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<strong>die</strong><br />

<strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<br />

<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Zur Freiheit<br />

hat uns Chri<br />

stus befreit//<br />

Steht also fe<br />

st und lasst<br />

euch nicht<br />

wie<strong>de</strong>r in das<br />

Joch <strong>de</strong>r Kne<br />

c h t s c h a f t<br />

einspannen//<br />

Galater 5, 1<br />

(Zürcher Bibelübersetzung)<br />

thema:<br />

Zur Freiheit befreit:<br />

Verheißungsvolle Kirche<br />

Dokumente <strong>de</strong>r 66. Hauptversammlung<br />

<strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s 2011<br />

u.a. mit<br />

<strong>de</strong>m Bericht <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong> rators<br />

(<strong>von</strong> Peter Bukowski),<br />

<strong>de</strong>n Impulsreferaten (<strong>von</strong> Matthias Freu<strong>de</strong>nberg,<br />

Michael Weinrich und Ilka Werner)<br />

und <strong>de</strong>r Predigt im Eröffnungsgottes<strong>die</strong>nst<br />

(<strong>von</strong> Jerry Pillay)<br />

1<br />

das <strong>reformiert</strong>e quartalsmagazin – herausgegeben im auftrag <strong>de</strong>s <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> bun<strong>de</strong>s – 13. jahrgang 2011, nr. 3 – september 2011


2 Inhalt <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Inhalt<br />

Editorial 3<br />

gelesen 4<br />

Kurzberichte <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Hauptversammlung 5 ff.<br />

Bericht <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>rators 9<br />

<strong>von</strong> Peter Bukowski<br />

Satzungsgemäß erstattete <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rator <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s, D. Peter Bukowski,<br />

seinen Bericht, <strong>de</strong>r in <strong>die</strong>sem Jahr seinen Schwerpunkt in <strong>de</strong>r <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Ökumene hatte:<br />

Die Generalversammlung <strong>de</strong>r Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen 2010 in Grand<br />

Rapids war Anlass und inhaltliche Kontur, um Perspektiven <strong>de</strong>r Reformierten auch in<br />

Deutschland zu beschreiben.<br />

Zur Freiheit befreit<br />

„Freiheit“ in drei Impulsen war Thema <strong>de</strong>r Hauptversammlung: in einem <strong>reformiert</strong>-reformatorischen<br />

Impuls, in einem systematisch-theologischen Impuls und in einem Impuls aus<br />

<strong>de</strong>m so genannten Reformprozess einer Lan<strong>de</strong>skirche:<br />

Reformierte Theologie als Freiheitstheologie 17<br />

<strong>von</strong> Matthias Freu<strong>de</strong>nberg<br />

Freiheit verbin<strong>de</strong>t 26<br />

<strong>von</strong> Michael Weinrich<br />

Von <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Kirche im Reformprozess 33<br />

<strong>von</strong> Ilka Werner<br />

angedacht: Die Befreiung in Christus 39<br />

Predigt über Galater 5<br />

<strong>von</strong> Jerry Pillay<br />

Impressum 44


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 editorial<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

En<strong>de</strong> September, Anfang Oktober<br />

fand in <strong>die</strong>sem Jahr <strong>die</strong><br />

66. Hauptversammlung <strong>de</strong>s<br />

Reformierten Bun<strong>de</strong>s statt, in<br />

Em<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Johannes a Lasco<br />

Bibliothek Große Kirche Em<strong>de</strong>n.<br />

Es wird Ihnen nicht verborgen<br />

geblieben sein, <strong>de</strong>nn<br />

<strong>die</strong> Vorbereitung war ja Thema<br />

<strong>de</strong>r letzten Ausgabe <strong>de</strong>s <strong><strong>reformiert</strong>en</strong><br />

quartalmagazins „<strong>die</strong><br />

<strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong>“. In <strong>die</strong>ser<br />

Ausgabe spiegelt sich nun,<br />

als eine Dokumentation <strong>de</strong>r Tagung,<br />

das, was in Em<strong>de</strong>n stattgefun<strong>de</strong>n<br />

hat: das „Vereinsleben“<br />

<strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s<br />

mit Bericht <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>rators z.B.,<br />

mit <strong>de</strong>n Wahlen, mit an<strong>de</strong>rem.<br />

Und <strong>die</strong> thematische Arbeit,<br />

mit drei Impulsen <strong>zum</strong> Thema<br />

Freiheit. Vor allem aber dann<br />

<strong>de</strong>r Bezug <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s auf <strong>die</strong><br />

Weltgemeinschaft Reformierter<br />

Kirchen. Der Bericht <strong>de</strong>s<br />

Mo<strong>de</strong>rators bezieht sich auf <strong>die</strong><br />

Entwicklung <strong>de</strong>r Reformierten<br />

Welt„familie“ und gewinnt aus<br />

<strong>de</strong>ren Arbeit Impulse für <strong>die</strong><br />

<strong>de</strong>r Reformierten in Deutschland.<br />

Und <strong>de</strong>r Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r<br />

Welt gemeinschaft, <strong>de</strong>r südafrikanische<br />

Theologe Dr. Jerry Pillay,<br />

predigte im Eröffnungsgottes<strong>die</strong>nst<br />

<strong>de</strong>r Hauptversammlung<br />

<strong>zum</strong> Thema: über Galater<br />

5 nämlich, über <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>r<br />

Christenmenschen, gegrün<strong>de</strong>t<br />

in Christus. Pillay war nicht <strong>de</strong>r<br />

einzige Gast aus <strong>de</strong>r Weltfamilie:<br />

Dr. Setri Nyomi, <strong>de</strong>r Generalsekretär,<br />

war ebenfalls Gast<br />

in Em<strong>de</strong>n. „Hoher“ Besuch also,<br />

wobei das mit <strong>de</strong>m „hoch“ bei<br />

<strong>de</strong>n Reformierten ja durchaus<br />

ein Problem ist, will schreiben:<br />

flache Hierarchien, um einen<br />

mo<strong>de</strong>rnen Begriff zu bemühen,<br />

sind ja eher das, was sie überzeugt.<br />

Überzeugt und überzeugend<br />

war <strong>die</strong> Präsenz aus <strong>de</strong>r<br />

Weltgemeinschaft allerdings<br />

durchaus. Da wur<strong>de</strong> <strong>die</strong> Einbindung<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Reformierten<br />

noch einmal <strong>de</strong>utlich. Da<br />

wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, wie wir mit all<br />

<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Reformierten uns<br />

verpflichtet sehen Gottes Bund<br />

<strong>de</strong>r Gerechtigkeit gegenüber.<br />

Also: Ein prallvolles Magazin,<br />

und ein Magazin, das fast wie<strong>de</strong>r<br />

exakt im Zeitrhytmus erscheint.<br />

Und ein Magazin, das<br />

hoffentlich Ihr Interesse fin<strong>de</strong>t.<br />

Das wünscht,<br />

verbun<strong>de</strong>n mit herzlichen Grüßen<br />

aus Hannover,<br />

Ihr<br />

Jörg Schmidt<br />

3


4 gelesen <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Dem Wort folgen<br />

Das Lukasevangelium und <strong>de</strong>r<br />

1. Korintherbrief in Predigten<br />

ausgelegt<br />

Die <strong>reformiert</strong>e Reformation<br />

begann mit <strong>de</strong>r Abschaffung<br />

<strong>de</strong>r Perikopenordnung und <strong>de</strong>r<br />

Einführung <strong>de</strong>r lectio continua,<br />

<strong>de</strong>r fortlaufen<strong>de</strong>n Auslegung <strong>von</strong><br />

biblischen Büchern in Predigten.<br />

So kann man vielleicht etwas überpointiert<br />

sagen. Aber als Zwingli<br />

am 2. Januar 1519 seine Tätigkeit<br />

in Zürich aufnahm, begann<br />

er seine Reihenpredigten <strong>zum</strong><br />

Matthäusevangelium und wen<strong>de</strong>t<br />

sich pointiert gegen <strong>die</strong> Perikopenordnung,<br />

<strong>die</strong> nach seiner Meinung<br />

<strong>die</strong> Bibel zerstückelt. Bullinger<br />

schließt sich an und in Genf geht<br />

Calvin erst in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit <strong>de</strong>m streitbaren<br />

Hamburger Westphal explizit auf<br />

<strong>die</strong> leectio continua ein, weil sie in<br />

Genf bereits üblicher Brauch war.<br />

Westphal hatte <strong>de</strong>n Vertretern <strong>de</strong>r<br />

fortlaufen<strong>de</strong>n Predigt <strong>de</strong>n Bruch<br />

mit <strong>de</strong>r Tradition vorgeworfen,<br />

Calvin weist Westphal nun darauf<br />

hin, dass <strong>die</strong> Entstehung <strong>de</strong>r Perikopenordnung<br />

bereits als Bruch<br />

mit <strong>de</strong>r ihr vorangehen<strong>de</strong>n lectio<br />

continua zu verstehen sei – das<br />

Kirchenjahr wer<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Perikopenordnung<br />

höher geachtet als <strong>die</strong><br />

doctrina evangelii.<br />

Die Pastoren in <strong>de</strong>n <strong><strong>reformiert</strong>en</strong><br />

Gemein<strong>de</strong>n haben sich auch in<br />

Deutschland an vielen Orten lange<br />

Zeit nicht <strong>de</strong>r Perikopenordnung<br />

verpflichtet gewusst, son<strong>de</strong>rn<br />

haben <strong>die</strong> Praxis <strong>de</strong>r Auslegung<br />

ganzer biblischer Bücher gepflegt<br />

– und manche Predigtbän<strong>de</strong> vom<br />

17. bis <strong>zum</strong> 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt sind<br />

ein <strong>de</strong>utlicher Beleg dafür. Im<br />

zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rt gibt es<br />

in vielen <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Gemein<strong>de</strong>n<br />

weiterhin <strong>die</strong>se Praxis, aber <strong>die</strong><br />

Belege wer<strong>de</strong>n seltener. Der frühe<br />

Barth hat in Safenwil verschie<strong>de</strong>ne<br />

biblische Bücher ausgelegt, vom<br />

berühmten Walter Lüthi existieren<br />

eine Menge Predigten, in <strong>de</strong>nen<br />

einzelne biblische Bücher fortlaufend<br />

ausgelegt wer<strong>de</strong>n. Die Reihe<br />

ließe sich fortsetzen, aber <strong>de</strong>utlich<br />

ist auch: Die lectio continua wird<br />

auch in <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Gemein<strong>de</strong>n<br />

nur <strong>von</strong> einer Min<strong>de</strong>rheit geübt.<br />

Dabei gab es in <strong>de</strong>n achtziger<br />

Jahren sogar einen Versuch seitens<br />

<strong>de</strong>r Göttinger Predigtmeditationen,<br />

hier Mut zu Predigtreihen zu machen<br />

– das Experiment wur<strong>de</strong> aber<br />

wohl mangels Interesse eingestellt.<br />

Deswegen mutet es fast etwas<br />

anachronistisch an, wenn ich hier<br />

auf drei Predigtbän<strong>de</strong> <strong>von</strong> Karl<br />

Müller hinweise. Anachronistisch<br />

auch <strong>de</strong>shalb, weil ich nicht selten<br />

in <strong>de</strong>n letzten Jahren bei Pastoren<br />

und Pastorinnen reines Unverständnis<br />

erlebt habe, als ich <strong>die</strong><br />

lectio continua ins Gespräch bringen<br />

wollte. Karl Müller je<strong>de</strong>nfalls<br />

ist treuer Verfechter <strong>de</strong>r fortlaufen<strong>de</strong>n<br />

Auslegung biblischer Bücher<br />

in Predigten – und <strong>die</strong> drei Bän<strong>de</strong><br />

sind dafür ein beredtes Zeugnis.<br />

In <strong>de</strong>n Jahren 1989 bis 1994 hat<br />

Müller in <strong>de</strong>n ev.-ref. Gemein<strong>de</strong>n<br />

in Gambach und Ober-Hörgern mit<br />

Unterbrechungen das Lukasevangelium<br />

gepredigt – in 135 Predigten.<br />

2010 hat er sie in zwei Bän<strong>de</strong>n<br />

unter <strong>de</strong>m Titel „Die Freu<strong>de</strong> zieht<br />

durchs Land“ herausgegeben – und<br />

<strong>de</strong>r Untertitel ist als Programm zu<br />

verstehen: „Das Lukasevangelium<br />

für <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong> ausgelegt“. Und<br />

<strong>de</strong>r 1. Korintherbrief wur<strong>de</strong> in 49<br />

Predigten 1976-1978 in Offenheim,<br />

Weinheim und Erbes-Bü<strong>de</strong>sheim<br />

ausgelegt und ebenfalls 2010<br />

herausgegeben unter <strong>de</strong>m Titel:<br />

„Gemein<strong>de</strong> Jesu Christi – Vorausabteilung<br />

<strong>de</strong>s Reiches“.<br />

Was kennzeichnet <strong>die</strong> Predigten<br />

Müllers? Zunächst einmal ist<br />

festzustellen, dass sie am biblischen<br />

Text erarbeitet wur<strong>de</strong>n. Man<br />

merkt <strong>de</strong>n Predigten an, dass sie<br />

im Gespräch mit an<strong>de</strong>ren Auslegungen<br />

entstan<strong>de</strong>n sind, wobei<br />

<strong>die</strong>se sowohl wissenschaftliche<br />

Kommentare, Predigtmeditationen<br />

und auch an<strong>de</strong>re Predigten sind.<br />

Es ist <strong>de</strong>shalb auch wohltuend<br />

<strong>de</strong>utlich, dass immer <strong>die</strong> Absicht<br />

leitend ist, eine in <strong>de</strong>n biblischen<br />

Schriften selbst gefun<strong>de</strong>ne Anfrage<br />

o<strong>de</strong>r Ermutigung aufzunehmen<br />

und weiterzusagen. Sodann ist zu<br />

sehen, dass Müller sich auf <strong>de</strong>m<br />

Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Hei<strong>de</strong>lberger Katechismus<br />

befin<strong>de</strong>nd versteht – auch er<br />

wird für Müller immer wie<strong>de</strong>r als<br />

Ausleger biblischer Texte herangezogen.<br />

Bei<strong>de</strong> Beobachtungen führen<br />

aber nicht dazu, <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong>,<br />

in <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Predigten gehalten<br />

wer<strong>de</strong>n, nur als Ort und nicht als<br />

Subjekt zu verstehen: Die Anre<strong>de</strong><br />

an <strong>die</strong> versammelte Gemein<strong>de</strong> ist<br />

in je<strong>de</strong>r Predigt <strong>de</strong>utlich. Es sind<br />

<strong>de</strong>shalb ansprechen<strong>de</strong> und einfach<br />

verständliche Predigten, <strong>die</strong> auch<br />

<strong>die</strong> sogenannten einfachen Leute<br />

verstehen können. Er nimmt <strong>die</strong><br />

Menschen mit auf einen Verstehensweg<br />

<strong>de</strong>s Evangeliums,<br />

das als Zuspruch und Anspruch<br />

je<strong>de</strong>n Menschen angeht. Immer<br />

wie<strong>de</strong>r <strong>die</strong>nen kleine Geschichten<br />

und Erlebnisse zur Illustration.<br />

Tagespolitische Aktualität ist <strong>de</strong>n<br />

Predigten, je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>n gedruckten,<br />

nur zuweilen zu entnehmen<br />

– sie verstehen sich nicht als ein<br />

Wort zur Lage son<strong>de</strong>rn eher zur<br />

Sache. Viele Predigten greifen<br />

eher grundsätzliche Fragestellungen<br />

und Probleme auf, sowohl<br />

gemeindliche wie individuelle.<br />

Das mag in <strong>de</strong>r gegenwärtigen<br />

homiletischen Großwetterlage als<br />

Makel empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Aber<br />

einmal sind gedruckte Predigten<br />

immer etwas an<strong>de</strong>res als gehörte,<br />

weil dort Anspielungen und<br />

Hinweise ganz an<strong>de</strong>rs Wirklichkeit<br />

aufnehmen können. Außer<strong>de</strong>m ist<br />

ein zeitlicher Abstand <strong>von</strong> mehr als<br />

zwanzig Jahren da und manches<br />

hören wir heute auch nicht mehr.<br />

weiter S. 43


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 berichtet 5<br />

Neu gewählte<br />

Mo<strong>de</strong>ramensmitglie<strong>de</strong>r<br />

feierlich eingeführt<br />

Antrag auf künftig mögliche Briefwahl<br />

wird beraten.<br />

Die Hauptversammlung Des Reformierten Bun<strong>de</strong>s<br />

wählte sechs Vorstandsmitglie<strong>de</strong>r neu,<br />

zwei da<strong>von</strong> waren schon im Vorstand und<br />

wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rgewählt.<br />

Für <strong>die</strong> sechs freien Plätze im Vorstand (Mo<strong>de</strong>ramen)<br />

<strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s stan<strong>de</strong>n<br />

zwölf Kandidatinnen und Kandidaten zur<br />

Wahl. Zwei bisherige Mo<strong>de</strong>ramensmitglie<strong>de</strong>r<br />

stellten sich erneut zur Wahl und wur<strong>de</strong>n<br />

auch in ihren Ämtern bestätigt. Die vier<br />

neu gewählten sind Judith Filitz aus Leipzig,<br />

Frauke Laaser aus Schüttorf, Claudia Ostarek<br />

aus Detmold und Dr. Michael Vothknecht aus<br />

Horn-Bad Meinberg. Wie<strong>de</strong>r gewählt wur<strong>de</strong>n<br />

Martina Wasserloos-Strunk aus Rheydt<br />

und Professor Dr. Georg Plasger aus Siegen.<br />

Die vier neu gewählten Mitglie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n<br />

im Rahmen eines Gottes<strong>die</strong>nstes <strong>zum</strong> En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Hauptversammlung feierlich in ihr Amt<br />

eingeführt.<br />

Judith Filitz stu<strong>die</strong>rt Theologie und steht<br />

kurz vor <strong>de</strong>m ersten Examen. Frauke Laaser<br />

ist Pastorin in <strong>de</strong>r Ev.-<strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Kirchengemein<strong>de</strong><br />

Schüttorf. Claudia Ostarek<br />

ist ebenfalls Pfarrerin und Superinten<strong>de</strong>ntin<br />

in <strong>de</strong>r Lippischen Lan<strong>de</strong>skirche. Michael<br />

Vothknecht ist Jurist und arbeitet in <strong>de</strong>r<br />

Versicherungswirtschaft. Auf <strong>de</strong>n 178 abgegebenen<br />

Stimmzetteln summierten sich <strong>die</strong><br />

meisten Stimmen für Georg Plasger (148)<br />

und Martina Wasserloos-Strunk (130). Es<br />

folgten Michael Vothknecht (114) und Judith<br />

Filitz (113). Claudia Ostarek (86) und Frauke<br />

Laaser (67) lagen nur noch knapp vor<br />

<strong>de</strong>n Kandidaten, <strong>die</strong> nicht gewählt wur<strong>de</strong>n:<br />

Wolfgang Froben aus Braunschweig, Holger<br />

Postma aus Schie<strong>de</strong>r-Schwalenberg, Reiner<br />

Rohloff aus Emlichheim, Bernd Roters aus<br />

Veldhausen, Dorothee Zabel-Dangendorf<br />

aus Siegen und Ingolf Helm aus Göttingen.<br />

Der Mo<strong>de</strong>rator, Peter Bukowski dankte <strong>de</strong>n<br />

Kandidaten für ihre Bereitschaft, sich für<br />

<strong>de</strong>n Bund zur Verfügung zu stellen.<br />

Alle vier Jahre wählen <strong>die</strong> Delegierten <strong>de</strong>r<br />

Kirchen und Gemein<strong>de</strong>n und <strong>die</strong> Einzelmitglie<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s einen Teil<br />

ihres Vorstands, das sich Mo<strong>de</strong>ramen nennt,<br />

neu. Neben <strong>de</strong>n „gesetzten“ <strong>von</strong> <strong>de</strong>n beteiligten<br />

Kirchen entsandten Vorstandsmitglie<strong>de</strong>rn,<br />

wer<strong>de</strong>n zwölf aus <strong>de</strong>r Mitgliedschaft gewählt.<br />

Einführung <strong>de</strong>r neuen Mo<strong>de</strong>ramensmitglie<strong>de</strong>r. V.l.: Judith<br />

Filitz, Frauke Laaser, Claudia Ostarek, Dr. Michael Vothknecht,<br />

eingeführt <strong>von</strong> D. Peter Bukowski, Karin Kürten und Rafael<br />

Niko<strong>de</strong>mus


6 berichtet <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Neues Wahlverfahren ab 2015?<br />

Unter <strong>de</strong>n Initiativanträgen aus <strong>de</strong>r Hauptversammlung<br />

wur<strong>de</strong> am Samstag Vormittag<br />

unter an<strong>de</strong>rem darüber beraten, ob künftig<br />

bei <strong>de</strong>n Wahlen <strong>zum</strong> Mo<strong>de</strong>ramen nicht auch<br />

<strong>die</strong> Briefwahl zugelassen wer<strong>de</strong>n sollte. Das<br />

Mo<strong>de</strong>ramen bekam <strong>de</strong>n Auftrag, <strong>die</strong>sen Vorschlag<br />

vereinsrechtlich zu prüfen und über<br />

ein mögliches Verfahren zu beraten.<br />

Georg Rieger<br />

Preise für hervorragen<strong>de</strong><br />

Calvin-Stu<strong>die</strong>n<br />

Der Calvin-Preis wur<strong>de</strong> <strong>die</strong>ses Jahr an<br />

Daniel Kunz und Magnus Löfflmann<br />

vergeben<br />

Die HervorragenDen seminararbeiten han<strong>de</strong>ln<br />

vom Verständnis <strong>von</strong> Gesetz und guten Werken<br />

im Hei<strong>de</strong>lberger Katechismus und vom<br />

Verhältnis <strong>von</strong> Calvin und Castellio. Die<br />

Preisverleihung fand im Rahmen <strong>de</strong>r Hauptversammlung<br />

<strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s statt.<br />

Der Reformierte Bund hat für 2011 <strong>de</strong>n Johannes-Calvin-Preis<br />

ausgeschrieben und<br />

wird <strong>die</strong>s künftig alle zwei Jahre tun. Herausragen<strong>de</strong><br />

theologische Stu<strong>die</strong>narbeiten<br />

(Seminar- und Examensarbeiten) sollen ausgezeichnet<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> sich mit wichtigen<br />

Themen <strong>reformiert</strong>er Theologie beschäftigt<br />

haben. Bedingung ist, dass <strong>die</strong> Arbeiten an<br />

<strong>de</strong>n jeweiligen Universitäten o<strong>de</strong>r Hochschulen<br />

mit gut o<strong>de</strong>r sehr gut bewertet wor<strong>de</strong>n<br />

sind.<br />

2011 wur<strong>de</strong>n fünf Arbeiten eingereicht. „Das<br />

mag als Zahl gering erscheinen, jedoch zeigt<br />

sich als Ergebnis, dass wirklich alle eingereichten<br />

Arbeiten <strong>de</strong>utlich als überdurchschnittlich<br />

zu bewerten sind“, sagte <strong>de</strong>r<br />

Mo<strong>de</strong>rator <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s bei <strong>de</strong>r<br />

Verleihung im Rahmen <strong>de</strong>r Hauptversammlung<br />

in Em<strong>de</strong>n. „Wir waren <strong>de</strong>shalb in <strong>de</strong>r<br />

glücklichen Lage, unter wirklich guten Leistungen<br />

eine Auswahl treffen zu können.“<br />

Nach intensivem Abwägen seien <strong>die</strong> vom<br />

Mo<strong>de</strong>ramen beauftragten Gutachter, <strong>die</strong><br />

Professoren Michael Weinrich und Georg<br />

Plasger, einmütig zu <strong>de</strong>m Entschluss gekommen,<br />

einen ersten Preis, dotiert mit 1000<br />

Euro, und einen zweiten Preis, dotiert mit<br />

500 Euro, zu verleihen.<br />

Den ersten Preis bekam Herr Daniel Kunz für<br />

seine bei Herrn Prof. Dr. Johannes Ehmann<br />

(Hei<strong>de</strong>lberg), verfasste Arbeit mit <strong>de</strong>m Thema:<br />

„Gesetz und gute Werke im Hei<strong>de</strong>lberger<br />

Katechismus. Ein Versuch zu ihrer Einord-<br />

Die Preisträger: Daniel Kunz und Magnus Löfflmann


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 berichtet 7<br />

nung zwischen Luthertum, Philippismus und<br />

Calvinismus“.<br />

In <strong>de</strong>r Laudatio heißt es: „Es han<strong>de</strong>lt sich um<br />

einen anspruchsvollen systematischen Vergleich<br />

zwischen verschie<strong>de</strong>nen reformatorischen<br />

Mo<strong>de</strong>llen <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Gesetzes<br />

für <strong>die</strong> vom gerechtfertigten Sün<strong>de</strong>r<br />

zu vollbringen<strong>de</strong>n gute Werke. Die äußerst<br />

differenziert vorgetragene und dogmengeschichtlich<br />

überaus pointierte Analyse <strong>de</strong>r<br />

verschie<strong>de</strong>nen Konzepte ist sehr zielstrebig<br />

und zugleich stets <strong>de</strong>utlich ausgewiesen. Dabei<br />

gelingt es Herrn Kunz, eine sehr dichte<br />

und in <strong>die</strong> Tiefe gehen<strong>de</strong> Interpretation einzelner<br />

Fragen <strong>de</strong>s Hei<strong>de</strong>lberger Katechismus<br />

vorzunehmen – und so systematisch-theologische<br />

und dogmengeschichtliche Analysen<br />

miteinan<strong>de</strong>r ins Gespräch zu bringen. Manche<br />

Differenzen rücken in überraschen<strong>de</strong>r<br />

Weise nahe aneinan<strong>de</strong>r; Differenzen wer<strong>de</strong>n<br />

dabei nicht eingeebnet.“ Ein Gutachter<br />

schrieb zu<strong>de</strong>m: „Eine solche differenzierte<br />

Analyse <strong>de</strong>s Hei<strong>de</strong>lberger Katechismus (auch<br />

mit Aufnahme <strong>de</strong>r Diskussion um <strong>de</strong>n syllogismus<br />

practicus) habe ich lange nicht gelesen.“<br />

Der Empfänger <strong>de</strong>s zweiten Preises, Magnus<br />

Löfflmann hat eine bei Prof. Dr. Berndt<br />

Hamm in Erlangen geschriebene Arbeit mit<br />

<strong>de</strong>m Titel: „Compescat te Deus, Satan! - Calvin<br />

und Castellio 1540-1544“ eingereicht.<br />

Die Bewertung: „Die Arbeit untersucht das<br />

nicht unproblematische Verhältnis <strong>von</strong> Castellio<br />

und Calvin – und erschließt dabei<br />

bisher nicht beachtete Quellen und stößt<br />

in Neuland vor. Sie ist sehr eigenständig<br />

formuliert, wägt <strong>die</strong> Quellen produktiv ab<br />

und führt so eine Art „Indizienbeweis“ und<br />

kommt zu einer eigenständigen These. Die<br />

Arbeit ist durchaus mitreißend geschrieben,<br />

auch wenn <strong>die</strong> offenkundig schon früh wirksamen<br />

Vorbehalte Calvins gegenüber Castellio<br />

ein wenig in <strong>de</strong>r Schwebe bleiben sowohl<br />

im Blick auf <strong>die</strong> Achtung seiner Gelehrsamkeit<br />

als auch im Blick auf <strong>de</strong>n pastoralen<br />

Dienst. Zu <strong>de</strong>m methodischen Verfahren bei<br />

einer solchen Arbeit gehört auch dazu, sich<br />

etwas psychologisierend in <strong>die</strong> bei<strong>de</strong>n Kontrahenten<br />

– als solche müssen wir sie zunehmend<br />

wahrnehmen – hineinzu<strong>de</strong>nken. Für<br />

eine Seminararbeit sehr beachtlich bringt sie<br />

durchaus neues Licht in <strong>die</strong> Forschung – und<br />

zeigt bei bei<strong>de</strong>n, Castellio wie Calvin, durchaus<br />

neue Facetten.“<br />

Die bei<strong>de</strong>n Preisträger wur<strong>de</strong>n <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Hauptversammlung mit lang anhalten<strong>de</strong>m<br />

Applaus bedacht und konnten sich über<br />

zahlreiche Glückwünsche freuen. Die bei<strong>de</strong>n<br />

Arbeiten stehen unter www.<strong>reformiert</strong>-<strong>info</strong>.<br />

<strong>de</strong> als <strong>PDF</strong>-Dateien <strong>zum</strong> Download bereit.<br />

Georg Rieger<br />

Denken und Han<strong>de</strong>ln für<br />

Gerechtigkeit<br />

Buchpräsentation <strong>von</strong> Martina Wasserloos-Strunk<br />

menscHen aus verscHieDenen europäischen Gebieten<br />

habe sie gebeten aufzuschreiben, welche<br />

theologischen Fragen sie bewegen, und<br />

wie sie als <strong>reformiert</strong>e Christen für Gerechtigkeit<br />

arbeiten, beschreibt Martina Wasserloos-Strunk<br />

<strong>de</strong>n Anfang eines Buches. Den<br />

Sammelband „Denken und Han<strong>de</strong>ln für Gerechtigkeit“,<br />

<strong>die</strong> gera<strong>de</strong> erschienene <strong>de</strong>utsche<br />

Übersetzung und aktualisierte Auflage <strong>de</strong>s<br />

Ban<strong>de</strong>s „Europe Covenanting for Justice“,<br />

hat <strong>die</strong> Herausgeberin Wasserloos-Strunk<br />

<strong>de</strong>r Hauptversammlung <strong>de</strong>s Reformierten<br />

Bun<strong>de</strong>s am 1. Oktober in Em<strong>de</strong>n präsentiert.<br />

Im Zuge <strong>de</strong>s in Accra 2004 benannten und<br />

bekannten Bun<strong>de</strong>s für wirtschaftliche und<br />

ökologische Gerechtigkeit machten sich Reformierte<br />

auf <strong>de</strong>n Weg „<strong>die</strong> Strukturen <strong>de</strong>r<br />

globalisierten Welt“ gerechter zu gestalten,<br />

„auf dass alle das Leben in Fülle haben!“<br />

(Joh 10,10). Aus <strong>de</strong>m Prozess <strong>de</strong>s „Covenanting<br />

for Justice“ in Europa trug Martina<br />

Wasserloos-Strunk in Zusammenarbeit mit<br />

Martin Engels eine Fülle an Beiträgen aus<br />

Theorie und Praxis zusammen. Als Beispiele<br />

seien genannt:<br />

– Theoretische Reflektionen rund um <strong>de</strong>n<br />

Gottes<strong>die</strong>nst - zur Homiletik (Peter Bukowski)<br />

und zur Liturgie <strong>de</strong>s Abendmahls (Lindsay<br />

Schluter), ergänzt durch Material für<br />

Kin<strong>de</strong>rgottes<strong>die</strong>nst und Jugendkreis aus <strong>de</strong>n<br />

Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n,<br />

– Gedanken zur Theologie <strong>de</strong>r Hoffnung in<br />

Zeiten <strong>de</strong>r Globalisierung (Jacobus Maarten<br />

van´t Kruis),<br />

– Überlegungen zu <strong>de</strong>n Prinzipien globaler<br />

Klima- und Steuergerechtigkeit (Christoph<br />

Stückelberger), vereint mit Berichten <strong>von</strong><br />

Projekten, <strong>die</strong> Zeugnis geben für „ermutigen<strong>de</strong><br />

Taten <strong>de</strong>r Gerechtigkeit“ (Bukowski),<br />

wie das Globalisierungsprojekt <strong>de</strong>r Uniting<br />

Reformed Church in Southern Africa und <strong>de</strong>r<br />

Evangelisch-<strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Kirche in Deutschland,<br />

das Projekt <strong>von</strong> EKD und <strong>de</strong>r Evangelischen<br />

Kirche <strong>de</strong>r Böhmischen Brü<strong>de</strong>r gegen<br />

Menschenhan<strong>de</strong>l, sexuelle Ausbeutung


8 berichtet <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

<strong>von</strong> Frauen und Missbrauch <strong>von</strong> Kin<strong>de</strong>rn in<br />

<strong>de</strong>r Deutsch-Tschechischen Grenzregion, <strong>de</strong>r<br />

Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Wal<strong>de</strong>nser Kirche gegen <strong>die</strong><br />

Abschiebung Asylsuchen<strong>de</strong>r und das Projekt<br />

gegen Kin<strong>de</strong>rarmut <strong>de</strong>r Evangelischen Kirche<br />

<strong>von</strong> Westfalen.<br />

Imperium - <strong>die</strong> Macht „herrenloser Gewalten“<br />

Heftig umstritten war unter Reformierten <strong>de</strong>r<br />

Begriff <strong>de</strong>s Imperiums in <strong>de</strong>r Erklärung <strong>von</strong><br />

Accra. Im Dialog <strong>de</strong>r Kirchen miteinan<strong>de</strong>r<br />

wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Begriff weiter entwickelt. Aus<br />

