Achim Detmers, Calvin und die Juden als PDF - reformiert-info.de
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<strong>Calvin</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong><br />
<strong>Achim</strong> <strong>Detmers</strong><br />
1. <strong>Calvin</strong>s Kontakte mit <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong> <strong>de</strong>m <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum<br />
In <strong>de</strong>r Forschung wird in <strong>de</strong>r Regel davon ausgegangen, dass <strong>Calvin</strong> zeit seines<br />
Lebens keinen Kontakt zu <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> gehabt hat. Begrün<strong>de</strong>t wird <strong>die</strong>s damit, dass es we<strong>de</strong>r<br />
in seiner Heimat Frankreich noch in Genf <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> gab. Diese Annahme steht jedoch<br />
im Kontrast zu einer Aussage, <strong>die</strong> <strong>Calvin</strong>s selbst 1561 in seinem Danielkommentar<br />
macht. Dort schreibt er: »Oft habe ich mit vielen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> gesprochen« (CR<br />
68 CO XL, 605). Diese Stelle ist <strong>die</strong> einzige, in <strong>de</strong>r sich <strong>Calvin</strong> über seinen Kontakt<br />
zu <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> geäußert hat. Wann, wo <strong>und</strong> mit wem <strong>die</strong>ser Kontakt zustan<strong>de</strong> kam, bleibt<br />
lei<strong>de</strong>r im Dunkeln. Gleichwohl lässt sich für <strong>die</strong> verschie<strong>de</strong>nen Lebensstationen <strong>Calvin</strong>s<br />
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit rekonstruieren, ob er dort mit <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> zusammengetroffen<br />
sein könnte.<br />
1.1. Frankreich<br />
Beginnen wir mit <strong>de</strong>r französischen Heimat <strong>Calvin</strong>s. Bereits 1394 waren <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong><br />
dort auf Anordnung Karls VI. weitgehend vertrieben wor<strong>de</strong>n. <strong>Calvin</strong> wuchs <strong>als</strong>o in<br />
einem soziokulturellen Umfeld auf, in <strong>de</strong>m <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>als</strong> eine gesellschaftliche Realität<br />
so gut wie nicht mehr präsent waren. Dies be<strong>de</strong>utete jedoch nicht, dass <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong><br />
auch aus <strong>de</strong>m öffentlichen Bewusstsein verschw<strong>und</strong>en waren. Vielmehr zeigen <strong>die</strong><br />
frühen Schriften <strong>Calvin</strong>s, dass ihm einige <strong>de</strong>r antijüdischen Stereotype vertraut<br />
waren, <strong>die</strong> in seiner französischen Heimat auch ohne <strong>die</strong> Existenz von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> überliefert<br />
wur<strong>de</strong>n (OS I, 48; 207f; CR 37 CO IX, 788). Von unmittelbarer Brisanz war<br />
<strong>die</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum für <strong>de</strong>n jungen Franzosen jedoch nicht.<br />
1.2. Basel<br />
Erst nach seiner Flucht aus Frankreich 1535 dürften <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> überhaupt in <strong>de</strong>n<br />
Gesichtskreis <strong>Calvin</strong>s gelangt sein. Bereits in Basel, <strong>de</strong>r ersten Station seines Exils,<br />
könnte er vereinzelt auf <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> aufmerksam gewor<strong>de</strong>n sein. Dort lebten zwar schon<br />
seit 1397 keine <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> mehr; reisen<strong>de</strong>n <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong> jüdischen Händlern aus <strong>de</strong>r Umgebung<br />
war es jedoch gestattet, <strong>die</strong> Stadt unter bestimmten Bedingungen zu betreten.<br />
Außer<strong>de</strong>m ist von <strong>de</strong>m Basler Hebraisten Sebastian Münster bekannt, dass er mit<br />
auswärtigen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> (z.B. Elia Levita) in Kontakt stand. Ob <strong>Calvin</strong> allerdings mit<br />
Münster vertraut war <strong>und</strong> von <strong>de</strong>ssen Kontakten wusste, kann nicht mit Sicherheit<br />
gesagt wer<strong>de</strong>n.<br />
1.3. Ferrara<br />
Auf je<strong>de</strong>n Fall aber wird <strong>Calvin</strong> im Frühjahr 1536 bei seinem kurzen Aufenthalt in<br />
Ferrara mit <strong>de</strong>r Existenz jüdischen Lebens <strong>und</strong> jüdischer Kultur in bisher nicht ge-
