Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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Belletristik<br />
Russische Literatur Die Übersetzerin Swetlana Geier vers<strong>am</strong>melt Texteberühmter Schriftsteller<br />
zur Literatur Russlands<br />
VonPuschkinbis Brodskij<br />
Swetlana Geier (Hrsg.): Statteiner<br />
russischen Literaturgeschichte. Puschkin<br />
zu Ehren. Dörlemann, Zürich 2013.<br />
253 Seiten, Fr.24.90.<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
Über Jahrzehnte hatte Swetlana Geier<br />
(1923–2010) russische Literatur von<br />
Tolstoj bis Solschenyzin aus ihrer Muttersprache<br />
in die Sprache ihrer Wahlheimat<br />
übersetzt, bevor sie mit dem Dokumentarfilm<br />
«Die Frau mit den 5Elefanten»<br />
(gemeint sind die fünf grossen Romane<br />
Dostojewskis, die sie neu übersetzt<br />
hat) im hohen Alter weit über die<br />
Grenzen der literarischen Fachwelt hinaus<br />
bekannt wurde. Wenn nun drei Jahre<br />
nach ihrem Todein noch von ihr selbst<br />
eingeleitetes Bändchen mit Texten russischer<br />
Schriftsteller erscheint, so weckt<br />
dies gewissermassen als Vermächtnis<br />
dieser «Grande D<strong>am</strong>e der russischdeutschen<br />
Kulturvermittlung» (so der<br />
Verlag) grosse Erwartungen.<br />
In «Statt einer russischen Literaturgeschichte»<br />
vers<strong>am</strong>melt sie acht Schriften,<br />
die Klassiker von Puschkin bis Josif<br />
Brodskij zur russischen Literatur geschrieben<br />
haben. Neben berühmten<br />
Texten wie der Puschkin-Rede vonDostojewski,<br />
die er, nur wenige Monate vor<br />
seinem Tod, bei der Einweihung des<br />
Puschkin-Denkmales im Juni 1880 in<br />
Moskau hielt, und der Nobelpreisrede<br />
Josif Brodskijs von 1987 findet sich auch<br />
weniger Bekanntes, etwa zwei kurze<br />
Briefe von Lew Tolstoj und Maxim Gorkis<br />
vergessene Hymne auf die Sowjetliteratur.<br />
Mit Ausnahme der letzteren hat<br />
Geier alle Stücke selbst übertragen.<br />
Eine russische Literaturgeschichte<br />
können diese Texte allerdings weder<br />
bieten noch ersetzen, vielmehr setzt<br />
ihre Lektüre eine gewisse Kenntnis<br />
dieser Geschichte voraus. Zwar ist ein<br />
sorgfältiger Anmerkungsteil vorhanden,<br />
doch eine eigentliche Einbettung kann<br />
dieser nicht leisten. Das kurze, skizzenhafte<br />
Fragment Alexander Puschkins<br />
etwa bricht schon ab, bevor der Autor<br />
überhaupt zur russischen Literatur<br />
kommt. Und auch die Beziehung zu<br />
Puschkin ist keineswegs so eindeutig,<br />
wie es der Untertitel «Puschkin zu<br />
Ehren» suggeriert: in einigen Texten<br />
fällt noch nicht einmal sein N<strong>am</strong>e. Dass<br />
Nikolai Gogols Aufsatz «Einige Worte<br />
zu Puschkin» von 1832 ganz fehlt, auf<br />
den doch in anderen Texten und in den<br />
Anmerkungen mehrmals verwiesen<br />
wird, bleibt unverständlich.<br />
Die russische<br />
Übersetzerin<br />
Swetlana Geier an<br />
ihrem Schreibtisch<br />
in Freiburgi.Br.<br />
(18.7.2006).<br />
LAIF<br />
Von diesen Missverständlichkeiten<br />
einmal abgesehen, markieren die von<br />
Geier zus<strong>am</strong>mengestellten Textejedoch<br />
tatsächlich «entscheidende Punkte» im<br />
russischen Geistesleben, wie sie in<br />
ihrem kurzen Vorwort schreibt. Dies<br />
trifft für Dostojewskijs Verherrlichung<br />
der Sendung des russischen Volkes<br />
ebenso zu wie für die beiden kurzen<br />
Tolstoj-Texte, die den Wandel zeigen,<br />
den dieser Schriftsteller in seinem<br />
Leben durchmachte: Während der<br />
dreissigjährige Neuling die Literatur<br />
ausschliesslich der Kunst verpflichtet<br />
sieht, ist der inzwischen weltberühmte<br />
Autor dreissig Jahre später überzeugt,<br />
dass Literatur einzig der Erziehung des<br />
Menschen zum Guten zudienen habe.<br />
Noch klarer repräsentieren die Texte<br />
aus dem 20. Jahrhundert Wendepunkte<br />