<strong>de</strong>r Bennennung „einer bestimmten Region<br />

- etwa Europa und Nordamerika“ in <strong>de</strong>r<br />

Erklärung <strong>von</strong> Accra wur<strong>de</strong> „Imperium“ zur<br />

Bezeichnung einer „Zusammenballung wirtschaftlicher,<br />

kultureller, politischer und militärischer<br />

Macht“ als „Geist und Wirklichkeit<br />

einer ‚herrenlosen Gewalt‘, <strong>von</strong> Menschenhand<br />

geschaffen“, wie <strong>die</strong> Uniting Reformed<br />

Church in Southern Africa und <strong>die</strong> Evangelisch-<strong>reformiert</strong>e<br />

Kirche in Deutschland gemeinsam<br />

erklären. Wer nachlesen möchte,<br />

wie es zu <strong>die</strong>sem Prozess kam, fin<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>m<br />

Sammelband mehrere Texte rund um das<br />

„Imperium“.<br />

Im Vorwort beschreibt Bischof Gustáv Bölcski<br />

das „Imperium“ mit <strong>de</strong>n Worten eines<br />

Ministers in Ungarn: „Wenn es ein Imperium<br />

gibt, ist es im Grun<strong>de</strong> genommen in<br />

<strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Bürgerinnen und Bürger <strong>de</strong>r<br />

entwickelten und reichen Län<strong>de</strong>r zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Tausen<strong>de</strong> <strong>von</strong> Zöllnern <strong>de</strong>s Konsum<strong>de</strong>nkens<br />

können nur <strong>de</strong>shalb erfolgreich sein, weil<br />

es Millionen jener gibt, <strong>die</strong> vom Konsum<br />

abhängig sind.“ In <strong>die</strong>sem Sinne habe <strong>die</strong><br />

Reformierte Kirche in Ungarn „<strong>de</strong>n neoliberalen<br />

Kapitalismus als solch eine Struktursün<strong>de</strong>“<br />

erkannt und auch <strong>die</strong> eigene Sün<strong>de</strong><br />

bekannt, „Teil <strong>de</strong>r Konsumkultur zu sein“.<br />

Der Band „Denken und Han<strong>de</strong>ln für Gerechtigkeit“<br />

will daran erinnern – „Es soll keine<br />

ungerechte Gemeinschaft in Christus geben!“<br />

– und zeigt, was Menschen ihrerseits<br />

für ein Leben in mehr Gerechtigkeit tun.<br />

Ich bin gekommen, dass sie alle das Leben<br />

in Fülle haben (Joh 10,10). Denken und<br />

Han<strong>de</strong>ln für Gerechtigkeit, hrsg. <strong>von</strong> Martina<br />

Wasserloos-Strunk in Zusammenarbeit<br />

mit Martin Engels, im Auftrag <strong>de</strong>r Weltgemeinschaft<br />

Reformierter Kirchen in Europa<br />

foedus-verlag Hannover 2011<br />

ISBN 3-938180-24-2<br />

Das Buch kostet 9,95 Euro und kann über<br />

<strong>die</strong> Geschäftstselle <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s<br />

bestellt wer<strong>de</strong>n:<br />

Reformierter Bund in Deutschland<br />

Knochenhauerstr. 42<br />

D-30159 Hannover<br />

<strong>info</strong>@<strong>reformiert</strong>er-bund.<strong>de</strong><br />

Bei <strong>de</strong>r Buchpräsentation: Martina Wasserloos-Strunk


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 9<br />

Bericht <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>rators<br />

Zur Hauptversammlung <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s, 29.09.–1.10. 2011 in Em<strong>de</strong>n<br />

<strong>von</strong> Peter Bukowski<br />

I.<br />

Kirche, <strong>die</strong> sich in <strong>de</strong>m gegrün<strong>de</strong>t weiss, <strong>de</strong>ssen Evangelium frei macht, ist verheißungsvolle<br />

Kirche. Sie ist auf weiten Raum gestellt und blickt auf einen hoffnungsvollen Horizont.<br />

Das ist wahr.<br />

Zugleich erfahren wir in unserem kirchlichen und gemeindlichen Alltag, dass <strong>die</strong>se Wahrheit<br />

angefochtene Wahrheit ist. Sie erscheint uns ver<strong>de</strong>ckt unter allerlei Zwängen, <strong>die</strong><br />

unsere Aufmerksamkeit in <strong>de</strong>n Bann ziehen. Eingebun<strong>de</strong>n sind wir in Überlegungen, wie<br />

es weiter gehen kann, wenn so vieles weniger wird: <strong>die</strong> Zahl <strong>de</strong>r Menschen, <strong>die</strong> sich zur<br />

Kirche halten, und <strong>die</strong> materiellen Mittel, <strong>die</strong> es braucht, um unseren Auftrag zu erfüllen.<br />

Wenn Umbrüche und Abbrüche zu verzeichnen sind. Wenn unsere besten Kräfte gebun<strong>de</strong>n,<br />

manchmal auch verbraucht wer<strong>de</strong>n im alltäglichen Mühen um notwendig gewor<strong>de</strong>ne institutionelle<br />

und organisatorische Umgestaltungen.<br />

Kirche, <strong>die</strong> sich in <strong>de</strong>m gegrün<strong>de</strong>t weiß, <strong>de</strong>ssen Evangelium frei macht,<br />

ist verheißungsvolle Kirche. Sie ist auf weiten Raum gestellt und blickt auf einen<br />

hoffnungsvollen Horizont. Das ist wahr.<br />

Bedrohlich wird es, wenn sich uns <strong>de</strong>r Blick auf unsere Visionen verstellt, weil dann <strong>de</strong>r<br />

Elan erlahmt und wir uns ein ums an<strong>de</strong>re Mal dabei ertappen, wie wir im Begriff sind Nachlass<br />

zu verwalten.<br />

Wie gesagt: Es soll und muss nicht so sein. Zu keiner Zeit. Auch heute nicht. Denn heute wie<br />

zu allen Zeiten ist je<strong>de</strong> Kirche volle Kirche. Auch je<strong>de</strong>r Gottes<strong>die</strong>nst ist voll. Prallvoll. Bis in<br />

<strong>de</strong>n letzten Winkel angefüllt mit <strong>de</strong>n Verheißungen <strong>de</strong>s lebendigen Auferstan<strong>de</strong>nen, <strong>de</strong>r<br />

<strong>die</strong> Seinen mit seinem „Ich bin bei Euch alle Tage bis an <strong>de</strong>r Welt En<strong>de</strong>“ an <strong>die</strong> Hand nimmt,<br />

ihnen Orientierung bietet, ihnen Weg und Ziel weist. Aber glaub das mal, und vor allem<br />

lebe daraus, wenn <strong>die</strong>se wun<strong>de</strong>rbare Fülle am Sonntagmorgen einer Hand voll älterer Menschen<br />

und zwei sichtlich gelangweilt dreinblicken<strong>de</strong>n Konfirman<strong>de</strong>n zuteil wird – wobei<br />

es letzteren vor allem darum geht, ihr Pensum <strong>de</strong>r abzuleisten<strong>de</strong>n Gottes<strong>die</strong>nstbesuche<br />

voll zu kriegen. Ja, ja, man kennt das Wort <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Zwei o<strong>de</strong>r Drei, in <strong>de</strong>ren Mitte Jesus<br />

gegenwärtig ist. Und gottlob hat man <strong>de</strong>ssen Wahrheit auch schon erfahren, etwa wenn ein<br />

seelsorgerliches Gespräch eine heilsame Wendung nahm. Aber wenn <strong>die</strong> Zwei o<strong>de</strong>r Drei<br />

– und lass es auch ein Dutzend sein – in einer Kirche sitzen, <strong>de</strong>ren weitere zwei- o<strong>de</strong>r dreihun<strong>de</strong>rt<br />

Plätze unbesetzt geblieben sind, und wenn das gar <strong>de</strong>r Normalfall ist, dann ist mir<br />

das je<strong>de</strong>nfalls eine Anfechtung. Dann wünsch ich mir schon sehr, ein klein wenig mehr „im<br />

Schauen“ zu leben und nicht so ganz auf <strong>de</strong>n Glauben wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Augenschein verwiesen zu<br />

sein. Wir sollten <strong>die</strong> Gefahr nicht unterschätzen, <strong>die</strong> darin liegt, sich abzufin<strong>de</strong>n und nichts<br />

mehr zu erwarten, weil sich das wie eine selbst erfüllen<strong>de</strong> Prophezeiung auswirkt und <strong>die</strong><br />

Misere nur immer mehr verstärkt.<br />

Deshalb ist es nicht nur nicht verboten, es ist sogar lebensnotwendig, auf<strong>zum</strong>erken auf<br />

sichtbare Zeichen <strong>de</strong>r Hoffnung. Denn wir sind gottlob auch gesegnet mit einer Fülle ermutigen<strong>de</strong>r<br />

Gegenerfahrungen zur beschriebenen Tristesse.<br />

II.<br />

Von herausragen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung war im Berichtszeitraum <strong>die</strong> vereinigen<strong>de</strong> Generalversammlung<br />

<strong>de</strong>r Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) im Juni 2010 in Grand Rapids<br />

. Sie wird mir als das gelungenste und ermutigendste ökumenische Großereignis in<br />

Erinnerung bleiben, das ich in meiner bisherigen Amtszeit als Mo<strong>de</strong>rator <strong>de</strong>s Reformierten<br />

Bun<strong>de</strong>s miterlebt habe. Wenn ich es auf <strong>die</strong>ser Hauptversammlung <strong>zum</strong> Schwerpunkt mei-


10 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

nes Berichtes mache, dann aber auch <strong>de</strong>shalb, weil wir m.E. gut beraten sind, unsere Arbeit<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r neu formierten Weltgemeinschaft befragen und inspirieren zu lassen.<br />

In Grand Rapids trafen sich Delegierte aus 230 Mitgliedskirchen weltweit, sie repräsentierten<br />

mehr als 80 Millionen Gemein<strong>de</strong>glie<strong>de</strong>r <strong>reformiert</strong>er (und unierter) Prägung. Ich nenne<br />

<strong>die</strong>se Zahl, damit uns, <strong>die</strong> wir in Deutschland eine Min<strong>de</strong>rheit sind, nicht aus <strong>de</strong>m Blick<br />

gerät, dass wir im ökumenischen Maßstab betrachtet zu einer konfessionellen Großfamilie<br />

gehören. Das darf uns freuen, da<strong>von</strong> sollen wir auch zehren – manches Kleinheitsgefühl hat<br />

auch etwas <strong>von</strong> ökumenischem Provinzialismus.<br />

Das Leitwort aus Epheser 4 „Einigkeit im Geist durch das Band <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns“ war Programm,<br />

<strong>de</strong>nn auf <strong>die</strong>ser Generalversammlung konstituierte sich <strong>die</strong> neue WGRK, <strong>die</strong> aus <strong>de</strong>r Vereinigung<br />

<strong>de</strong>s ehemaligen RWB und <strong>de</strong>s REC (Reformed Ecumenical Council) hervorgegangen<br />

ist. Diese Vereinigung ist als ökumenisches Ereignis nicht hoch genug einzuschätzen. Denn<br />

<strong>de</strong>r REC (gegrün<strong>de</strong>t 1946) verstand sich <strong>von</strong> seiner Entstehungsgeschichte her als so etwas<br />

wie <strong>die</strong> <strong>reformiert</strong>e Alternative zu <strong>de</strong>m als allzu liberal und politisch-einseitig empfun<strong>de</strong>nen<br />

ÖRK. Die Abgrenzung auch vom RWB schien lange notwendig; es gab Ressentiments<br />

auf bei<strong>de</strong>n Seiten, aber sie sind längst überwun<strong>de</strong>n. Und was <strong>de</strong>r ehemalige REC einzubringen<br />

hat tut <strong>de</strong>r Gemeinschaft als Ganzer und damit auch uns im Reformierten Bund gut:<br />

Das Ernstnehmen <strong>de</strong>r bleibend orientieren<strong>de</strong>n Kraft <strong>de</strong>s <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Bekenntnisses (und<br />

<strong>de</strong>r Bekenntnisschriften!), eine spürbare Lei<strong>de</strong>nschaft für <strong>reformiert</strong>e Theologie sowie ein<br />

Interesse am missionarischen Aufbruch <strong>de</strong>r Kirche, <strong>de</strong>r seine Kraft aus einer ausgeprägten<br />

<strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Spiritualität schöpft – nicht <strong>von</strong> ungefähr war mehr als ein Fünftel <strong>de</strong>r gesamten<br />

Tagungszeit ausgefüllt mit <strong>de</strong>n unterschiedlichen Formen gemeinsamen geistlichen Lebens.<br />

Und wie gleich auszuführen sein wird: Die geistliche Konzentration be<strong>de</strong>utet keineswegs<br />

<strong>de</strong>n Rückzug aus <strong>de</strong>n ethischen Herausfor<strong>de</strong>rungen, vor <strong>de</strong>nen <strong>die</strong> Christenheit heute<br />

steht, vielmehr ist sie <strong>de</strong>ren beleben<strong>de</strong> und inspirieren<strong>de</strong> Quelle.<br />

Die geistliche Konzentration be<strong>de</strong>utet keineswegs <strong>de</strong>n Rückzug aus <strong>de</strong>n ethischen<br />

Herausfor<strong>de</strong>rungen, vor <strong>de</strong>nen <strong>die</strong> Christenheit heute steht, vielmehr ist sie <strong>de</strong>ren<br />

beleben<strong>de</strong> und inspirieren<strong>de</strong> Quelle.<br />

Programm war das Leitwort auch insofern, als <strong>die</strong> Weltgemeinschaft sich in ihrer neuen<br />

Grundordnung auf einem ekklesiologisch verbindlichen und bin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Status festlegt, <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n eher vagen Charakter einer „Alliance“ hinter sich gelassen hat. Dass <strong>de</strong>r RWB ekklesiologisch<br />

in <strong>de</strong>r Vergangenheit hinter <strong>de</strong>m, was seit „Leuenberg“ zwischen Reformierten<br />

und Lutheranern gilt, zurückblieb, hat mich immer geschmerzt. Jetzt aber heißt es in <strong>de</strong>r<br />

Grundordnung:<br />

Im Anschluss an das Erbe <strong>de</strong>r <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Bekenntnisse, als eine Gabe zur Erneuerung <strong>de</strong>r ganzen<br />

Kirche, ist <strong>die</strong> Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen eine Gemeinschaft (communion) <strong>von</strong> Kirchen,<br />

in<strong>de</strong>m sie ... <strong>die</strong> Gaben <strong>de</strong>r Einheit in Christus durch <strong>die</strong> gegenseitige Anerkennung <strong>de</strong>r Taufe, Mitgliedschaft,<br />

Kanzel- und Altargemeinschaft, <strong>de</strong>s geistlichen Amtes und <strong>de</strong>s Zeugnisses bekennt (Art. III).<br />

Dieses im Sinne <strong>von</strong> CA VII (satis est) theologisch gefüllte Verständnis <strong>von</strong> Gemeinschaft<br />

ist <strong>zum</strong> einen für das „Innenleben“ <strong>de</strong>r Gemeinschaft <strong>von</strong> hohem Belang, <strong>de</strong>nn es begrün<strong>de</strong>t<br />

<strong>die</strong> „Verpflichtung zur Partnerschaft in Gottes Mission ..., im gottes<strong>die</strong>nstlichen Leben,<br />

durch ... Zeugnis, diakonische Dienste und <strong>de</strong>n Einsatz für Gerechtigkeit, um so Mission in<br />

Einheit, missionarische Erneuerung und Befähigung zu missionarischem Han<strong>de</strong>ln zu för<strong>de</strong>rn.“<br />

(Art. III, D in <strong>de</strong>r etwas holprigen <strong>de</strong>utschen Übersetzung; weitere Konkretisierungen<br />

fin<strong>de</strong>n sich in Art. IV: „Werte“ und Art. V: „Ziele“). In <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Leuenberger Konkor<strong>die</strong>:<br />

Die untereinan<strong>de</strong>r erklärte Gemeinschaft soll in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Dimensionen<br />

<strong>de</strong>s kirchlichen Auftrags auch gemeinsam verwirklicht wer<strong>de</strong>n.<br />

Dazu kommt: Die Reformierte Weltgemeinschaft ist als Communio auch im Blick auf das<br />

ökumenische Miteinan<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren Konfessionen in ihrem ekklesiologischen Charakter<br />

klarer erkennbar und i<strong>de</strong>ntifizierbar als zuvor. Der in Grand Rapids vollzogene Wan<strong>de</strong>l ist<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>n ökumenischen Partnern in seiner Be<strong>de</strong>utung für <strong>die</strong> gesamte ökumenische Bewegung<br />

wahrgenommen und gewürdigt wor<strong>de</strong>n.<br />

Was in <strong>de</strong>n eben zitierten Passagen aus <strong>de</strong>r Grundordnung programmatisch festgehalten<br />

wird, hat <strong>die</strong> Generalversammlung in ihren Verhandlungen und Beschlüssen umzusetzen<br />

versucht. Und auch dabei blieb das biblische Leitwort wegweisend: Einigkeit im Geist erwies<br />

sich vor allem darin, dass immer wie<strong>de</strong>r betont wur<strong>de</strong>: Gemeinschaft und Gerechtigkeit<br />

gehören zusammen wie <strong>die</strong> zwei Seiten einer Medaille: Gemeinschaft ohne <strong>de</strong>n


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 11<br />

Kampf für Gerechtigkeit verkäme <strong>zum</strong> selbstgenügsamen Zusammenglucken – Einsatz für<br />

Gerechtigkeit ohne Communio ginge ihrer geistlichen Grun<strong>die</strong>rung und damit ihrer Hoffnungsperspektive<br />

verlustig. Gegenseitige Bezogenheit aber auch in <strong>die</strong>ser Hinsicht: Die<br />

Gemeinschaft ist immer neu gefragt, ob es ihrem Binnenleben gerecht zugeht (keine Benachteiligung<br />

etwa aufgrund <strong>von</strong> Herkunft, sozialem Status, Lebensalter, Geschlecht, sexueller<br />

Orientierung usw.), und an<strong>de</strong>rs herum: Der Einsatz für Gerechtigkeit darf <strong>die</strong> Gemeinschaft<br />

nicht in neue Lager spalten.<br />

Gera<strong>de</strong> was Letzteres betrifft, ist in Grand Rapids ein <strong>de</strong>utlicher Fortschritt erzielt wor<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r seit Accra <strong>de</strong>n Reformierten Weltbund belasten<strong>de</strong> Streit um <strong>die</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />

Kategorie „Imperium“ („empire“) zur Charakterisierung <strong>de</strong>r wirtschaftlichen und sozialen<br />

Ungerechtigkeit, kann nun endgültig als beigelegt gelten. Zu verdanken ist <strong>die</strong>s <strong>de</strong>r wegweisen<strong>de</strong>n<br />

Zusammenarbeit <strong>von</strong> URCSA und ERK, <strong>die</strong> in ihrem gemeinsamen Globalisierungsprojekt<br />

„Gemeinsam für eine an<strong>de</strong>re Welt“ zu einer <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Theologie Karl Barths<br />

inspirierten theologischen Weiterentwicklung <strong>de</strong>s Imperiumbegriffs gelangt sind, <strong>de</strong>n sich<br />

<strong>die</strong> Generalversammlung (vorbereitet durch <strong>die</strong> Erklärung <strong>von</strong> Johannesburg, 2009) zu eigen<br />

gemacht hat: Demnach beschreibt „Imperium“ als theologische Kategorie <strong>de</strong>n gefährlichen<br />

und gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mechanismus sich gegenseitig verstärken<strong>de</strong>r negativer Mächte<br />

und Strebungen, <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> zur Vergötzung <strong>von</strong> Macht und Geld führt. So verstan<strong>de</strong>n<br />

wird <strong>de</strong>r Begriff zur kritischen Rückfrage an alle, ob und inwieweit sie sich <strong>von</strong> jener „herrenlosen<br />

Gewalt“ (Barth) anstecken und mitreißen lassen, anstatt als vermeintlich empirische<br />

Beschreibung einen bestimmten Staat o<strong>de</strong>r Wirtschaftsraum zu etikettieren.<br />

Ich muss es bei <strong>die</strong>sen An<strong>de</strong>utungen belassen, ausführlicher habe ich <strong>die</strong> Weiterentwicklung <strong>de</strong>s<br />

Imperiumbegriffs in einer „Lesehilfe“ interpretiert, <strong>die</strong> in <strong>de</strong>m Sammelband zur Accranacharbeit<br />

<strong>de</strong>s „Europäischen Gebietes“ nachzulesen ist (Er wird auf <strong>die</strong>ser Hauptversammlung allen zugänglich<br />

gemacht).<br />

Nun können und müssen wir in <strong>de</strong>r WGRK konzentrierter als zuvor nach gemeinsamen<br />

Schritten auf <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>r Gerechtigkeit suchen und sie dann auch gehen (!), anstatt uns in<br />

hermeneutischen Streitigkeiten über <strong>die</strong> Accraerklärung aufzureiben.<br />

Einigkeit im Geist durch das Band <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns – dazu ist freilich auch <strong>die</strong>s zu bemerken:<br />

Dem RWB war und <strong>de</strong>r WGRK ist an <strong>de</strong>utlich engerer und verbindlicher Gemeinschaft unter<br />

Am Pult Peter Bukowski bei <strong>de</strong>r Berichterstattung


12 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

<strong>de</strong>n Protestanten, namentlich mit <strong>de</strong>m Lutherischen Weltbund (LWB) gelegen. Theologisch<br />

ist es ja nicht zu begrün<strong>de</strong>n, warum es auf Weltebene nichts <strong>de</strong>r GEKE entsprechen<strong>de</strong>s geben<br />

soll (<strong>zum</strong>al es in an<strong>de</strong>ren Regionen <strong>de</strong>r Welt längst Entsprechungen zur Leuenberger<br />

Konkor<strong>die</strong> gibt!). Dennoch re<strong>de</strong>t man kein „falsch Zeugnis“, wenn man feststellt, dass unsere<br />

lutherischen Geschwister an <strong>die</strong>ser Stelle <strong>de</strong>utlich – sagen wir: – zurückhalten<strong>de</strong>r sind<br />

als wir. Seit <strong>de</strong>r Generalversammlung in Debrecen 1997 haben wir Reformierte uns darum<br />

bemüht, zu verbindlicherer organisatorischer Zusammenarbeit zu fin<strong>de</strong>n und <strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st<br />

<strong>die</strong> Generalversammlungen gemeinsam durchzuführen (durchaus mit Raum für innerkonfessionelle<br />

Treffen) – etwa angedockt an <strong>die</strong> Vollversammlung <strong>de</strong>s ÖRK. Unsere Vorschlage<br />

und Vorstöße wur<strong>de</strong>n stets interessiert aufgenommen („very inspiring“) – und verliefen<br />

doch bisher im Sand. Ein Gegenargument lautet, <strong>de</strong>r dann entstehen<strong>de</strong> „protestantische<br />

Block“ wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r ökumenischen Bewegung als Ganzer nicht gut tun. Das leuchtet mir nicht<br />

ein. Es erinnert mich vielmehr an <strong>de</strong>n ehemaligen Finanzkirchmeister meiner Gemein<strong>de</strong>:<br />

Wenn <strong>de</strong>r eine Investition blockieren wollte, sagte er nicht etwa „Nein“, son<strong>de</strong>rn: „Da brauchen<br />

wir zuerst mal ein Gesamtkonzept“. Damit vermochte er Vieles auf elegante Weise auf<br />

<strong>de</strong>n St. Nimmerleinstag zu verschieben. Immerhin: Bei <strong>de</strong>r nächsten Vollversammlung <strong>de</strong>s<br />

ÖRK 2013 in Korea soll es eine gemeinsame Sitzung <strong>de</strong>r obersten Leitungsgremien geben<br />

– wie heißt es doch im Kirchenlied: „Kleines Senfkorn Hoffnung ...“<br />

Mich erinnert <strong>die</strong> hier geschil<strong>de</strong>rte Konstellation an VELKD und UEK und <strong>de</strong>ren unterschiedliches<br />

Verhältnis zur EKD. Mehr noch: Auf Weltebene ist <strong>die</strong> WGRK durchaus vergleichbar<br />

mit <strong>de</strong>m, was bei uns <strong>die</strong> UEK ist, <strong>de</strong>nn wie hier sind in <strong>de</strong>r WGRK <strong>die</strong> Kirchen<br />

versammelt, <strong>die</strong> nicht <strong>de</strong>zi<strong>die</strong>rt lutherischen Bekenntnisses sind: also durchaus nicht nur<br />

<strong>reformiert</strong>e son<strong>de</strong>rn auch unierte (ca. 80 an <strong>de</strong>r Zahl). Dazu passt <strong>de</strong>r bemerkenswerte Tatbestand,<br />

dass es im Englischen unsere sprachliche Unterscheidung zwischen „<strong>reformiert</strong>“<br />

und „reformatorisch“ nicht gibt: das Wort „reformed“ hat einen weiteren Be<strong>de</strong>utungshof<br />

als konfessionell-<strong>reformiert</strong>, es umschließt das „reformatorische“. Insofern ist es eigentlich<br />

nicht einzusehen, dass unsere UEK auf Weltebene ihre Erfahrungen und ihren Einfluss<br />

nicht geltend machen kann, weil sie zu bei<strong>de</strong>n Weltbün<strong>de</strong>n in Äquidistanz lebt, anstatt sich<br />

in <strong>de</strong>r ihr näherstehen<strong>de</strong>n WGRK <strong>de</strong>utlicher zu engagieren. Ich habe <strong>die</strong>se Überlegungen<br />

<strong>de</strong>m Präsidium <strong>de</strong>r UEK vorgetragen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sie auf Interesse<br />

stießen und ein Gespräch über das Verhältnis <strong>von</strong> UEK und WGRK in Gang gesetzt haben.<br />

Dabei muss nicht verschwiegen wer<strong>de</strong>n, dass <strong>die</strong> WGRK auch eine weitergehen<strong>de</strong> finanzielle Unterstützung<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>utscher Seite gut täte – um nicht zu sagen: fast überlebensnotwendig wäre. Denn sie<br />

ist in einer ausgesprochen prekären Lage, was eben damit zusammenhängt dass solche Kirchen <strong>die</strong>


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 13<br />

finanzielle Hauptlast tragen, <strong>die</strong> ihrerseits nicht eben als groß zu bezeichnen sind (ganz an<strong>de</strong>rs als<br />

beim LWB). Dabei stemmt <strong>die</strong> WGRK <strong>die</strong> gesamte Arbeit mit einem Stab <strong>von</strong> nur sieben hauptamtlich<br />

Angestellten. Dass man <strong>de</strong>r Vielfalt und <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r Aktivitäten, <strong>die</strong> <strong>von</strong> Genf ausgehen, <strong>die</strong>se<br />

Notlage nicht abspürt, dass vielmehr immer wie<strong>de</strong>r beachtliches und in <strong>de</strong>r ökumenischen Welt beachtetes<br />

auf <strong>de</strong>n Weg gebracht wird, dafür möchte ich <strong>de</strong>m unter uns anwesen<strong>de</strong>n Generalsekretär<br />

Dr. Setri Nyomi in aller Form danken und ihn bitten Dank und Hochachtung an seine Mitstreiter in<br />

Genf weiter zu geben.<br />

Der Reformierte Bund als „Agentur für Reformierte Theologie und Frömmigkeit“ –<br />

das ist gefragt und wir sind gut beraten, auf <strong>die</strong>sem Weg entschlossen<br />

und konzentriert weiter zu gehen.<br />

Noch einmal zurück zu Grand Rapids: Wie <strong>von</strong> einer Generalversammlung nicht an<strong>de</strong>rs zu<br />

erwarten, hat man sich für <strong>die</strong> kommen<strong>de</strong>n Jahre viel vorgenommen. Die fülle <strong>de</strong>r Vorhaben<br />

wur<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Gebietsversammlungen auch auf <strong>de</strong>r europäischen gesichtet und<br />

gewichtet. Die Ergebnisse wur<strong>de</strong>n schließlich in einem „strategic plan“ festgehalten, <strong>de</strong>n<br />

das neue Exekutivkomitee, <strong>de</strong>ssen Mitglied ich bin, im Mai <strong>die</strong>ses Jahres verabschie<strong>de</strong>t hat.<br />

Dabei haben sich fünf Aufgabenfel<strong>de</strong>r herauskristallisiert: Die Stichworte lauten: Mission, Gemeinschaft,<br />

Gerechtigkeit, Theologie, Ökumenisches Engagement. Je<strong>de</strong>m Aufgabenfeld wur<strong>de</strong>n Programmprioritäten<br />

zugeordnet (nicht mehr als jeweils drei, aber immer noch zu viele um sie hier alle<br />

aufzulisten).<br />

III.<br />

In drei Punkten möchte ich abschliessend Impulse aufnehmen und Schlaglichter auf unsere<br />

Arbeit im Reformierten Bund werfen. Bitte hören Sie <strong>die</strong>sen Teil nicht unter <strong>de</strong>m Anspruch,<br />

hier wer<strong>de</strong> <strong>die</strong> offizielle Meinung <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s zusammengefasst. Vielmehr<br />

möchte ich Anregungen weiter geben, verbun<strong>de</strong>n mit Anstößen für <strong>die</strong> Diskussion.<br />

Wenn Sie, wie ich hoffe, im Folgen<strong>de</strong>n das Stichwort „Frie<strong>de</strong>nsverantwortung“ vermissen, so möchte<br />

ich auf <strong>de</strong>n Bericht <strong>de</strong>s Generalsekretärs verweisen, dort wird es zur Sprache kommen, außer<strong>de</strong>m<br />

liegt uns in <strong>de</strong>r Sache ein Antrag vor, <strong>de</strong>r uns als Hauptversammlung beschäftigen wird. Hier nur<br />

ein Wort: Wer hätte vor Jahren zu hoffen gewagt, dass wichtige frie<strong>de</strong>nsethische Impulse – etwa <strong>die</strong><br />

Frage, ob <strong>de</strong>r Einsatz in Afghanistan mit <strong>de</strong>n Kriterien <strong>de</strong>r EKD-Frie<strong>de</strong>ns<strong>de</strong>nkschrift in Einklang zu<br />

bringen ist – nun ausgerechnet vom Militärbischof ausgehen. Und auch <strong>die</strong> Tatsache, dass in aktuellen<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen Militärbischof und Frie<strong>de</strong>nsbeauftragter <strong>de</strong>r EKD mit einer Stimme re<strong>de</strong>n,<br />

stimmt hoffnungsvoll. Das entbin<strong>de</strong>t uns aber nicht <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Aufgabe, <strong>die</strong> frie<strong>de</strong>nsethischen Fragen<br />

unsererseits wie<strong>de</strong>r beherzter aufzugreifen – dazu später mehr. Ich stehe aber nicht an, an <strong>die</strong>ser<br />

Stelle Bru<strong>de</strong>r Dutzmann für sein Engagement Dank und Hochachtung auszusprechen.<br />

1. Ein Auftrag, ich könnte auch sagen eine Ermutigung, <strong>die</strong> ich aus Grand Rapids mitgebracht<br />

habe, lautet: Was wir <strong>von</strong> Euch (nicht nur <strong>von</strong> Euch aber gera<strong>de</strong> auch <strong>von</strong> Euch)<br />

weiterhin dringend brauchen, ist gute Theologie. Gute Theologie ist bezogene Theologie,<br />

<strong>die</strong> im Hören auf das Zeugnis <strong>de</strong>r Schrift und im Erforschen <strong>de</strong>s reichen Erbes <strong>reformiert</strong>er<br />

Tradition Orientierung sucht angesichts heutiger Herausfor<strong>de</strong>rungen. Eine Theologie<br />

also, <strong>die</strong> es vermei<strong>de</strong>t in situationsloser Selbstabschottung zeitlose Wahrheiten zu produzieren,<br />

o<strong>de</strong>r aber sich in pragmatischer Geschaftelhuberei selbst aufzugeben. In <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang wur<strong>de</strong> uns im Exekutivausschuss noch einmal ausdrücklich gedankt für<br />

alles, was in <strong>die</strong>ser Richtung im Calvinjahr erarbeitet wur<strong>de</strong>, ebenso für unsere Weise, an<br />

exemplarischen Stellen <strong>die</strong> Reformations<strong>de</strong>ka<strong>de</strong> theologisch mit zu beleben. Auch für <strong>die</strong><br />

theologischen Impulse, <strong>die</strong> wir in das Europäische Gebiet eingebracht haben, ich nenne<br />

nur <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Stu<strong>die</strong>n zur Rechtfertigungslehre o<strong>de</strong>r <strong>die</strong> theologischen Impulse zur<br />

Gerechtigkeitsthematik. Der Reformierte Bund als „Agentur für Reformierte Theologie und<br />

Frömmigkeit“ (vgl. Bericht <strong>de</strong>s Generalsekretärs) – das ist gefragt und wir sind gut beraten,<br />

auf <strong>die</strong>sem Weg entschlossen und konzentriert weiter zu gehen. Das spiegeln uns auch<br />

unsere Mitglie<strong>de</strong>r zurück: Die hohe Akzeptanz <strong>von</strong> „<strong>reformiert</strong>-<strong>info</strong>.<strong>de</strong>“ hängt zu einem<br />

großen Teil eben damit zusammen, dass hier bezogene Theologie geliefert wird.<br />