kannter Weise konfrontiert wor<strong>de</strong>n sein. Denn Ferrara war eine <strong>de</strong>r Hochburgen <strong>de</strong>s<br />
norditalienischen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tums. Zu Beginn <strong>de</strong>s 16. Jahrh<strong>und</strong>erts haben dort ca. 3.000<br />
<strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> gelebt, <strong>die</strong> in mehreren Synagogengemein<strong>de</strong>n organisiert waren. Zwei Jahre<br />
vor <strong>Calvin</strong>s Aufenthalt in Ferrara hatte Herzog Ercole II. d’Este sogar weiteren marrano-jüdischen<br />
Flüchtlingen aus Spanien <strong>und</strong> Portugal zugestan<strong>de</strong>n, sich in Ferrara<br />
nie<strong>de</strong>rzulassen <strong>und</strong> zu ihrem ursprünglichen Glauben zurückzukehren.<br />
Lei<strong>de</strong>r hat <strong>Calvin</strong> in <strong>die</strong>ser frühen Phase an keiner Stelle erkennen lassen, dass er<br />
einzelnen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> begegnet ist o<strong>de</strong>r sich mit <strong>de</strong>m <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum auseinan<strong>de</strong>rgesetzt hat.<br />
Gleichwohl aber dürfte er – entgegen <strong>de</strong>m stillschweigen<strong>de</strong>n Konsens <strong>de</strong>r Forschung<br />
– schon früh nach seiner Flucht aus Frankreich auf jüdisches Leben <strong>und</strong> jüdische<br />
Kultur aufmerksam gewor<strong>de</strong>n sein.<br />
1.4. Der erste Genfer Aufenthalt<br />
Während <strong>de</strong>s ersten Genfer Aufenthalts (1536-1538) bestand für <strong>Calvin</strong> dann wenig<br />
Anlass sich eingehen<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum zu befassen. Zum einen war <strong>Calvin</strong> ganz<br />
auf <strong>die</strong> Durchsetzung <strong>de</strong>r Reformen konzentriert. Zum an<strong>de</strong>ren gab es in Genf <strong>und</strong><br />
Umgebung schon seit <strong>de</strong>r Vertreibung von 1491 keine <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> mehr. Ebenso sind hinreichen<strong>de</strong>n<br />
Hebräisch-Kenntnisse bei <strong>Calvin</strong> in <strong>die</strong>ser frühen Phase noch nicht zu erkennen.<br />
1.5. Die Straßburger Zeit (1538-1541)<br />
Die än<strong>de</strong>rte sich in <strong>de</strong>r Folgezeit. In <strong>de</strong>r Straßburger Phase hatte <strong>Calvin</strong> gleich an<br />
mehreren Orten Gelegenheit, sich mit <strong>de</strong>r Existenz jüdischen Lebens <strong>und</strong> jüdischer<br />
Kultur auseinan<strong>de</strong>rzusetzen. Denn er hielt dam<strong>als</strong> nicht nur in Straßburg auf, son<strong>de</strong>rn<br />
reiste auch nach Frankfurt a. M., Hagenau, Worms <strong>und</strong> Regensburg. In Frankfurt<br />
hielt sich <strong>Calvin</strong> im Frühjahr 1539 anlässlich <strong>de</strong>r Fürstenversammlung etwa sechs<br />
Wochen lang auf. Dort existierte eine <strong>de</strong>r letzten großen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>gemein<strong>de</strong>n im Reich.<br />
<strong>Calvin</strong> könnte <strong>als</strong>o während seines Frankfurter Aufenthalts – ähnlich wie in Ferrara –<br />
zumin<strong>de</strong>st einen visuellen Eindruck von <strong>de</strong>m jüdischen Leben in Frankfurt erhalten<br />
haben.<br />
Darüber hinaus dürfte <strong>Calvin</strong> mit <strong>de</strong>n Fragen einer Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> in Berührung<br />
gekommen sein. Denn <strong>die</strong>se Frage wur<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r Frankfurter Fürstenversammlung<br />
kontrovers diskutiert. Erinnert sei hier an <strong>die</strong> öffentliche Disputation, bei <strong>de</strong>r Josel<br />
von Rosheim <strong>die</strong> antijüdischen Vorwürfe Luthers <strong>und</strong> Bucers zurückwies. <strong>Calvin</strong><br />
könnte bei <strong>die</strong>ser Disputation sogar zugegen gewesen sein. Außer<strong>de</strong>m <strong>de</strong>ckte Melanchthon<br />
in Frankfurt <strong>de</strong>n Bran<strong>de</strong>nburger Hostienfrevelskandal (1510) auf <strong>und</strong> diskutierte<br />
mit <strong>de</strong>m hessischen Hofprediger Melan<strong>de</strong>r über <strong>die</strong> Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>. Sowohl<br />
mit Bucer <strong>als</strong> auch mit Melanchthon stand <strong>Calvin</strong> beim Frankfurter Fürstentag<br />
in intensivem Austausch, so dass ihm <strong>die</strong>se Problematik kaum verborgen geblieben<br />
sein wird.