des russischen Denkens: Wo Alexander<br />
Blok 1921, kurz vor seinem Tode, noch<br />
beschwörend prophezeit, keine Zensur<br />
der Welt werde die Poesie verhindern<br />
können, gibt Maxim Gorki in seiner unfassbar<br />
ideologischen Verherrlichung<br />
der Sowjet-Literatur eben dieser Zensur<br />
mits<strong>am</strong>t ihrem stalinistischen Mordprogr<strong>am</strong>m<br />
den Segen. Andrej Sinjawskij<br />
deutet dann 1957 Russlands «Rückfall»<br />
in einen kr<strong>am</strong>pfhaft optimistischen<br />
«Glauben» im 20. Jahrhundert als Antwort<br />
auf das Leiden <strong>am</strong> ironisch-pessimistischen<br />
Unglauben, der die Menschen<br />
im 19. Jahrhundert verzweifeln<br />
liess.<br />
Josip Brodskij schliesslich benennt<br />
das Ausmass der Katastrophe («In der<br />
realen Tragödie stirbt nicht der Held –<br />
es stirbt der Chor») und glaubt dennoch<br />
an den Dichter als «Mittel der Sprache<br />
zur Fortsetzung ihrer Existenz.» ●<br />
Roman Der Ägypter Chalid al-Ch<strong>am</strong>issi spürt den Ursachen der Revolution nach<br />
Mosaik einerbröckelnden Gesellschaft<br />
Chalid al-Ch<strong>am</strong>issi: Arche Noah. Ausdem<br />
Arabischen vonLeila Ch<strong>am</strong>maa. Lenos,<br />
Basel 2013. 407Seiten, Fr.31.50.<br />
VonSusanne Schanda<br />
Der junge Hilfsarbeiter Abdellatif vertraut<br />
sich Schleppern an und nimmt<br />
eine monatelange Odyssee auf sich;<br />
Wâhdan ertrinkt bei der Flucht im Mittelmeer;<br />
die Prostituierte Sanaa landet<br />
kurz nach ihrer AnkunftinDubai im Gefängnis;<br />
Achmad versucht, durch eine<br />
Scheinheirat mit einer Amerikanerin<br />
den Fuss auf festeren Grund zu setzen.<br />
Ägypten schwankt. Alle wollen sie weg<br />
aus ihrer Heimat, wo Elend, Korruption<br />
und Heuchelei ihr Leben zerstören, wo<br />
sie keine Perspektive haben. Ihre Arche<br />
Noah ist aus Verzweiflung und Hoffnung<br />
gebaut.<br />
8 ❘ NZZ<strong>am</strong><strong>Sonntag</strong> ❘ 30.Juni 2013<br />
Chalid al-Ch<strong>am</strong>issi, dessen Buch «Im<br />
Taxi» während der Millionendemonstrationen<br />
in Ägypten auf Deutsch erschien<br />
und als Buch zur Revolution gefeiert<br />
wurde, lässt auch in seinem zweiten<br />
Werk «Arche Noah» (im Original<br />
2009 erschienen) die Ursachen spüren,<br />
die schliesslich zum Volksaufstand geführt<br />
haben. Wieder reiht der Autoreinzelne<br />
Episoden aneinander, doch verknüpft<br />
er diesmal die Erzählfäden der<br />
zahlreichen Figuren lose zu einem<br />
Roman. Die Grundstimmung des neuen<br />
Buchs ist noch schwärzer, sein Personal<br />
mal naiv, mal zynisch-abgeklärt. Die<br />
Porträts fügen sich mosaikartig zum<br />
Bild einer Gesellschaft inAuflösung.<br />
Nur die n<strong>am</strong>enlose weibliche Erzählerfigur<br />
aus dem letzten Kapitel hält<br />
dem Sog stand. Ihre Stärke bezieht sie<br />
nicht aus materiellen Gütern, sondern<br />
aus Literatur und Musik und der Gewissheit,<br />
trotz aller Entbehrungen frei<br />
zu sein. An ihrem vierzigsten Geburtstag<br />
trifft sie sich mit ihrer Tochter im<br />
Café Groppi. Als diese ihr glücklich erzählt,<br />
dass sie sich in einen Mann verliebt<br />
habe,der nach Dubai ziehen werde,<br />
beschliesst die Erzählerin, die Auswanderergeschichten<br />
aufzuschreiben. Dem<br />
materiellen, seelischen und moralischen<br />
Elend der einzelnen Emigrantinnen und<br />
Emigranten steht <strong>am</strong> Ende die Vision<br />
einer globalisierten Welt gegenüber, in<br />
der kein Stein auf dem anderen bleibt:<br />
«Die Arche Noah als Herz mit einem eigenen<br />
Rhythmus, der die Welt neu erschaffen<br />
wird.»<br />
Die explosive Stimmung in Ägypten<br />
<strong>am</strong> Vorabend der Revolution wäre im<br />
Roman wohl noch wirkungsvoller zum<br />
Ausdruck gekommen, wenn der Autor<br />
sein Material auf weniger Personal und<br />
Seiten konzentriert hätte. ●