Dazu noch eine Bitte: Lasst uns <strong>de</strong>utlicher als bisher in unsere theologische Reflexion <strong>die</strong><br />

Frage nach <strong>de</strong>r missionarischen und – ich scheue das Wort nicht: – evangelistischen Dimension<br />

kirchlicher Existenz ernst nehmen. Auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r WGRK wird <strong>die</strong>se Frage vor allem<br />

vom ehemaligen Reformed Ecumenical Council wach gehalten, <strong>de</strong>nn nicht nur bei uns (vgl.<br />

mein Einstieg) son<strong>de</strong>rn weltweit haben sich <strong>die</strong> „mainstream-churches“ mit Erosions- und


14 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Abwan<strong>de</strong>rungsprozessen auseinan<strong>de</strong>r zu setzen, <strong>die</strong> uns nicht kalt lassen dürfen. Vor Ort<br />

hat Hans-Hermann Pompe, Leiter <strong>de</strong>s EKD-Zentrums für „Mission in <strong>de</strong>r Region“ <strong>die</strong>se Frage<br />

in einem offenen Brief an uns gerichtet und sich <strong>de</strong>r Diskussion im Mo<strong>de</strong>ramen gestellt.<br />

Sei Brief beginnt mit <strong>de</strong>m Satz: „Reformierte Ekklesiologie könnte <strong>von</strong> ihrer Tradition und<br />

ihrem Potential her an <strong>de</strong>r Spitze einer missionarischen Gemein<strong>de</strong>entwicklung stehen ...“ –<br />

Sie ahnen, wie <strong>de</strong>r Gedankengang weiter geht. Dabei ist Pompe weit da<strong>von</strong> entfernt uns zu<br />

beschimpfen o<strong>de</strong>r besserwisserisch mit <strong>de</strong>m Finger auf uns zu zeigen, er war ja selbst lange<br />

Zeit lang Pfarrer in einer <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Gemein<strong>de</strong>. Vielmehr erinnert er uns an <strong>die</strong> vielen<br />

Gaben, <strong>die</strong> gera<strong>de</strong> wir in eine missionarische Gemein<strong>de</strong>entwicklung einzubringen hätten,<br />

wenn wir uns <strong>de</strong>nn <strong>die</strong>ser Herausfor<strong>de</strong>rung beherzter als bisher stellen wür<strong>de</strong>n. Ich möchte<br />

<strong>die</strong>sen Impuls mit Nachdruck an uns alle weiter geben. Er lässt sich m.E. hervorragend<br />

integrieren in <strong>die</strong> Beschäftigung mit <strong>de</strong>m Hei<strong>de</strong>lberger Katechismus in Vorbereitung <strong>de</strong>s<br />

Jubiläums 2013 – ich nenne nur das Stichwort „Sprachfähigkeit <strong>de</strong>s Glaubens“.<br />

2. Ganz oben auf <strong>de</strong>r Prioritätenliste steht für <strong>die</strong> WGRK künftig auch <strong>de</strong>r interreligiöse<br />

Dialog, namentlich <strong>die</strong> theologische Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Islam. Eine Begründung,<br />

warum das so ist, erübrigt sich – <strong>de</strong>r Blick auf eine Erdkarte, <strong>die</strong> Religionszugehörigkeiten<br />

ausweist, reicht, um sich <strong>de</strong>r Dringlichkeit bewusst zu wer<strong>de</strong>n. Eher wun<strong>de</strong>rt es, dass, an<strong>de</strong>rs<br />

als einzelne Mitgliedskirchen (etwa in Indonesien, im Nahen Osten o<strong>de</strong>r in Afrika),<br />

<strong>die</strong> Reformierte Gemeinschaft als Ganze <strong>die</strong>ses Thema bisher nicht aufgegriffen hatte, auch<br />

wir nicht. Nun mangelt es innerhalb <strong>de</strong>r EKD nicht an Ausarbeitungen, <strong>die</strong> Fragen interreligiösen<br />

Dialogs und Zusammenlebens theologisch-grundsätzlich und/o<strong>de</strong>r praxisbezogen<br />

reflektieren. Gleichwohl halte ich es für lohnend in <strong>die</strong>sem an Wichtigkeit eher noch zunehmen<strong>de</strong>n<br />

Problemfeld nach <strong>de</strong>n spezifisch <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Akzenten zu fragen.<br />

Im Mo<strong>de</strong>ramen hatten wir kurzzeitig überlegt, hier <strong>de</strong>n Schwerpunkt für <strong>die</strong>se Hauptversammlung<br />

zu setzen, uns dann aber entschie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Thema mehr Zeit zu geben, und für seine Bearbeitung<br />

zunächst unsere bewährten Arbeitsformen (Konvente, Konferenzen, theologische Tagung, Ref. Professorenkonferenz<br />

etc.) zu nutzen; einer künftigen Hauptversammlung käme dann <strong>die</strong> Aufgabe zu,<br />

Ergebnisse zu bün<strong>de</strong>ln und zu vertiefen.<br />

Dazu noch einige Überlegungen: Wir sollten über <strong>de</strong>n christlich-muslimischen Dialog hinaus<br />

eintreten in ein grundsätzliches Nach<strong>de</strong>nken über eine Theologie <strong>de</strong>r Religionen. Ein<br />

Kollege <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Vereinten Evangelischen Mission, mit <strong>de</strong>m zusammen ich das Fach Ökumene<br />

unterrichte, brachte ein T-Shirt mit, das er sich in In<strong>die</strong>n gekauft hatte; Es trug <strong>die</strong><br />

Aufschrift: „God is too big to fit into one religion“. Stimmt <strong>de</strong>r Satz? Die Mehrzahl <strong>de</strong>r Vikare<br />

fand: Nein, immerhin glaubten wir doch daran, dass Gott sich uns vollgültig geoffenbart<br />

habe und außer<strong>de</strong>m ´rieche´ <strong>de</strong>r Satz doch nur so nach einem pluralistischen, letztendlich<br />

auf Indifferenz hinauslaufen<strong>de</strong>n Religionsverständnis. So weit, so richtig. An<strong>de</strong>rerseits<br />

wird man feststellen müssen, dass <strong>de</strong>r Satz gera<strong>de</strong> in protestantischem, <strong>zum</strong>al <strong>reformiert</strong>em<br />

Verständnis auch ein Wahrheitsmoment enthält: Die notwendige Unterscheidung zwischen<br />

<strong>de</strong>m biblisch bezeugten Gott und aller menschlichen, auch <strong>de</strong>r christlichen Gottesverehrung.<br />

Das Bekenntnis zu Jesus Christus als <strong>de</strong>m Einen Wort Gottes (Barmen I) nötigt<br />

<strong>die</strong> Kirche zu heilsamer Selbstrelativierung: Christus ist (wenn man <strong>de</strong>n Begriff einmal<br />

aufnimmt:) „absolut“ – nicht aber das Christentum. Dies sollte in <strong>de</strong>r Begegnung mit <strong>de</strong>n<br />

An<strong>de</strong>ren zu einer Grundhaltung verhelfen, <strong>die</strong>, ohne das Eigene zu verleugnen, <strong>von</strong> Demut<br />

geprägt ist und <strong>von</strong> wacher Neugier: Ich will <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>rs-Glauben<strong>de</strong>n kennen lernen, nicht<br />

auf meine Seite ziehen. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang hielte ich es für weiterführend noch einmal<br />

Karl Barths „Lichterlehre“ zu Rate zu ziehen, in <strong>de</strong>r er uns für <strong>die</strong> Erwartung öffnen<br />

will „Wahre Worte“, ja „Gleichnisse <strong>de</strong>s Himmelreichs“ auch außerhalb <strong>de</strong>r Kirche zu vernehmen<br />

(vgl. KD§69,2).<br />

Weiter: Reformierten steht es gut an, immer noch einmal <strong>die</strong> Bibel selbst zu befragen: da<br />

wird uns neben Bekanntem auch Überraschen<strong>de</strong>s, womöglich Anstößiges begegnen, aber<br />

wir sind gut beraten, uns <strong>de</strong>m zu stellen. Wer weiß: womöglich entspricht <strong>die</strong> Vielstimmigkeit<br />

<strong>de</strong>r biblischen Bezüge <strong>de</strong>r Lebendigkeit Gottes und <strong>de</strong>r Vielfalt <strong>de</strong>s Geschaffenen mehr<br />

als ein allzu glattes systematisch-theologisches Zuordnungsmo<strong>de</strong>ll. Nur ein Beispiel: Neben<br />

<strong>de</strong>r durchgängigen Betonung <strong>de</strong>r Exklusivität <strong>de</strong>s Gottes Israels fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Urgeschichte<br />

(und nicht nur dort) auch eine an<strong>de</strong>re Linie: Als Geschöpfe und Ebenbil<strong>de</strong>r Gottes<br />

teilen alle Menschen einen gemeinsamen Ursprung. Der Noahbund, <strong>de</strong>r erste Bun<strong>de</strong>sschluss<br />

<strong>de</strong>r Bibel, gilt allen Menschen und er wird durch <strong>die</strong> darauffolgen<strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>sschlüsse mit


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 15<br />

Israel genauso wenig außer Kraft gesetzt, wie <strong>de</strong>r Bund mit Israel durch <strong>de</strong>n „Neuen Bund“.<br />

Wenn man, wie <strong>die</strong> <strong>reformiert</strong>e Theologin Cynthia Campbell <strong>die</strong>s in anregen<strong>de</strong>r Weise getan<br />

hat, <strong>von</strong> hier aus weiter fragt: Etwa wie „Hei<strong>de</strong>n“ in <strong>de</strong>r Geschichte Gottes mit seinem<br />

Volk einen festen Platz haben, wie auch im Umfeld Jesu Menschen an<strong>de</strong>rer Religion zu<br />

Glaubenszeugen wer<strong>de</strong>n können – ohne ihre Religion zu wechseln, dann tun sich neue und<br />

anregen<strong>de</strong> Perspektiven auf. Mit <strong>de</strong>m Titel ihres Buches gesagt: A Multitu<strong>de</strong> of Blessings.<br />

Schließlich: Die Dringlichkeit <strong>de</strong>s hier genannten Themas darf nicht dazu verleiten, das<br />

Christlich-Jüdische Gespräch und das Bemühen um eine Israel zugewandte Theologie zu<br />

vernachlässigen o<strong>de</strong>r gar zu glauben, <strong>die</strong>ses Thema „sei durch“, jetzt sei das an<strong>de</strong>re dran.<br />

Dies ist nicht <strong>de</strong>r Fall. Bei uns nicht und in <strong>de</strong>r Ökumene erst recht nicht. Und wie dünn das<br />

Eis über <strong>de</strong>n Untiefen einer theologischen Israelvergessenheit immer noch ist konnte man<br />

gut an Reaktionen auf das sogenannte „Kairos-Papier“ stu<strong>die</strong>ren. Bei allem Respekt für <strong>die</strong><br />

prekäre Situation <strong>de</strong>r palästinensischen Mitchristen habe ich für eine ungeteilte Bejahung<br />

<strong>die</strong>ses Dokuments, wie sie aus Stimmen seitens <strong>de</strong>s ÖRK zu vernehmen war und sich auch<br />

bei uns in vielen Kommentaren nie<strong>de</strong>rschlug, kein Verständnis. Solidarität mit <strong>de</strong>n palästinensischen<br />

ChristInnen kann nicht be<strong>de</strong>uten, dass wir mühsam errungene theologische<br />

Ergebnisse <strong>de</strong>s Christlich-Jüdischen Dialogs über Bord werfen.<br />

3. In Grand Rapids wur<strong>de</strong> ein ums an<strong>de</strong>re Mal betont: Die Gemeinschaft am Tisch <strong>de</strong>s<br />

Herrn setzt sich fort in <strong>de</strong>r gemeinsamen Arbeit an einer gerechteren Welt: community and<br />

justice. Was aber heißt das in Zeiten einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, <strong>die</strong> <strong>von</strong><br />

Experten als <strong>die</strong> Schlimmste seit <strong>de</strong>n 30er Jahren <strong>de</strong>s letzten Jahrhun<strong>de</strong>rts eingeschätzt<br />

wird?<br />

Die Bil<strong>de</strong>r, <strong>die</strong> uns erreichen sind ver-rückt: Aufgeregte Börsianer und pausenlos über <strong>de</strong>n<br />

Bildschirm ticken<strong>de</strong> Kursnachrichten – wer versteht <strong>die</strong> eigentlich? Und Bil<strong>de</strong>r aus Somalia,<br />

ein ausgemergeltes Kind, eines <strong>von</strong> unermesslich vielen, dass uns groß anschaut ohne<br />

einen Funken kindlicher Lebendigkeit o<strong>de</strong>r gar Hoffnung. In Talkshows tummeln sich <strong>die</strong><br />

Experten, Wirtschaftsweise, <strong>die</strong> sich gegenseitig <strong>de</strong>n Sachverstand streitig machen. Politiker<br />

geben ihre zuletzt gefassten Beschlüsse als alternativlos aus, was für <strong>die</strong> kurz zuvor<br />

in <strong>die</strong> Wege geleiteten gegenteiligen Maßnamen auch schon reklamiert wur<strong>de</strong>. Die Jugend<br />

geht auf <strong>die</strong> Straße wie seit ´68 nicht mehr, weil sie sich zu Recht als abgehängte Generation<br />

Singen, geleitet und begleitet <strong>von</strong> Peter Bukowski<br />

und Ingolf Helm


16 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

empfin<strong>de</strong>t – gleichzeitig verkün<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Regierungen Konsoli<strong>die</strong>rungskurse, <strong>die</strong> bei näherem<br />

Hinsehen auf Kosten gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>rer gehen, <strong>die</strong> auch in <strong>de</strong>r Vergangenheit schon <strong>de</strong>n<br />

geringsten Anteil an Wachstum und Wohlstand hatten.<br />

Ich zitiere Heribert Prantel: „Der Kapitalismus ist eine ähnlich frevlerische Wirtschaftsform, wie sie<br />

<strong>de</strong>r Kommunismus war. Er frevelt heute auf Kosten <strong>von</strong> Menschen und Staaten. Zuletzt vermochte er<br />

es gar, <strong>de</strong>n Staat da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass <strong>die</strong>ser <strong>die</strong> vom Kapitalismus angehäuften Schul<strong>de</strong>n tragen<br />

muss – wegen <strong>de</strong>r staatlichen Verantwortung für das Große und Ganze. Der Kapitalismus brachte<br />

es fertig, <strong>von</strong> an<strong>de</strong>ren einzufor<strong>de</strong>rn, was er selbst nicht zu tun bereit ist: Verantwortung zu tragen.<br />

Der Kapitalismus kann so vieles: <strong>die</strong> märchenhafte Fähigkeit, Stroh zu Gold zu spinnen, gehört zu<br />

seinem Repertoire. Diese Kunst hat wechseln<strong>de</strong> Namen: zuletzt nannte man sie ´Leerverkäufe´. ...<br />

Die Regierungen könnten an <strong>de</strong>r Schonung <strong>de</strong>s Reichtums etwas än<strong>de</strong>rn; aber sie tun es nicht. In <strong>de</strong>r<br />

Finanzkrise vor drei Jahren glaubte man, ein Fegefeuer <strong>de</strong>s Kapitalismus zu erleben. Das war eine<br />

Täuschung. Genauso enttäuscht wur<strong>de</strong> <strong>die</strong> Erwartung, dass <strong>de</strong>m Markt durch Gesetze strikte Regeln<br />

auferlegt wer<strong>de</strong>n. Von <strong>de</strong>r international-sozialen Marktwirtschaft, <strong>von</strong> einem menschlichen Kapitalismus<br />

also, ist man heute so weit weg wie 2008.“ (SZ, 20./21.August 2011).<br />

Und weil alles so verfahren erscheint, liegt trotz <strong>de</strong>r Protestbewegungen über allem ein<br />

Mehltau <strong>de</strong>r Ratlosigkeit. Das Stichwort <strong>von</strong> <strong>de</strong>r „Angst 2.0“ geht um.<br />

Aber, liebe Schwestern und Brü<strong>de</strong>r, um es mit einem Filmtitel <strong>von</strong> R. W. Fassbin<strong>de</strong>r zu sagen:<br />

„Angst essen Seele“ auf. Deshalb müssen wir uns <strong>die</strong>ser Lage allererst geistlich stellen.<br />

Müssen uns auf unsere ureigenen Ressourcen besinnen, eben darauf, dass wir verheißungsvolle<br />

Kirche sind, <strong>die</strong> <strong>de</strong>m Gespenst <strong>von</strong> Angst und Ratlosigkeit mit <strong>de</strong>r Hoffnung<br />

begegnet: „Auf <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>r Gerechtigkeit ist Leben“ (Spr. 12,28). Wir wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Komplexität<br />

<strong>de</strong>r Problemlagen nicht mit einfachen Lösungen begegnen können. Aber wir wer<strong>de</strong>n<br />

uns auch nicht <strong>de</strong>n Mund verbieten lassen o<strong>de</strong>r uns gar selbst einen Maulkorb auferlegen.<br />

Wir wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Rat <strong>de</strong>s selbsternannten Theologen <strong>de</strong>r Champions-League-Klasse F. W.<br />

Graf nicht folgen, <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Kirchen zur Zurückhaltung mahnt, weil es sonst zu einer, ich zitiere:<br />

„strukturellen Talibanisierung <strong>de</strong>r Kirchen in ethischen Fragen“ komme. (So in <strong>de</strong>r UK<br />

vom 24.7.2011)<br />

Gewiss in vielen Details haben wir kein Spezialwissen: ob Eurobonds ein hilfreiches Mittel<br />

sind, vermag ich nicht zu entschei<strong>de</strong>n. Aber <strong>die</strong> richtigen Fragen haben wir zu stellen:<br />

Zu wessen Lasten geht <strong>de</strong>r Umbau <strong>de</strong>r Gesellschaft und wer bleibt auf <strong>de</strong>r Strecke?<br />

Ist dafür gesorgt, dass <strong>die</strong> nachfolgen<strong>de</strong> Generation überhaupt noch Gestaltungschancen<br />

bekommt?<br />

Und wie verhält es sich mit <strong>de</strong>n himmelschreien<strong>de</strong>n globalen Schieflagen?<br />

Kann es sein, dass Europa in <strong>de</strong>r Flüchtlingsfrage dicht macht wenn gleichzeitig bitterarme<br />

Nationen Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>n Zuflucht bieten?<br />

Wer, wenn nicht wir soll Lobby <strong>de</strong>r Vielen sein, <strong>die</strong> längst zur Manövriermasse kapitalistischer<br />

Planspiele <strong>de</strong>gra<strong>die</strong>rt sind?<br />

Wir wer<strong>de</strong>n uns nicht entmutigen lassen, weiterhin an unserem Ort das uns Mögliche zu<br />

tun, um Scha<strong>de</strong>n zu heilen und Zeichen <strong>de</strong>r Hoffnung zu setzen. Die Regie <strong>die</strong>ser Hauptversammlung<br />

bringt es mit sich, dass wir anschließend an <strong>die</strong>sen Bericht <strong>zum</strong> Gottes<strong>die</strong>nst<br />

uns versammeln. Das ist gut so, <strong>de</strong>nn es erinnert uns an <strong>die</strong> unvergleichliche und nie versiegen<strong>de</strong><br />

Kraftquelle aus <strong>de</strong>r wir schöpfen.<br />

„Das Brot, das wir brechen, ist es nicht <strong>die</strong> Gemeinschaft <strong>de</strong>s Leibes Christi?“ Ihr müsst<br />

Euch gleich <strong>de</strong>n Abendmahlstisch Kilometer lang vorstellen. Denn <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r<br />

uns lädt, verbin<strong>de</strong>t uns mit all <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren: Mit <strong>de</strong>n über 80 Millionen, <strong>de</strong>ren Vertreter in<br />

Grand Rapids zusammenkamen, mit <strong>de</strong>n weit über 600 Millionen Protestanten weltweit,<br />

im Grun<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n 2,3 Milliar<strong>de</strong>n Menschen, <strong>die</strong> sich zu Christus bekennen. Wir sind nicht<br />

so klein und schwach, wie wir uns bisweilen fühlen. Und so sei, mit Zwingli gesprochen,<br />

unser Abendmahl auch <strong>die</strong>s: Das Arbeitsessen einer verheißungsvollen Kirche, für ihren<br />

weiteren Weg <strong>de</strong>r Gerechtigkeit.


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 17<br />

Reformierte Theologie als Freiheitstheologie 1<br />

<strong>von</strong> Matthias Freu<strong>de</strong>nberg<br />

Em<strong>de</strong>n im Frühjahr, es ist das Frühjahr 1554. Em<strong>de</strong>ns Bürger nehmen sich <strong>die</strong> Freiheit<br />

und halten es für eine Verpflichtung ihres Glaubens, 175 Menschen in ihrer Stadt aufzunehmen<br />

und ihnen Obdach zu geben. Es sind frem<strong>de</strong> Männer, Frauen und Kin<strong>de</strong>r, <strong>die</strong> Em<strong>de</strong>n<br />

erreichen – fremd nach ihrer Herkunft und wie<strong>de</strong>rum nicht fremd nach ihrer Religion, ihrem<br />

Glauben, sind sie doch evangelisch-<strong>reformiert</strong>e Glaubensgeschwister. Auf ihrer Flucht<br />

vor <strong>de</strong>r katholischen „blutigen“ Maria Tudor und ihrer restaurativen Religionspolitik betreten<br />

sie, aus London kommend, nach einer dramatischen Odyssee quer über <strong>die</strong> Nordsee<br />

endlich Land: Ostfriesland, Em<strong>de</strong>n. An <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r Ankömmlinge ein polnischer Adliger,<br />

Johannes a Lasco, ihr Pastor. Schon zuvor mel<strong>de</strong>t Johannes Calvin an Heinrich Bullinger:<br />

„England macht uns mit Recht Angst, ja es quält uns gera<strong>de</strong>zu. Was wird aus <strong>de</strong>r großen<br />

Schar <strong>de</strong>r Frommen wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> dorthin in freiwillige Verbannung gegangen sind? Was aus<br />

<strong>de</strong>n vielen Einheimischen, <strong>die</strong> Christus angenommen haben? Wenn <strong>de</strong>r Herr nicht vom<br />

Himmel her Hilfe schickt, besteht <strong>die</strong> Gefahr, dass wir bald sehr traurige Nachricht hören<br />

wer<strong>de</strong>n.“ 2 Nach äußerer Freiheit klingt das nicht, vielmehr nach Unfreiheit, mehr noch: Die<br />

Londoner Flüchtlingsgemein<strong>de</strong> und <strong>die</strong> Reformation in England überhaupt stehen am Abgrund.<br />

Darum erleben es Johannes a Lasco und <strong>die</strong> Seinen als Befreiung, dass sie Aufnahme<br />

in Em<strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>n. Auf seine Weise erzählt das ein Jahrhun<strong>de</strong>rt später entstan<strong>de</strong>ne Sandsteinrelief<br />

am Diakonenportal an <strong>de</strong>r Em<strong>de</strong>r Großen Kirche (Johannes a Lasco Bibliothek)<br />

<strong>von</strong> <strong>die</strong>sem Exodus und <strong>die</strong>ser Befreiungsgeschichte: „Gottes Kirche, verfolgt, vertrieben, hat<br />

Gott hier Trost gegeben“. Umrun<strong>de</strong>t <strong>von</strong> <strong>die</strong>sem Spruchband sieht man das „Schepken Christi“<br />

– eine I<strong>de</strong>ntifikationsmetapher, <strong>die</strong> anzeigt: Wir sind es, <strong>de</strong>nen Jesus Christus Schutz, Befreiung<br />

und Hilfe erwiesen und in Gestalt an<strong>de</strong>rer Menschen geschickt hat. Die Erfahrung <strong>von</strong><br />

Bewahrung wird zu einer Befreiungserfahrung – lebendig und elementar.<br />

Am Pult Matthias Freu<strong>de</strong>nberg bei seinem Impuls


18 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Warum <strong>die</strong>se historische Erinnerung zu Beginn <strong>de</strong>s Referats? Weil an <strong>die</strong>sem Beispiel <strong>de</strong>utlich<br />

wird, dass kaum eine an<strong>de</strong>re Konfession so tiefgreifen<strong>de</strong> Erfahrungen mit Freiheit und<br />

Unfreiheit, mit Befreiung und Unterdrückung gemacht hat wie <strong>die</strong> Reformierten. Was gäbe<br />

es nicht alles <strong>von</strong> solchen divergieren<strong>de</strong>n und ambivalenten Erfahrungen zu berichten! Das<br />

muss jetzt und heute im Hintergrund bleiben. Meine Aufgabe ist es, eine Skizze <strong>von</strong> <strong>de</strong>n<br />

theologischen Freiheitsmotiven zu zeichnen, <strong>die</strong> hinter und innerhalb <strong>de</strong>r vielschichtigen<br />

Erfahrungen innerer und äußerer Freiheit und Unfreiheit teils <strong>direkt</strong> und teils in<strong>direkt</strong><br />

wirksam wur<strong>de</strong>n und Menschen tatsächlich entängstigt, getröstet und ermutigt haben.<br />

1. Reformatorische Grundlagen bei Martin Luther und Ulrich Zwingli<br />

Wenn Reformatoren wie Luther, Zwingli und Calvin <strong>die</strong> Freiheit als <strong>de</strong>n „Hauptinhalt<br />

<strong>de</strong>r Lehre <strong>de</strong>s Evangeliums“ 3 bezeichnen, muten sie uns zu, an <strong>die</strong> biblisch-theologischen<br />

Wurzeln <strong>de</strong>r christlichen Freiheit zu gehen. Damit wird zugleich ein Fragezeichen hinter das<br />

in unterschiedlichem Gewand daherkommen<strong>de</strong> Freiheitspathos gesetzt, das teils durchaus<br />

nachvollziehbar und up to date und teils keck provozierend postuliert: „I want to break free.<br />

No obligations and ties. I just want to be me. I want to do as I please.“ 4<br />

Die Reformatoren meditieren sehr genau das alt- und neutestamentliche Re<strong>de</strong>n <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Freiheit. Sie erkennen, dass Freiheit und Befreiung das Herzstück <strong>de</strong>r Erfahrung Israels mit<br />

seinem Gott ist: In <strong>de</strong>r ihm eigenen Freiheit erwählt Gott sein Volk, leitet es auf <strong>de</strong>n Weg zur<br />

Freiheit und verpflichtet sich ihm gegenüber zur Bun<strong>de</strong>streue. Jesus beginnt sein Wirken,<br />

in<strong>de</strong>m er auf <strong>die</strong> Prophetie Tritojesajas Bezug nimmt und sich gesandt weiß, „Armen das<br />

Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blin<strong>de</strong>n das Augenlicht<br />

zu verkündigen, Geknechtete in <strong>die</strong> Freiheit zu entlassen, zu verkündigen ein Gna<strong>de</strong>njahr<br />

<strong>de</strong>s Herrn.“ (Lk 4,18f.; vgl. Jes 61,1f.) In<strong>de</strong>m er das Evangelium predigt, rückt das<br />

Reich <strong>de</strong>s befreien<strong>de</strong>n Gottes nahe. Durch seinen Tod und seine Auferstehung begrün<strong>de</strong>t er<br />

schöpferisch ein neues Verhältnis zu <strong>de</strong>n Menschen, das <strong>von</strong> seiner Versöhnung und Erlösung<br />

und insofern <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Freiheit geprägt ist: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Gal<br />

5,1) – ein Ruf, zu <strong>de</strong>m es nach Paulus keine zweite Meinung geben kann. Dieser Weckruf ist<br />

zugleich formuliert als eine Hoffnung, <strong>die</strong> sich nicht nur auf <strong>die</strong> christliche Gemein<strong>de</strong> bezieht,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>die</strong> gesamte Mitschöpfung umfasst. Die vom Menschen verschul<strong>de</strong>te (Röm<br />

5,12) und <strong>von</strong> Gott vollzogene Auslieferung <strong>de</strong>r Schöpfung an <strong>die</strong> Vergänglichkeit ist nicht<br />

sein letztes Wort über <strong>die</strong> Schöpfung (Röm 8,20). Sie wird an <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes<br />

– also an einem Sein, das nicht <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Wirklichkeit <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Angst, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s<br />

Lebens bestimmt ist – teilhaben. Die darauf Vertrauen<strong>de</strong>n sehen schon jetzt <strong>die</strong> Schöpfung,<br />

<strong>de</strong>ren künftiges Neuwer<strong>de</strong>n ihr noch nicht anzusehen ist, mit <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s hoffen<strong>de</strong>n<br />

Mitlei<strong>de</strong>ns an. Die sich auch auf <strong>die</strong> Mitschöpfung erstrecken<strong>de</strong> Hoffnung ist ungeteilte,<br />

ganze Hoffnung – eine Hoffnung, <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Freiheit Flügel verleiht.<br />

Wer in <strong>de</strong>n biblischen Spuren <strong>von</strong> Freiheit spricht, lässt sich darauf aufmerksam machen,<br />

dass <strong>de</strong>r Mensch in <strong>die</strong> Freiheitsgeschichte Gottes verwickelt wird – nicht selten überraschend,<br />

unabsehbar und bisweilen wi<strong>de</strong>r Willen. Insofern be<strong>de</strong>utet <strong>de</strong>r Prozess, in <strong>de</strong>m<br />

ein Mensch, <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong>, <strong>die</strong> Kirche als ganze zur Freiheit befreit wer<strong>de</strong>n, dass sich <strong>die</strong><br />

Verhältnisse grundlegend än<strong>de</strong>rn und neue Verhältnisse begrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Von <strong>die</strong>sem<br />

Grundgedanken, dass sich im Prozess <strong>de</strong>r Befreiung <strong>die</strong> Verhältnisse än<strong>de</strong>rn, ist das reformatorische<br />

Freiheitsverständnis geprägt.<br />

„Siehe, das ist <strong>die</strong> rechte, geistliche, christliche Freiheit, <strong>die</strong> das Herz frei macht <strong>von</strong> allen<br />

Sün<strong>de</strong>n, Gesetzen und Geboten, welche alle an<strong>de</strong>re Freiheit übertrifft, wie <strong>de</strong>r Himmel <strong>die</strong><br />

Er<strong>de</strong>.“ 5 Mit <strong>die</strong>sem Satz beschließt Martin Luther seine Freiheitsschrift <strong>von</strong> 1520. Wo christliche<br />

Freiheit ist und wirkt, da wird das Herz frei. Luther setzt damit <strong>de</strong>n Impuls, dass <strong>die</strong><br />

Freiheit nicht nur ein Gegenstand theologischer Reflexion ist, son<strong>de</strong>rn selbst am Menschen<br />

wirkt und ihn verän<strong>de</strong>rt. In einer fein durchkomponierten Argumentation erklärt Luther<br />

<strong>die</strong> Doppelthese, dass <strong>de</strong>r Christenmensch ein freier Herr aller Dinge und zugleich ein<br />

<strong>die</strong>nstbarer Knecht aller Dinge sei. Diese doppelte Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen als Herr und<br />

Knecht mün<strong>de</strong>t in <strong>die</strong> Fundamentalunterscheidung vom inneren und äußeren Menschen.<br />

Nach <strong>die</strong>sen bei<strong>de</strong>n Seiten beschreibt Luther zunächst <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>s inneren Menschen<br />

im Glauben: Nichts Äußerliches, schon gar nicht seine äußeren Werke, können ihn befreien,<br />

son<strong>de</strong>rn einzig <strong>de</strong>r Glaube an <strong>die</strong> Verheißung <strong>de</strong>s äußeren Wortes befreit <strong>de</strong>n Menschen


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 19<br />

vom Zwang <strong>de</strong>r Selbstrechtfertigung. Freiheit ist insofern keine menschliche Möglichkeit,<br />

son<strong>de</strong>rn ein Geschenk, das sich Gottes in Jesus Christus zur Geltung gebrachter Gerechtigkeit<br />

verdankt. Die Früchte <strong>die</strong>ser Befreiung entfaltet Luther sodann als Dienst <strong>de</strong>r Liebe<br />

<strong>de</strong>s äußeren Menschen. Gute Werke stehen folglich unter positivem Vorzeichen, insofern<br />

<strong>die</strong>se in <strong>de</strong>r Gemeinschaft mit Christus und in seiner Nachfolge getan wer<strong>de</strong>n. In Christus<br />

existiert <strong>de</strong>r befreite Mensch im Glauben und im Nächsten durch <strong>die</strong> Liebe. Luthers Schrift<br />

lebt <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Kategorie <strong>de</strong>r Unterscheidung, mit <strong>de</strong>r er <strong>die</strong> Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen zu<br />

einem befreiten christlichen Leben entwickelt. Was wir immer sonst noch <strong>von</strong> Luther und<br />

seiner Theologie <strong>de</strong>nken und halten mögen: Er hat <strong>die</strong> reformatorische Basis im Nach<strong>de</strong>nken<br />

über <strong>die</strong> christliche Freiheit gelegt, an <strong>de</strong>r <strong>die</strong> <strong>reformiert</strong>e Theologie nicht vorbei kann.<br />