Auch bei <strong>de</strong>n Religionsgesprächen in Hagenau <strong>und</strong> Worms (1540/41) dürfte <strong>Calvin</strong><br />
auf das dortige jüdische Leben aufmerksam gewor<strong>de</strong>n sein; <strong>de</strong>nn in bei<strong>de</strong>n Städten<br />
gab es größere <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>gemein<strong>de</strong>n. Beim nachfolgen<strong>de</strong>n Religionsgespräch auf <strong>de</strong>m<br />
Regensburger Reichstag (1541) bestand <strong>die</strong>se Möglichkeit allerdings nicht, da <strong>die</strong><br />
<strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> dort bereits 1519 vertrieben waren. Gleichwohl kam <strong>die</strong> Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong><br />
auch auf <strong>de</strong>m Regensburger Reichstag zur Sprache. Ob <strong>Calvin</strong>, <strong>de</strong>r sich mehrere Monate<br />
in Regensburg aufhielt (März bis Juni 1541), davon Kenntnis genommen hat,<br />
lässt sich nur vermuten.<br />
In Straßburg selbst aber dürften <strong>Calvin</strong> <strong>die</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen um <strong>die</strong> Duldung<br />
von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> nicht verborgen geblieben sein. Dort wur<strong>de</strong>n zwar keine <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> gedul<strong>de</strong>t,<br />
aber <strong>de</strong>n <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> aus <strong>de</strong>r Umgebung (insb. aus <strong>de</strong>m Elsaß) war es gegen Zahlung einer<br />
Abgabe gestattet, <strong>die</strong> Stadt in geschäftlichen Angelegenheiten zu betreten. Außer<strong>de</strong>m<br />
stand <strong>Calvin</strong>s Straßburger Kollege Capito mit Josel von Rosheim in gutem Kontakt.<br />
<strong>Calvin</strong>s wichtiger Lehrer Bucer hingegen war 1539 auf <strong>de</strong>r Frankfurter Fürstenversammlung<br />
mit Josel von Rosheim wegen <strong>de</strong>s hessischen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>ratschlags aneinan<strong>de</strong>rgeraten.<br />
Ob auch <strong>Calvin</strong> Josel von Rosheim gekannt hat o<strong>de</strong>r gar in Frankfurt<br />
Zeuge <strong>de</strong>s Streits zwischen Bucer <strong>und</strong> Josel war, lässt sich nicht sagen, da es<br />
keine entsprechen<strong>de</strong>n Hinweise gibt. Gleichwohl kann aber auch nicht ausgeschlossen<br />
wer<strong>de</strong>n, dass sich <strong>Calvin</strong> <strong>und</strong> Josel (in Frankfurt, Regensburg o<strong>de</strong>r Straßburg)<br />
begegnet sind.<br />
Doch <strong>die</strong>se möglichen Begegnungen mit einzelnen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> bleiben Spekulation, gesicherte<br />
Hinweise gibt es keine. Trotz<strong>de</strong>m dürfte <strong>Calvin</strong> zumin<strong>de</strong>st von <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
Bucers mit Josel um <strong>die</strong> hessische <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>ordnung gewusst haben. Denn<br />
<strong>de</strong>r Streit entbrannte im November 1538, <strong>als</strong> <strong>Calvin</strong> gera<strong>de</strong> wenige Monate in Straßburg<br />
war. Zu<strong>de</strong>m sah sich Bucer im Anschluss an <strong>die</strong> Frankfurter Fürstenversammlung<br />
eigens zu einer Streitschrift veranlasst, so dass sich Bucers Konflikt mit Josel<br />
noch bis etwa Mitte 1540 hinzog. Da Bucer <strong>und</strong> <strong>Calvin</strong> in Straßburg nicht nur intensiv<br />
zusammengearbeitet haben, son<strong>de</strong>rn auch unmittelbare Nachbarn waren,<br />
wer<strong>de</strong>n sie sich auf je<strong>de</strong>n Fall mündlich über <strong>de</strong>n Sachverhalt ausgetauscht haben.<br />
Doch lei<strong>de</strong>r sind aus <strong>die</strong>sem Gr<strong>und</strong>e auch keine entsprechen<strong>de</strong>n schriftlichen<br />
Quellen erhalten. Gleichwohl gibt es einen späteren indirekten Hinweis, dass <strong>Calvin</strong><br />
zumin<strong>de</strong>st von Bucers <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>ratschlag gewusst hat. Denn Ambrosius Blaurer bat <strong>Calvin</strong><br />
im Mai 1561 um eine Stellungnahme zur Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>. Die Antwort <strong>Calvin</strong>s<br />
ist lei<strong>de</strong>r nicht mehr erhalten. Doch richtete Blaurer wenig später an Konrad Hubert,<br />
<strong>de</strong>n einstigen Sekretär Bucers, <strong>die</strong> Bitte, er möge ihm <strong>de</strong>n <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>ratschlag Bucers<br />
zuschicken. 1 Dies legt nahe, dass Blaurer durch <strong>Calvin</strong> auf Bucers Gutachten<br />
aufmerksam gemacht wur<strong>de</strong>.<br />
1<br />
Vgl. Briefwechsel <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r Ambrosius <strong>und</strong> Thomas Blaurer, hrsg. v. T. Schieß, Bd III 1549-<br />
1567, Freiburg i. B. 1912, Nr. 2384; CR 46 CO 18, 421,34-422,21 (Nr. 3371); 537,49-538,1 (Nr.<br />
3430).
