Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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Sachbuch<br />
Film Zwei prominentefranzösische Cinéasten verbeugen sich vorihrem Idol<br />
Hitchcock–Meister desThrillers<br />
Éric Rohmer,Claude Chabrol: Hitchcock.<br />
Alexander Verlag, Berlin 2013.<br />
287 Seiten, Fr.44.90.<br />
VonMartin Walder<br />
Er ist der unangefochtene «Master of<br />
Suspense», hat in«The Birds» die Erde<br />
von bösen Krähen attackieren, in «Psycho»<br />
eine Frau hinter dem Duschvorhang<br />
zerfetzen lassen, und in vielen seiner<br />
Filme gerät der falsche Mann, «the<br />
wrong man», in die Bredouille. So weit,<br />
so gruselig.<br />
Und diesen Alfred Hitchcock (1899–<br />
1980) wollten in den 1950er Jahren junge<br />
französische Filmkritiker um die legendäre<br />
Zeitschrift «Cahiers duCinéma»<br />
zum «Johann Sebastian Bach des Films»<br />
geadelt wissen. Ihre These, die d<strong>am</strong>als<br />
wilde Debatten provozierte: Hitchcock<br />
sei kein Unterhaltungsproduzent <strong>am</strong><br />
Laufmeter, sondern als Regisseur ein<br />
Künstler, ein eigentlicher «auteur».<br />
Kein bloss virtuoser Formalist, der Film<br />
als illustrierte Literatur verstand, sondern<br />
ein abgründiger Moralist.<br />
Dafür legten sich die Jungtürken, die<br />
kurz danach selber auf den Regiestuhl<br />
wechseln und die «Nouvelle Vague»<br />
gegen ein in Konvention erstarrtes französisches<br />
Kino entfesseln sollten, mächtig<br />
ins Zeug: Jean-Luc Godard, Jacques<br />
Rivette, Claude Chabrol, François Truffaut,<br />
Éric Rohmer. Sie haben recht behalten.<br />
Truffauts berühmtes Interview «Mr.<br />
Hitchcock, wie haben Siedas gemacht?»<br />
von 1966 ist noch immer eines der glänzendsten<br />
Filmbücher überhaupt. Endlich<br />
ist nun die erste und wegweisende<br />
Auseinandersetzung mit dem Meister<br />
aus der Feder von Éric Rohmer und<br />
Claude Chabrol auf Deutsch greifbar.<br />
Der Filmpublizist Robert Fischer hatsie<br />
übersetzt, kommentiert und mit einem<br />
erhellenden Vorwort und einer bibliografischen<br />
Chronik sorgs<strong>am</strong> herausgegeben.<br />
Interviews mit den (inzwischen<br />
verstorbenen) Autoren erinnern an den<br />
d<strong>am</strong>aligen Kulturk<strong>am</strong>pf.<br />
1957 erschienen, umfasst das als Zeitzeugnis<br />
wie als Filmführer anregende<br />
Buch Hitchcocks Œuvre von den britischen<br />
Anfängen über die <strong>am</strong>erikanische<br />
Periode bis zu «The Wrong Man» von<br />
1956,ergänzt um Rohmersluzide Analyse<br />
des Meisterwerks «Vertigo» (1958).<br />
Intime Werkkenntnis und Deutungslust<br />
in subjektiver Frische lassen die Autorendurchgehende<br />
Motive (wie etwa den<br />
Komplex von Schuld und «Unschuld»)<br />
aufspüren und die Entwicklung des<br />
Hitchcock-Universums so nachzeichnen,<br />
dassman sie für die späteren Filme<br />
gerne selber weiterspinnt.<br />
Mit Vorteil natürlich stets mit der<br />
DVDzur Hand. ●<br />
Das<strong>am</strong>erikanische Buch Im Land der «Gun Guys»geht Waffengewalt zurück<br />
«Molon Labe». Diese Worteentdeckt<br />
der Journalist DanBaum auf einem<br />
Anstecker,den der Aufseher eines<br />
Schiessstandes in Denver, Colorado,<br />
trägt. Baum versteht den Spruch nicht.<br />
Der Schützen-Helfer übersetzt: «Hol´<br />
ihn dir selbst» –und erklärt: Dies habe<br />
der Spartaner Leonidas 480 v. Chr.<strong>am</strong><br />
Thermopylen-Passdem Perser Xerxes<br />
geantwortet, als der ihn zur Herausgabe<br />
seines Speersaufgefordert hatte.<br />
Der Mann mit dem Sticker erklärt<br />
Baum, auch er würde seine Waffen bis<br />
zum letzten Blutstropfengegen Tyrannen<br />
verteidigen. D<strong>am</strong>it meint er in ersterLinie<br />
die Regierung in Washington.<br />
So beginnt der aufschlussreiche und<br />
vonder <strong>am</strong>erikanischen Kritik viel gelobte«Reisebericht»<br />