Das gilt schon für Ulrich Zwingli. Zwei Jahre nach Luther bringt er das Freiheitsthema in<br />

einer ausgesprochen brisanten Situation, als <strong>die</strong> Zürcher Reformation auf <strong>de</strong>m Spiel steht,<br />

zur Sprache. Mitten in <strong>de</strong>r Fastenzeit 1522 nehmen sich <strong>die</strong> Angestellten <strong>de</strong>s evangelisch<br />

gesinnten Buchdruckers Christoph Froschauer <strong>die</strong> Freiheit, Wurst zu essen – nach <strong>de</strong>n Kirchengeboten<br />

in <strong>de</strong>r Fastenzeit eigentlich verboten. Diesen Akt rechtfertigen sie mit <strong>de</strong>r<br />

evangelischen Predigt Zwinglis, in <strong>de</strong>r er <strong>die</strong> alleinige Verbindlichkeit <strong>de</strong>r Heiligen Schrift<br />

für das menschliche Han<strong>de</strong>ln betont. Zwingli entwickelt sodann predigend sein Freiheitsverständnis:<br />

Der Bruch <strong>de</strong>r Fastenvorschriften sei keine Sün<strong>de</strong> gegen Gott, da das Fasten<br />

nicht vom göttlichen, son<strong>de</strong>rn vom kirchlichen Gebot gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>. 6 Nicht nur in <strong>de</strong>r<br />

Fastenfrage, son<strong>de</strong>rn grundsätzlich gelte, sich nicht <strong>von</strong> willkürlichen Geboten bin<strong>de</strong>n zu<br />

lassen, son<strong>de</strong>rn ihnen mit Freiheit zu begegnen. Zwinglis Freiheitspredigt wird ein Exempel<br />

für <strong>de</strong>n kritischen Umgang mit menschlichen Regeln, Ansprüchen und Autoritäten angesichts<br />

<strong>de</strong>s Grundsatzes, dass <strong>die</strong> Heilige Schrift alleiniger Maßstab für <strong>die</strong> Erörterung<br />

kirchlicher und religiöser Fragen ist. Zu <strong>die</strong>sem Zweck insistiert Zwingli darauf, nicht<br />

menschlichen Instanzen, son<strong>de</strong>rn Gott allein Vertrauen zu schenken und Gehorsam zu leisten.<br />

Zwinglis Freiheitsverständnis zieht nach sich, dass <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Evangeliumspredigt<br />

befreiten Gewissen nicht erneut gebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n dürfen, son<strong>de</strong>rn dass in <strong>die</strong>ser Freiheit<br />

gute, <strong>von</strong> Gott gebotene Werke getan wer<strong>de</strong>n.<br />

Wem sind Christinnen und Christen Gehorsam schuldig?<br />

Und woran können und sollen sie sich orientieren,<br />

um ein <strong>de</strong>m Evangelium gemäßes Leben zu führen?<br />

Mit <strong>de</strong>r Freiheitsthematik wirft Zwingli <strong>die</strong> Autoritätsfrage auf: Wem sind Christinnen und<br />

Christen Gehorsam schuldig? Und woran können und sollen sie sich orientieren, um ein<br />

<strong>de</strong>m Evangelium gemäßes Leben zu führen? Einen letzten Anspruch auf Gehorsam dürfen<br />

nicht Menschen, son<strong>de</strong>rn kann nur Gott beanspruchen, weil er das Leben <strong>von</strong> äußeren<br />

Zwängen und willkürlichen Ansprüchen zu befreien vermag. Gottes Evangelium und seine<br />

Gebote durch eigene Gebote und Leistungen ergänzen zu wollen, ist ein Ausdruck <strong>von</strong><br />

Ungehorsam und mangeln<strong>de</strong>m Vertrauen. Umgekehrt gewinnen Christinnen und Christen<br />

Freiheit, in<strong>de</strong>m sie sich nicht heteronomen Autoritäten unterwerfen, son<strong>de</strong>rn allein auf<br />

Gott vertrauen und in ihn ihre Hoffnung setzen. Schließlich befreit er <strong>die</strong> Seinen vom Gehorsam<br />

gegenüber menschlichen Geboten, <strong>die</strong> im Angesicht <strong>von</strong> Gottes Menschenfreundlichkeit<br />

ihre letzte Gültigkeit verlieren.<br />

Wenn man nach <strong>de</strong>r Gegenwartsbe<strong>de</strong>utung <strong>von</strong> Zwinglis Freiheitsverständnis fragt, so liegt<br />

<strong>die</strong>se darin, <strong>de</strong>utlich zu machen: Nur wer in Wahrheit <strong>de</strong>n Menschen befreit – nämlich Gott<br />

und sein Wort –, kann auch <strong>de</strong>n Anspruch auf Autorität erheben. Menschen und Institutionen<br />

können nur dann, wenn sie sich selbst in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r Freiheit stellen, Anspruch<br />

auf Geltung erheben. Ein Echo auf Zwinglis i<strong>de</strong>ologiekritisches Nach<strong>de</strong>nken über entmündigen<strong>de</strong><br />

Machtstrukturen begegnet Jahrhun<strong>de</strong>rte später in <strong>de</strong>r zweiten und sechsten These<br />

<strong>de</strong>r Barmer Theologischen Erklärung, in<strong>de</strong>m <strong>die</strong> Bindung <strong>de</strong>s individuellen Lebens und <strong>de</strong>r<br />

Kirche an ihren Herrn Jesus Christus betont und ihre Selbstversklavung in <strong>de</strong>r Auslieferung an<br />

an<strong>de</strong>re Autoritäten verworfen wer<strong>de</strong>n. In weiteren Schriften Zwinglis zeigen sich <strong>die</strong> Früchte<br />

seines Freiheitsgedankens: Freiheit soll sich nicht nur im individuellen o<strong>de</strong>r kirchlichen Leben,<br />

son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>n Strukturen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenlebens durchsetzen. Die Zusage<br />

und <strong>die</strong> Erfahrung <strong>von</strong> Befreiung einerseits und <strong>die</strong> Bewährung und Konkretisierung<br />

<strong>die</strong>ser Freiheit an<strong>de</strong>rerseits sind eng aufeinan<strong>de</strong>r bezogen – darauf dringt Zwingli nicht<br />

nur individualethisch, son<strong>de</strong>rn will <strong>die</strong>s auch im sozialen Gefüge <strong>von</strong> Kirche, Stadt und<br />

Staat verwirklicht sehen.


20 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

2. Grund und Betätigung <strong>de</strong>r Freiheit bei Johannes Calvin<br />

Auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>von</strong> Luthers rechtfertigungstheologisch motivierter Bestimmung<br />

<strong>de</strong>r Freiheit einerseits und Zwinglis Verknüpfung <strong>de</strong>s Freiheitsthemas mit <strong>de</strong>r Autoritätsfrage<br />

an<strong>de</strong>rerseits formuliert Johannes Calvin seinen Freiheitsbegriff. Im „Unterricht in <strong>de</strong>r<br />

christlichen Religion“ <strong>von</strong> 1559 schreibt er <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Freiheit innerhalb <strong>de</strong>r Lehre vom Heiligen<br />

Geist und <strong>de</strong>r durch ihn ermöglichten christlichen Lebensführung, <strong>de</strong>r Heiligung. In<br />

<strong>de</strong>r Freiheit als <strong>de</strong>r Frucht <strong>de</strong>r Rechtfertigung sieht Calvin eine „äußerst notwendige Sache“<br />

<strong>de</strong>s christlichen Lebens, <strong>die</strong> <strong>zum</strong> Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Seele und <strong>zum</strong> Trost <strong>de</strong>r Gewissen beiträgt. 7<br />

Zunächst bestimmt er in <strong>de</strong>n Spuren Luthers Freiheit als Befreiung <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Verurteilung<br />

durch das Gesetz: „Wenn es also um unsere Rechtfertigung geht, so sollen wir […] alles<br />

Achten auf <strong>die</strong> Werke beiseite stellen und allein Gottes Barmherzigkeit erfassen, wir sollen<br />

<strong>de</strong>n Blick <strong>von</strong> uns selber abwen<strong>de</strong>n und Christus allein anschauen.“ 8 Freiheit – verstan<strong>de</strong>n<br />

als <strong>von</strong> Jesus Christus gewirkte Erlösung – ist grundsätzlich ein Geschenk, das nicht<br />

in ein menschliches Werk aufgelöst wer<strong>de</strong>n darf. Auch in seiner Auslegung <strong>von</strong> Gal 5,1ff.<br />

macht Calvin <strong>de</strong>n Geschenkcharakter <strong>de</strong>r christlichen Freiheit im Sinne eines Freispruchs<br />

stark: Die am Kreuz erworbene Befreiung <strong>von</strong> Sün<strong>de</strong>, Tod und Teufel wird im Evangelium<br />

zugesprochen. Diese zugesprochene Freiheit gilt es zu genießen und zugleich gegen alle<br />

Versuche zu verteidigen, <strong>die</strong> uns <strong>die</strong>se Freiheit wie<strong>de</strong>r entwin<strong>de</strong>n wollen: „Wir sollen […]<br />

nicht zulassen, dass man uns das Gewissen bin<strong>de</strong>t. […] Wir verlieren ja etwas unschätzbar<br />

Großes, wenn <strong>die</strong> Menschen sich zu Herren über unser Gewissen machen dürfen. Das ist<br />

auch ein Unrecht gegen Christus, <strong>de</strong>r uns <strong>die</strong> Freiheit erworben hat.“ 9 Darum gelte es, in <strong>de</strong>r<br />

Freiheit zu bleiben. Dieses Bleiben in und Festhalten an <strong>de</strong>r Freiheit gegen Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />

und Heteronomien bedarf <strong>de</strong>r Beharrung – Calvin spricht vom „donum perseverantiae“<br />

und weist damit auf <strong>die</strong> vom Geist gewirkte Gabe <strong>de</strong>s Beharrens hin. Im Rahmen <strong>von</strong> Calvins<br />

kontextueller Theologie 10 kann man sich leicht ausmalen, was es be<strong>de</strong>utet hat, wenn<br />

Calvin <strong>die</strong>s seinen gefähr<strong>de</strong>ten französischen Landsleuten zugerufen hat.<br />

Calvins Interesse an <strong>de</strong>r Freiheit, das ihn nachgera<strong>de</strong> <strong>zum</strong> reformatorischen Freiheitstheologen<br />

macht 11 , führt an <strong>de</strong>r Stelle weiter, an <strong>de</strong>r Luther seine Schrift mit <strong>de</strong>r Unterscheidung<br />

vom inneren und äußeren Menschen en<strong>de</strong>n lässt. Calvin nimmt gegenüber Luther<br />

eine Akzentverschiebung beim Verständnis <strong>de</strong>s Menschen vor, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n empfangen<strong>de</strong>n<br />

inneren und <strong>de</strong>n han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n äußeren Menschen grundsätzlich als <strong>de</strong>n einen Menschen<br />

ansieht: Dieser eine Mensch ist <strong>de</strong>r befreite und zugleich <strong>de</strong>r in <strong>die</strong> herrliche – und gewiss<br />

manchmal auch anstrengen<strong>de</strong> – Freiheit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes entlassene Mensch. Damit korrespon<strong>die</strong>rt<br />

Calvins Neigung, Luthers Unterscheidung vom Glauben und seinen Früchten<br />

im Sinne eines in <strong>de</strong>r Liebe sich konsequent äußern<strong>de</strong>n Glaubens neu zu interpretieren.<br />

Auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r geschenkten Befreiung <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Schuld mit <strong>de</strong>r Folge <strong>de</strong>r Vergebung<br />

erhält bei Calvin <strong>die</strong> Frage Gewicht, wie <strong>de</strong>r Mensch <strong>die</strong> ihm wi<strong>de</strong>rfahrene Freiheit<br />

betätigt und in ihr lebt. Freiheit ist in doppelter Hinsicht eine gebun<strong>de</strong>ne Freiheit: Das Gewissen,<br />

das sich <strong>die</strong> Freiheit zusprechen lässt, ist gebun<strong>de</strong>n an Gott und gebun<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n<br />

Mitmenschen. In seiner Auslegung <strong>von</strong> Gal 5 kennzeichnet Calvin <strong>de</strong>n in <strong>die</strong> Freiheit gerufenen<br />

Menschen als eine neue Kreatur, <strong>die</strong> gar nicht an<strong>de</strong>rs existieren kann als in <strong>de</strong>n Werken<br />

<strong>de</strong>r Liebe, <strong>die</strong> im Geist <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt geschehen. Calvin insistiert auf <strong>de</strong>r Frage, wie <strong>de</strong>r<br />

Mensch seine Freiheit nicht nur genießen, son<strong>de</strong>rn auch zu Gottes Ehre und <strong>zum</strong> Wohl <strong>de</strong>s<br />

Nächsten gebrauchen kann, und ergänzt: „Es wäre verkehrt, wollte man Gottes- und Menschenliebe<br />

<strong>von</strong>einan<strong>de</strong>r trennen.“ 12 Sodann entwickelt er eine Ethik <strong>de</strong>r geschenkten Freiheit,<br />

<strong>die</strong> zwei Seiten hat: Einerseits zieht Freiheit <strong>die</strong> Verpflichtung nach sich, aus Liebe und<br />

Dankbarkeit Gott gehorsam zu <strong>die</strong>nen und nach seinen Geboten gute Werke – und seien<br />

sie noch so fragmentarisch – zu tun. An<strong>de</strong>rerseits darf <strong>de</strong>r Mensch <strong>die</strong> Freiheit nutzen und<br />

genießen, um sich an <strong>de</strong>n Gaben <strong>de</strong>s Schöpfers zu erfreuen. Dies kann allerdings nur geschehen,<br />

sofern <strong>die</strong> Freiheit nicht missbraucht und gegen an<strong>de</strong>re Menschen gerichtet wird.<br />

Calvin benennt mehrere Kennzeichen eines durch Gott freigesprochenen Lebens: Der Freigesprochene<br />

richtet in <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes sein ganzes Leben auf seinen Schöpfer<br />

und Erlöser aus. In <strong>de</strong>r ihm eröffneten neuen Lebenswirklichkeit lebt er, angeleitet durch<br />

Gottes Gebote, menschlich. Die Lebensantwort <strong>de</strong>s Befreiten geschieht nicht unter <strong>de</strong>m<br />

Zwang einer Notwendigkeit, son<strong>de</strong>rn beruht auf einer Befreiung, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Menschen gera<strong>de</strong><br />

vom Zwang löst, und fin<strong>de</strong>t Gestalt im bereitwilligen und fröhlichen Tun „aus freien<br />

Stücken“. 13 Gera<strong>de</strong> so macht <strong>de</strong>r Mensch <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Freiheit Gebrauch, in Gottes Recht zu le-


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 21<br />

ben. Dies flankiert Calvin mit <strong>de</strong>m Gedanken, dass das Leben in <strong>de</strong>r Freiheit unvollkommen<br />

bleibt: „Die Kin<strong>de</strong>r […], <strong>die</strong> <strong>von</strong> ihren Vätern freier und edler gehalten wer<strong>de</strong>n, haben keine<br />

Scheu, ihnen auch [solche] Werke, an <strong>de</strong>nen noch manches auszusetzen ist, anzubieten,<br />

weil sie darauf vertrauen, dass ihr Gehorsam und <strong>die</strong> Bereitschaft ihres Herzens das Wohlgefallen<br />

<strong>de</strong>r Väter fin<strong>de</strong>n wird […]“. 14 Die Inanspruchnahme <strong>de</strong>r Freiheit schließt ausdrücklich<br />

das nicht Perfekte, Unvollkommene und Anfängliche ein, so dass Calvin keineswegs<br />

<strong>de</strong>m moralischen Perfektionismus das Wort re<strong>de</strong>t. Gewiss hat <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>n Sinn, „<strong>zum</strong><br />

Guten zu ermuntern“ 15 , aber <strong>die</strong> Verpflichtung zur Verantwortung steht unter <strong>de</strong>m Vorzeichen,<br />

dass <strong>de</strong>r Mensch scheitern kann und ein Mangelwesen ist.<br />

Die Freigabe <strong>de</strong>r Welt zur Erforschung, geistigen Durchdringung und Gestaltung<br />

ermutigt <strong>de</strong>n Menschen, sich mit Vernunft und Kreativität <strong>de</strong>r Natur,<br />

ihren Gesetzen und <strong>de</strong>r Ordnung <strong>de</strong>r menschlichen Gemeinschaft zuzuwen<strong>de</strong>n.<br />

Schließlich lädt <strong>die</strong> Freiheit dazu ein, <strong>die</strong> Dinge <strong>die</strong>ser Welt mit gutem Gewissen zu gebrauchen.<br />

Er konkretisiert das mit einem lebensnahen Beispiel: „Wenn einer bei einigermaßen<br />

wohlschmecken<strong>de</strong>m Wein bereits Be<strong>de</strong>nken hat, so wird er bald nicht einmal gemeinen Fusel<br />

mit gutem Frie<strong>de</strong>n seines Gewissens trinken können, und am En<strong>de</strong> wird er nicht einmal<br />

mehr wagen, Wasser anzurühren.“ 16 Mit <strong>die</strong>ser Bestimmung <strong>de</strong>r Freiheit eröffnet Calvin<br />

<strong>de</strong>n Raum für <strong>die</strong> entschlossene und furchtlose Betätigung in einer Welt, in <strong>die</strong> <strong>de</strong>r Mensch<br />

hineingestellt ist und <strong>die</strong> er darum mit <strong>de</strong>n ihm verliehenen Gaben gestalten soll. 17 Die<br />

Freigabe <strong>de</strong>r Welt zur Erforschung, geistigen Durchdringung und Gestaltung ermutigt <strong>de</strong>n<br />

Menschen, sich mit Vernunft und Kreativität <strong>de</strong>r Natur, ihren Gesetzen und <strong>de</strong>r Ordnung<br />

<strong>de</strong>r menschlichen Gemeinschaft zuzuwen<strong>de</strong>n. Zwar kann Calvin <strong>de</strong>n Himmel als <strong>die</strong> Heimat<br />

und <strong>die</strong> Er<strong>de</strong> als Verbannungsort <strong>de</strong>s Menschen bezeichnen. Das än<strong>de</strong>rt aber nichts daran,<br />

dass er <strong>de</strong>n befreiten Menschen aufruft, Gottes Gaben in Anspruch zu nehmen. Konsequent<br />

leiten <strong>die</strong>se Beschreibungen <strong>de</strong>r Freiheit in das Kapitel vom Gebet über. Von ihm sagt Calvin,<br />

es sei <strong>die</strong> „vornehmste Übung <strong>de</strong>s Glaubens“, da im Gebet <strong>de</strong>r Antwortcharakter <strong>de</strong>s<br />

christlichen Lebens am ursprünglichsten greifbar sei. 18<br />

Calvins Verständnis <strong>de</strong>r christlichen Freiheit geht <strong>de</strong>utlich über eine Rückschau auf <strong>de</strong>n<br />

Freispruch <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>nlast hinaus. Freiheit in <strong>de</strong>r Bindung an <strong>de</strong>n dreieinigen Gott be<strong>de</strong>utet<br />

Vorausblick auf ein Leben, das sich <strong>von</strong> <strong>de</strong>n schädlichen Verflechtungen <strong>de</strong>r alten<br />

Existenz emanzipieren lässt. Calvins Ethik – <strong>die</strong> ausdrücklich keine Morallehre ist, son<strong>de</strong>rn<br />

<strong>die</strong> im Evangelium grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Anleitung <strong>zum</strong> rechten Leben – steht unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt<br />

<strong>de</strong>r christlichen Freiheit als einer Lebensform, <strong>die</strong> auf Gott als ihren Geber<br />

zurückverweist. Calvin führt <strong>de</strong>n in <strong>die</strong> Mo<strong>de</strong>rne hinüberweisen<strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Gewissensfreiheit<br />

ein, <strong>die</strong> <strong>zum</strong> Erkennungszeichen <strong>de</strong>s christlichen Lebens wer<strong>de</strong>n soll. 19 Damit sind<br />

<strong>die</strong> Weichen gestellt zur Entwicklung <strong>de</strong>r neuzeitlichen Freiheitsi<strong>de</strong>e, <strong>die</strong> <strong>de</strong>m Menschen<br />

ein hohes Maß an Vernunftgebrauch und öffentlicher Courage abverlangt. Ungeachtet <strong>de</strong>r<br />

philosophischen Freiheitstraditionen <strong>de</strong>r Neuzeit verdankt <strong>die</strong>se nicht <strong>zum</strong> geringen Teil<br />

Calvin und <strong>de</strong>m Calvinismus entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> geistige Impulse.<br />

3. Neuzeitliche Wirkungen <strong>de</strong>s <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Freiheitsverständnisses<br />

Calvins Verständnis <strong>de</strong>s Menschen als <strong>von</strong> Gott in <strong>die</strong> Freiheit geführtes und antworten<strong>de</strong>s<br />

Wesen wird in nachcalvinischer Zeit und im Calvinismus nachdrücklich aufgegriffen.<br />

Dazu ein paar exemplarische Hinweise. Das Westminster Bekenntnis <strong>von</strong> 1647 geht einen<br />

(nicht unproblematischen) Schritt über Calvin hinaus, in<strong>de</strong>m sie dazu neigt, <strong>die</strong> Gabe <strong>de</strong>r<br />

Freiheit zu einem menschlichen Habitus umzuformen. Es ist dort <strong>von</strong> einer freilich durch<br />

Gottes Gna<strong>de</strong> gewirkten Befähigung <strong>die</strong> Re<strong>de</strong>, „frei das zu wollen und zu tun, was […] gut<br />

ist“, wobei das Bekenntnis einräumt, dass <strong>de</strong>r Wille <strong>zum</strong> Guten unvollkommen bleibt. 20 An<br />

<strong>die</strong> Stelle <strong>von</strong> Calvins Kennzeichnung <strong>de</strong>r Freiheit als Gabe und Lebensform tritt nun <strong>die</strong><br />

heilsgeschichtliche Dramaturgie eines Geschehens zwischen Gott und Mensch, <strong>de</strong>ren theologische<br />

Triebfe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gottesbund ist. Durch <strong>die</strong> Erneuerung ihres Willens sind <strong>die</strong> Menschen<br />

<strong>zum</strong> Guten bestimmt und zur Freiheit berufen. Die Heiligung durch das Wort und<br />

<strong>de</strong>n Gottesgeist verbin<strong>de</strong>t das Bekenntnis mit <strong>de</strong>m Gedanken eines Stufenwegs <strong>zum</strong> guten,<br />

freilich irdisch noch unvollkommenen Leben. Die im Gehorsam gegen Gottes Lebensregel<br />

<strong>de</strong>r Gebote ausgeführten guten Werke wer<strong>de</strong>n als „Zeugnisse eines wahren und lebendigen


22 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Glaubens“ beschrieben, <strong>die</strong> ein Licht auf <strong>die</strong> Glauben<strong>de</strong>n selbst werfen. 21 Diese sind dazu geschaffen,<br />

Früchte <strong>de</strong>s Glaubens zu bringen und am En<strong>de</strong> das ewige Leben zu erlangen. Eine<br />

solche Entfaltung <strong>de</strong>s Heils- und Lebensprozesses lässt Karl Barth später kritisch urteilen,<br />

dass <strong>de</strong>r Heilssubjektivismus <strong>de</strong>s Westminster-Bekenntnisses <strong>de</strong>r Ausdruck einer „Tragö<strong>die</strong>“<br />

sei, in <strong>de</strong>r offensichtlich wer<strong>de</strong>, „wie sich <strong>de</strong>r Calvinismus zu To<strong>de</strong> gesiegt“ 22 und <strong>de</strong>r Puritanismus<br />

schließlich einen „Pyrrhussieg“ da<strong>von</strong>getragen habe. Von Ferne wähnt Barth hier<br />

bereits Schleiermacher ante portas mit seiner Hervorhebung <strong>de</strong>s frommen Selbstbewusstseins.<br />

Was Barth schroff als beklagenswerte Abweichung <strong>von</strong> Calvins Grundgedanken ansieht,<br />

lässt sich in<strong>de</strong>s auch als sachgemäße Neufassung <strong>de</strong>s calvinischen Freiheitsimpulses<br />

verstehen. Der Mensch erhält nicht nur Kun<strong>de</strong> über seine Befreiung, son<strong>de</strong>rn fin<strong>de</strong>t sich als<br />

Subjekt in einem Heiligungsprozess wie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r außerhalb seiner selbst in Gott begrün<strong>de</strong>t<br />

ist und <strong>von</strong> ihm angetrieben wird. Weitere Modifikationen <strong>de</strong>r calvinischen Dialektik <strong>von</strong><br />

geschenkter und bewährter Freiheit ließen sich für <strong>de</strong>n <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Pietismus – hier ist<br />

<strong>de</strong>r Freiheitsgedanke <strong>de</strong>r Auftakt eines Heiligungsprozesses – und für <strong>de</strong>n <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Rationalismus<br />

– hier mün<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Freiheitsgedanke in eine Pflichtenlehre ein – anführen.<br />

Nicht nur in theologischen Entwürfen, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Kultur überhaupt fin<strong>de</strong>n sich<br />

vielfältige Wirkungen <strong>de</strong>s <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Freiheitsverständnisses. Im Calvinismus wird <strong>die</strong><br />

Freiheit als Mündigkeit verstan<strong>de</strong>n. Das Streben nach Erneuerung vom Wort Gottes her<br />

bietet <strong>die</strong> Basis für <strong>die</strong> eigene Suche nach Erkenntnis. Die Theologie soll ausdrücklich nicht<br />

in einem kulturellen o<strong>de</strong>r intellektuellen Ghetto betrieben wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn hält sich ihre<br />

Türen für das Gespräch mit an<strong>de</strong>ren Wissenschaften und mit allen Bereichen <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Erkenntnis offen. Alle Ent<strong>de</strong>ckungen und Forschungen, <strong>die</strong> wirkliche Erkenntnis für<br />

sich beanspruchen, weisen im letzten Grund auf Gott zurück. Der Freiheit <strong>zum</strong> Vernunftgebrauch<br />

verdanken sich <strong>die</strong> ersten Ansätze <strong>de</strong>r historischen Bibelkritik, <strong>die</strong> in <strong>de</strong>r historisch-kritischen<br />

Schriftauslegung und Dogmenkritik <strong>von</strong> Hugo Grotius vertieft wer<strong>de</strong>n.<br />

Vernunft und Offenbarung wer<strong>de</strong>n nicht als Gegensätze gesehen, son<strong>de</strong>rn sollen einan<strong>de</strong>r<br />

zuarbeiten. Das gilt auch für <strong>die</strong> Entzauberung <strong>de</strong>r Welt, <strong>die</strong> Abkehr vom Dämonenglauben<br />

und generell für ein positives Verhältnis zu <strong>de</strong>n Naturwissenschaften, da sie <strong>die</strong> Menschen<br />

in <strong>die</strong> Lage versetzen, ihrem biblischen Kultivierungsauftrag Ausdruck zu geben. 23<br />

Trotz – o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> wegen – <strong>de</strong>r dramatischen Verwicklungen <strong>die</strong>sseits und jenseits <strong>von</strong><br />

äußerer (Religions-)Freiheit haben <strong>die</strong> Reformierten zur Entwicklung neuzeitlicher politischer<br />

Strukturen wichtige Beiträge geleistet – <strong>die</strong>s aus <strong>de</strong>m Bewusstsein heraus, dass<br />

<strong>die</strong> christliche Freiheit auch im Politischen Ausdruck fin<strong>de</strong>n soll. Zu <strong>de</strong>nken ist u.a. an <strong>die</strong><br />

Sensibilität für ein <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> verpflichtetes Gemeinwesen und <strong>die</strong> Gestaltung<br />

eines gerechten Zusammenlebens im Staat. Schon Calvin klagt unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r Repressalien<br />

gegen <strong>die</strong> Hugenotten <strong>die</strong> monarchistische Tyrannei an und for<strong>de</strong>rt <strong>die</strong> „Freiheit<br />

<strong>de</strong>s Volks“. 24 Der Mensch erhält nicht nur Kun<strong>de</strong> über seine Befreiung, son<strong>de</strong>rn fin<strong>de</strong>t sich als Subjekt<br />

in einem Heiligungsprozess wie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r außerhalb seiner selbst in Gott begrün<strong>de</strong>t ist<br />

und <strong>von</strong> ihm angetrieben wird.<br />

Im beginnen<strong>de</strong>n 17. Jahrhun<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n absolutismuskritische Gedanken im<br />

aka<strong>de</strong>mischen Milieu entwickelt – dafür steht u.a. <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>s Staatstheoretikers Johannes<br />

Althusius, <strong>de</strong>r Überlegungen zur Volkssouveränität und Gewaltenteilung angestellt hat.<br />

4. Freiheit als „Leben in <strong>de</strong>r Erlaubnis“ (Karl Barth)<br />

Wir haben gesehen: Die klassische <strong>reformiert</strong>e Theologie fragt nach <strong>de</strong>n praktischen<br />

Folgen <strong>de</strong>r geschenkten christlichen Freiheit. Es geht dabei um <strong>die</strong> rechte Gottesverehrung<br />

im Gottes<strong>die</strong>nst und im Alltag <strong>de</strong>r Welt. Wenn Calvin das Leben in <strong>de</strong>r Freiheit als Antwort<br />

auf ein Geschenk und eine Anre<strong>de</strong> Gottes versteht, dann hat <strong>die</strong>ses Freiheitsverständnis<br />

einen dynamischen und dialogischen Charakter – im Hintergrund steht <strong>die</strong> calvinische Auffassung<br />

vom Heiligen Geist. Freiheit ist mehr als eine Setzung. Vielmehr re<strong>de</strong>t sie <strong>de</strong>n Menschen<br />

an und sucht ihn für sich zu gewinnen. Insofern begünstigt ein solches dialogisches<br />

Freiheitsverständnis Prozesse in <strong>de</strong>r Kirche und auch im Gemeinwesen, <strong>die</strong> <strong>de</strong>r Kommunikation,<br />

<strong>de</strong>r Verständigung, <strong>de</strong>r gemeinsamen Willensbildung und <strong>de</strong>r Partizipation Ausdruck<br />

geben. Kirche ist dann „Kirche <strong>de</strong>r Freiheit“ 25 , wenn sie sich selbst als Adressatin <strong>de</strong>s<br />

anre<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Wortes Gottes versteht und <strong>die</strong>sem in <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes zutraut,


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 23<br />

Freiheit inmitten <strong>von</strong> erstarrten und unfreien Strukturen zu wirken. Der klassische <strong>reformiert</strong>e<br />

Protestantismus ist <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft beseelt, <strong>die</strong> Wirkmächtigkeit <strong>von</strong> Gottes<br />

Wort wie<strong>de</strong>rzuent<strong>de</strong>cken und es zugunsten <strong>de</strong>r christlichen Freiheit fruchtbar zu machen.<br />

In einer Frankfurter und Bonner Predigt vom Juni 1946 über Joh 8,31f. versteht Karl Barth<br />

<strong>die</strong> christliche Freiheit als eine Erlaubnis: „Freiheit ist ein Leben in <strong>de</strong>r Erlaubnis, aber in<br />

<strong>de</strong>r Erlaubnis, <strong>die</strong> <strong>de</strong>r Mensch sich nicht selber genommen hat, son<strong>de</strong>rn <strong>die</strong> ihm gegeben<br />

ist. Und Jesus Christus gibt uns <strong>die</strong>se Erlaubnis zu einem Leben in <strong>de</strong>r Freiheit. Die Wahrheit,<br />

er, <strong>de</strong>r Sohn, wird euch frei machen.“ 26 Diesen in Jesus Christus grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Charakter<br />

<strong>de</strong>r Freiheit bekräftigt er in einem mit <strong>de</strong>m programmatischen Titel „Das Geschenk <strong>de</strong>r<br />

Freiheit“ versehenen Vortrag <strong>von</strong> 1953. In ihm erinnert Barth an <strong>de</strong>n Grund <strong>de</strong>r Freiheit:<br />

„Woher wollten wir <strong>de</strong>nn wissen, dass es so etwas wie Freiheit überhaupt gibt und was<br />

sie sein möchte, wenn uns nicht Gottes Freiheit als <strong>die</strong> Quelle und das Maß aller Freiheit,<br />

<strong>von</strong> ihm selbst uns zugewen<strong>de</strong>t, vor Augen stün<strong>de</strong>?“ 27 Barth lenkt damit <strong>de</strong>n Blick <strong>von</strong> allen<br />

menschlichen – und keineswegs überflüssigen, son<strong>de</strong>rn oftmals notwendigen – Bemühungen<br />

um Freiheit auf <strong>de</strong>ssen theologische Grundlegung: Gottes eigene Freiheit. Diese<br />

„ist <strong>die</strong> Souveränität <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r er sich selbst für <strong>de</strong>n Menschen erwählt und entschei<strong>de</strong>t,<br />

und also ganz und gar als Gott <strong>de</strong>s Menschen <strong>de</strong>r Herr ist“. 28 Diese Freiheit Gottes<br />

in <strong>de</strong>r Betätigung seiner Gna<strong>de</strong>, so Barth, problematisiert keineswegs <strong>die</strong> <strong>de</strong>m Menschen<br />

geschenkte Freiheit, son<strong>de</strong>rn begrün<strong>de</strong>t sie und füllt sie mit Leben: „Die <strong>de</strong>m Menschen<br />

geschenkte Freiheit ist <strong>die</strong> Freudigkeit, in <strong>de</strong>r er Gottes Erwählung nachvollziehen und also<br />

als Mensch Gottes sein Geschöpf, sein Bun<strong>de</strong>sgenosse, sein Kind sein darf.“ 29 Gottes Freiheit<br />

ruft sodann auch das Erkennen und das Bekennen in Wort und Tat wach. Dessen Antwort<br />

hat sachlich <strong>die</strong> Struktur <strong>de</strong>r „Übereinstimmung mit <strong>de</strong>r Freiheit Gottes“. 30 Das schließt<br />

<strong>die</strong> selbstkritische Reflexion <strong>de</strong>r Christinnen und Christen und ihrer Kirchen darüber ein,<br />

wozu sie in einer Welt berufen sind, in <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Angst vielfach <strong>die</strong> Freiheit dominiert und in<br />

<strong>de</strong>r <strong>die</strong> Beschneidung <strong>von</strong> Freiheitsrechten allzu oft als Zugewinn an Sicherheit gewertet<br />

wird. Die zweite These <strong>de</strong>r Barmer Theologischen Erklärung sieht <strong>die</strong> Entsprechung zur<br />

„frohe[n] Befreiung aus <strong>de</strong>n gottlosen Bindungen“ im „freie[n], dankbare[n] Dienst an seinen<br />

Geschöpfen“. 31 Und <strong>die</strong> sechste These beantwortet <strong>die</strong> Frage, wozu <strong>die</strong> Kirche existiert<br />

und <strong>von</strong> ihrem Herrn beauftragt ist, mit <strong>de</strong>r Auskunft, „<strong>die</strong> Botschaft <strong>von</strong> <strong>de</strong>r freien Gna<strong>de</strong><br />

auszurichten an alles Volk“. 32 In<strong>de</strong>m <strong>die</strong> Kirche sich selbst <strong>von</strong> <strong>de</strong>r frei zugewandten Gna<strong>de</strong><br />

anre<strong>de</strong>n lässt, ist sie in Wahrheit eine freie Kirche. Über <strong>die</strong> geschenkte und empfangene<br />

Freiheit gibt sie Auskunft, in<strong>de</strong>m sie <strong>die</strong> Botschaft <strong>de</strong>s Evangeliums an alles Volk ausrichtet<br />

– in ökumenischer und missionarischer Weite.