1.6. Der zweite Genfer Aufenthalt<br />
Als <strong>Calvin</strong> im September 1541 nach Genf zurückkehrte, dürfte er lediglich zu einzelnen<br />
konvertierten <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> Kontakt gehabt haben, so z.B. zu einem gewissen Paulus<br />
Italus, <strong>de</strong>n Bullinger 1553 <strong>als</strong> Boten zu <strong>Calvin</strong> sandte (CR 42 CO XIV, 597f). Außer<strong>de</strong>m<br />
war <strong>Calvin</strong> im Sommer 1543 erneut für zwei Monate in Straßburg, wo sich<br />
Kontakte mit <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> ergeben haben könnten. Zeugnisse dafür gibt es jedoch nicht.<br />
Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass <strong>Calvin</strong> dort erstm<strong>als</strong> <strong>de</strong>m Hebraisten Immanuel<br />
Tremellius begegnet ist. Dieser stammte aus Ferrara, war 1540 vom <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum<br />
zum Christentum konvertiert <strong>und</strong> unterrichtete seit 1542 in Straßburg an <strong>de</strong>r<br />
Hohen Schule Hebräisch. <strong>Calvin</strong> unterstützte Tremellius 1547 darin, eine Stellung in<br />
Bern zu erhalten, was aber daran scheiterte, dass man in Bern schlecht auf <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong><br />
Italiener zu sprechen war. Auch ein zweiter Versuch <strong>Calvin</strong>s, Tremellius an <strong>de</strong>r Lausanner<br />
Aka<strong>de</strong>mie unterzubringen, scheiterte daran, dass <strong>de</strong>r Berner Rat Anstoß nahm<br />
an <strong>de</strong>r jüdischen Abstammung <strong>de</strong>s Tremellius. Tremellius stand mit <strong>Calvin</strong> in brieflichem<br />
Kontakt, er übersetzte <strong>de</strong>n Genfer Katechismus 1551 ins Hebräische <strong>und</strong> besuchte<br />
<strong>Calvin</strong> 1554 in Genf. 1558 versuchte <strong>Calvin</strong> sogar, Tremellius für <strong>die</strong> neu gegrün<strong>de</strong>te<br />
Genfer Aka<strong>de</strong>mie zu gewinnen (CR 40 CO XII, Nr. 969). Tremellius <strong>und</strong><br />
<strong>Calvin</strong> hatten <strong>als</strong>o intensiven Kontakt zueinan<strong>de</strong>r <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n auch über das Verhältnis<br />
zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum gesprochen haben. Ob <strong>die</strong>s aber bereits in Straßburg geschah, ist<br />
nicht zu sagen. Spätestens jedoch 1551, anlässlich <strong>de</strong>r Übersetzung <strong>de</strong>s Genfer Katechismus<br />
ins Hebräische, haben sich bei<strong>de</strong> darüber ausgetauscht (CR 42 CO XIV, 53).<br />
Außer<strong>de</strong>m gab es dazu 1554 noch eine beson<strong>de</strong>re Gelegenheit. Denn Tremellius hatte<br />
<strong>de</strong>n Genfer Katechismus für eine zweite Ausgabe mit einer lateinischen Widmungsre<strong>de</strong><br />
versehen <strong>und</strong> war darin auf das Verhältnis zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum eingegangen.<br />
Zu<strong>de</strong>m hatte er <strong>de</strong>m Katechismus eine ju<strong>de</strong>nmissionarische Einleitung vorangestellt.<br />
Da <strong>die</strong> Ausgabe bei Robert Estienne in Genf gedruckt wur<strong>de</strong>, dürfte <strong>die</strong>s in Absprache<br />
mit <strong>Calvin</strong> geschehen sein, zumal Tremellius <strong>Calvin</strong> wenig später in Genf besuchte.<br />
Der Straßburger Aufenthalt <strong>Calvin</strong>s von 1543 war aber auch noch in an<strong>de</strong>rer Hinsicht<br />
von Be<strong>de</strong>utung. Denn inzwischen waren <strong>die</strong> späten <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>schriften Luthers erschienen,<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Rat <strong>de</strong>r Stadt musste sich auf Betreiben Josels von Rosheim mit<br />
<strong>de</strong>r problematischen Wirkungsgeschichte <strong>die</strong>ser Schriften auseinan<strong>de</strong>rsetzen. Der<br />
Rat beschloss En<strong>de</strong> Mai, <strong>als</strong>o etwa einen Monat vor <strong>Calvin</strong>s Ankunft in Straßburg,<br />
<strong>de</strong>n Nachdruck <strong>de</strong>r <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>schriften zu verbieten, <strong>und</strong> untersagte <strong>de</strong>n Predigern, gegen<br />
<strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> zu hetzen. Außer<strong>de</strong>m befasste sich <strong>de</strong>r Rat zwei Wochen nach <strong>de</strong>r Ankunft<br />
<strong>Calvin</strong>s erneut mit einer Eingabe Josels <strong>und</strong> bestätigte das Druckverbot für <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>schriften<br />
Luthers. Dies macht es sehr wahrscheinlich, dass <strong>Calvin</strong>, <strong>de</strong>r in Straßburg<br />
über wichtige Kontakte verfügte, zumin<strong>de</strong>st von <strong>de</strong>r kontroversen Diskussion<br />
um <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>schriften Luthers Kenntnis genommen hat <strong>und</strong> dort eventuell auch über
<strong>de</strong>ren Inhalt <strong>info</strong>rmiert wur<strong>de</strong>. Er konnte Luthers späte <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>schriften in Straßburg<br />
aber nicht stu<strong>die</strong>ren, da erst im darauffolgen<strong>de</strong>n Jahr eine lateinische Übersetzung zu<br />
Luthers Von <strong>de</strong>n Jü<strong>de</strong>n <strong>und</strong> iren Lügen erschien. Auch ist von <strong>Calvin</strong> keine Äußerung<br />
erhalten, <strong>die</strong> Auskunft darüber gäbe, wie er <strong>die</strong> Ansichten Luthers einschätzte.<br />