Gun Guys. ARoad<br />
Trip (Knopf, 338 Seiten), der Baum<br />
kreuz und quer durch die USAführt,<br />
über Filmarsenale Hollywoods, Waffenläden,<br />
Barsund Schützentreffen.<br />
Dort begegnet der 56-jährigeAutor<br />
Wildschwein-Jägern und Waffen-Lobbyisten,<br />
den Hinterbliebenen von<br />
Mordopfern und Amerikanern, die<br />
ohne Schusswaffennicht leben wollen.<br />
Mit der Leonidas-Anekdotemöchte<br />
Baum zeigen, dassnicht jeder «Gun<br />
Guy» ein ungebildeter Hinterwäldler<br />
ist und hinter ihrer Leidenschaftmehr<br />
steckt, als sein eigenes Milieu gemeinhin<br />
annimmt. Der erfahrene Reporter<br />
st<strong>am</strong>mt aus einem demokratischen<br />
Vorort in NewJersey. Dort verachten<br />
und fürchten die BürgerFeuerwaffen<br />
als Relikteeiner primitivenGewalttätigkeit,<br />
die es mit Gesetzen zu bekämpfengilt.<br />
Doch der heute in Colorado<br />
lebende Baum hatdiese Haltung nie geteilt<br />
und vertrautdem Leser an, auch er<br />
habe vonKindesbeinen an ein Faible<br />
Früh übt sich, wasein<br />
Waffennarr werden<br />
will. In den USA<br />
erregen solche Bilder<br />
kaum Aufsehen.<br />
AutorDan Baum mit<br />
Pistole (unten).<br />
für Feuerwaffenund besitzeklassische<br />
Revolverund Gewehre. Um seine Reportagevorzubereiten,<br />
erwarb Baum<br />
zudem eine Lizenz für das versteckte<br />
Tragen vonHandfeuerwaffen.<br />
Diese geteilteLeidenschaftschafft Vertrauen<br />
und macht Baums Gewährsleute<br />
redselig. Dabei folgt er als Reporter der<br />
Tradition eines Studs Terkelund lässt<br />
wie der legendäreRadio-Journalist<br />
seine Gesprächspartner ausführlich und<br />
ohne belehrende KommentarezuWort<br />
kommen. Baum webt zudem geschickt<br />
Fakten über Waffentypen, Kontrollgesetzeund<br />
Verbrechensstatistiken in<br />
den Text. So entsteht Kapitel um Kapitel<br />
ein ebenso unterhalts<strong>am</strong>es, wie differenziertes<br />
Porträt der <strong>am</strong>erikanischen<br />
«Gun Culture». Diese hatviele Facetten.<br />
IMAGETRUST<br />
Viele Waffennarren sind vonder Technik<br />
ihrer tödlichen Gerätegefesselt:<br />
Ein knorriger TypinDenvernennt<br />
die endlos modifizierbaren AR-15-<br />
Schnellfeuergewehre«Barbies für<br />
Männer». Aufgrund seines Selbstversuches<br />
kann Baum bezeugen, dasseine<br />
Pistole unter dem Jacket den Träger in<br />
einen permanenten Alarmzustand versetzt,<br />
in dem er sich wacher,verantwortungsbewussterund<br />
seiner Selbst<br />
stärkerbewusst fühlt. Er bringt dies auf<br />
die Pointe: «Feuerwaffengeben uns<br />
Identität. Siemachen uns zu Supermännern.»<br />
Daneben zitiert Baum einen beliebten<br />
Spruch unter Waffenfreunden: «Gott<br />
hatdie Menschen geschaffen. Aber S<strong>am</strong>uel<br />
Colt hatsie alle einander gleich<br />
gemacht.» Der Autorsympathisiert mit<br />
dieser Ansicht, die er als Ausdruck des<br />
ur<strong>am</strong>erikanischen Beharrens auf persönlicher<br />
Souveränität versteht.<br />
Dies mag albern oder abstossend klingen.<br />
Aber Baum weist statistisch nach,<br />
dassdie Waffengewalt in den USAungeachtet<br />
spektakulärer Amokläufeseit<br />
Jahrzehnten zurückgeht. Die meisten<br />
Gun Guys stellen daher keine Gefahr<br />
für ihreMitbürgerdar.Und ihreZahl<br />
sinkt ohnehin ständig. Waffenliebhaber<br />
sind vorwiegend «Old, Fat, White<br />
Guys», während jüngereAmerikaner<br />
die Faszination vonColts und AR-15<br />
immer weniger teilen. Deshalb hatDan<br />
Baum <strong>am</strong> Ende auch eine Botschaftfür<br />
seine linksliberalen Freunde: Er betrachtet<br />
es als groben Fehler,dassdiese<br />
auf schärfere Kontrollen drängen und<br />
d<strong>am</strong>it Millionen Wähler in die Arme<br />
der Republikaner und der Waffenlobby<br />
NRAtreiben.<br />
VonAndreas Mink ●<br />
26 ❘ NZZ<strong>am</strong><strong>Sonntag</strong> ❘ 30.Juni 2013