23.11.2013 Aufrufe

BUCHBESPRECHUNGEN

BUCHBESPRECHUNGEN

BUCHBESPRECHUNGEN

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

48<br />

<strong>BUCHBESPRECHUNGEN</strong><br />

VOLKER MATTHIES, Unternehmen Magdala.<br />

Strafexpedition in Äthiopien. Ch. Links Verlag,<br />

Berlin 2010, 195 Seiten, zahlreiche Abbildungen,<br />

ISBN 978-3-86153-572-0. € 24,90. Cover: Illustration<br />

der Hafenstadt Zula, 1868. Bd. 11 der<br />

Reihe „Schlaglichter der Kolonialgeschichte“.<br />

www.die-deutsche-kolonialgeschichte.de.<br />

Die Möglichkeit,<br />

Geiseln<br />

zu befreien, ist<br />

sehr unterschiedlich.<br />

1868 befreiten<br />

die Engländer<br />

Geiseln von<br />

einer Bergfestung<br />

im<br />

Hochland von<br />

Äthiopien. Die<br />

Aktion kostete<br />

9 Millionen<br />

Pfund. Mit<br />

dieser Summe<br />

wurde keine<br />

Lösegeldforderung erfüllt, sondern die Kosten<br />

für eine militärische Befreiungsaktion beglichen.<br />

Volker Matthies, Politikwissenschaftler, ist Spezialist<br />

für Friedens- und Konfliktforschung (Universität<br />

Hamburg). Er beschäftigt sich besonders<br />

mit dem Horn von Afrika, sein Buch Kriege am<br />

Horn von Afrika, Berlin 2005 gilt als Standartwerk.<br />

Die Geschichte des niemals kolonialisierten<br />

Äthiopiens fasziniert ihn, mit Historische<br />

Reisen nach Aksum. Europäische Entdecker und<br />

Forscher beschreiben das antike Zentrum der<br />

äthiopischen Kultur, Berlin 2003 erreichte er<br />

eine breite Öffentlichkeit. Mit der vorliegenden<br />

Chronologie über das militärische Zusammentreffen<br />

zwischen Engländern und Äthiopiern<br />

widmet er sich erneut der afrikanischen Geschichte<br />

im 19. Jahrhundert.<br />

Die äthiopischen Herrschenden, interessiert an<br />

internationalen Abkommen und diplomatischen<br />

Austausch, nahmen vor allem Kontakt zu anderen<br />

christlichen Ländern auf. Die Weltmacht<br />

England kämpfte um die Vorherrschaft am Roten<br />

Meer, verschiedene Expeditionen wurden in<br />

Nordostafrika durchgeführt. Bereits 1841 leitete<br />

Captain Cornwallis Harris die erste offizielle britische<br />

Mission nach Äthiopien. Königin Viktoria<br />

(1837-1901) und der äthiopische Kaiser Tewodros<br />

II. (Theodor, 1855-1868) suchten gleichermaßen<br />

Verbündete gegen die Türken. Tewodros,<br />

geboren um 1820 in Q w ara als Kaía Òaylu, wird<br />

nach siegreichen Eroberungen 1855 zum Kaiser<br />

gekrönt. Den Thronnamen Tewodros wählte er in<br />

Bezug auf eine Prophezeiung (Fékkare Iyäsus),<br />

nach der ein König mit diesem Namen 40 Jahre<br />

friedlich regieren wird. Tewodros versuchte in<br />

seiner 13jährigen Regierungszeit das Land zu einem<br />

Reich zu vereinen, es gelang ihm jedoch nur<br />

kurzzeitig.<br />

Im März 1855 wird der Diplomat William C.<br />

Plowden zu Kaiser Tewodros geschickt, begleitet<br />

von John Bell, der mit einer Äthiopierin verheiratet<br />

war. Nach dem Tod von Plowden wird Captain<br />

Charles Duncan Cameron neuer Abgesandter,<br />

er überreichte am 7.10.1862 Tewodros zwei<br />

silberne Pistolen von Königin Viktoria. Tewodros<br />

bedankte sich schriftlich und bittet die „Christen-<br />

Königin“ um Hilfe gegen die Türken. England<br />

hat jedoch Schwierigkeiten, die Verbindung aufgrund<br />

des gemeinsamen Glaubens zu bestätigen.<br />

Die internationalen Handelsbeziehungen führten<br />

zur Propagierung der Religionsfreiheit. Zwei Ereignisse<br />

werden im Nachhinein oft als Grund für<br />

die folgende Geiselnahme angesehen. Erstens<br />