Gekannt hat er sie aber auf je<strong>de</strong>n Fall; <strong>die</strong>s geht aus einem Brief hervor, <strong>de</strong>n Ambrosius<br />
Blaurer 1561 an <strong>Calvin</strong> richtete. Darin bat Blaurer <strong>de</strong>n Genfer Reformator um<br />
eine Stellungnahme zur Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong> bemerkte: »Ich weiß, Dir ist nicht<br />
unbekannt, was Luther im Jahr 1543 in überaus scharfer Weise gegen <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> geschrieben<br />
hat, wo er mit zahlreichen Argumenten verlangt hat, dass man sie unter<br />
<strong>de</strong>n Christen keinesfalls dul<strong>de</strong>n dürfe, es sei <strong>de</strong>nn, sie wären einer äußerst harten Erniedrigung<br />
ausgesetzt«. (CR 46 CO XVIII, 421).<br />
Im weiteren <strong>de</strong>s Briefes skizzierte Blaurer <strong>die</strong> Auffassung Luthers, dabei fiel ihm jedoch<br />
ein, dass Luthers <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>schriften auf <strong>de</strong>utsch erschienen waren, <strong>und</strong> er fügte am<br />
Briefrand folgen<strong>de</strong>s hinzu: »[Mir] ist nicht mehr in Erinnerung gewesen, dass all <strong>die</strong>s<br />
von Luther auf <strong>de</strong>utsch geschrieben wur<strong>de</strong>, <strong>und</strong> ich entsinne mich nicht, es von irgend<br />
jeman<strong>de</strong>m ins Lateinische übersetzt gesehen zu haben, so dass Du es möglicherweise<br />
niem<strong>als</strong> selbst gelesen hast.« (CR 46 CO XVIII, 422).<br />
Blaurer war sich <strong>als</strong>o im Unklaren darüber, woher <strong>Calvin</strong> von <strong>de</strong>n Ansichten Luthers<br />
wusste <strong>und</strong> wie genau er sie kannte. Lei<strong>de</strong>r ist <strong>die</strong> Antwort <strong>Calvin</strong>s auf <strong>die</strong>ses<br />
Schreiben nicht mehr erhalten, so dass nicht gesagt wer<strong>de</strong>n kann, ob <strong>Calvin</strong> jem<strong>als</strong><br />
eine lateinische Übersetzung <strong>de</strong>r <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>schriften Luthers gelesen hat o<strong>de</strong>r auf<br />
an<strong>de</strong>rem Wege von Luthers Auffassungen in Kenntnis gesetzt wur<strong>de</strong>. Gleichwohl<br />
zeigt <strong>de</strong>r Brief Blaurers, dass <strong>Calvin</strong> spätestens durch Blaurer über Luthers Ansichten<br />
<strong>info</strong>rmiert war, sehr wahrscheinlich aber schon vorher – etwa 1543 in Straßburg<br />
– von ihnen erfahren hatte. Beson<strong>de</strong>rs zu bedauern ist, dass <strong>Calvin</strong>s Stellungnahme<br />
zur Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> nicht erhalten ist. Dennoch lässt sich <strong>de</strong>m Folgebrief Blaurers<br />
zumin<strong>de</strong>st entnehmen, dass <strong>Calvin</strong> <strong>die</strong> Frage nach <strong>de</strong>r Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> differenziert<br />
beantwortet hat. Blaurer bedankte sich nämlich bei <strong>Calvin</strong> für <strong>de</strong>ssen »Meinung<br />
zur Duldung bzw. Nichtduldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>« (CR 46 CO XVIII, 537f.).<br />
2. <strong>Calvin</strong>s theologische Äußerungen über das <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum<br />
In <strong>Calvin</strong>s Schriften ist nicht immer ein<strong>de</strong>utig zu erkennen, wen er gera<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m<br />
Begriff ›<strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>‹ meint. Sowohl für das biblische Israel <strong>als</strong> auch für das nachbiblische<br />
<strong>und</strong> zeitgenössische <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum konnte er <strong>die</strong> Bezeichnung Iudaei gebrauchen. Er<br />
brachte damit zum Ausdruck, dass er zwischen <strong>die</strong>sen drei Größen einen Zusammenhang<br />
sah. Zugleich aber differenzierte er <strong>de</strong>utlich zwischen einem Israel Dei <strong>und</strong><br />
einem Israel carnis. Zum ›Israel Gottes‹ zählte <strong>Calvin</strong> das alttestamentliche Israel<br />
(sowie <strong>die</strong> Kirche aus <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong> Hei<strong>de</strong>n), das ›Israel <strong>de</strong>s Fleisches‹ hingegen sah er<br />
repräsentiert durch das post Christum <strong>als</strong> solches fortbestehen<strong>de</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum.<br />
Diese terminologische Differenzierung <strong>Calvin</strong>s ist jeweils zu beachten, um nicht –
wie in <strong>de</strong>r Forschung vielfach geschehen – <strong>Calvin</strong>s Aussagen über das biblische Israel<br />
mit <strong>de</strong>nen über das zeitgenössische <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum zu verwechseln. Dazu ein Beispiel:<br />
<strong>Calvin</strong> schrieb 1539 in seiner Institutio folgen<strong>de</strong>s: »Die Täufer schil<strong>de</strong>rn uns<br />
<strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> [=Iudaeos] nämlich <strong>als</strong> <strong>de</strong>rmaßen fleischlich, dass sie mehr <strong>de</strong>m Vieh gleichen<br />
<strong>als</strong> <strong>de</strong>n Menschen. Sie erklären nämlich, <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> geschlossen<br />
wor<strong>de</strong>n sei, gehe nicht über das zeitliche Leben hinaus, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verheißungen,<br />
<strong>die</strong> ihnen zuteil gewor<strong>de</strong>n wären, bezögen sich bloß auf gegenwärtige <strong>und</strong><br />