24 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Ich schliesse mit drei Anstössen, <strong>die</strong> zugleich das Vorgetragene zusammenfassen:<br />

Reformierte Theologie ist erstens darin Freiheitstheologie, dass sie über <strong>die</strong> geschenkte<br />

christliche Freiheit Auskunft gibt. In <strong>de</strong>r ihm eigenen Freiheit entschei<strong>de</strong>t sich Gott für das<br />

Zusammensein mit seinem Geschöpf Mensch, zieht ihn in seine Bun<strong>de</strong>sgemeinschaft hinein<br />

und befreit ihn <strong>von</strong> <strong>de</strong>n gottlosen Bindungen <strong>die</strong>ser Welt (vgl. Barmen II). Diese Befreiung<br />

geschieht in <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s schöpferischen Geistes, <strong>de</strong>r <strong>die</strong> verkehrten Verhältnisse<br />

än<strong>de</strong>rt und erneuert.<br />

Reformierte Theologie ist zweitens darin Freiheitstheologie, dass sie über <strong>de</strong>n verpflichten<strong>de</strong>n<br />

und verbindlichen Charakter <strong>de</strong>r christlichen Freiheit Auskunft gibt. In <strong>de</strong>r ihnen geschenkten<br />

Freiheit wer<strong>de</strong>n Christinnen und Christen frei, ihre Selbstbezogenheit zu verlassen<br />

und Gott und <strong>de</strong>n Menschen zu <strong>die</strong>nen: Sie <strong>die</strong>nen Gott, in<strong>de</strong>m sie sich ihm öffnen und<br />

sich sein Han<strong>de</strong>ln gefallen, sich trösten, versöhnen, vergeben und erneuern lassen. Und sie<br />

<strong>die</strong>nen <strong>de</strong>n Menschen, in<strong>de</strong>m sie im Alltag <strong>de</strong>r Welt auf ein Mehr an Freiheit, Gerechtigkeit<br />

und Frie<strong>de</strong>n drängen.<br />

Reformierte Theologie ist drittens darin Freiheitstheologie, dass sie <strong>die</strong> christliche Gemein<strong>de</strong><br />

an ihren Auftrag erinnert, in <strong>de</strong>m ihre eigene Freiheit grün<strong>de</strong>t. Dieser Auftrag besteht darin,<br />

im Dienst <strong>von</strong> Jesu Christi eigenem Wort und Werk „durch Predigt und Sakrament <strong>die</strong><br />

Botschaft <strong>von</strong> <strong>de</strong>r freien Gna<strong>de</strong> Gottes auszurichten an alles Volk“ (Barmen VI). Die Freiheit<br />

<strong>de</strong>r Kirche und <strong>die</strong> Kirche <strong>de</strong>r Freiheit haben ihren Maßstab darin, ob tatsächlich Gottes<br />

freie Gna<strong>de</strong> so ausgesprochen und angezeigt wird, dass Menschen da<strong>von</strong> getröstet und frei<br />

leben können. Eine Kirche, <strong>die</strong> sich als Kirche <strong>de</strong>r Freiheit bezeichnet, lässt sich in ihren Lebensäußerungen<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r in Jesus Christus grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und im Heiligen Geist zugeeigneten<br />

Freiheit bestimmen und tritt in Interaktion. Sie versteht sich in <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Wortes und<br />

<strong>de</strong>s Gottesgeistes als eine Gemeinschaft <strong>de</strong>r Angere<strong>de</strong>ten – zur Antwort geschaffen und<br />

<strong>zum</strong> Bekennen berufen. Ein Anspruch, <strong>de</strong>r nicht gering, aber verheißungsvoll ist.<br />

Das „Schepken Christi“ am Diakonenportal <strong>de</strong>r Großen Kirche ist nicht nur ein sprechen<strong>de</strong>s<br />

Bild für <strong>die</strong> Bewahrung <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> Jesu Christi, son<strong>de</strong>rn auch für <strong>die</strong> Ziele und Horizonte,<br />

zu <strong>de</strong>nen <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong> als wan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>s – und um im Bild zu bleiben: als vorwärtssegeln<strong>de</strong>s<br />

– Gottesvolk unterwegs ist: frei vom Zwang zur permanenten Selbstbeschäftigung und frei<br />

für einen verheißungsvollen Auftrag, ohne <strong>de</strong>n unsere Kirchen we<strong>de</strong>r evangelische noch<br />

nach Gottes Wort <strong>reformiert</strong>e Kirchen wären.<br />

Das „Schepken Christi“ am Diakonenportal <strong>de</strong>r Großen Kirche ist nicht nur ein sprechen<strong>de</strong>s<br />

Bild für <strong>die</strong> Bewahrung <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> Jesu Christi, son<strong>de</strong>rn auch für <strong>die</strong> Ziele und Horizonte,<br />

zu <strong>de</strong>nen <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong> als wan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>s – und um im Bild zu bleiben: als vorwärtssegeln<strong>de</strong>s<br />

– Gottesvolk unterwegs ist: frei vom Zwang zur permanenten Selbstbeschäftigung<br />

und frei für einen verheißungsvollen Auftrag, ohne <strong>de</strong>n unsere Kirchen we<strong>de</strong>r evangelische<br />

noch nach Gottes Wort <strong>reformiert</strong>e Kirchen wären.<br />

1 Ergänzte Fassung <strong>de</strong>s Impulsreferats auf <strong>de</strong>r Hauptversammlung <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s am<br />

30.9.2011; vgl. <strong>zum</strong> Thema <strong>die</strong> bei<strong>de</strong>n Freiheitsstu<strong>die</strong>n <strong>de</strong>r Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in<br />

Europa (Leuenberger Kirchengemeinschaft): Das christliche Zeugnis <strong>de</strong>r Freiheit, hg. v. Wilhelm Hüffmeier,<br />

Leuenberger Texte 5, Frankfurt a.M. 1999, sowie meinen Beitrag: Zum Antworten geschaffen.<br />

Anmerkungen zur Freiheit christlichen Lebens in <strong>reformiert</strong>er Perspektive, in: Gott – Natur – Freiheit.<br />

Theologische und naturwissenschaftliche Perspektiven, hg. v. Johannes v. Lüpke, Neukirchen-<br />

Vluyn 2008, 147–162.<br />

2 Brief <strong>von</strong> Calvin an Bullinger vom 7.9.1553, zit. in: Calvin-Stu<strong>die</strong>nausgabe, hg. v. Eberhard Busch<br />

u.a., Bd. 8: Ökumenische Korrespon<strong>de</strong>nz. Eine Auswahl aus Calvins Briefen, Neukirchen-Vluyn 2011,<br />

297.<br />

3 So Johannes Calvin, Unterricht in <strong>de</strong>r christlichen Religion, nach <strong>de</strong>r letzten Ausgabe <strong>von</strong> 1559<br />

übers. u. bearb. v. Otto Weber, im Auftrag <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s bearb. u. neu hg. v. Matthias Freu<strong>de</strong>nberg,<br />

Neukirchen-Vluyn 2008, 460 (Institutio III,19,1).<br />

4 Bezug auf <strong>die</strong> Einleitung <strong>de</strong>r Predigt zur Eröffnung <strong>de</strong>r Hauptversammlung <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s<br />

am 29.9.2011 <strong>von</strong> Jerry Pillay über Gal 5,1–26.<br />

5 Martin Luther, Von <strong>de</strong>r Freiheit eines Christenmenschen (1520), in: Luther <strong>de</strong>utsch. Die Werke Martin<br />

Luthers in neuer Auswahl für <strong>die</strong> Gegenwart, hg. v. Kurt Aland, Bd. 2: Der Reformator, Stuttgart/<br />

Göttingen 1962, 251–274, hier 274.<br />

6 Ulrich Zwingli, Die freie Wahl <strong>de</strong>r Speisen (1522), in: Huldrych Zwingli Schriften, im Auftrag <strong>de</strong>s<br />

Zwinglivereins hg. v. Thomas Brunnschweiler / Samuel Lutz, Bd. I, Zürich 1995, 13–73.


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 25<br />

7 Calvin, Unterricht in <strong>de</strong>r christlichen Religion (wie Anm. 3), 460 (Institutio III,19,1).<br />

8 Ebd. (Institutio III,19,2).<br />

9 Johannes Calvin, Auslegung <strong>de</strong>r Heiligen Schrift. Neue Reihe, in Zusammenarbeit mit an<strong>de</strong>ren hg. v.<br />

Otto Weber, Bd. 17: Auslegung <strong>de</strong>r kleinen Paulinischen Briefe, Neukirchen 1963, 78 (zu Gal 5,1).<br />

10 Damit greife ich eine treffen<strong>de</strong> Formulierung <strong>von</strong> Christian Link auf: Johannes Calvin – Humanist,<br />

Reformator, Lehrer <strong>de</strong>r Kirche, Zürich 2009, 23f.<br />

11 Wolfgang Lienemann, Grund<strong>info</strong>rmation Theologische Ethik, Göttingen 2008, 100f., schreibt zutreffend<br />

da<strong>von</strong>, dass das Thema Freiheit „gera<strong>de</strong>zu strukturbil<strong>de</strong>nd“ <strong>die</strong> Institutio durchzieht.<br />

12 Calvin, Auslegung <strong>de</strong>r Heiligen Schrift. Neue Reihe, Bd. 17 (wie Anm. 9), 84 (zu Gal 5,14).<br />

13 Calvin, Unterricht in <strong>de</strong>r christlichen Religion (wie Anm. 3), 461 (Institutio III,19,4).<br />

14 Ebd., 462 (Institutio III,19,5).<br />

15 Ebd., 463 (Institutio III,19,6).<br />

16 Ebd., 463 (Institutio III,19,7).<br />

17 Vgl. ebd., 464 (Institutio III,19,9).<br />

18 Ebd., 469 (Institutio III,20,1).<br />

19 Johannes Calvin, Genfer Katechismus (1545), Frage 42, in: Calvin-Stu<strong>die</strong>nausgabe, hg. v. Eberhard<br />

Busch u.a., Bd. 2: Gestalt und Ordnung <strong>de</strong>r Kirche, Neukirchen-Vluyn 1997, 29.<br />

20 Das Westminster-Bekenntnis (1647), in: Bekenntnisse <strong>de</strong>r Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rten, hg. v. Hans Steubing, Wuppertal 1985, 217.<br />

21 Ebd., 221.<br />

22 Karl Barth, Die Theologie <strong>de</strong>r <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester<br />

1923, hg. v. Eberhard Busch, Karl Barth-Gesamt ausgabe, Abt. II, Zürich 1998, 213.236.<br />

23 Weitere Beispiele für <strong>die</strong> kulturellen Wirkungen <strong>de</strong>s <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Freiheitsverständnisses nennt<br />

Jan Rohls, Zwischen Bil<strong>de</strong>rsturm und Kapitalismus. Der Beitrag <strong>de</strong>s <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Protestantismus<br />

zur Kulturgeschichte Europas, Wuppertal 1999.<br />

24 Calvin, Unterricht in <strong>de</strong>r christlichen Religion (wie Anm. 3), 856 (Institutio IV,20,31).<br />

25 Kirche <strong>de</strong>r Freiheit. Perspektiven für <strong>die</strong> Evangelische Kirche im 21. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Ein Impulspapier<br />

<strong>de</strong>s Rates <strong>de</strong>r EKD, hg. v. Kirchenamt <strong>de</strong>r EKD, Hannover 2006.<br />

26 Karl Barth, Predigt über Joh 8,31f., in: <strong>de</strong>rs., Predigten 1935–1952, hg. v. Hartmut Spieker / Hinrich<br />

Stoevesandt, Karl Barth-Gesamtausgabe, Abt. I, Zürich 1996, 319.<br />

27 Karl Barth, Das Geschenk <strong>de</strong>r Freiheit. Grundlegung evangelischer Ethik, ThSt 39, Zürich 1953, 4.<br />

28 Ebd., 2.<br />

29 Ebd.<br />

30 Ebd., 9.<br />

31 Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Georg<br />

Plasger / Matthias Freu<strong>de</strong>nberg, Göttingen 2005, 243.<br />

32 Ebd., 244.


26 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Freiheit verbin<strong>de</strong>t<br />

Von <strong>de</strong>r Befreiung <strong>zum</strong> Leben<br />

<strong>von</strong> Michael Weinrich<br />

[Von <strong>de</strong>r zentralen Be<strong>de</strong>utung, welche <strong>die</strong> Freiheit für <strong>die</strong> reformatorische Theologie hat, haben wir<br />

soeben noch einmal gehört. Die Kirche soll nach <strong>die</strong>sem Verständnis tatsächlich ‚Kirche <strong>de</strong>r Freiheit‘<br />

sein. Gemessen an <strong>die</strong>sem hohen Anspruch geben wir uns allerdings relativ wenig Mühe, genauer zu<br />

sa gen, was mit Freiheit gemeint ist und wie sie gelebt wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Freiheit ist ein großes Wort. Wir benutzen es selbstverständlich, so als sei klar, was mit ihm gesagt<br />

wird. Es steckt voller Verheißungen, <strong>die</strong> immer auch über das hinausgehen, was wir erleben können.<br />

In ihm liegt ein beinahe unwi<strong>de</strong>r stehliches Moment <strong>de</strong>r Verführung, ein kaum benennbarer Reiz einer<br />

Wirk lichkeit, in <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Schranken, <strong>die</strong> uns jetzt noch bedrängen, geöffnet sein wer <strong>de</strong>n. Und zugleich<br />

mel<strong>de</strong>t sich da schnell <strong>de</strong>r unwirkliche Gesang <strong>de</strong>r Sirenen, <strong>de</strong>ren betören<strong>de</strong> Melo<strong>die</strong> uns dazu<br />

bringen will, <strong>die</strong> Wirklichkeit durch eine Illusion einzutauschen, so als könne es je ein Leben geben,<br />

das nicht <strong>von</strong> Be grenzungen<br />

<strong>de</strong>s Hier und Jetzt, d.h. <strong>de</strong>n Begrenzungen <strong>von</strong> Raum und Zeit bestimmt sei. Selbst das Reich Gottes<br />

lässt sich nicht ohne örtliche Bedingun gen vorstellen, und wenn es eben <strong>die</strong> Bedingungen <strong>de</strong>s Himmels<br />

sind, <strong>die</strong> wir uns wie<strong>de</strong>rum nicht vorstellen können. Wir müssen aufpassen, dass <strong>die</strong> Frei heit<br />

nicht ins Kraut schießt, in<strong>de</strong>m sie üppige Triebe hervorbringt und sich damit vor unseren Sehnsüchten<br />

und Wünschen spreizt, ohne aber irgendwel che Früchte hervorbringen zu können. Es sind schon<br />

zu viele folgenlose Feu erwerke im Namen <strong>de</strong>r Freiheit abgefackelt wor<strong>de</strong>n, um über <strong>die</strong> im Namen<br />

<strong>de</strong>r Freiheit über unzählige Menschen gebrachten Verheerungen einmal ganz zu schweigen. Und<br />

zugleich müssen wir aufpassen, dass <strong>die</strong> Freiheit nicht um gekehrt zu <strong>de</strong>m erbärmlichen Triumph<br />

unserer konsumistischen Mentalität verkümmert, sich aus <strong>de</strong>r Fülle <strong>de</strong>s Angebots und <strong>de</strong>n scheinbar<br />

unbegrenzten Möglichkeiten etwas aussuchen zu können – sie wäre dann nichts an<strong>de</strong>res als <strong>die</strong><br />

selbstgenüssliche Qual, <strong>die</strong> man sprichwörtlich in <strong>de</strong>r Wahl hat.] 1<br />

Wer im Gefängnis einsitzt, sehnt sich nach nichts mehr als nach Freiheit. Je näher sie<br />

dann kommt, umso mehr drängt sich <strong>die</strong> Frage auf: Was wird dann sein, wenn ich hier raus<br />

bin? Welche Freiheit eröffnet sich nach <strong>de</strong>m langjähri gen Drücken <strong>de</strong>r Schulbank? Noch<br />

<strong>die</strong> eine Hür<strong>de</strong> muss genommen wer<strong>de</strong>n, und dann bin ich frei – nie wie<strong>de</strong>r eine Prüfung!<br />

Wenn <strong>die</strong> Kin<strong>de</strong>r erst einmal aus <strong>de</strong>m Haus sind …, wenn wir erst einmal aus <strong>die</strong>ser engen<br />

Wohnung raus sind …, wenn ich endlich meine Schul<strong>de</strong>n abgezahlt habe ..., wenn doch <strong>die</strong><br />

Lottofee ein Einsehen hätte – <strong>de</strong>r Freiheitsgewinn durch Geld scheint in unse rer Gesellschaft<br />

beson<strong>de</strong>rs evi<strong>de</strong>nt zu sein, auch wenn <strong>de</strong>r keineswegs geistrei chere Einwand gleich<br />

auf <strong>de</strong>m Fuße folgt, dass Geld allein ja nicht glücklich mache. Aber vielleicht macht ja auch<br />

<strong>die</strong> Freiheit allein noch nicht glücklich? –<br />

Und schließlich winkt auch <strong>de</strong>r Ruhestand nach einem hoffentlich langen Be rufsleben mit<br />

einer Aussicht auf Freiheit, <strong>die</strong> allerdings – je näher sie kommt – ebenso schnell <strong>von</strong> Ratlosigkeiten<br />

und Leerstellen eingeholt wird, wie auch all <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren Freiheitsverheißungen.<br />

Schaut man genauer hin, dann markieren all <strong>die</strong> genannten Freiheitssehnsüchte mehr<br />

<strong>die</strong> Gefangenschaften, in <strong>de</strong>nen wir uns jeweils befin<strong>de</strong>n, als dass sie tatsächlich Auskunft<br />

über <strong>die</strong> Freiheit geben, <strong>die</strong> als <strong>die</strong> Verabschiedung <strong>de</strong>r jeweiligen Probleme herbeigesehnt<br />

wird. Freiheit erscheint vor allem als das Jenseits <strong>de</strong>r <strong>von</strong> uns wahrgenommenen Gefangenschaften.<br />

Unser Leben vollzieht sich stets unter <strong>von</strong> uns nicht abzustellen<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n. Wir leben<br />

unablässig unter zahlreichen Gegebenheiten, <strong>die</strong> unsere Freiheit in ein enges Korsett<br />

zwängen, das sie im Extremfall ganz <strong>zum</strong> Erliegen bringen kann. Selbst wenn uns im Traum<br />

<strong>die</strong> Gunst erteilt wird, einmal wie ein Vogel durch <strong>die</strong> Welt flieg<br />

Die leicht verlängerbare Liste <strong>die</strong>ser Abhängigkeiten ver<strong>de</strong>utlicht: Unser Leben vollzieht<br />

sich stets unter <strong>von</strong> uns nicht abzustellen<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n. Wir leben unablässig unter zahlreichen<br />

Gegebenheiten, <strong>die</strong> unsere Freiheit in ein enges Korsett zwängen, das sie im Extremfall<br />

ganz <strong>zum</strong> Erliegen bringen kann. Selbst wenn uns im Traum <strong>die</strong> Gunst erteilt wird,<br />

einmal wie ein Vogel durch <strong>die</strong> Welt fliegen zu können, müssen wir unsere Arme als Flügel<br />

gebrauchen. Obwohl uns <strong>de</strong>r Traum in phantastischer Weise über uns hinauswachsen lässt,<br />

so eliminiert er doch nicht das Bewusstsein, dass das Fliegen eine vorausset zungsreiche<br />

Kunst ist. Obwohl über <strong>de</strong>n Wolken <strong>die</strong> Freiheit grenzenlos ist – sagt man –, fliegen wir


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 27<br />

selbst im Traum nicht bedingungslos, son<strong>de</strong>rn wir können plötzlich fliegen – das ist etwas<br />

ganz an<strong>de</strong>res. Freiheit steht nicht für <strong>die</strong> Annullierung <strong>de</strong>r Bedingungen unserer Wirklichkeit,<br />

son<strong>de</strong>rn für das Ver mögen, in ihnen etwas aus eigenem Antrieb verrichten zu können.<br />

Es geht also um ein Können im Horizont <strong>de</strong>r unser Leben jeweils prägen<strong>de</strong>n Bedin gungen.<br />

Die Vorstellung einer Autonomie, <strong>die</strong> meinen könnte, sich selbst <strong>die</strong> Bedingungen <strong>de</strong>r Freiheit<br />

setzen zu können, sollten wir also getrost als Schwärmerei in <strong>de</strong>n umfangreichen Akten<br />

menschlich-narzisstischer Spekula tionsseligkeit abheften.<br />

Drei Perspektiven <strong>de</strong>r Freiheit möchte ich be<strong>de</strong>nken, <strong>von</strong> <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> ihre ei gene Wichtigkeit<br />

hat. Es geht dreimal um ein bestimmtes Können, das erst durch <strong>die</strong> in ihm vorausgesetzte<br />

Freiheit <strong>von</strong> Be<strong>de</strong>utung ist: 1. Die Wahlfrei heit, 2. <strong>die</strong> Freiheit zur Selbstverwirklichung<br />

und 3. <strong>die</strong> Freiheit zur Beziehung.<br />

1. Die Wahlfreiheit<br />

Sprechen wir zuerst <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Wahlfreiheit, d.h. <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Freiheit, unter ver schie<strong>de</strong>nen<br />

sich anbieten<strong>de</strong>n Möglichkeiten entschei<strong>de</strong>n zu können. Obwohl sie zu unserem Thema<br />

heute weniger austrägt, können wir sie nicht ganz über gehen, weil sie eben auch eine<br />

grundlegen<strong>de</strong> Dimension für <strong>die</strong> weiterreichen <strong>de</strong>n Perspektiven <strong>de</strong>r Freiheit darstellt. Die<br />

Wahlfreiheit könnte als trivial an gesehen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn es ist in <strong>de</strong>r Tat trivial, ob ich mich<br />

entschei<strong>de</strong>, ein grü nes, ein schwarzes o<strong>de</strong>r eben ein blaues Auto zu kaufen – etwa nach <strong>de</strong>m<br />

Mot to: <strong>die</strong> Farbe ist egal, aber rot muss es sein. Schon beim Kauf <strong>von</strong> einem Paar Schuhe<br />

wer<strong>de</strong> ich meiner Freiheit nicht mehr ganz so freien Lauf lassen, sollen sie doch zu <strong>de</strong>n <strong>von</strong><br />

mir bevorzugten Kleidungsstücken passen. Dann bleibt immer noch genug Auswahl, und<br />

es ist nicht <strong>von</strong> weitreichen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, wie mich entschei<strong>de</strong>. Natürlich kann ich mich<br />

auch entschei<strong>de</strong>n, gar keine Schuhe zu kaufen, aber eine solche Entscheidung wird sich nur<br />

für eine befristete Dauer als sinnvoll erweisen. Dennoch bleibt <strong>die</strong> Freiheit, <strong>die</strong> sich auf Angebotsalternativen<br />

bezieht, trivial, solange sie im Rahmen <strong>de</strong>s Angebots bleibt.<br />

Ich bin frei, mir aus einem großen Angebot an verschie<strong>de</strong>nen Handys eines auszusuchen,<br />

aber gibt es auch noch <strong>die</strong> Freiheit gibt, sich gar keins auszusu chen? In ganz beson<strong>de</strong>rer<br />

Auf <strong>de</strong>m Podium Michael Weinrich


28 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Weise zeigt auch <strong>de</strong>r psychologisch <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Wer bung massiv beeinflusste Markenwahn<br />

nicht nur unter Jugendlichen, welch ein Druck auf <strong>de</strong>r Wahlfreiheit liegt und wie wenig<br />

trivial es ist, sich nicht <strong>de</strong>n Kanalisierungen <strong>die</strong>ses Drucks zu beugen. Was wäre es für ein<br />

Gewinn, wenn wirklich <strong>die</strong> Möglichkeit <strong>de</strong>r Wahl bestün<strong>de</strong>.<br />

Und wir können auch noch weiter zuspitzen, um zu zeigen, wie sehr das mit <strong>de</strong>r Wahlfreiheit<br />

verbun<strong>de</strong>ne Können <strong>von</strong> großer Be<strong>de</strong>utung ist: Gewiss ist <strong>die</strong> Möglichkeit, zwischen<br />

verschie<strong>de</strong>nen Brotsorten aussuchen zu können, nicht essenziell für das menschliche Leben,<br />

wohl aber <strong>die</strong> Möglichkeit, überhaupt Brot kaufen zu können. Die Freiheit <strong>de</strong>r Wahl<br />

zwischen verschie<strong>de</strong>nen Brotsorten liegt jenseits <strong>de</strong>r Hoffnungen <strong>de</strong>r Hungern<strong>de</strong>n, für <strong>die</strong><br />

sich je<strong>de</strong> Wahl für ihr Leben erübrigt, weil sie keinen Zugang zu <strong>de</strong>m haben, was für ihr<br />

Leben schlechterdings notwendig ist. Ihrem Wollen entspricht kein Können, entwe<strong>de</strong>r weil<br />

nichts zu bekommen ist o<strong>de</strong>r weil sie es nicht bezahlen können. Der Hinweis, dass <strong>die</strong> Gedanken<br />

doch frei seien, könnte an <strong>die</strong>ser Stelle wohl nur zynisch sein, <strong>zum</strong>al es auch nicht<br />

schwer ist, <strong>die</strong>se zu erraten.<br />

Es gibt durchaus Situationen, in <strong>de</strong>nen Freiheit essenziell mit Geld verbun<strong>de</strong>n ist, ohne<br />

welches man <strong>de</strong>r Gefangenschaft <strong>de</strong>s Elends anheimfällt. Zweifellos ist <strong>die</strong> marktgesteuerte<br />

Wahlfreiheit ein mit vielen Illusionen behaftetes Lu xusproblem unserer Konsumgesellschaft,<br />

an <strong>de</strong>m sich auch eine Armut unse res Reichtums zeigt. Aber wir wer<strong>de</strong>n einzugestehen<br />

haben, dass insbeson<strong>de</strong>re <strong>die</strong>jenigen <strong>die</strong> Qual haben, <strong>die</strong> eben nicht <strong>die</strong> Wahl haben.<br />

2. Die Freiheit zur Selbstverwirklichung<br />

Es sind zunächst <strong>die</strong> Philosophen, <strong>die</strong> in unterschiedlichen Tonlagen <strong>de</strong>n Menschen ermutigen,<br />

umwerben, herausfor<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r auch beschwören: Wer <strong>de</strong>, <strong>de</strong>r du bist! Sie sind<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r Erfahrung belehrt, dass <strong>de</strong>r Mensch aus Träg heit o<strong>de</strong>r fehlgeleitetem Eifer <strong>die</strong> Neigung<br />

habe, unter seinem Niveau zu blei ben. Die meisten Schatten, <strong>die</strong> auf <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Geschichte liegen, sind <strong>de</strong>r Selbstverfehlung <strong>de</strong>s Menschen zur Last zu legen, und <strong>die</strong><br />

Aussichten auf Besserung wer<strong>de</strong>n überaus unterschiedlich beurteilt[, <strong>von</strong> stoisch-resignativ<br />

bis himmelstürmend-prometheisch, <strong>von</strong> pessimistisch ernüchtert bis unerschütter lich optimistisch].<br />

Wo <strong>de</strong>r Glanz <strong>de</strong>r Erfolge <strong>de</strong>s Menschen in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>r grund gerückt wird, weiß man sich<br />

auf Erfolgskurs – nicht weil <strong>de</strong>r Mensch wie eine Katze immer auf seine Füße fällt, wohl<br />

aber weil ihm kühn <strong>die</strong> Fähig keit zugeschrieben wird, angesichts je<strong>de</strong>r Krankheit auch bald<br />

auf <strong>die</strong> rechte Medizin zu kommen. Wo hingegen das vom Menschen zu verantworten<strong>de</strong><br />

und unablässig neu produzierte Elend und Lei<strong>de</strong>n im Blickpunkt steht, fallen <strong>die</strong> Prognosen<br />

zurückhalten<strong>de</strong>r aus o<strong>de</strong>r wird gar – wie etwa <strong>von</strong> Camus – <strong>die</strong> redliche Treue zur<br />

Absurdität als ein Akt realitätsgerechter Freiheit eingefor <strong>de</strong>rt. Nur in radikaler Illusionslosigkeit<br />

können <strong>die</strong> tatsächliche Freiheit <strong>de</strong>s Menschen und das mit ihr verbun<strong>de</strong>ne Können<br />

in <strong>de</strong>n Blick kommen.<br />

Der Ton in <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung „Wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r du bist!“ liegt ganz und gar auf <strong>de</strong>m „Wer<strong>de</strong>“ und<br />

<strong>de</strong>r Beschwörung <strong>de</strong>s dazu erfor<strong>de</strong>rlichen Könnens: [„Du kannst wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r du bist!“ – „Du<br />

hast <strong>die</strong> Freiheit, aus dir das zu machen, was tatsächlich ein Mensch genannt zu wer<strong>de</strong>n ver<strong>die</strong>nt“ –<br />

o<strong>de</strong>r ein wenig un philosophischer ausgedrückt: „Bleib nicht hinter dir zurück, mach etwas aus dir!<br />

Du bist, was du aus dir machst!“] Der Appell zielt auf eine unverwirklichte Möglichkeit. Es ist<br />

<strong>die</strong> sich selbst wollen<strong>de</strong> Freiheit, <strong>die</strong> hier umworben wird. Ihre Lebensverheißung liegt<br />

in <strong>de</strong>m, was heute so gern und wohl doch ein we nig gedankenlos ein ‚gelingen<strong>de</strong>s Leben‘<br />

genannt wird. Der Höhenflug kommt dann allerdings recht regelmäßig zu <strong>de</strong>r doch eher<br />

beschei<strong>de</strong>nen Landung, wo es dann heißt: Nimm dich an, wie Du bist! – eine ebenfalls eher<br />

unbiblische Empfehlung. Es han<strong>de</strong>lt sich nur um <strong>die</strong> an<strong>de</strong>re Seite <strong>de</strong>rselben Medaille, <strong>die</strong><br />

auf bei<strong>de</strong>n Seiten <strong>die</strong> Freiheit an <strong>die</strong> Bindung <strong>de</strong>s Individuums an sich selbst verweist.<br />

Der weltanschauliche Charakter <strong>die</strong>ser Sichtweise zeigt sich in <strong>de</strong>r aus an<strong>de</strong>ren Zusammenhängen<br />

bereits bekannten Behauptung, dass das, was Dir <strong>die</strong>nlich ist, auch <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />

<strong>die</strong>nlich ist. Es ist <strong>de</strong>r Eigennutz, <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Ge meinnutz als för<strong>de</strong>rlich gilt.<br />

Die Freiheit zur Selbstverwirklichung als gesell schaftliches I<strong>de</strong>al ist keineswegs zufällig <strong>die</strong><br />

Lebensmaxime einer Gesellschaft, <strong>die</strong> wirtschaftlich auf das Lebenselixier <strong>de</strong>r am Gewinn<br />

orientierten Konkur renz setzt und vor allem <strong>die</strong> dafür erfor<strong>de</strong>rliche Freiheit schützt. Die<br />

für sich selbst investierte Energie und Phantasie erreicht im Erfolg auch <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren, <strong>zum</strong>al<br />

<strong>die</strong>se ja auch immer bereits ein Element <strong>de</strong>s Erfolges darstellen.


