah England ges<strong>ch</strong>ändet und<br />
s<strong>i<strong>ch</strong></strong> selber bedroht: Ging es denn an, dass ein<br />
Amerikaner den Nordpol erobert hatte –<br />
herrs<strong>ch</strong>te das Britis<strong>ch</strong>e Weltre<strong>i<strong>ch</strong></strong> n<strong>i<strong>ch</strong></strong>t über<br />
fast ein Viertel der Erde und über alle Meere<br />
sowieso? Also musste auf dem anderen Pol,<br />
dem ungle<strong>i<strong>ch</strong></strong> s<strong>ch</strong>werer erre<strong>i<strong>ch</strong></strong>baren, der<br />
Union Jack aufgepflanzt werden! (Der Mount<br />
Everest, später der «Dritte Pol» genannt,<br />
geriet erst 1921 ins britis<strong>ch</strong>e Visier.)<br />
«I<strong>ch</strong> bin der Meinung, dass nur ein Engländer<br />
zum Südpol gelangen sollte», s<strong>ch</strong>rieb Scott im<br />
September 1909. Shackleton, der gerade als<br />
Held der Antarktis gefeiert wurde? Nein, er,<br />
Scott!<br />
In seinem Ents<strong>ch</strong>luss bestärkte ihn die Frau,<br />
die er 1908 geheiratet hatte: Kathleen Bruce,<br />
eine lebenslustige, le<strong>i<strong>ch</strong></strong>t überspannte<br />
Künstler in.<br />
Scotts gründl<strong>i<strong>ch</strong></strong>ster Biograf, der britis<strong>ch</strong>e<br />
Journalist Roland Huntford, behauptet von ihr,<br />
sie habe s<strong>i<strong>ch</strong></strong> vorgenommen, einen Helden zu<br />
gebären, und dazu, natürl<strong>i<strong>ch</strong></strong>, müsse der Vater<br />
s<strong>i<strong>ch</strong></strong> als Held erweisen. «Du musst zum<br />
Südpol!», ermahnte sie ihn. «Es muss zu<br />
s<strong>ch</strong>affen sein!»<br />
Nun brau<strong>ch</strong>te Scott vor allem zweierlei: Geld<br />
und Protektion. Mit seinem flotten Bu<strong>ch</strong> über<br />
die «Discovery» hatte er gut verdient, und<br />
Kathleen liess ihre Beziehungen spielen.<br />
Indem s<strong>i<strong>ch</strong></strong> Scott zugle<strong>i<strong>ch</strong></strong> der Popularität<br />
bediente, die sein Rivale Shackleton dem<br />
Unternehmen Südpol vers<strong>ch</strong>afft hatte, kam er<br />
gut voran. Für die S<strong>ch</strong>iffsmanns<strong>ch</strong>aft gingen<br />
fast 8000 Bewerbungen ein.<br />
Am 31. Mai 1910 wurde Scott von der Royal<br />
Geographical Society mit einem Festessen zur<br />
Antarktis verabs<strong>ch</strong>iedet. Ihr Präsident rühmte,<br />
«dass die Tugenden unserer Vorfahren, die<br />
dieses Weltre<strong>i<strong>ch</strong></strong> s<strong>ch</strong>ufen, weiter in uns leben».<br />
Am 1. Juni sta<strong>ch</strong> die «Terra Nova», ein alter<br />
Walfänger, in Portland Harbour an der<br />
Kanalküste in See, von Tausenden bejubelt;<br />
einem englis<strong>ch</strong>en Kapitän mit <strong>Polar</strong>erfahrung<br />
fiel die Menge der goldenen Tressen auf dem<br />
Deck der «Terra Nova» auf.<br />
Amundsens Trick<br />
Scotts S<strong>ch</strong>iff war da no<strong>ch</strong> als einziges zur<br />
Antarktis unterwegs. Do<strong>ch</strong> längst bereitete<br />
Amundsen s<strong>i<strong>ch</strong></strong> auf einen Wettlauf vor. S<strong>ch</strong>on<br />
im September 1909, als er von Scotts Südpol-<br />
Plänen hörte, hatte er s<strong>i<strong>ch</strong></strong> zu diesem<br />
«Handstre<strong>i<strong>ch</strong></strong>» ents<strong>ch</strong>lossen (so nannte er das<br />
in seinen Erinnerungen). Öffentl<strong>i<strong>ch</strong></strong> blieb er<br />
bei seiner Ankündigung, er wolle, da der<br />
Nordpol nun mal erobert sei, die Nord west -<br />
passage no<strong>ch</strong> einmal befahren, diesmal jedo<strong>ch</strong><br />
in umgekehrter R<strong>i<strong>ch</strong></strong>tung, na<strong>ch</strong> monatelanger<br />
Anreise um Feuerland herum.<br />
Ein ganzes Jahr lang hielt er sein Vorhaben<br />
geheim, sogar von der Manns<strong>ch</strong>aft, die er<br />
angeworben hatte, war nur sein Stellvertreter<br />
eingeweiht. In Grönland bestellte er aber<br />
s<strong>ch</strong>on mal 100 S<strong>ch</strong>littenhunde.<br />
Hunde! Dass Amundsen sie souverän einsetzte<br />
und Scott sie missa<strong>ch</strong>tete, ma<strong>ch</strong>te dessen<br />
Niederlage unvermeidl<strong>i<strong>ch</strong></strong> und trug bei zu seinem<br />
Untergang.<br />
«Hunde rauben dem Zug mit S<strong>ch</strong>litten viel<br />
von seinem Glanz», hatte Scott s<strong>i<strong>ch</strong></strong> 1905 vernehmen<br />
lassen – in einem Haus mit Dienern<br />
war er aufgewa<strong>ch</strong>sen, die Royal Navy hatte<br />
ihn geprägt. «Mit Hunden lässt s<strong>i<strong>ch</strong></strong> nie die<br />
erhabene Vorstellung hervorrufen, dass eine<br />
Gruppe von Männern s<strong>i<strong>ch</strong></strong> aufma<strong>ch</strong>t, allen<br />
Strapazen und Gefahren aus eigener Kraft zu<br />
trotzen. In diesem Fall ist der Sieg würdiger<br />
erkämpft.»<br />
Herois<strong>ch</strong>e, ein biss<strong>ch</strong>en verblasene Gesinnung<br />
gegen Amundsens kühle Strategie! Und so liess<br />
Scott am 11. Dezember 1911, fünf Wo<strong>ch</strong>en vor<br />
dem Ziel, in der Tat alle Hunde umkehren, und<br />
zwölf Männer auf Skiern zogen drei S<strong>ch</strong>litten<br />
mit mehr als einer Tonne Material dem Südpol<br />
entgegen, und s<strong>ch</strong>liessl<strong>i<strong>ch</strong></strong> zerrten drei Mann<br />
den letzten S<strong>ch</strong>litten bis zu ihrem Grab im Eis.<br />
Au<strong>ch</strong> ohne den Wettlauf mit Amundsen hätten<br />
sie wohl n<strong>i<strong>ch</strong></strong>t überlebt. »<br />
Zu spät: Einen Monat na<strong>ch</strong> Amundsen, am 18. Januar 1912, stehen Scott und seine Männer vor der norwegis<strong>ch</strong>en Flagge.<br />
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