leibliche Güter. Was wür<strong>de</strong>, wenn sich <strong>die</strong>se Lehre durchsetzte, an<strong>de</strong>res übrigbleiben,<br />
<strong>als</strong> dass das jüdische Volk eine Zeitlang durch Gottes Wohltat gesättigt<br />
wor<strong>de</strong>n sei – ebenso wie man eine Sauher<strong>de</strong> im Koben mästet – , um dann schließlich<br />
im ewigen Ver<strong>de</strong>rben zugr<strong>und</strong>e zu gehen?« (OS V, 314,6-13).<br />
Auf <strong>de</strong>n ersten Blick könnte es scheinen, <strong>als</strong> ob sich <strong>Calvin</strong> hier über <strong>die</strong> abwerten<strong>de</strong><br />
Beurteilung <strong>de</strong>s (zeitgenössischen) <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tums durch <strong>die</strong> Täufer äußerte. Tatsächlich<br />
aber ging es <strong>Calvin</strong> um <strong>de</strong>n B<strong>und</strong> mit <strong>de</strong>m alttestamentlichen Israel. Schon Zwingli<br />
<strong>und</strong> Bucer hatten gegenüber <strong>de</strong>n Täufern <strong>die</strong> Kin<strong>de</strong>rtaufe durch <strong>de</strong>n Hinweis auf <strong>die</strong><br />
alttestamentliche Kin<strong>de</strong>rbeschneidung zu rechtfertigen gesucht; dazu entwickelten<br />
sie <strong>die</strong> Lehre von <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Alten <strong>und</strong> Neuen B<strong>und</strong>es. <strong>Calvin</strong> griff <strong>die</strong>se Lehre<br />
auf <strong>und</strong> formulierte 1539 <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>satz: »Der B<strong>und</strong> mit allen Vätern unterschei<strong>de</strong>t<br />
sich von <strong>de</strong>m unsrigen so wenig in <strong>de</strong>r Substanz <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Sache selbst, dass er ganz<br />
<strong>und</strong> gar ein <strong>und</strong> <strong>de</strong>rselbe ist; doch <strong>die</strong> [äußere] Verwaltung än<strong>de</strong>rt sich.« (CR 29 CO<br />
I, 80,40f.).<br />
<strong>Calvin</strong> ging es <strong>als</strong>o keineswegs um eine Verteidigung <strong>de</strong>s <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tums, son<strong>de</strong>rn um<br />
eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit täuferischen Gruppen, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n alttestamentlichen B<strong>und</strong><br />
abwerteten. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang sah sich <strong>Calvin</strong> auch gezwungen – um <strong>de</strong>r<br />
Kontinuität <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>es willen – das bleiben<strong>de</strong> ›natürliche‹ Vorrecht <strong>de</strong>r <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> zu<br />
konstatieren: »Da sich <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>, <strong>de</strong>r mit Abraham geschlossen wur<strong>de</strong>, auf seinen<br />
Samen bezieht, ist Christus zum Heil <strong>de</strong>s jüdischen Volkes gekommen, um das vom<br />
Vater einmal gegebene Versprechen zu erfüllen <strong>und</strong> einzulösen. Ist daran nicht zu<br />
ersehen, dass sich <strong>die</strong> Verheißung <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>es nach <strong>de</strong>m Urteil <strong>de</strong>s Paulus auch nach<br />
<strong>de</strong>r Auferstehung Christi nicht nur sinnbildlich, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Wortlaut nach an <strong>de</strong>m<br />
fleischlichen Samen Abrahams erfüllen muss?« (Inst. IV, 16,15).<br />
Nur in<strong>de</strong>m <strong>Calvin</strong> auf <strong>die</strong>se Weise Gottes Treue im B<strong>und</strong> mit <strong>de</strong>m jüdischen Volk<br />
hervorhob, konnte er theologisch an <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>es festhalten. Und <strong>die</strong>s war<br />
auch <strong>de</strong>r vorrangige Zweck seiner Ausführungen. Eine ›Rehabilitation‹ <strong>de</strong>s <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tums<br />
hatte <strong>Calvin</strong> nicht im Sinn. Die Einheit <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>es be<strong>de</strong>utete für ihn keineswegs,<br />
das gesamte <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum weiterhin <strong>als</strong> erwählt zu betrachten. Vielmehr betonte<br />
er <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>m jüdischem Volk <strong>als</strong> Ganzem (»tota Iudaeorum<br />
natione«) <strong>und</strong> einzelnen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> (»singulis hominibus«). Dies ermögliche es ihm, <strong>die</strong><br />
wi<strong>de</strong>rsprüchlichen paulinischen Aussagen zur Verwerfung <strong>und</strong> bleiben<strong>de</strong>n Erwählung<br />
<strong>de</strong>r <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> miteinan<strong>de</strong>r zu vereinbaren: »Dass es so zu verstehen ist, ergibt sich
mühelos daraus, dass Paulus zuerst <strong>de</strong>n sicheren Untergang mit <strong>de</strong>r Verblendung in<br />
Zusammenhang gebracht hat, nun aber Hoffnung macht auf eine Wie<strong>de</strong>rauferstehung<br />
[<strong>de</strong>s jüdischen Volkes] – was sich bei<strong>de</strong>s in keiner Weise vereinbaren ließe. Zu Fall<br />
gekommen <strong>und</strong> ins Ver<strong>de</strong>rben gestürzt sind <strong>als</strong>o <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sich hartnäckig an<br />
Christus gestoßen haben. Doch das Volk selbst ist nicht zugr<strong>und</strong>e gegangen, so dass<br />
<strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r ein Ju<strong>de</strong> ist, notwendig verloren o<strong>de</strong>r von Gott entfrem<strong>de</strong>t wäre.« (Parker,<br />