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 29<br />

Theologisch fin<strong>de</strong>t sich <strong>die</strong>se Weltanschauung etwa in <strong>de</strong>r psychologisch ge trimmten<br />

Ausweitung <strong>de</strong>s Doppelgebotes <strong>de</strong>r Liebe zu Gott und <strong>de</strong>m Nächs ten zu einem Dreifachgebot,<br />

wobei eben das Dritte: ‚<strong>die</strong> Liebe zu sich selbst‘ insofern zentral wird, als sich <strong>die</strong><br />

Liebe zu Gott und <strong>zum</strong> Nächsten allein an ihr qualifizieren. Immer wie<strong>de</strong>r geistert <strong>die</strong> biblisch<br />

schwer zu begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Selbstliebe durch <strong>die</strong> theologischen Konstruktionen, <strong>de</strong>nn<br />

sie macht letztlich <strong>die</strong> Investitionen in Gott und <strong>de</strong>n Nächsten, ja in <strong>die</strong> Religion und <strong>die</strong><br />

Fröm migkeit überhaupt erst sinnvoll. Schleiermachers Werbung für <strong>die</strong> Religion war genau<br />

in <strong>die</strong>sem Sinn ganz und gar an <strong>de</strong>m Zugewinn orientiert, <strong>de</strong>n selbst <strong>de</strong>r an sich schon<br />

selbstzufrie<strong>de</strong>ne aufgeklärte Mensch für sich und dann eben auch für <strong>die</strong> Gesellschaft aus<br />

<strong>de</strong>r Frömmigkeit zu ziehen vermag. [Es ist kein Zufall, wenn das vom Glauben eingestan<strong>de</strong>ne<br />

schlechthinnige Abhängigkeits gefühl auf ein schlechthinniges Freiheitsbewusstsein zielt – eine gera<strong>de</strong>zu<br />

rauschhafte religiöse Überhöhung <strong>de</strong>s am Selbstgewinn <strong>de</strong>s Individuums ori entierten Freiheitspathos<br />

und <strong>de</strong>s damit verbun<strong>de</strong>nen Religionsutilarismus, wie er bis heute in etwas mil<strong>de</strong>rer Variante<br />

weithin gepflegt wird.]<br />

Kant setzt <strong>de</strong>r Maßlosigkeit <strong>de</strong>s individuellen Freiheitswunsches<br />

das Maß <strong>de</strong>r Sozialverträglichkeit <strong>de</strong>r Freiheit entgegen und erhebt <strong>die</strong><br />

Gemeinschaftsfähigkeit unserer Freiheitsansprüche zu einem Ge setz,<br />

<strong>zum</strong> kategorischen Imperativ, <strong>de</strong>r uns – negativ gewen<strong>de</strong>t – auf ein Maß <strong>de</strong>r Freiheit<br />

verpflichtet, das konsequent <strong>de</strong>n Freiheitsanspruch <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren wahrt.<br />

Diesem theologischen Überbietungsversuch <strong>de</strong>r Aufklärung gegenüber nimmt sich <strong>die</strong><br />

Aufklärung – je<strong>de</strong>nfalls in <strong>de</strong>r anspruchsvollen Gestalt <strong>von</strong> Immanuel Kant – gera<strong>de</strong>zu beschei<strong>de</strong>n<br />

aus. Kant setzt <strong>de</strong>r Maßlosigkeit <strong>de</strong>s individuellen Freiheitswunsches das Maß<br />

<strong>de</strong>r Sozialverträglichkeit <strong>de</strong>r Freiheit entgegen und erhebt <strong>die</strong> Gemeinschaftsfähigkeit unserer<br />

Freiheitsansprüche zu einem Ge setz, <strong>zum</strong> kategorischen Imperativ, <strong>de</strong>r uns – negativ<br />

gewen<strong>de</strong>t – auf ein Maß <strong>de</strong>r Freiheit verpflichtet, das konsequent <strong>de</strong>n Freiheitsanspruch<br />

<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren wahrt. Das kennen wir alle und lautet – ein wenig vereinfachend gesagt: Meine<br />

Freiheit en<strong>de</strong>t dort, wo sie <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren einschränkt. Nur wenn sich <strong>die</strong> Freiheit<br />

in <strong>de</strong>n Grenzen hält, <strong>die</strong> grundsätzlich auch allen zugestan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können, ist sie keine<br />

Bedrohung und Auszehrung <strong>de</strong>s gemeinschaftli chen Zusammenlebens. [Kant wusste um <strong>die</strong><br />

Übergriffigkeit <strong>de</strong>r am Indivi duum orientierten Freiheit und flankiert sie kategorisch mit <strong>de</strong>m moralischen<br />

Gesetz, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Mensch beweisen kann, dass er auch in <strong>de</strong>r Wahrnehmung seiner Freiheit<br />

tatsächlich ein Mensch und nicht nur ein allen seinen Wün schen und Trieben nacheifern<strong>de</strong>s Wesen<br />

ist.] Die Orientierung am Eigennutz wird nicht infrage gestellt, aber sie soll sich in einem<br />

Rahmen vollziehen, <strong>de</strong>r grundsätzlich auch <strong>von</strong> je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren in Anspruch genommen<br />

wer<strong>de</strong>n kann.<br />

[Diese Logik klingt stimmig. Ob sie sich als stringent durchhalten lässt, mag hier dahingestellt bleiben.]<br />

Die Freiheit wird <strong>von</strong> Kant gleichsam in <strong>die</strong> Pflicht genommen, damit sie auf das<br />

Niveau durchfin<strong>de</strong>t, auf <strong>de</strong>m sie in ihrer Eigen willigkeit sozialverträglich wird. Die Freiheit<br />

wäre falsch verstan<strong>de</strong>n, wenn sie allein <strong>de</strong>n Gesetzen unserer Wünsche folgt. Sie<br />

kann nur dann recht Freiheit genannt wer<strong>de</strong>n, wenn sie <strong>de</strong>n kategorischen Imperativ zur<br />

Gemeinschaftlich keit nicht aus <strong>de</strong>n Augen verliert.<br />

Ob nun mit o<strong>de</strong>r ohne Kant, <strong>die</strong> Freiheit zur Selbstverwirklichung ist in je<strong>de</strong>m Fall eine<br />

Freiheit für sich selbst. Sie jagt <strong>de</strong>n jeweiligen Verhältnissen alle Mög lichkeiten ab, <strong>die</strong> zur<br />

Selbstverwirklichung entwe<strong>de</strong>r geeignet erscheinen o<strong>de</strong>r dafür als geeignet ausgegeben<br />

wer<strong>de</strong>n. Und sie jagt eben auch <strong>de</strong>n Mitmen schen <strong>de</strong>n Raum ab, <strong>de</strong>n sie für sich beansprucht.<br />

Es ist charakteristisch für <strong>die</strong>se Freiheit, dass <strong>de</strong>r Nächste, <strong>de</strong>r Mitmensch zunächst<br />

und entschei<strong>de</strong>nd als <strong>die</strong> Begrenzung meiner Freiheit in <strong>de</strong>n Blick kommt. Der und <strong>die</strong> An<strong>de</strong>re<br />

tritt mir als eigener zu respektieren<strong>de</strong>r Freiheitsraum gegenüber. Wo seine und ihre<br />

Freiheit beginnt, da en<strong>de</strong>t <strong>die</strong> meinige. [Und weil ich ja weiß, dass auch <strong>de</strong>r und <strong>die</strong> an<strong>de</strong>re meine<br />

Freiheit zu respektieren haben, reibt sich <strong>die</strong> eine an <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Freiheit. Die Soziologen nennen das<br />

Konkurrenzindividualismus.]<br />

Zugespitzt gesagt ist <strong>de</strong>r Mitmensch stets eine potentielle Bedrohung meiner Freiheit –<br />

Freiheit trennt. Die Begegnung mit <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren ist im Grundsatz keine Beglückung, son<strong>de</strong>rn<br />

<strong>die</strong> Konkretisierung <strong>de</strong>r prinzipiellen Rivalität, in <strong>de</strong>r sich das Leben vollzieht. Einerseits<br />

muss je<strong>de</strong> sehen wie sie durchkommt, und an<strong>de</strong>rerseits müssen sich alle miteinan<strong>de</strong>r<br />

arrangieren, obwohl sie Kon kurrenten sind. Die Freiheit folgt <strong>de</strong>n Opportunitätsgrün<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>s Ich, und das be<strong>de</strong>utet faktisch: Freiheit trennt.


30 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Man kann es auch <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>r freien Wildbahn nennen, auf <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r sei nen Lebenskampf<br />

führt und dabei auch nicht davor zurückscheut, <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren für <strong>die</strong> eigenen Interessen<br />

in Anspruch zu nehmen o<strong>de</strong>r gar auszunutzen. Man und frau ist eben so frei. Des<br />

Guten ist da schnell zu viel getan, und <strong>die</strong> Frei heit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren gerät unversehens ins Hintertreffen,<br />

ist doch das Ziel <strong>die</strong> Selbstverwirklichung, und <strong>die</strong>se wird am En<strong>de</strong> nicht daran<br />

bemessen, wie ich <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren geachtet habe, son<strong>de</strong>rn daran, was ich aus mir<br />

ge macht habe. Wer hätte nicht schon bemerkt, in welchem Maße unser Alltag immer wie<strong>de</strong>r<br />

<strong>von</strong> provokativen egomanen Grenzverletzungen und teilweise <strong>de</strong>monstrativen Rücksichtslosigkeiten<br />

in ein Nerven angreifen<strong>de</strong>s Reizklima versetzt wird. Wie heißt es doch so<br />

treffend und knapp in <strong>de</strong>r Werbung: „Unterm Strich zähl ich.“ Man kann es auch dramatischer<br />

ausdrücken, wie es <strong>de</strong>r Staatsphilosoph Thomas Hobbes zu Beginn <strong>de</strong>s Aufblühens<br />

<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Konkurrenzwirtschaft unter Berufung auf Plinius getan hat: Homo homini<br />

lupus est – <strong>de</strong>r Mensch ist <strong>de</strong>s Menschen Wolf. Ohne rechtliche und administ rativ durchgesetzte<br />

Regulation wür<strong>de</strong>n wir möglicherweise nicht davor zurück scheuen, uns im signifikanten<br />

Unterschied zu <strong>de</strong>n Wölfen gegenseitig aufzu fressen.<br />

[Im Anschluss an <strong>die</strong>ses Menschenbild und <strong>die</strong> <strong>von</strong> ihr flankierte gesellschaft liche Wirklichkeit hat<br />

<strong>de</strong>r bekannte Berliner Theologe Helmut Gollwitzer <strong>die</strong> Perspektive seines gesellschaftlichen Engagements<br />

darin gesehen, <strong>de</strong>n Men schen weniger wölfisch zu machen. Es ging ihm dabei darum, <strong>die</strong><br />

Freiheit aus <strong>de</strong>r Ich-Fixierung zu befreien – damit kommt nun eine ganz an<strong>de</strong>re Freiheits perspektive<br />

in Blick, <strong>de</strong>r wird uns jetzt im dritten Teil zuwen<strong>de</strong>n.]<br />

3. Die Freiheit zur Beziehung<br />

Wenn wir auch hier eine programmatische Formel nennen wollen, so hieße <strong>die</strong>se nicht:<br />

„Wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r du bist!“, son<strong>de</strong>rn: „Sei, <strong>de</strong>r du bist!“ Damit freilich ist es noch nicht getan, <strong>de</strong>nn<br />

es erhebt sich nun <strong>die</strong> Frage: „Wer bin ich eigent lich?“ – Ja, wer sind wir eigentlich? Unversehens<br />

fin<strong>de</strong>n wir uns vor <strong>die</strong>se Grundfrage gestellt, ohne <strong>de</strong>ren Beantwortung sich nichts<br />

Rechtes <strong>von</strong> unse rer Freiheit sagen lässt.


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 31<br />

Wollen wir <strong>die</strong>se Frage im Horizont <strong>de</strong>s christlichen Glaubens beantworten, so kann es<br />

nicht überraschend sein, dass wir sie nicht einfach für uns beant worten können. Wir sind<br />

nicht einfach für uns, und das be<strong>de</strong>utet: wir müssen nicht, wenn es um uns geht, auch ganz<br />

und gar mit uns auskommen. Wir sind nicht auf uns allein gestellt, um dann alles aus uns<br />

herauszuholen, wenn es darum geht zu zeigen, wer wir sind. Wir sind gera<strong>de</strong> nicht an uns<br />

gekettet, wenn es darum geht, <strong>de</strong>r Welt unsere Freiheit zu dokumentieren. [Wenn wir im<br />

Glauben bekennen, dass wir niemals ohne Gott sind, so folgt daraus, dass wir über das, wer und was<br />

wir sind, wohl kaum etwas Sinnvolles und gar Halt bares aussagen können, wenn wir da<strong>von</strong> absehen<br />

wollten, dass es zu unserem Sein gehört, im Gegenüber zu Gott zu leben.<br />

Wollten wir angesichts <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes <strong>de</strong>nnoch einfach für uns sein, so könnte das nur be<strong>de</strong>uten,<br />

<strong>die</strong>ses Mitsein Gottes zu ignorieren o<strong>de</strong>r eben zu leugnen. Wir müssten uns gleichsam <strong>von</strong> Gott<br />

abstrahieren; das so verstan<strong>de</strong> ne Leben wäre zwangsläufig eine Abstraktion, und <strong>die</strong> in ihm bemühte<br />

Frei heit bliebe eine Hilfskonstruktion, durch welche versucht wird, <strong>die</strong> Einsamkeit <strong>de</strong>s Alleinseins zu<br />

einer Tugend um<strong>zum</strong>ünzen. Was für eine Freiheit kann das sein, <strong>die</strong> uns an uns selbst kettet, wenn es<br />

darum geht, uns selbst zu verwirkli chen? Dass <strong>die</strong> Erfolge dann häufig entsprechend <strong>de</strong>primierend<br />

sind, kann eigentlich nicht wirklich verwun<strong>de</strong>rn.]<br />

Nun bekennen wir im Glauben ja nicht nur, dass wir nicht allein sind, was ja sehr Unterschiedliches<br />

be<strong>de</strong>uten könnte, son<strong>de</strong>rn wir bekennen uns zu einem Gott, <strong>de</strong>r mit uns sein<br />

will, so dass wir auch mit ihm sein können – ja, erst mit ihm sind wir, wer wir sind. Er hat<br />

eben <strong>de</strong>n schönen Namen Immanuel: „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein.“ –<br />

Es ist <strong>de</strong>r Gott, <strong>de</strong>r Bund und Treue hält ewiglich und nicht preisgibt <strong>die</strong> Werke seiner Hän<strong>de</strong>.<br />

Es ist <strong>die</strong>ses Gegenüber, <strong>die</strong>se Beziehung<br />

Gottes zu ihm, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Menschen auszeichnet,<br />

in <strong>de</strong>r er ist, wozu er erschaffen<br />

ist. Es ist <strong>de</strong>r Bund, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Raum<br />

<strong>de</strong>r Wirklichkeit bezeichnet, in <strong>de</strong>m wir<br />

sind, wer wir sind. Es ist <strong>die</strong>ser Bund, in<br />

<strong>de</strong>m sich Gott in Beziehung zu unserem<br />

Leben setzt und in <strong>de</strong>m wir eben auch in<br />

Beziehung zueinan<strong>de</strong>r gesetzt sind. Wir<br />

sind nicht für uns, wir sind mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

und mit Gott. [Wir haben unsere Freiheit<br />

nicht für uns, son<strong>de</strong>rn sie ereignet sich<br />

im Horizont <strong>die</strong>ser Wirklichkeit, in <strong>de</strong>r ich<br />

meine Freiheit nicht in <strong>de</strong>r Konkurrenz zur<br />

Freiheit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wahrnehmen muss.]<br />

Bei <strong>die</strong>ser Freiheit geht es nicht darum,<br />

etwas aus sich zu machen. Vielmehr hat<br />

sie <strong>die</strong> Aufrichtung und Anerkennung je<strong>de</strong>s<br />

Einzelnen <strong>von</strong> uns zur Vor aussetzung.<br />

Sie hängt nicht am Selbstbeweis <strong>de</strong>s Ich,<br />

son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>m <strong>von</strong> Gott bereiteten<br />

Bund. Sie wird ermöglicht durch <strong>de</strong>n<br />

Lebensraum <strong>die</strong>ses Bun <strong>de</strong>s und seine<br />

<strong>von</strong> Gott selbst vollzogene konsequente<br />

Durchsetzung am Kreuz <strong>von</strong> Golgatha.<br />

Nur eine geschenkte Freiheit befreit <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>n Zwängen <strong>de</strong>r Selbstbefreiung. Der<br />

an<strong>de</strong>re bedroht nicht meine Freiheit. Bei<br />

ihm en<strong>de</strong>t nicht meine Freiheit, son<strong>de</strong>rn<br />

er for<strong>de</strong>rt sie heraus und weckt sie aus<br />

ihrem Schlummer, gibt ihr einen Ereignishorizont,<br />

einen lebendigen Resonanzbo<strong>de</strong>n.<br />

Der und <strong>die</strong> an<strong>de</strong>re sind nicht zu<br />

fürchten. Sie geben vielmehr <strong>de</strong>m Leben<br />

seine Be<strong>de</strong>utung – eine Ausrichtung, <strong>die</strong><br />

nicht einfach ins Leere geht bzw. immer<br />

wie<strong>de</strong>r nur auf mich selbst zielt.


32 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Auch hier geht es um ein Können, eben das Können, in Beziehung zu leben, antworten zu<br />

können. Es geht um <strong>die</strong> Freiheit, <strong>die</strong> offen ist für Anre<strong>de</strong>, eine Freiheit, <strong>die</strong> aus <strong>de</strong>r Wahrnehmung<br />

<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren und somit <strong>de</strong>r gottgegebenen Wirklichkeit und eben nicht nur aus<br />

<strong>de</strong>r auf sich selbst beschränkten Abstrak tion lebt. Nicht <strong>de</strong>r überraschungsimmune Monolog,<br />

in <strong>de</strong>m wir <strong>die</strong> Varianten unseres Selbstverhältnisses durchbuchstabieren, son<strong>de</strong>rn<br />

lebendiger und <strong>zum</strong> Leben animieren<strong>de</strong>r Dialog. Nicht <strong>die</strong> Gebun<strong>de</strong>nheit an <strong>die</strong> eigenen Interessen<br />

und <strong>die</strong> penible Wahrung <strong>de</strong>s eigenen Freiheitsraumes, son<strong>de</strong>rn <strong>die</strong> Offenheit, <strong>die</strong><br />

Empfänglichkeit für <strong>de</strong>n und <strong>die</strong> an<strong>de</strong>re geben <strong>de</strong>r Freiheit eine Lebensfül le. Freiheit zeigt<br />

und ereignet sich in unseren konkreten Begegnungen immer wie<strong>de</strong>r in ungeahnter und<br />

unplanbarer Weise. Sie eröffnet uns ein Leben, in <strong>de</strong>m <strong>die</strong> Aktionen, auf <strong>die</strong> es ankommt,<br />

Interaktionen sind. Sie folgt <strong>de</strong>r Zu gewandtheit auf das Du, und das be<strong>de</strong>utet faktisch: Freiheit<br />

verbin<strong>de</strong>t.<br />

Bei<strong>de</strong> Schöpfungserzählungen unterstreichen, dass <strong>de</strong>r Mensch ein Bezie hungswesen ist.<br />

In <strong>de</strong>r ersten Erzählung schafft Gott <strong>de</strong>n Menschen, in<strong>de</strong>m er Mann und Frau schafft; sie<br />

sind <strong>de</strong>r Mensch und eben nicht schon einer <strong>von</strong> bei<strong>de</strong>n – es könnte sich bestenfalls um<br />

<strong>die</strong> Hälfte han<strong>de</strong>ln, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r <strong>die</strong> an<strong>de</strong>re bekanntlich <strong>die</strong> bessere ist. Der Mensch ist immer<br />

mehr als einer, und so heißt eben Menschsein: Zusammensein, Für-einan<strong>de</strong>r-da-sein. Und<br />

in <strong>de</strong>r zweiten Schöpfungserzählung kommt <strong>die</strong> Schaffung Adams erst da an ihr Ziel als ihm<br />

schließlich auch Eva als gleichwertiger Partner zur Seite steht. Erst <strong>die</strong> über wun<strong>de</strong>ne Einsamkeit<br />

lässt ihn Hoffnung für sein Leben fassen. Der Einzelne bleibt eine Abstraktion. Erst<br />

durch das Gegenüber und <strong>die</strong> Interaktion mit <strong>de</strong>m Gegenüber wer<strong>de</strong>n wir zu Menschen.<br />

Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber unterstreicht zu Recht, dass <strong>de</strong>r Mensch am<br />

Du <strong>zum</strong> Ich wird. Wie sollte es da eine Freiheit geben können, in <strong>de</strong>r <strong>die</strong>ses Du nicht vorkommt.<br />

Es ist <strong>de</strong>r und <strong>die</strong> An<strong>de</strong>re, <strong>die</strong> uns zur Selbstbestimmung verhelfen. Sie for <strong>de</strong>rn<br />

unsere Freiheit heraus und erwecken sie <strong>zum</strong> Leben. Es sind nicht <strong>die</strong> vielen zur Auswahl<br />

stehen<strong>de</strong>n Dinge, son<strong>de</strong>rn es ist das aufeinan<strong>de</strong>r bezogene Leben, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m unsere Freiheit<br />

erweckt wird. Freiheit verbin<strong>de</strong>t.<br />

Wären wir, was wir sind, wäre <strong>die</strong> Kirche, was sie ist, dann wäre auch <strong>die</strong> Frei heit<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes mit Hän<strong>de</strong>n greifbar, ja sie wür<strong>de</strong> zeigen, dass <strong>de</strong>r Glaube Berge<br />

versetzen kann. Die Tatsache, dass so wenige Berge versetzt wer<strong>de</strong>n, führt erschreckend<br />

vor Augen, wie wenig wir <strong>die</strong> uns <strong>von</strong> Gott eröff nete Freiheit tatsächlich wahrnehmen –<br />

Gott helfe uns!<br />

Eben <strong>de</strong>shalb ist <strong>die</strong> Kirche ‚Kirche <strong>de</strong>r Freiheit‘, weil sie weiß, dass wir nur sein sollen,<br />

wer wir bereits sind: Gottes Bun<strong>de</strong>spartner, <strong>die</strong> auch untereinan<strong>de</strong>r zu einer lebendigen<br />

Gemeinschaft berufen sind, in <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Freiheit nicht <strong>die</strong> <strong>de</strong>s einsamen Sammlers und Jägers<br />

ist, nicht <strong>die</strong> <strong>de</strong>r stets auf eigene Rechnung und eigenen Nutzen han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Ich-AG,<br />

<strong>de</strong>s abenteuerlichen einsamen Gold schürfers auf <strong>de</strong>r Suche <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Glückssträhne,<br />

son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Freiheit durch <strong>die</strong> Gemeinschaftlichkeit in Bewegung gerät. Es kommt<br />

eben ganz und gar darauf an, wer wir sind und als wen wir uns erkennen. Nicht als Wölfe<br />

<strong>zum</strong> Lebenskampf um uns selbst sind wir geschaffen, und so sollten wir uns auch nicht<br />

durch an<strong>de</strong>re dazu machen lassen o<strong>de</strong>r selber auf <strong>die</strong> I<strong>de</strong>e ver fallen, solche sein zu wollen.<br />

Wir sind für einan<strong>de</strong>r und <strong>zum</strong> Lobe Gottes und somit zur Freiheit <strong>de</strong>s lebendigen Miteinan<strong>de</strong>rs<br />

geschaffen. Das ist, was wir sind und zugleich immer wie<strong>de</strong>r verleugnen.<br />

Wären wir, was wir sind, wäre <strong>die</strong> Kirche, was sie ist, dann wäre auch <strong>die</strong> Frei heit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

Gottes mit Hän<strong>de</strong>n greifbar, ja sie wür<strong>de</strong> zeigen, dass <strong>de</strong>r Glaube Berge versetzen kann.<br />

Die Tatsache, dass so wenige Berge versetzt wer<strong>de</strong>n, führt erschreckend vor Augen, wie<br />

wenig wir <strong>die</strong> uns <strong>von</strong> Gott eröff nete Freiheit tatsächlich wahrnehmen – Gott helfe uns!


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 33<br />

Von <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Kirche im Reformprozess<br />

Impulsreferat für <strong>die</strong> Hauptversammlung <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s<br />

<strong>von</strong> Ilka Werner<br />

„Die Kirche geht nicht zugrun<strong>de</strong> an Kritik <strong>von</strong> innen und außen,<br />

son<strong>de</strong>rn am Hochmut <strong>von</strong> uns Professoren,<br />

an <strong>de</strong>r heimlichen Herrschsucht <strong>de</strong>r Kirchenleitung<br />

und an <strong>de</strong>r Verzagtheit und Feigheit <strong>de</strong>r Synodalen.“<br />

(Rudolf Bohren, 1969)<br />

Meine Aufgabe ist es, einige Überlegungen <strong>zum</strong> Thema ‚Kirche <strong>de</strong>r Freiheit – Freiheit<br />

<strong>de</strong>r Kir che’ aus <strong>de</strong>r Perspektive einer Lan<strong>de</strong>skirche – <strong>de</strong>r Evangelischen Kirche im Rheinland<br />

(EKiR) – im Reformprozess zu be<strong>de</strong>nken zu geben.<br />

Ich möchte mit zwei Beobachtungen beginnen: Zuerst: Ich arbeite mit reichlich <strong>de</strong>r Hälfte<br />

meiner Zeit und Kraft als Pfarrerin am Berufskolleg. Für meine 17 bis 18jährigen, meist<br />

männlichen Schüler ist Freiheit ein großes Thema und konkretisiert sich in Erwerb o<strong>de</strong>r<br />

Besitz <strong>de</strong>s Führerscheins. Mit <strong>de</strong>n Klassen,<br />

<strong>die</strong> auf <strong>de</strong>m Weg zur Fachhochschulreife<br />

sind, mache ich ‚Freiheit’ in aller<br />

Regel <strong>zum</strong> Thema und lese mit ihnen einen<br />

Auszug aus Luthers Freiheitsschrift.<br />

Sie buchstabieren auch brav und mühevoll<br />

<strong>de</strong>n Text nach und kommen mit<br />

ein bisschen Glück zu <strong>de</strong>m Schluss, dass<br />

nach Luther <strong>de</strong>r Mensch Gott gegenüber<br />

im Glauben frei, <strong>de</strong>n Menschen gegenüber<br />

in Liebe unfrei ist. Und dann wird<br />

unter 100 einer nach<strong>de</strong>nklich und sagt:<br />

Hm, das heißt doch, wer nicht an Gott<br />

glaubt, ist eigentlich gar nicht frei. – Die<br />

an<strong>de</strong>ren 99 erklären mir knapp, da sähe<br />

man schon, dass Luther unrecht habe,<br />

<strong>de</strong>nn dass Kirche und Glauben <strong>de</strong>r Inbegriff<br />

<strong>de</strong>r Unfreiheit seien, wisse doch<br />

je<strong>de</strong>r. ‚Kirche’ und ‚Freiheit’ sind für meine<br />

Schüler – und nicht nur für sie – ein<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch in sich. Die Kirche muss, so<br />

<strong>de</strong>ute ich <strong>die</strong>se Erfahrung, damit rechnen,<br />

dass ihrer Selbstwahrnehmung als<br />

Kirche <strong>de</strong>r Freiheit <strong>die</strong> Außenwahrnehmung<br />

nicht entspricht. Klärungsprozesse<br />

im Inne ren treffen darum oft nicht auf<br />

äußere Resonanz und Akzeptanz, und<br />

Anregungen <strong>von</strong> außen helfen im Inneren<br />

nicht immer weiter. Und zunächst –<br />

Kirche ist Kirche <strong>de</strong>r Freiheit, weil und<br />

insofern sie <strong>die</strong> befreien<strong>de</strong> Botschaft<br />

<strong>de</strong>r freien Gna<strong>de</strong> Gottes verkündigt. Das<br />

zu tun ist ihr Auftrag, in <strong>die</strong>sem Auftrag<br />

grün<strong>de</strong>t ihre Freiheit gegenüber allen<br />

an<strong>de</strong>ren Ansprüchen. Wir wissen, wie<br />

oft <strong>die</strong> befreien<strong>de</strong> Kraft <strong>de</strong>s Evangeliums<br />

mit einer verkorksten Verkündigung erschlagen<br />

wur<strong>de</strong>. Insofern sind wir nicht


34 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Kirche <strong>de</strong>r Freiheit. Kirche <strong>de</strong>r Freiheit ist nicht <strong>die</strong> evangelische Kirche, ist nicht etwa mit<br />

<strong>de</strong>r EKiR i<strong>de</strong>ntifizierbar. Kirche <strong>de</strong>r Freiheit ist eine geistliche Realität, eine verheißene<br />

Realität. Dieses Sein und Nicht-Sein stellt Kirchenleitung im weitesten Sinne <strong>die</strong> Aufgabe,<br />

im Nicht-Sein möglichst viel vom Sein erkennen zu lassen. Auch <strong>die</strong> Selbstwahrnehmung<br />

als Kirche <strong>de</strong>r Freiheit ist darum kompliziert, und erst recht in Zeiten <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung und<br />

Verunsicherung über <strong>de</strong>n einzuschlagen<strong>de</strong>n Weg umstritten. Will sagen: <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>r<br />

Kirche so wahrzunehmen, dass Kirche als Kirche <strong>de</strong>r Freiheit er scheint, erkennbar ist und<br />

erkannt wird, ist ausgesprochen schwierig.<br />

Um für <strong>die</strong>se Ausführungen ein „Packend“ zu bekommen, beschreibe ich Freiheit als Erfahrung<br />

anerkannter Differenz: Wenn Freiheit in Gottes gnädiger Zuwendung zu je<strong>de</strong>m einzelnen<br />

Menschen in seinem Sosein grün<strong>de</strong>t, kann man ihre Aktualisierung so beschreiben:<br />

Menschen erfahren sich als frei, wenn sie sich in ihrer Differenz gegenüber <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, in<br />

ihrer Beson <strong>de</strong>rheit anerkannt fühlen. Zwei Fragen stellen sich dann an <strong>die</strong> Reformprozesse:<br />

Wie gehen sie mit <strong>de</strong>r Freiheit in <strong>de</strong>r Kirche um? Wird <strong>die</strong> Differenz <strong>de</strong>s Einzelnen, <strong>de</strong>r<br />

einzelnen Ge mein<strong>de</strong>n anerkannt? Und: Wie wird <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>r Kirche wahrgenommen?<br />

Wird ihre Diffe renz erkennbar?<br />

Die Freiheit <strong>de</strong>r Kirche so wahrzunehmen, dass Kirche als Kirche <strong>de</strong>r Freiheit er scheint,<br />

erkennbar ist und erkannt wird, ist ausgesprochen schwierig.<br />

Mit <strong>die</strong>sen Fragen im Kopf möchte ich Ihnen in drei Abschnitten exemplarisch meine<br />

Überle gungen zu <strong>de</strong>n rheinischen Reformprozessen vortragen.<br />

1. Wir sind so frei<br />

2010 feiert <strong>die</strong> rheinische Kirche unter <strong>de</strong>m Motto „Wir sind so frei“ das Jubiläum<br />

<strong>de</strong>r ersten Duisburger Generalsyno<strong>de</strong> <strong>von</strong> 1610. Vor 400 Jahren nutzten <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong><br />

Gemein<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Gunst <strong>de</strong>r politischen Stun<strong>de</strong>, um sich eine Ordnung zu geben frei <strong>von</strong> <strong>de</strong>n<br />

Obrigkeiten, sie nutzen <strong>die</strong> Konfessionsfreiheit zur <strong><strong>reformiert</strong>en</strong> Kirchenbildung und sie<br />

verpflichteten sich <strong>zum</strong> Engagement für <strong>die</strong> Bildung <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>glie<strong>de</strong>r, um <strong>die</strong> neue<br />

Ordnung ausfüllen zu können und damit <strong>die</strong> Freiheit in <strong>de</strong>r Kirche zu wahren. Die zur Syno<strong>de</strong><br />

gehörigen Gemein<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n in ihrer konfessionellen Differenz erkennbar, und sie<br />

erkannten sich gegenseitig in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit wie Zusammengehörigkeit an.<br />

Wir haben im letzten Jahr im Rheinland gemerkt, dass ‚Syno<strong>de</strong> feiern’ nicht ganz einfach ist:<br />

Einerseits sind <strong>die</strong> damaligen Themen – vor allem <strong>die</strong> ‚presbyterial-synodale Ordnung’ – <strong>zum</strong><br />

traditionellen Inbegriff <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Kirche gewor<strong>de</strong>n und damit trotz ihrer Aktualität kaum<br />

‚frei’, und d.h. in <strong>die</strong>sem Fall selbstkritisch, zu behan<strong>de</strong>ln; an<strong>de</strong>rerseits ist es gera<strong>de</strong> we gen ihres<br />

Symbolcharakters kaum möglich, sich <strong>von</strong> ihnen zu lösen und ‚Wir sind so frei’ heu te noch<br />

einmal neu durchzubuchstabieren. Die ‚Freiheit <strong>de</strong>r Kirche’ wird – <strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r EKiR – so<br />

mit <strong>de</strong>r presbyterial-synodalen Ordnung verknüpft, dass <strong>die</strong> Freiheitsthematik im mer wie<strong>de</strong>r<br />

als ‚Freiheit <strong>von</strong> staatlicher und kirchlicher Obrigkeit durch evangeliumsgemäße Ordnung <strong>reformiert</strong>er<br />

Provenienz’ mehr konstatiert als durchbuchstabiert wird. An<strong>de</strong>re aktu elle Fel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Freiheitsthematik wie z.B. <strong>de</strong>r freie Umgang mit (vermeintlichen) Sachzwän gen <strong>de</strong>r Me<strong>die</strong>ngesellschaft<br />

heute bleiben unbearbeitet. Darum gelang in Duisburg eine teils fröhliche, teils feierliche<br />

Selbstvergewisserung über <strong>de</strong>n 1610 eingeschlagenen, immer noch für richtig erachteten<br />

und weiter verfolgten Weg. Dafür steht das verabschie<strong>de</strong>te Dokument „Wegweiser Geschichte:<br />

kritisch lernen aus <strong>de</strong>r Traditi on“. Was uns – meines Erachtens -nicht gelang, war, <strong>de</strong>m Motto<br />

einen heute neu orientieren<strong>de</strong>n Inhalt zu geben, mit <strong>de</strong>m <strong>die</strong> ‚Kirche <strong>de</strong>r Freiheit’ aufblitzt und<br />

<strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>r Kirche im 21. Jahrhun<strong>de</strong>rt als Gabe und Aufgabe konturiert wird. Inwiefern und<br />

in welchen Bereichen <strong>die</strong> rheinische Kirche heute <strong>de</strong>n Mut zur erkennbaren Differenz aufbringt<br />

o<strong>de</strong>r aufbringen sollte, wur<strong>de</strong> nicht diskutiert und nicht <strong>de</strong>utlich. Und <strong>die</strong> Sorge <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n,<br />

<strong>die</strong> ihre Freiheit durch <strong>die</strong> Umstrukturierungen in Richtung <strong>de</strong>r Syno<strong>de</strong>n bedroht sehen, war<br />

zwar untergrün dig immer spürbar, wur<strong>de</strong> aber nur am Ran<strong>de</strong> thematisiert. Ich halte das nicht (in<br />

erster Linie) für eine Folge mangeln<strong>de</strong>r Vorbereitung o<strong>de</strong>r schlechter theologischer Arbeit, son<strong>de</strong>rn<br />

für ein grundlegen<strong>de</strong>s Dilemma nicht nur <strong>de</strong>r rheinischen Kir che zwischen Traditionsverbun<strong>de</strong>nheit<br />

und kirchlicher Realpolitik: Inwiefern, das möchte ich an <strong>de</strong>n Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />

<strong>de</strong>r Reformprozesse aufzeigen.