247 (ad Rom 11,11)).<br />
Diese bleiben<strong>de</strong> Erwählung <strong>de</strong>s Gesamtvolkes sah <strong>Calvin</strong> darin begrün<strong>de</strong>t, dass<br />
Gottes Gna<strong>de</strong> immer einen erwählten Rest im Volk übriglasse. Durch einige <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>,<br />
<strong>die</strong> fest an <strong>die</strong> Verheißung glaubten, bleibe <strong>die</strong> B<strong>und</strong>esgna<strong>de</strong> im jüdischen Volk<br />
erhalten. Für <strong>die</strong>se wenigen erwählten <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> wer<strong>de</strong> <strong>die</strong> Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s B<strong>und</strong>es allerdings<br />
nur wirksam, sofern sie sich zu Christus bekehrten, durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r B<strong>und</strong> erneuert <strong>und</strong><br />
bekräftigt wor<strong>de</strong>n sei. (Parker, 56f. (ad Rom 3,3); 215 (ad Rom 9,25)). Er wandte<br />
sich <strong>de</strong>shalb auch gegen Vorstellungen, dass im Heilsplan Gottes für das jüdische<br />
Volk noch eine beson<strong>de</strong>re Rettung vorgesehen sei. Die entsprechen<strong>de</strong>n Aussagen <strong>de</strong>s<br />
Paulus, <strong>die</strong> etwa von Capito <strong>und</strong> Bucer in <strong>die</strong>sem Sinne verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>utete<br />
er statt<strong>de</strong>ssen <strong>als</strong> eine Verheißung für <strong>die</strong> Kirche aus <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong> Hei<strong>de</strong>n: »Viele beziehen<br />
[Röm 11,26] auf das jüdische Volk, <strong>als</strong> wenn Paulus sagen wür<strong>de</strong>, dass <strong>die</strong><br />
Religion in <strong>die</strong>sem Volk noch einmal wie früher wie<strong>de</strong>rhergestellt wer<strong>de</strong>n müsse. Ich<br />
dagegen weite <strong>de</strong>n Begriff ›Israel‹ auf das gesamte Volk Gottes aus; <strong>und</strong> zwar in<br />
folgen<strong>de</strong>m Sinne: Wenn <strong>die</strong> Hei<strong>de</strong>n eingegangen sein wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n auch <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong><br />
von ihrer Abtrünnigkeit zum Gehorsam <strong>de</strong>s Glaubens zurückkehren. Und so<br />
wird das Heil <strong>de</strong>s ganzen Israel Gottes, das aus bei<strong>de</strong>n [Völkern] versammelt wer<strong>de</strong>n<br />
muss, vollen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Doch so, dass <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>als</strong> Erstgeborene <strong>de</strong>r Familie Gottes<br />
<strong>de</strong>n ersten Platz einnehmen.« (Parker, 256 (ad Rom 11,26).<br />
3. <strong>Calvin</strong>s Äußerungen über das zeitgenössische <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum<br />
Diese angeführten theologischen Überlegungen <strong>Calvin</strong>s orientieren sich am Römerbrief<br />
<strong>de</strong>s Paulus. Sie stammen überwiegend aus <strong>de</strong>r Straßburger Zeit (1538-1541)<br />
<strong>und</strong> haben sich in <strong>de</strong>n Folgejahren wenig verän<strong>de</strong>rt. Dies zeigt zum einen, dass <strong>Calvin</strong><br />
durch <strong>die</strong> Diskussionen im Straßburger Wirkungsraum angeregt wur<strong>de</strong>, auch<br />
selbst eine Verhältnisbestimmung zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum vorzunehmen. Zum an<strong>de</strong>ren zeigt<br />
es, dass <strong>die</strong> Straßburger Jahre seine theologische Sicht <strong>de</strong>s <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tums nachhaltig geprägt<br />
haben. Hinsichtlich seiner Auffassung zur Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> blieb <strong>Calvin</strong> jedoch<br />
zurückhaltend. Die wenigen Aussagen, in <strong>de</strong>nen er sich in <strong>de</strong>r Straßburger Zeit<br />
über das Verhältnis zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum äußerte, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie<br />
sich an biblischen Aussagen orientierten <strong>und</strong> vor einer Überheblichkeit <strong>de</strong>r Christen<br />
warnten. Verglichen mit <strong>de</strong>n gleichzeitigen Äußerungen Bucers zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>ratschlag<br />
wird jedoch <strong>de</strong>utlich, dass <strong>Calvin</strong> von <strong>de</strong>r antijüdischen Haltung Bucers weit entfernt<br />
blieb. Dies be<strong>de</strong>utet jedoch nicht, dass <strong>Calvin</strong> <strong>die</strong> antijüdischen Maßnahmen <strong>de</strong>s Ju-
<strong>de</strong>nratschlags ablehnte o<strong>de</strong>r gar wie Capito für eine Duldung <strong>de</strong>r <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> eintrat. Für<br />
ihn stan<strong>de</strong>n aber ein<strong>de</strong>utig nicht Zwangsmaßnahmen im Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong>, son<strong>de</strong>rn theologische<br />
Überlegungen. Dazu gehörte <strong>die</strong> Auffassung, dass Gott <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> mit Blindheit<br />
geschlagen habe <strong>und</strong> <strong>de</strong>shalb nur bei einzelnen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> Hoffnung auf eine Bekehrung<br />
bestehen wür<strong>de</strong>. Das größte Hin<strong>de</strong>rnis für <strong>die</strong>se Bekehrung sah <strong>Calvin</strong> in<br />
<strong>de</strong>r jüdischen Schriftauslegung, durch <strong>die</strong> das christologische Verständnis <strong>de</strong>s Alten<br />
Testaments unterdrückt wür<strong>de</strong> (vgl. z.B. CR 29 CO I, 817f).<br />
Die Frage <strong>de</strong>r jüdischen Schriftauslegung blieb für <strong>Calvin</strong> zeitlebens ein kritischer<br />
Punkt. Vor allem in späteren Jahren verschärfte sich <strong>de</strong>r Ton in <strong>Calvin</strong>s Äußerungen;<br />
<strong>die</strong>s gilt insbeson<strong>de</strong>re für seine Predigten <strong>und</strong> seine alttestamentlichen Kommentare<br />
(vgl. Potter Engel 1990, Lange van Ravenswaay 2005). Die einzig erhaltene Abhandlung<br />
<strong>Calvin</strong>s, in <strong>de</strong>r er sich explizit mit <strong>de</strong>m <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum auseinan<strong>de</strong>rgesetzt hat, trägt<br />
<strong>de</strong>n Titel »Ad quaestiones et obiecta Iudaei cuiusdam« (CR 37 CO IX, 657-674). Sie<br />
dürfte in <strong>de</strong>n letzten Lebensjahren <strong>Calvin</strong>s entstan<strong>de</strong>n sein. <strong>Calvin</strong> beschäftigte sich<br />
darin mit jüdischen Disputationsargumenten. Seine Absicht war es, seinen christlichen<br />
Lesern für eine Disputation mit <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>die</strong> nötigen Argumente zu liefern. Dabei<br />
zeigte er insgesamt wenig Verständnis für <strong>die</strong> jüdischen Einwän<strong>de</strong>. Er benutzte eine<br />
Fülle von abschätzigen Begriffen, um <strong>die</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong> ihre »stumpfsinnige Dummheit«<br />
zu benennen.<br />
4. Resümee<br />
Diese Hinweise mögen genügen, um <strong>Calvin</strong>s Verhältnis zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum zu charakterisieren.<br />
Es wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, dass <strong>Calvin</strong> sehr wohl Kontakte zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum gehabt<br />
hat <strong>und</strong> sich dadurch auch theologisch herausgefor<strong>de</strong>rt sah. Vor allem <strong>de</strong>n Erfahrungen<br />
<strong>de</strong>r Straßburger Zeit dürfte <strong>die</strong>sbezüglich eine Schlüsselrolle zukommen. In<br />
<strong>die</strong>ser Zeit übernahm <strong>Calvin</strong> nicht nur <strong>die</strong> ober<strong>de</strong>utsch-schweizerische B<strong>und</strong>estheologie,<br />
son<strong>de</strong>rn machte sich auch nachhaltig Gedanken über <strong>die</strong> Erwählung <strong>de</strong>s<br />
jüdischen Volkes. Hinsichtlich <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Duldung von <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> sind jedoch we<strong>de</strong>r<br />
aus <strong>die</strong>ser noch aus späterer Zeit ein<strong>de</strong>utige Äußerungen <strong>Calvin</strong>s erhalten. Einiges<br />
spricht jedoch dafür, dass er sich im Brief an Blaurer differenziert geäußert hat. Insgesamt<br />
aber gilt, dass vor allem <strong>de</strong>r späte <strong>Calvin</strong> <strong>de</strong>m <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum <strong>und</strong> seiner Schriftauslegung<br />
überaus ablehnend gegenüberstand. Dazu passt <strong>die</strong> anfangs zitierte Aussage<br />
im Danielkommentar von 1561, wo <strong>Calvin</strong> seine Begegnungen mit <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>de</strong>m <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum resümierte: »Oft habe ich mit vielen <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> gesprochen, niem<strong>als</strong> [aber]<br />
einen Tropfen Frömmigkeit, ein Körnchen Wahrheit o<strong>de</strong>r Geisteskraft [bei ihnen]<br />
wahrgenommen. Ja, ich habe sogar nichts an ges<strong>und</strong>em Menschenverstand jem<strong>als</strong><br />
bei irgen<strong>de</strong>inem <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> ent<strong>de</strong>ckt.«<br />
Literatur<br />
S. W. Baron, John <strong>Calvin</strong> and the Jews, in: Harry Austyn Wolfson Jubilee Volume on the occasion<br />
of his 75th birthday. Bd 1 English section, hrsg. v. L. W. Schwarz u.a., Jerusalem 1965, 141-163.
A. <strong>Detmers</strong>, Reformation <strong>und</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum. Israel-Lehren <strong>und</strong> Einstellungen zum <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum von Luther<br />
bis zum frühen <strong>Calvin</strong>, <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum <strong>und</strong> Christentum 7, Stuttgart u.a. 2001, 7-20.<br />
J. M. J. Lange van Ravenswaay, Die <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong> in <strong>Calvin</strong>s Predigten, in: A. <strong>Detmers</strong> <strong>und</strong> J. M. J. Lange<br />
van Ravenswaay (Hgg.), Reformierter Protestantismus <strong>und</strong> <strong>Ju<strong>de</strong>n</strong>tum im Europa <strong>de</strong>s 16. <strong>und</strong> 17.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts, Wuppertal 2005, 59-69.<br />
M. Sweetland Laver, <strong>Calvin</strong>, Jews, and intra-Christian Polemics (Diss. phil. Phila<strong>de</strong>lphia 1987),<br />
Ann Arbor: University Microfilms 1988.<br />
M. Potter Engel, <strong>Calvin</strong> and the Jews, a textual puzzle, in: PSB.SI 1 (1990), 106-123.<br />
A. J. Visser, Calvijn en <strong>de</strong> Jo<strong>de</strong>n, Miniaturen 2, Bijlage van het maandblad Kerk en Israel 17<br />
(1963), s’Gravenhage 1963.<br />
!!!! Abkürzung ›Parker‹ steht für: Iohannis <strong>Calvin</strong>i Commentarius in epistolam Pauli ad Romanos, hrsg. v.<br />
T.H.L.Parker, SHCT 22, Lei<strong>de</strong>n 1981.