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 35<br />

2. Die Freiheit <strong>de</strong>r Kirche I – Reformprozesse<br />

Ich bin seit 2005 Mitglied <strong>de</strong>r rheinischen Lan<strong>de</strong>ssyno<strong>de</strong> und war im gleichen Jahr als<br />

Vorsit zen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r sogenannten „AG I“ zur Problematik <strong>de</strong>r Wahrung o<strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />

presbyte rial-synodalen Ordnung an <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r jetzt noch laufen<strong>de</strong>n Reformprozesse<br />

beteiligt.<br />

Als Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ständigen Theologischen Ausschusses bin ich immer wie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n<br />

ver schie<strong>de</strong>nen Phasen <strong>die</strong>ser Prozesse befasst. Die Ausgangslage für <strong>die</strong>se Prozesse ist<br />

bekannt und überall ähnlich: Demographischer Wan <strong>de</strong>l, schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Finanzkraft, teurer<br />

Immobilienbestand, sinken<strong>de</strong>r öffentlicher Vertrauens bonus gegenüber <strong>de</strong>r Institution, in<br />

Folge da<strong>von</strong> weniger auskömmliche Stellen, Überlastung und Frustration bei haupt-und<br />

ehrenamtlich Mitarbeiten<strong>de</strong>n, Aufgabe <strong>von</strong> Arbeitsgebieten. Die Bemühung, <strong>die</strong>se Lage<br />

zu gestalten, bringt tiefgreifen<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rungen in Kultur und Struktur <strong>de</strong>r kirchlichen<br />

Landschaft, dazu <strong>die</strong> rhetorische Anstrengung, eine Krise als Chance wahrzunehmen. Reformprozess,<br />

Aufgabenkritik, Qualitätssicherung sind Begriffe, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> se Anstrengung<br />

stehen: sich nicht in einen Abwärtsstru<strong>de</strong>l ziehen zu lassen und Verän<strong>de</strong> rungsprozesse<br />

theologisch wie organisationstheoretisch als Möglichkeit zu Klärung und Auf bruch zu verstehen.<br />

Bei <strong>de</strong>nen, <strong>die</strong> nicht unmittelbar auch emotional an <strong>de</strong>n Vorgängen betei ligt sind,<br />

entsteht leicht <strong>de</strong>r Eindruck <strong>de</strong>r Unaufrichtigkeit: <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sem Herbst im Rheinland diskutierte<br />

„Aufgabenkritik“ wird als beschönigen<strong>de</strong> und irreführen<strong>de</strong> Bezeichnung für ein<br />

heftiges Einsparprogramm wahrgenommen. Reform erscheint als Verschleierung <strong>von</strong><br />

Abbau. Damit ist <strong>die</strong> innerkirchliche Vertrauensfrage gestellt. Diese Ausgangslage wird in<br />

<strong>de</strong>r EKiR in <strong>de</strong>n letzten Jahren mit verschie<strong>de</strong>nen einzelnen Syn odalbeschlüssen und Reformprozessen<br />

bearbeitet. Nebeneinan<strong>de</strong>r laufen <strong>die</strong> Einführung <strong>de</strong>s neuen kirchlichen<br />

Finanzwesens, verän<strong>de</strong>rte Personalplanung, eine Verwaltungsstrukturre form, <strong>die</strong> bereits<br />

genannte Aufgabenkritik, eine großangelegte Pfarrbilddiskussion und dazu in je<strong>de</strong>m Kirchenkreis,<br />

in allen Verbän<strong>de</strong>n und fast allen Gemein<strong>de</strong>n Konzeptions- und Spar <strong>de</strong>batten. In<br />

<strong>die</strong>ser Menge <strong>de</strong>utet sich <strong>die</strong> Metaebene <strong>de</strong>r eigentlichen Probleme an: mehr als ein halbes<br />

Dutzend umfassen<strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen kann letztlich niemand konstruktiv beglei ten, emotional<br />

tragen und organisatorisch verknüpfen. Die Reformflut ist faktisch nicht mehr presbyterial-synodal<br />

steuerbar, <strong>die</strong> synodale Leitungsphilosophie ist außer Kraft gesetzt. Es ist<br />

eine strukturelle Überfor<strong>de</strong>rung entstan<strong>de</strong>n, auf <strong>die</strong> alle Ebenen <strong>de</strong>r Kirche mit Abwehr und<br />

Selbstschutz reagieren. Inhaltlich haben all <strong>die</strong>se Prozesse in je ihrem Bereich ähnliche Ziele:<br />

durch effizientere Struk turierung und Organisation <strong>die</strong> bisherigen Aufgaben mit geringeren<br />

Ressourcen zu erfüllen; und durch klarere Profilierung und starke Orientierung am<br />

Kerngeschäft mehr öffentliche Resonanz und Einfluss zu erreichen. Die Maßnahmen sind<br />

bekannt: Prioritätensuche, Koope rationsvereinbarungen, Formulierung <strong>von</strong> Standards,<br />

Fortbildungen, Qualitätsmanagement, Controlling, mehr Aufsicht und Leitung, etc.<br />

Am Pult Ilka Werner bei ihrem Impuls


36 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Als Beispiel mag <strong>die</strong> aktuell diskutierte Vorlage zur Personalplanung <strong>die</strong>nen: Nach Etablierung<br />

einer lan<strong>de</strong>skirchenweiten Pfarrstellenplanung, um <strong>die</strong> Entstehung <strong>von</strong> Lücken im<br />

pfarramtlichen Dienst zu vermei<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach einer Mitarbeiten<strong>de</strong>nkonzeption,<br />

um <strong>de</strong>n Personalmix <strong>von</strong> PfarrerInnen und an<strong>de</strong>ren hauptamtlichen Mitarbeiten<strong>de</strong>n zu<br />

bewahren, scheint es sinnvoll, <strong>die</strong> Personalplanung auf Kirchenkreisebene zu verankern,<br />

weil <strong>die</strong> einzelne Gemein<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Regel eine zu kleine Planungsgröße ist. Die aktuelle Vorlage<br />

bie tet verschie<strong>de</strong>ne Mo<strong>de</strong>lle <strong>von</strong> <strong>de</strong>r schlichten Dokumentation und gegenseitigen<br />

Information bis zur Verlagerung <strong>de</strong>r Personalhoheit auf <strong>die</strong> Kirchenkreisebene, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Pflicht zur Kon zeptionsentwicklung bis zu weitreichen<strong>de</strong>n Vorgaben durch <strong>die</strong> Lan<strong>de</strong>skirche.<br />

Das Verständnis bzw. <strong>die</strong> Deutung <strong>die</strong>ser Vorlage differiert enorm: während <strong>die</strong> einen<br />

darin einen notwendigen und vernünftigen Vorgang <strong>de</strong>r Vernetzung und Zusammenarbeit<br />

durch Stärkung <strong>de</strong>r regionalen Gemein<strong>de</strong>ngemeinschaft sehen, beobachten <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

einen Zent ralisierungsprozess zur Stärkung und Durchsetzung lan<strong>de</strong>skirchlicher Interessen<br />

auf Kosten regionaler Beson<strong>de</strong>rheiten. Es geht mir jetzt gar nicht darum, welches Verständnis<br />

richtig o<strong>de</strong>r angemessen ist: <strong>die</strong> Tatsache, dass so verschie<strong>de</strong>n verstan<strong>de</strong>n wird,<br />

prägt <strong>die</strong> Syno<strong>de</strong>n und berührt das rheinische Selbstverständnis. Denn während <strong>die</strong> einen<br />

<strong>die</strong> Vorlage wie selbstverständlich im Rahmen <strong>de</strong>r presbyterial-synodalen Ordnung interpretieren<br />

und <strong>die</strong>se Ordnung auch selbstverständlich als i<strong>de</strong>ellen Rahmen <strong>de</strong>r Umsetzung<br />

durch Kirchenleitung und Kreissynodalvorstän<strong>de</strong> voraussetzen, sehen <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>rselben<br />

Vorlage ein Ele ment <strong>de</strong>s Umbaus <strong>de</strong>r Kirche <strong>von</strong> unten zu einer Kirche <strong>von</strong> oben<br />

und gehen für <strong>die</strong> Umset zung da<strong>von</strong> aus, dass sie willentlich und geplant <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>r<br />

presbyterial-synodalen Ordnung verlassen wird. Auf bei<strong>de</strong>n Seiten gibt es solche, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Entwicklung bejahen, und solche, <strong>die</strong> sie ablehnen. Die oben genannten Vertrauensfrage<br />

wird zur Vertrauenskrise, und <strong>die</strong> strukturelle Überfor<strong>de</strong>rung erschwert <strong>die</strong> sachliche Bearbeitung<br />

<strong>de</strong>r Anfragen. Auf <strong>de</strong>n Wegfall lan<strong>de</strong>sherrlicher Einflüsse reagierte <strong>die</strong> rheinische<br />

Kirche in <strong>de</strong>r Geschichte, so hat es <strong>de</strong>r Kirchengeschichtler Hellmut Zschoch herausgearbeitet,<br />

mit <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s ‚konsistorialen Fein<strong>de</strong>s’ in <strong>de</strong>n Kreissynodalvorstän<strong>de</strong>n<br />

bzw. Kirchenleitungen o<strong>de</strong>r seiner Etablierung in <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>skirchenamt. Genau<br />

das wie<strong>de</strong>rholt sich in <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong>n Debatte: Den einen wer<strong>de</strong>n Übergriffe gegen <strong>die</strong> Freiheit<br />

<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n <strong>von</strong> obrigkeitlichen Einflüssen vorgeworfen, <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren versuchen<br />

<strong>de</strong>n Nachweis, nicht übergriffig zu wer<strong>de</strong>n. Bei<strong>de</strong> bleiben im Kontext <strong>de</strong>s rheinischen Leitthemas.<br />

Die Diskussionsebene bleibt also <strong>die</strong> presbyterial-synodale Ordnung, auch wenn<br />

Podiumsgespräch mit (v.l.) M. Weinrich, M. Freu<strong>de</strong>nberg,<br />

I. Werner und P. Bukowski


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 thema: Zur Freiheit befreit 37<br />

angesichts <strong>de</strong>r strukturellen Überfor<strong>de</strong>rung Kir chenleitung und Lan<strong>de</strong>skirchenamt längst<br />

weitreichen<strong>de</strong> Entscheidungs-und Durchfüh rungsbefugnisse übernommen haben und<br />

wahrnehmen.<br />

Die Frage nach <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Kirche spielt in <strong>die</strong>sen Debatten dann auch vor allem als Freiheit<br />

<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n eine Rolle: <strong>de</strong>ren Freiheit wird durch <strong>die</strong> wichtigere Rolle <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />

und vor allem durch <strong>die</strong> Standardisierung <strong>von</strong> Prozessen bedroht gesehen: <strong>die</strong> Anerkennung<br />

ihrer Differenz ist fragwürdig gewor<strong>de</strong>n. Die Freiheit <strong>de</strong>r gesamten Kirche, etwa<br />

ihre Differenz zur Gesellschaft (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verlust <strong>die</strong>ser Differenz) wird nicht Thema – o<strong>de</strong>r<br />

sogar im Namen <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n abgelehnt. Die Debatte treibt merkwürdige<br />

Blüten: So kann man manchmal meinen, <strong>die</strong> Freiheit <strong>de</strong>r Kirche grün<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Sozialform<br />

Ortsgemein<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Recht, eine an<strong>de</strong>re Software als <strong>die</strong> Nachbargemein<strong>de</strong>n zu benutzen.<br />

Was aus <strong>de</strong>m Blick gerät, ist <strong>die</strong> Orientierung aller kirchlichen Arbeit am Auftrag<br />

<strong>de</strong>r Kirche, <strong>de</strong>r Ausrichtung <strong>de</strong>r Botschaft <strong>von</strong> <strong>de</strong>r freien Gna<strong>de</strong> Gottes. Genau <strong>die</strong>se Orientierung<br />

ist in <strong>de</strong>r Leitvorstellung <strong>de</strong>r EKiR „Missionarisch Volkskirche sein“ verankert,<br />

wenn in <strong>de</strong>r dazu entwickelten Arbeitshilfe alle kirchlichen Angebote mit einer doppelten<br />

Leitfrage auf ihre Auf tragsgemäßheit überprüft wer<strong>de</strong>n: Inwiefern hilft ein Angebot, neue<br />

Menschen für das Evan gelium zu gewinnen, und inwiefern hilft es, <strong>die</strong> niedrigschwellige<br />

Erreichbarkeit kirchlicher Angebote für alle aufrechtzuerhalten. Für <strong>die</strong> praktische Arbeit<br />

mit <strong>die</strong>ser Leitvorstellung ergeben sich m.E. zwei Probleme: Zum einen halte ich es für eine<br />

Illusion, durch theologische Grundüberlegungen zu trennscharfen Entscheidungskriterien<br />

zu kommen, -und zwar unabhängig <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Qualität <strong>die</strong>ser theologi schen Überlegungen.<br />

Wenn das stimmt, wer<strong>de</strong>n praktische Weichenstellungen letzten En<strong>de</strong>s durch Macht und<br />

Lobbyarbeit gefällt. Und das führt <strong>zum</strong> zweiten Problem, <strong>de</strong>r schon oben genannten Vertrauenskrise:<br />

wenn Kirchenleitung <strong>die</strong>se Sachlage und <strong>die</strong> damit einhergehen <strong>de</strong>n emotionalen<br />

Verwerfungen nicht wahrnimmt, anerkennt und nachvollziehbar bearbeitet, son<strong>de</strong>rn<br />

über sie hinweggeht, zerstört sie <strong>die</strong> synodalen Chancen, gemeinsam zwar schmerz hafte,<br />

aber frei gefällte Entscheidungen zu tragen. Für <strong>die</strong> gefühlte Freiheit <strong>de</strong>r rheinischen Kirche<br />

hängt viel daran, dass <strong>die</strong> Kirchenleitung nicht in <strong>die</strong> Rolle <strong>de</strong>s ‚konsistorialen Fein<strong>de</strong>s’<br />

gerät. Die rheinische historische Konturierung <strong>de</strong>r Freiheitsproblematik birgt <strong>die</strong> Gefahr<br />

<strong>de</strong>r übergroßen Innenorientierung in <strong>de</strong>n synodalen Strukturen und <strong>de</strong>r Vernachlässigung<br />

<strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r ganzen Kirche gegenüber gesellschaftlichen Ten<strong>de</strong>nzen.<br />

Für <strong>die</strong> kirchenleiten<strong>de</strong>n Gremien wird <strong>die</strong> Orientierung nach außen aber zunehmend zentral.<br />

Böse gesagt, sind <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong>n mit innerkirchlichen Macht-und Befreiungskämpfen<br />

be schäftigt, während <strong>die</strong> Öffentlichkeitsorientierung <strong>de</strong>r kirchenleiten<strong>de</strong>n Gremien tiefgreifen<strong>de</strong><br />

Verän<strong>de</strong>rungen hervorruft, <strong>die</strong> m.E. viel zu wenig beachtet und diskutiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Darum:<br />

3. Die Freiheit <strong>de</strong>r Kirche II – Öffentlichkeitsorientierung<br />

Im lan<strong>de</strong>ssynodalen Alltag geschieht es, dass <strong>die</strong> Gestaltung <strong>de</strong>r Tagesordnung sich an<br />

<strong>de</strong>r Anwesenheit <strong>von</strong> Presse bzw. <strong>de</strong>r Terminierung <strong>de</strong>r Pressekonferenzen orientiert, nicht<br />

am Arbeitsfluss <strong>de</strong>s Synodalbüros o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ausschüsse. In gewisser Weise ist es vernünftig,<br />

das so zu machen, und trotz<strong>de</strong>m zeigt <strong>die</strong>se Praxis, dass sich im Schatten <strong>de</strong>r offiziellen<br />

Reform prozesse <strong>die</strong> Kirche me<strong>die</strong>nförmig <strong>reformiert</strong>. Ich will gar nicht auf <strong>die</strong> ‚sogenannte<br />

Luther-Deka<strong>de</strong>’ und ihre Auswüchse zu sprechen kommen (<strong>die</strong> ist ja Gott sei Dank kein<br />

rheinisches Thema) – im Grun<strong>de</strong> stellt sich <strong>die</strong> Frage nach <strong>de</strong>r öffentlichen Rolle <strong>de</strong>r Kirche<br />

in allen Ge mein<strong>de</strong>n, Verbän<strong>de</strong>n, Kirchenkreisen usw. Ich bin in Neuss Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Verban<strong>de</strong>s evan gelischer Kirchengemein<strong>de</strong>n: als Margot Käßmann zurücktrat, ging bei mir<br />

das Telefon, <strong>die</strong> Zeitung ist dran: „Was sagen Sie dazu?“; als zu Guttenberg zurücktrat, ging<br />

wie<strong>de</strong>r das Tele fon, <strong>die</strong> Zeitung ist dran: „Was sagen Sie dazu? Wir rufen vier Leute an, Sie<br />

sind <strong>die</strong> Kirchen-frau, also sagen Sie bitte was Moralisches!“; als <strong>de</strong>r Papst nach Deutschland<br />

kam, ging bei mir das Telefon, <strong>de</strong>r Lokalfunk ist dran: „Was sagen Sie als Evangelische<br />

<strong>zum</strong> Papstbesuch? Sie sind doch sicher dagegen?“ – Nun ist Neuss sicher ein beson<strong>de</strong>res<br />

Pflaster, aber was für eine öffentliche Rolle wird uns da zugeschoben? Kirche wird angefragt<br />

als Kommentatorin öffentli cher Ereignisse <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft. Und sie macht sich<br />

für <strong>die</strong>se Rolle passend – manchmal auch dann, wenn sie gar nicht gefragt ist. Wo eine eigene<br />

Linie fehlt, wird Freiheit verspielt. Ich beobachte mit Sorge – auch, was meine eigene


38 thema: Zur Freiheit befreit <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Rolle und Präsenz in Neuss angeht -, wie oft Kirche bei öffentlichen Ereignissen in Gestalt<br />

einzelner Repräsentantinnen und Repräsentan ten dabei ist, ohne <strong>die</strong>se Ereignisse inhaltlich<br />

wirksam mitgestalten zu können. Dieses oft un kritische ‚Hauptsache in <strong>de</strong>n Me<strong>die</strong>n’-<br />

Agieren hat bemerkenswerte Auswirkungen auf <strong>die</strong> Or ganisation <strong>de</strong>r kirchlichen Arbeit:<br />

Fototermine bekommen Vorrang, und <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r Arbeit wird <strong>von</strong> Protagonistinnen wie<br />

Konsumenten am ‚Häufig in <strong>de</strong>r Zeitung sein’ abgelesen. Eine kritische Reflexion <strong>die</strong>ser<br />

Praxis fin<strong>de</strong>t zu wenig statt. Welche Rolle möchte <strong>die</strong> Kirche in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit spielen?<br />

Welche kann sie überhaupt spielen, wenn sie <strong>von</strong> ihrem Verkündi gungsauftrag aus <strong>de</strong>nkt?<br />

Was kann sie mit ihrer Präsenz gewinnen, wenn sie keine Möglich keiten hat, inhaltlich Akzente<br />

zu setzen? Sie gerät in verschie<strong>de</strong>ne Dilemmata. Zum einen: Die säkularisierte Welt<br />

funktioniert ganz gut ohne Kirche; wo sie nicht ist, wird sie selten vermisst. Das führt dazu,<br />

dass Wegbleiben o<strong>de</strong>r Schweigen außerhalb <strong>de</strong>r Kirche kaum als Akt wahrgenommen wird<br />

und innerhalb <strong>de</strong>s eige nen Bereichs zunehmend als Versäumnis gilt, und erzeugt <strong>de</strong>n ungeheuren<br />

Sog, überall hinzu laufen und zu allem etwas zu sagen. Beharrt <strong>die</strong> Kirche auf ihrer<br />

Differenz, ihrer Beson<strong>de</strong>rheit, gewinnt sie damit keine Anerkennung, und empfin<strong>de</strong>t sich<br />

nicht als frei, son<strong>de</strong>rn (zu Recht) als irrelevant. Es fragt sich allerdings, ob durch ständige<br />

Anwesenheit Relevanz entstehen kann. Zum an<strong>de</strong>ren hat <strong>die</strong> Orientierung an Außenwirkung<br />

und Erfolg Auswirkungen auf <strong>die</strong> Frei heit in <strong>de</strong>r Kirche: Effekt <strong>de</strong>r Leuchtfeuer-Metaphorik<br />

und <strong>de</strong>r Qualitäts<strong>de</strong>batte ist eine Nei gung zur Aufblähung aller Veranstaltungen mit<br />

<strong>de</strong>r Folge <strong>de</strong>r Überlastung vieler und zuneh mend <strong>de</strong>fizitorientierten Feed-backs. Pluralität<br />

<strong>de</strong>r Traditionen und Angebote kommt in <strong>de</strong>n Geruch <strong>de</strong>s Handgestrickten, nicht Zukunftsfähigen.<br />

Damit gerät <strong>de</strong>r vielfältige Reichtum ge ra<strong>de</strong> unierter Kirchen in Gefahr. Die Erfahrung<br />

anerkannter Differenz ist in bestimmten Be reichen immer seltener zu machen – <strong>die</strong><br />

Erfahrung <strong>de</strong>r Freiheit in <strong>de</strong>r Kirche schwin<strong>de</strong>t. Und drittens wird <strong>die</strong> Präsenz <strong>de</strong>r Kirche<br />

in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit <strong>zum</strong>eist zwar freundlich wahr genommen, führt aber selten dazu, dass<br />

Menschen ihre Freiheit zur Kirche wahrnehmen. Der missionarische Erfolg tritt nicht ein,<br />

Menschen fühlen sich bestätigt in ihrem Sosein, aber nicht herausgefor<strong>de</strong>rt durch eine Botschaft,<br />

<strong>die</strong> sie <strong>von</strong> außen anspricht, o<strong>de</strong>r eine Freiheit, <strong>die</strong> über das bekannte hinausgeht.<br />

Was positive Religionsfreiheit ausmacht, ist nicht in Wer bemaßnahmen zu vermitteln. Meines<br />

Erachtens ist es <strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r EKiR überfällig, ihre zunehmen<strong>de</strong> Öffentlichkeitsorientierung<br />

im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r Kirche, <strong>die</strong> Kirche <strong>de</strong>r<br />

Frei heit zu bezeugen, zu diskutieren. Und es ist nötig, <strong>die</strong> Rückwirkungen <strong>die</strong>ser ‚Reform<br />

im Schatten’ auf <strong>die</strong> Schwierigkeiten <strong>de</strong>r offiziellen Reformprozesse wahrzunehmen.<br />

4. Und nun?<br />

Ich habe mich sehr schwer damit getan, <strong>die</strong>ses Referat vorzubereiten. Zum einen darum,<br />

weil ich mir ob <strong>de</strong>s kritischen Tons ein bisschen illoyal vorkomme. Ich kann bis zu einem<br />

gewissen Grad ermessen, unter welchem Druck Kirchenleitungen arbeiten. Zum an<strong>de</strong>ren,<br />

weil ich mit arbeite in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Ebenen und zu tief drinstecke, um wirklich <strong>de</strong>n<br />

Überblick für eine angemessene Analyse zu haben. Zum dritten, weil ich in <strong>die</strong>ser rheinischen<br />

Kirche lebe und an <strong>de</strong>r Stimmung und Situation lei<strong>de</strong>. Zum vierten, weil ich mit<br />

verantwortlich bin für <strong>die</strong> Prozesse und ziemlich hilflos angesichts <strong>de</strong>r Lage. Das, was ich<br />

Ihnen vorgetragen habe, ist darum ein Versuch – mein Versuch jetzt – etwas mehr zu verstehen<br />

durch <strong>die</strong> Aufgabe, <strong>die</strong> Reformprozesse mit <strong>de</strong>r Freiheitsfrage zu verbin<strong>de</strong>n. Einmal<br />

formuliert, klingt es dann doch selbstgewisser, als ich es geschrieben habe.<br />

Im Titel <strong>de</strong>r Hauptversammlung ist auch <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Verheißung <strong>de</strong>r Freiheit <strong>die</strong> Re<strong>de</strong>. Darum<br />

will ich einen verheißungsvollen Schluss wagen. Im 1. Korintherbrief ( 6,12) heißt es:<br />

„Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles <strong>die</strong>nt <strong>zum</strong> Guten.“ Wenn es gelänge, dass wir uns <strong>de</strong>n<br />

zweiten Teil <strong>de</strong>s Satzes zu Herzen nähmen – alle, auf allen Ebenen, je<strong>de</strong>r und je<strong>de</strong>r für sich<br />

und ge meinsam in <strong>de</strong>n Gremien -, und in rechtem Maß unserer Freiheit <strong>die</strong> pathetische<br />

Spitze abbre chen, in<strong>de</strong>m wir neu lernen, was Demut <strong>de</strong>r Kirche be<strong>de</strong>utet, wenn das gelänge,<br />

könnten wir freier wer<strong>de</strong>n.<br />

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 angedacht: Galater 5<br />

Die Befreiung in Christus<br />

Predigt <strong>von</strong> Jerry Pillay im Eröffnungsgottes<strong>die</strong>nst <strong>de</strong>r 66. Hauptversammlung<br />

<strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s 2011<br />

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Steht also fest und lasst euch nicht wie<strong>de</strong>r in das Joch<br />

<strong>de</strong>r Knechtschaft einspannen. 2 Seht, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschnei<strong>de</strong>n lasst,<br />

wird Christus euch nichts nützen. 3 Ich bezeuge nochmals je<strong>de</strong>m Menschen, <strong>de</strong>r sich beschnei<strong>de</strong>n<br />

lässt, dass er verpflichtet ist, alles, was das Gesetz verlangt, zu tun. 4 Ihr, <strong>die</strong> ihr im Gesetz<br />

Gerechtigkeit fin<strong>de</strong>n wollt, habt euch <strong>von</strong> Christus losgesagt, aus <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> seid ihr herausgefallen!<br />

5 Denn im Geist und aus Glauben warten wir auf <strong>die</strong> Erfüllung unserer Hoffnung:<br />

<strong>die</strong> Gerechtigkeit. 6 In Christus Jesus gilt ja we<strong>de</strong>r Beschnittensein noch Unbeschnittensein,<br />

son<strong>de</strong>rn allein <strong>de</strong>r Glaube, <strong>de</strong>r sich durch <strong>die</strong> Liebe als wirksam erweist. 7 Ihr seid doch gut<br />

gelaufen! Wer hat euch bloss daran gehin<strong>de</strong>rt, euch weiterhin <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Wahrheit bestimmen<br />

zu lassen? 8 Es ist nicht <strong>die</strong> Überredungskunst <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r euch beruft. 9 Schon ein wenig Sauerteig<br />

durchsäuert <strong>de</strong>n ganzen Teig. 10 Ich habe im Herrn Vertrauen in euch, dass ihr nichts<br />

an<strong>de</strong>res im Sinn habt. Der euch aber durcheinan<strong>de</strong>r bringt, wird sein Urteil zu tragen haben,<br />

wer er auch sei. 11 Ich aber, liebe Brü<strong>de</strong>r und Schwestern, falls ich weiterhin <strong>die</strong> Beschneidung<br />

verkündigen sollte, was wer<strong>de</strong> ich dann noch verfolgt? Dann wäre ja das Ärgernis <strong>de</strong>s Kreuzes<br />

beseitigt! 12 Sollen sie sich doch gleich kastrieren lassen, <strong>die</strong> euch aufhetzen!<br />

13 Denn zur Freiheit seid ihr berufen wor<strong>de</strong>n, liebe Brü<strong>de</strong>r und Schwestern. Auf eins jedoch<br />

gebt acht: dass <strong>die</strong> Freiheit nicht zu einem Vorwand für <strong>die</strong> Selbstsucht wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn <strong>die</strong>nt<br />

einan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Liebe! 14 Denn das ganze Gesetz hat seine Erfüllung in <strong>de</strong>m einen Wort gefun<strong>de</strong>n:<br />

Liebe <strong>de</strong>inen Nächsten wie dich selbst! 15 Wenn ihr einan<strong>de</strong>r aber beissen und fressen<br />

wollt, dann seht zu, dass ihr euch nicht gegenseitig verschlingt!<br />

16 Ich sage aber: Führt euer Leben im Geist, und ihr wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>m Begehren <strong>de</strong>s Fleisches nicht<br />

nachgeben! 17 Denn das Begehren <strong>de</strong>s Fleisches richtet sich gegen <strong>de</strong>n Geist, das Begehren<br />

<strong>de</strong>s Geistes aber gegen das Fleisch. Die bei<strong>de</strong>n liegen ja miteinan<strong>de</strong>r im Streit, so dass ihr<br />

nicht tut, was ihr tun wollt. 18 Wenn ihr euch aber vom Geist leiten lasst, untersteht ihr nicht<br />

<strong>de</strong>m Gesetz. 19 Es ist ja offensichtlich, was <strong>die</strong> Werke <strong>de</strong>s Fleisches sind: Unzucht, Unreinheit,<br />

Ausschweifung, 20 Götzen<strong>die</strong>nst, Zauberei, Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Eigennutz,<br />

Zwietracht, Parteiung, 21 Missgunst, Trunkenheit, Übermut und <strong>de</strong>rgleichen mehr ­ ich sage<br />

es euch voraus, wie ich es schon einmal gesagt habe: Die solches tun, wer<strong>de</strong>n das Reich Gottes<br />

nicht erben. 22 Die Frucht <strong>de</strong>s Geistes aber ist Liebe, Freu<strong>de</strong>, Frie<strong>de</strong>n, Geduld, Güte, Rechtschaffenheit,<br />

Treue, 23 Sanftmut, Selbstbeherrschung. Gegen all <strong>die</strong>s kann kein Gesetz etwas<br />

haben. 24 Die aber zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch samt seinen Lei<strong>de</strong>nschaften<br />

und Begier<strong>de</strong>n gekreuzigt.<br />

25 Wenn wir im Geist leben, wollen wir uns auch am Geist ausrichten. 26 Lasst uns nicht eitlem<br />

Ruhm nachjagen, einan<strong>de</strong>r nicht reizen, einan<strong>de</strong>r nicht benei<strong>de</strong>n!<br />

Galater 5, in <strong>de</strong>r Übersetzung <strong>de</strong>r Zürcher Übersetzung<br />

Zwei Drachen flogen durch <strong>die</strong> Luft, bei<strong>de</strong> an einer Schnur durch jemand am Bo<strong>de</strong>n<br />

gesteuert. Der eine sagt <strong>zum</strong> an<strong>de</strong>rn: „Wie sehr wünsche ich mir, nicht an <strong>die</strong>ser Schnur<br />

festgehalten und durch jemand an<strong>de</strong>rs kontrolliert zu wer<strong>de</strong>n. Es engt so ein. Wenn ich nur<br />

meine Freiheit hätte; ich wür<strong>de</strong> in <strong>die</strong> Höhe steigen und könnte mein volles Potenzial ausschöpfen!“<br />

Genau in <strong>die</strong>sem Augenblick machte es einen Ruck und <strong>die</strong> Leine riss. „Wow! Mein Traum<br />

hat sich erfüllt. Und tschüss!“ Und ab ging’s in <strong>die</strong> Höhe. Aber es dauerte nicht lange. Anstatt<br />

aufzusteigen stürzte er ab und verfing sich in einem Leitungsmast. Traurig sagte er:<br />

„Wie sehr wünschte ich, weiter an <strong>die</strong>ser Leine zu sein. Ich säße nicht hier fest.“<br />

Freiheit! So viele Menschen wollen heute frei sein. Eltern <strong>von</strong> elterlicher Verantwortung,<br />

Kin<strong>de</strong>r <strong>von</strong> elterlichen Zwängen, Schüler <strong>von</strong> vorgeschriebener Erziehung, Leute in unglücklichen<br />

Beziehungen, Ehen und Arbeitsverhältnissen. „Ich will ausbrechen“, sagen sie.<br />

Keine Verpflichtungen, keine Bindungen. Ich will ich selbst sein, will tun, was mir gefällt.<br />

39


40 angedacht: Galater 5 <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

Paulus hat viel <strong>zum</strong> Thema Freiheit zu sagen in<strong>de</strong>m er es mit <strong>de</strong>m Gesetz und <strong>de</strong>m sündhaften<br />

Wesen in Zusammenhang stellt. In seinem Denken existiert eine Freiheit ohne Bindung<br />

und Verpflichtung nicht – immer sind wir gebun<strong>de</strong>n an etwas. Wem immer wir gehorsam<br />

sind, wovor wir uns beugen, worauf wir uns einlassen, wem wir huldigen – immer gebun<strong>de</strong>n.<br />

Deshalb hält Paulus es für richtig, statt im Dienst <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> zu stehen sich in <strong>de</strong>n<br />

Dienst <strong>de</strong>r Gerechtigkeit zu stellen.<br />

Der Apostel macht im 5. Kapitel <strong>de</strong>s Galaterbriefs drei gewichtige Feststellungen zu christlicher<br />

Freiheit:<br />

1. Christliche Freiheit ist gekennzeichnet durch Unabhängigkeit (V. 1)<br />

Ziel seines Schreibens ist es, <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong> daran zu erinnern, dass Christentum nichts<br />

mit Gesetzlichkeit zu tun hat – <strong>die</strong> führt zu Gefangenschaft und Knechtschaft – son<strong>de</strong>rn<br />

vielmehr Freiheit und Unabhängigkeit be<strong>de</strong>utet. Der Apostel macht <strong>die</strong>s <strong>de</strong>utlich, wenn<br />

er <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Freiheit spricht, <strong>die</strong> <strong>de</strong>r Glauben<strong>de</strong> durch Christus erfahren hat. Er sagt <strong>die</strong>s im<br />

Kontext <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit (jüdischen) Eiferern, <strong>die</strong> seine Lehre <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong><br />

hinterfragen, ja, behaupten, gäbe es keine Regeln, wür<strong>de</strong> <strong>die</strong> Glaubensgemeinschaft auseinan<strong>de</strong>rbrechen.<br />

Paulus statt<strong>de</strong>ssen lehnt <strong>die</strong> Beschneidung ab, weil Christus uns vom Gesetz befreit hat. Er<br />

stellt nicht <strong>die</strong> Ablehnung <strong>de</strong>s Gesetzes heraus, son<strong>de</strong>rn betont <strong>die</strong> neue Freiheit <strong>de</strong>rer, <strong>die</strong><br />

an Jesus Christus glauben. Die Betonung liegt darauf, nicht länger an das Gesetz gebun<strong>de</strong>n<br />

zu sein und seinem „Fluch“ zu erliegen son<strong>de</strong>rn befreit durch <strong>de</strong>n Auferstan<strong>de</strong>nen Herrn<br />

zu sein. Der Apostel will damit <strong>die</strong> Glauben<strong>de</strong>n in das neue Leben in Christus hineinziehen.<br />

Solche Freiheit ist kein Recht son<strong>de</strong>rn ein Geschenk. Ein Geschenk, ermöglicht durch <strong>de</strong>n<br />

Tod und <strong>die</strong> Auferstehung <strong>von</strong> Jesus Christus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Preis für unsere Befreiung bezahlt<br />

hat. Das Gesetz ist erfüllt wor<strong>de</strong>n, folgen<strong>de</strong> Geschichte illustriert das:<br />

Billy Graham wur<strong>de</strong> beim Durchfahren einer Kleinstadt im Sü<strong>de</strong>n wegen Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r Polizei gestoppt und erhielt ein Ticket. Er gestand sein Vergehen<br />

ein, musste aber vor Gericht erscheinen. „Schuldig o<strong>de</strong>r nicht schuldig?“ fragte <strong>de</strong>r Richter.<br />

Als Graham sich schuldig bekannte, entgegnete <strong>de</strong>r Richter: „Das macht zehn Dollar – einen<br />

Dollar pro Meile, <strong>die</strong> Sie über <strong>die</strong> Geschwindigkeitsbeschränkung gefahren sind.“ Plötzlich<br />

erkannte <strong>de</strong>r Richter <strong>de</strong>n berühmten Prediger. „Sie haben das Gesetz verletzt! Die Strafe<br />

muss bezahlt wer<strong>de</strong>n – aber ich wer<strong>de</strong> das für Sie tun.“ Er zog eine Zehn-Dollar-Note aus<br />

seinem Portemonnaie, legte sie <strong>zum</strong> Ticket – und lud ihn dann <strong>zum</strong> Steak-Essen ein. Grahams<br />

Reaktion: „So behan<strong>de</strong>lt Gott einen reuigen Sün<strong>de</strong>r.“<br />

Das ist es, was Paulus als <strong>die</strong> „herrliche Freiheit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes“ beschreibt.<br />

Christliches Leben ist ein Leben in Freiheit. Wie Paulus es sagt: „Wir leben<br />

unter <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>, nicht unter <strong>de</strong>m Gesetz!“ Wir sind frei.<br />

Das ist es, was Paulus als <strong>die</strong> „herrliche Freiheit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Gottes“ beschreibt. Christliches<br />

Leben ist ein Leben in Freiheit. Wie Paulus es sagt: „Wir leben unter <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>, nicht unter<br />

<strong>de</strong>m Gesetz!“ Wir sind frei. Frei! Frei!<br />

2. Christliche Freiheit ist gekennzeichnet <strong>von</strong> Liebe und Glaube (V 6)<br />

Wenn christliches Leben Freiheit be<strong>de</strong>utet, heißt das, dass alles geht? Be<strong>de</strong>utet das,<br />

tun zu können, was man will? Das führt zu <strong>de</strong>r Frage, wie frei wir sind. Paulus gibt darauf<br />

eine Antwort in Römer 6,1-3: Was folgt nun daraus? Etwa: Lasst uns <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> treu bleiben,<br />

damit <strong>die</strong> Gna<strong>de</strong> umso größer wer<strong>de</strong>? Gewiss nicht! Wir, <strong>die</strong> wir für <strong>die</strong> Sün<strong>de</strong> tot sind, wie<br />

sollten wir noch in ihr leben können? Wisst ihr <strong>de</strong>nn nicht, dass wir, <strong>die</strong> wir auf Christus Jesus<br />

getauft wur<strong>de</strong>n, auf seinen Tod getauft wor<strong>de</strong>n sind? Das gilt auch für euch: Betrachtet euch<br />

als solche, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Sün<strong>de</strong> tot, für Gott aber lebendig sind, in Christus Jesus.<br />

Die Schlüsselworte hier sind: „in Christus Jesus“. Das ist es, was <strong>de</strong>r Apostel so eindringlich<br />

klar<strong>zum</strong>achen versucht: dass unsere Freiheit keine Freiheit an sich ist, son<strong>de</strong>rn in Jesus<br />

Christus begrün<strong>de</strong>t. Unsere Freiheit fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r uns befreit hat <strong>von</strong> Sün<strong>de</strong>, vom


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 angedacht: Galater 5<br />

Gesetz, <strong>de</strong>n Werken <strong>de</strong>s Teufels und <strong>de</strong>n Mächten <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s. Jesus hat <strong>die</strong>s alles überwun<strong>de</strong>n<br />

„Wenn <strong>de</strong>r Sohn euch befreit, dann seid ihr wirklich frei!“<br />

Wir sind dann wie <strong>die</strong>ser Drachen, und haben trotz<strong>de</strong>m <strong>die</strong> Freiheit zu fliegen; wir sind<br />

gebun<strong>de</strong>n an Jesus, <strong>de</strong>r uns festhält und sicher macht. Solange wir an ihm bleiben sind wir<br />

gerettet! Die Konsequenz daraus ist, nach Gottes Willen zu leben. Wir können unser Leben<br />

nicht so weiterleben wie zuvor, als wir Christus noch nicht kannten. Paulus erinnert <strong>die</strong><br />

Gemein<strong>de</strong> daran, wenn er sagt (Gal 5,13): „Denn zur Freiheit seid ihr berufen wor<strong>de</strong>n, liebe<br />

Brü<strong>de</strong>r und Schwestern. Auf eins jedoch gebt acht: dass <strong>die</strong> Freiheit nicht zu einem Vorwand<br />

für <strong>die</strong> Selbstsucht wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn <strong>die</strong>nt einan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Liebe!“<br />

Dasselbe sagt Jesus in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Ehebrecherin (Joh 8,1-11) aus: Die Gesetzeslehrer<br />

und Pharisäer brachten sie <strong>zum</strong> ihm und sagten, dass sie <strong>de</strong>m Gesetz zufolge<br />

gesteinigt wer<strong>de</strong>n müsse. Jesus aber bückte sich und schrieb mit <strong>de</strong>m Finger auf <strong>die</strong> Er<strong>de</strong>.<br />

Dann sagte er zu ihnen: „Wer unter euch ohne Sün<strong>de</strong> ist, werfe als Erster einen Stein auf<br />

sie!“ Sie alle gingen schließlich weg und Jesus sprach zu <strong>de</strong>r Frau: „Wo sind sie? Hat keiner<br />

dich verurteilt? Sie sagte: Keiner, Herr. Da sprach Jesus: Auch ich verurteile dich nicht.“<br />

Freiheit ist keine Lizenz zu tun, was man will, son<strong>de</strong>rn zu glauben und Jesus anzugehören.<br />

Bei Gott zu bleiben und zu tun, was bei ihm Gefallen fin<strong>de</strong>t.<br />

Können Sie sich das Gefühl <strong>de</strong>r Freiheit vorstellen, das <strong>die</strong>se Frau empfun<strong>de</strong>n hat? Nicht<br />

nur <strong>die</strong> Freiheit vom Gesetz, son<strong>de</strong>rn auch <strong>von</strong> Schuld, <strong>von</strong> Hohn und inneren Kämpfen. Es<br />

ist eine wun<strong>de</strong>rbare Geschichte <strong>von</strong> Gna<strong>de</strong> und Vergebung. Aber da gibt es einen oft vernachlässigten<br />

Aspekt: Freigesprochen und geheilt wie sie ist, soll sie ihr Leben nun nicht<br />

mehr in Sün<strong>de</strong> fortsetzen. Jesus sagt ihr <strong>zum</strong> Schluss: „Geh und sündige <strong>von</strong> jetzt an nicht<br />

mehr!“ Nun, da sie solche Freiheit empfangen hat soll sie ein neues Leben beginnen. Freiheit<br />

ist keine Lizenz zu tun, was man will, son<strong>de</strong>rn zu glauben und Jesus anzugehören. Bei<br />

Gott zu bleiben und zu tun, was bei ihm Gefallen fin<strong>de</strong>t.<br />

Solche Freiheit zu gebrauchen um das, was Gottes ist, zu wählen, dazu sind wir berufen.<br />

Vertrauen in Gott zu haben, „weil in Christus Jesus allein <strong>de</strong>r Glaube gilt, <strong>de</strong>r sich durch <strong>die</strong><br />

Liebe als wirksam erweist“ (V 6) – dazu sind wir berufen.<br />

In <strong>die</strong>ser Freiheit Gott zu lieben, dazu sind wir berufen. Diese Freiheit zu gebrauchen, um<br />

an<strong>de</strong>re zu lieben und ihnen zu <strong>die</strong>nen, dazu sind wir berufen. Christen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ihne geschenkte<br />

Freiheit aufgeben, statt<strong>de</strong>ssen zu Dienern Gottes und Diener an<strong>de</strong>rer wer<strong>de</strong>n – ist<br />

<strong>die</strong>s Ihr biblisches Verständnis <strong>von</strong> Freiheit: Frei, um zu <strong>die</strong>nen?<br />

Solch eine Auffassung jedoch darf nicht dazu führen, dass wir in unserer Freiheit an<strong>de</strong>re<br />

dominieren, auf <strong>die</strong> herabsehen, <strong>die</strong> an<strong>de</strong>rs sind als wir, verurteilend o<strong>de</strong>r wertend sind.<br />

Wir sollen vielmehr <strong>de</strong>m Beispiel Jesu folgen, <strong>de</strong>r nicht gekommen ist, „<strong>die</strong> Welt zu verurteilen,<br />

son<strong>de</strong>rn sie zu erretten.“ Der Weg Jesu ist <strong>de</strong>r Weg andauern<strong>de</strong>r Liebe. Unsere<br />

Liebe zu an<strong>de</strong>ren führt uns dazu, mit ihnen zu lei<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m wir auf das Leben im Auferstan<strong>de</strong>nen<br />

und Retter weisen. Es ist nicht <strong>de</strong>r Weg in Selbstgerechtigkeit, o<strong>de</strong>r in<strong>de</strong>m<br />

wir <strong>die</strong> Fehler <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren suchen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re ausschließen. Es ist <strong>de</strong>r Weg in Demut,<br />

ehrlichem Interesse am an<strong>de</strong>ren und einla<strong>de</strong>nd zu sein. Es ist nicht <strong>die</strong>ses: Wie können wir<br />

euch abschreiben, son<strong>de</strong>rn wie können wir euch mitnehmen in <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong> Gottes. Und<br />

<strong>die</strong> Wahrheit in Liebe auszudrücken.<br />

Wir erleben, was manche als <strong>die</strong> „Krise <strong>de</strong>r Freiheit“ bezeichnet haben. Die Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

für gegenwärtige Gesellschaften besteht darin, ob sie <strong>die</strong> großen Freiheiten, hervorgebracht<br />

durch Technologie und politische Emanzipation, aufrecht erhalten können und<br />

gleichzeitig solcher Freiheit nicht zu erlauben, gera<strong>de</strong> das, was Menschen und Gemeinschaften<br />

zusammenhält, zu zerstören. Die „Krise <strong>de</strong>r Freiheit“ führt Menschen in eine „Krise<br />

<strong>de</strong>s Glaubens“, in<strong>de</strong>m wir das Wagnis neuer Denkmo<strong>de</strong>lle und Werte eingehen. Wir wissen<br />

nicht mehr, an was o<strong>de</strong>r wen wir glauben sollen. Unsere Welt ist gekennzeichnet <strong>von</strong> Gier,<br />

Materialismus, Säkularisierung, <strong>de</strong>m Evangelium <strong>de</strong>s Erfolges, einer sexuellen Revolution,<br />

steigen<strong>de</strong>r Armut – <strong>die</strong> Liste ließe sich fortsetzen. All <strong>die</strong>ses stellt eine Herausfor<strong>de</strong>rung für<br />

<strong>die</strong> Mission und Botschaft <strong>de</strong>r Kirche dar. Wie verkün<strong>de</strong>n wir christliche Freiheit in solch<br />

einem Kontext? Vor <strong>die</strong>sen Herausfor<strong>de</strong>rungen müssen wir uns bewusst machen, dass <strong>die</strong><br />

aufopfern<strong>de</strong> Liebe, mit <strong>de</strong>r Gott sich am Kreuz gezeigt hat, Gemeinschaft bil<strong>de</strong>t und Beziehungen<br />

ermöglicht. Die Kirche muss lernen, <strong>de</strong>m zu folgen: Gemeinschaft und Beziehungen<br />

aufbauen anstatt sie aufzusplitten und zu zerstören. Aber das ist keine leichte Aufgabe. Wie<br />

gehen wir damit um?<br />

41


42 angedacht: Galater 5 <strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3<br />

3. Christliche Freiheit ist gekennzeichnet vom Leben im Geist (V 16)<br />

Der Apostel ermahnt <strong>die</strong> Galater: „Auf eins jedoch gebt acht: dass <strong>die</strong> Freiheit nicht zu<br />

einem Vorwand für <strong>die</strong> Selbstsucht wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn <strong>die</strong>nt einan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Liebe! Denn das<br />

ganze Gesetz hat seine Erfüllung in <strong>de</strong>m einen Wort gefun<strong>de</strong>n: Liebe <strong>de</strong>inen Nächsten wie<br />

dich selbst! Wenn ihr einan<strong>de</strong>r aber beissen und fressen wollt, dann seht zu, dass ihr euch<br />

nicht gegenseitig verschlingt!“<br />

Allerdings muss er feststellen, dass <strong>die</strong>s leichter gesagt als getan ist. Er wusste, dass wir im<br />

Fleisch <strong>de</strong>m sündhaften Wesen nachgeben.<br />

Deshalb for<strong>de</strong>rt er erneut und überraschend auf:<br />

„Ich sage aber: Führt euer Leben im Geist, und ihr wer<strong>de</strong>t <strong>de</strong>m Begehren <strong>de</strong>s Fleisches nicht<br />

nachgeben! Denn das Begehren <strong>de</strong>s Fleisches richtet sich gegen <strong>de</strong>n Geist, das Begehren <strong>de</strong>s<br />

Geistes aber gegen das Fleisch. Die bei<strong>de</strong>n liegen ja miteinan<strong>de</strong>r im Streit, so dass ihr nicht tut,<br />

was ihr tun wollt. Wenn ihr euch aber vom Geist leiten lasst, untersteht ihr nicht <strong>de</strong>m Gesetz.“<br />

(Verse 16-18)<br />

Der Geist erinnert uns daran, dass wir <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Bindung an das Fleisch befreit sind durch<br />

das in Jesus für uns erfüllte Werk. Der Geist erinnert uns daran, dass wir nicht länger <strong>de</strong>m<br />

Fleisch unterworfen sind, vielmehr sind wir nun frei, das Göttliche zu wählen.<br />

Einst wollten ein Frosch und ein Skorpion einen Fluss überqueren, aber <strong>de</strong>r Skorpion<br />

konnte nicht schwimmen, sodass er <strong>de</strong>m Frosch vorschlug: „Kannst du mich auf <strong>die</strong> an<strong>de</strong>re<br />

Seite bringen; als Dank kratze ich dir <strong>de</strong>n Rücken.“ „Nein“, sagte <strong>de</strong>r Frosch, „du wirst mich<br />

stechen und ich wer<strong>de</strong> sterben.“ „Aber dann wür<strong>de</strong> auch ich untergehen“ sagte <strong>de</strong>r Skorpion.<br />

Das leuchtete <strong>de</strong>m Frosch ein: „Gut, worauf wartest du? Spring auf meinen Rücken.“ Und<br />

so ging es los, aber auf <strong>de</strong>r Hälfte <strong>de</strong>r Strecke – können Sie sich vorstellen, was <strong>de</strong>r Skorpion<br />

tat? Er stach <strong>de</strong>n Frosch. Und <strong>de</strong>r schrie in seinen letzten Atemzügen: „Warum nur hast du<br />

das getan?“ „Weil es in meinem Wesen liegt, zu stechen!“ – antwortete <strong>de</strong>r Skorpion.<br />

Wenn Dinge schief laufen, sagen o<strong>de</strong>r glauben wir oft, dass sei so, weil wir nun mal so sind.<br />

Das Leben im Geist sagt uns: Nein, es liegt nicht in <strong>de</strong>inem Wesen. „In Christus bist du eine<br />

neue Schöpfung, ein ganz neuer Mensch. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist gewor<strong>de</strong>n.“<br />

Wir leben <strong>die</strong>se christliche Freiheit durch <strong>de</strong>n Geist. Der Geist beschenkt uns mit Kraft und<br />

mit <strong>de</strong>r Gabe, <strong>die</strong>se Freiheit zu genießen. Der Geist befähigt uns, alle Fesseln abzuwerfen,<br />

<strong>die</strong> uns gefangen halten. Er erinnert und daran, dass wir Eroberer sind und dass nichts uns<br />

trennen kann <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Liebe Gottes in Christus Jesus. Wir leben in <strong>de</strong>r Hoffnung, alles zu<br />

überwin<strong>de</strong>n. „Die Hoffnung aber stellt uns nicht bloß, ist doch <strong>die</strong> Liebe Gottes ausgegossen<br />

in unsere Herzen durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist, <strong>de</strong>r uns gegeben wur<strong>de</strong>.“ (Röm 5,5)<br />

Zu vielen Zeiten in meinem Dienst habe ich Menschen erlebt, <strong>die</strong> befreit wur<strong>de</strong>n <strong>von</strong> Süchten,<br />

sündhaften Gewohnheiten und Gebahren. Ich erinnere mich an eine Frau, <strong>die</strong> mir sagte,<br />

dass sie genug habe <strong>von</strong> ihrem Mann, <strong>de</strong>ssen Alkohol- und Drogensucht sein Leben und<br />

ihre Ehe und Familie zerstörte. Ich konnte sie dazu bringen, dass er mich aufsuchte. Er erzählte,<br />

dass er im Alter <strong>von</strong> 15 Jahren damit begonnen habe und nun sei er 45 Jahre alt. Es<br />

sei unmöglich für ihn, aufzuhören, auch wenn <strong>die</strong>s alles zerstörte. Aber nach<strong>de</strong>m ich für ihn<br />

gebetet hatte, stand er auf, nahm meine Hand und sagte: „Ich wer<strong>de</strong> es nie wie<strong>de</strong>r tun.“ Und<br />

ich dachte bei mir: Ja, ja. Wir wer<strong>de</strong>n sehen. Ich hätte nicht geglaubt, dass es möglich sei.<br />

Er sagte mir – und seine Frau bestätigte <strong>die</strong>s – dass er <strong>von</strong> <strong>die</strong>sem Moment an noch nicht<br />

einmal mehr eine Zigarette geraucht hätte.<br />

Ich will damit sagen, dass <strong>de</strong>r Geist uns hilft, ein an<strong>de</strong>rer zu wer<strong>de</strong>n. Christliche Freiheit ist<br />

gekennzeichnet durch ein Leben im Geist. Der Geist hilft uns, Gott gefällig leben. Der Geist<br />

hilft uns zu verstehen, dass Freiheit in Christus nicht dazu <strong>die</strong>nt, uns selbst zufrie<strong>de</strong>n zu<br />

stellen, son<strong>de</strong>rn ein Leben zu führen, dass unserer göttlichen Berufung wert ist. Das be<strong>de</strong>utet,<br />

Gott zu <strong>die</strong>nen und an<strong>de</strong>ren Menschen, in Liebe und Demut. Es be<strong>de</strong>utet, Gott in zu<br />

<strong>die</strong>nen, wie es ihm gefällt und nicht mir, obwohl ich frei bin.<br />

Wir sehen das in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>von</strong> Jona. Er wollte Gott <strong>die</strong>nen, aber auf seine eigene<br />

Weise. Gott sagte: „Geh nach Ninive!“, aber Jona zog es vor, nach Tarsis zu fliehen. Er war in<br />

seiner Entscheidung frei. Aber er sollte sich entsprechend <strong>de</strong>m Willen Gottes entschei<strong>de</strong>n.<br />

Als er seiner eigenen Entscheidung folgte, lan<strong>de</strong>te er in <strong>de</strong>r rauen See und im Bauch <strong>de</strong>s<br />

Fisches. Der Sturm erhob sich gegen ihn, solange bis er in Gottes Willen einkehrte. Christliche<br />

Freiheit be<strong>de</strong>utet: im Willen Gottes zu bleiben, in seinem guten, reinen und wohltuen<strong>de</strong>n<br />

Willen. Nur wenn wir in Gottes Willen ruhen wer<strong>de</strong>n wir wahren Frie<strong>de</strong>n, Freu<strong>de</strong>


<strong>die</strong> <strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong> 11.3 angedacht: Galater 5<br />

und Zufrie<strong>de</strong>nheit erfahren. Dann wer<strong>de</strong>n wir nicht wie <strong>de</strong>r ruhelose Drachen sein, <strong>de</strong>r<br />

ausbrechen will. Statt<strong>de</strong>ssen sagen wir: „Ich bin frei. Ich bin frei in Christus. Christus hat<br />

mich befreit. Ich bin wahrhaft frei!“ Sind Sie frei, solches zu sagen?<br />

Aber lassen Sie mich schließen mit <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s Drachens, <strong>de</strong>r im Leitungsmast feststeckte.<br />

Glücklicherweise blies eines Tages ein starker Wind <strong>de</strong>n Drachen herunter, jemand<br />

fand und reparierte ihn, und so flog er wie<strong>de</strong>r. Und als er seinen alten Freund wie<strong>de</strong>r traf,<br />

sagte er: „Ich möchte niemals wie<strong>de</strong>r <strong>die</strong>se Schnur loslassen. Sie ist meine Freiheit.“<br />

Der Wind <strong>de</strong>s Heiligen Geist führt uns ständig zurück in <strong>die</strong> Liebe Christi, <strong>die</strong> uns freimacht.<br />

Er erinnert uns daran, dass wir in Christus wahrhaft frei sind, weil Christus unsere Freiheit<br />

ist. Möge das immer <strong>die</strong> Botschaft <strong>de</strong>r Kirche sein wenn wir <strong>de</strong>r Welt <strong>die</strong>nen in <strong>de</strong>r andauern<strong>de</strong>n<br />

Liebe Christi!<br />

Übersetzung: Sabine Dreßler<br />

Fortsetzung <strong>von</strong> S. 4<br />

Und drittens ist <strong>die</strong> Aktualität<br />

einer Predigt nur sehr selten vom<br />

Bezug auf tagesaktuelle Ereignisse<br />

abhängig. Der Prediger, das ist zu<br />

spüren, versteht sich als Prediger<br />

<strong>de</strong>s Evangeliums, das er doch selbst<br />

nicht bringen kann. In <strong>de</strong>r Predigt<br />

zu Lukas 8,1-3 heißt es: „Das Reich<br />

Gottes predigen hat auch nichts<br />

mit einem Vortrag zu tun, <strong>de</strong>n man<br />

sich einmal anhört und über <strong>de</strong>n<br />

man dann seine Meinung <strong>zum</strong><br />

Besten gibt. Predigen ist auch nicht<br />

eine fromme Meinungsäußerung,<br />

über <strong>die</strong> man ebenfalls gemütlich<br />

seine Meinung <strong>zum</strong> Besten geben<br />

kann. In <strong>de</strong>r Predigt re<strong>de</strong>t ja Jesus<br />

Christus selbst zu uns, und vor<br />

ihm haben wir uns alle zu beugen<br />

Mo<strong>de</strong>rator (Peter Bukowski, 2. v.r.) und <strong>die</strong> stellvertreten<strong>de</strong>n<br />

Mo<strong>de</strong>ratoren <strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s (Martin Dutzmann, 1. v.r.;<br />

Jann Schmidt, 1. v.l.) mit <strong>de</strong>n Gästen aus <strong>de</strong>r Weltgemeinschaft<br />

Reformierter Kirchen: Präsi<strong>de</strong>nt Jerry Pillay (3. v.r.), Generalsekretär<br />

Dr. Setri Nyomi (2. v.l.)<br />

als vor unserem lieben<strong>de</strong>n Herrn.“<br />

Hier wird <strong>de</strong>utlich, welch hohen<br />

Anspruch Müller an <strong>die</strong> Predigt<br />

hat – und alles daran tut, <strong>die</strong>sem<br />

gerecht zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Predigten an<strong>de</strong>rer sind nicht dazu<br />

da, einfach übernommen zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Deswegen kann es auch nicht<br />

das Ziel <strong>de</strong>r Müllerschen Predigten<br />

sein, dass sie in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n<br />

Jahren <strong>von</strong> an<strong>de</strong>ren als Karl Müller<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Kanzeln<br />

zu hören sind. Aber sie sind als Anregungen<br />

sehr gut zu lesen – o<strong>de</strong>r<br />

auch zur eigenen Erbauung. Man<br />

kann sie auch einmal vorlesen; sie<br />

sind alle in etwa gleich lang. Sie<br />

machen insgesamt Mut zur lectio<br />

continua – je<strong>de</strong>nfalls lese ich sie<br />

so. Und sich <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Predigten<br />

ermutigen zu lassen ist nicht zu<br />

teuer: Die gebun<strong>de</strong>nen Bücher<br />

kosten je nur 6 Euro und sind nur<br />

beim Autor erhältlich: Pfarrer i.R.<br />

Karl Müller, Platz <strong>de</strong> Plombieres 4,<br />

35708 Haiger-Sechshel<strong>de</strong>n.<br />

Karl Müller, Die Freu<strong>de</strong> zieht<br />

durchs Land. Das Lukasevangelium<br />

ausgelegt für <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong>. Bd. 1,<br />

Kapitel 1-12 (=Gambacher Predigten,<br />

Bd. 6), Alzey 2010 (427 S.)<br />

Karl Müller, Die Freu<strong>de</strong> zieht durchs<br />

Land. Das Lukasevangelium ausgelegt<br />

für <strong>die</strong> Gemein<strong>de</strong>. Bd. 2, Kapitel<br />

13-24 (=Gambacher Predigten,<br />

Bd. 6), Alzey 2010 (357 S.)<br />

Karl Müller, Gemein<strong>de</strong> Jesu Christi<br />

– Vorausabteilung <strong>de</strong>s Reiches. 1<br />

Korintherbrief ausgelegt für <strong>die</strong><br />

Gemein<strong>de</strong> (=Offenheim-, Weinheim-,<br />

Erbes-Bü<strong>de</strong>sheimer Predigten,<br />

Bd. 4), Alzey 2010 (293 S.)<br />

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Postvertriebsnummer G 54900<br />

ISSN 1617-7177<br />

Postvertriebsstück<br />

DPAG<br />

Entgelt bezahlt<br />

Reformierter Bund<br />

Knochenhauerstr. 42<br />

30 159 Hannover<br />

Impressum<br />

„<strong>die</strong>-<strong><strong>reformiert</strong>en</strong>.<strong>upd@te</strong>“ wird<br />

herausgegeben <strong>von</strong>:<br />

Reformierter Bund e.V.<br />

Knochenhauerstr. 42<br />

30159 Hannover<br />

Telefon 0511-47399374<br />

Telefax 0511-47399428<br />

e-mail: <strong>info</strong>@<strong>reformiert</strong>er-bund.<strong>de</strong><br />

www.<strong>reformiert</strong>-<strong>info</strong>.<strong>de</strong><br />

Das <strong>reformiert</strong>e Quartalsmagazin<br />

erscheint jeweils Mitte März, Juni, September<br />

und Dezember eines Jahres.<br />

Verantwortlich (i.S.d.P.):<br />

Jörg Schmidt<br />

Mitgearbeitet haben:<br />

D. Peter Bukowski, Direktor <strong>de</strong>s Seminars für<br />

Pastorale Ausbildung, Wuppertal, und Mo<strong>de</strong>rator<br />

<strong>de</strong>s Reformierten Bun<strong>de</strong>s<br />

Dr. Matthias Freu<strong>de</strong>nberg, Pfarrer in Schöller<br />

und Professor an <strong>de</strong>r Kirchlichen Hochschule<br />

Wuppertal / Bethel, Wuppertal<br />

Dr. Jerry Pillay, Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Weltgemeinschaft<br />

Reformierter Kirchen<br />

Dr. Michael Weinrich, Professor an <strong>de</strong>r Ev.-theol.<br />

Fakultät <strong>de</strong>r Universität Bochum<br />

Dr. Ilka Werner, Pfarrerin am Berufkolleg für<br />

Technik und Informatik, Neuss<br />

Fotos:<br />

alle Reformierter Bund:<br />

Georg Rieger, Barbara Schenck,<br />

Klaus Vogler<br />

Weltgemeinschaft Reformierter<br />

Kirchen<br />

Generalsekretär:<br />

Pfr. Dr. Setri Nyomi,<br />

Abteilung für Kommunikation:<br />

Kristine Greenaway<br />

PO Box 2100<br />

150 route <strong>de</strong> Ferney<br />

1211 Genf 2<br />

Schweiz<br />

Tel: +(41) 22 791 6235<br />

Fax: +(41) 22 791 6505<br />

E-mail: wcrc@wcrc.ch

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