übergab Cameron den Brief entgegen der Anordnung<br />

von Tewodros nicht persönlich, er unternahm<br />

stattdessen Erkundigungen im Nordwesten<br />

des Landes. Und zweitens antwortete Königin<br />

Viktoria nicht.<br />

Nach längerem Warten wird am 4.1.1864 Cameron<br />

zusammen mit anderen Ausländer, so den<br />

anglikanischen Missionaren Stern und Rosenthal,<br />

verhaftet und nach Mäqdäla (Magdala) gebracht.<br />

Amba Mäqdäla, ein Bergplateau östlich des Tanasee<br />

in Wällo (Oromogebiet) gelegen, wurde<br />

von Tewodros 1855 erobert. Auf der natürlichen<br />

Bergfestung entstand eine Ansiedlung mit einem<br />

Gefängnis für politische Gefangene, zwei Kirchen<br />

und einer umfangreichen Schatzkammer<br />

mit einer großen Bibliothek. England reagierte<br />

diesmal schneller. Der Abgesandte Hormuzd<br />

Rassam kommt am 28.1.1866 in Mäqdäla an,<br />

versehen mit einer schriftlichen Weisung von<br />

Viktoria zur einvernehmlichen Lösung der Situation.<br />

Tewodros bleibt skeptisch und behält auch<br />

Rassam als Geisel da. Seine Bedingung für eine<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 64 / November 2011


Buchbesprechungen<br />

49<br />

Freilassung der Geiseln ist die Entsendung von<br />

technischen Geräten und Handwerkern. England<br />

schickte daraufhin Handwerker samt Ausrüstung,<br />

im November 1866 erreichten sie die Hafenstadt<br />

Massawa. Sie sollen jedoch erst nach der Freilassung<br />

der Geiseln an Land gehen. Da nichts geschieht,<br />

kehren die Handwerker im Mai 1867 zurück.<br />

Unter den 59 bis 67 Geiseln auf Mäqdäla befanden<br />

sich nun zwei englische Diplomaten und ihre<br />

Begleiter. In England wird die Politik Tewodros<br />

als Affront empfunden. Die Presse berichtet ausgiebig<br />

über die Geiselnahme. Die Angst Englands<br />

vor Rebellionen wie nach dem Sepoy Aufstand<br />

1857 (Indien) war groß. Das Parlament genehmigte<br />

schließlich nach über drei Jahren diplomatischen<br />

Bemühungen eine militärische Befreiungsaktion.<br />

Beauftragt dafür wurde Sir Robert<br />

Napier (1810-1890). Eine große Militäreinheit<br />

sollte nach Mäqdäla vorrücken, die Geiseln befreien<br />

und wieder zurückzukehren. Die Ausführung<br />

wurde von Napier gründlich geplant, der Titel<br />

„Unternehmen Magdala“ von Matthies ist hier<br />

angebracht.<br />

Am 30.10.1867 landen die Truppen in Zula.<br />

41.700 bis 60.000 Personen (die Zahlenangaben<br />

varII.eren) sollen insgesamt dabei gewesen sein,<br />

davon 14.700 Soldaten (9050 Inder, 4038 Engländer)<br />

der Britisch-Indischen Armee. Eine große<br />

Anzahl Tiere wurde aus Indien mitgebracht, u.a.<br />

19.000 Pferde, 5735 Kamele und 44 Kriegselefanten.<br />

Die logistischen Leistungen in der neu<br />

angelegten Hafenstadt Zula sind beeindruckend.<br />

Salzwasser wurde durch eine Filtriermaschine zu<br />

Trinkwasser aufbereitet. In der Truppe waren<br />

Christen, Muslime und Hindus vertreten, die Versorgung<br />

der multireligiösen Truppen mit den spezifischen<br />

Speisevorschriften wird eingehalten, so<br />

vegetarisches Essen für Hindus. Das moderne<br />

Waffenlager war immens, es gab allein 4000<br />

Stück Hinterlader-Schnellfeuergewehre (Snider).<br />

Die Industrialisierung des Krieges (Waffen) und<br />

die Privatisierung (Tragtiere, Lebensmittel) verhalfen<br />

den Engländern zur Überlegenheit. Sogar<br />

eine 17 km lange Eisenbahnstrecke wird für die<br />

ersten Transporte gebaut. Am 25.1.1868 erfolgte<br />

der Aufbruch auf der insgesamt 650 km langen<br />

Strecke. Zeitgleich zieht Tewodros nach internen<br />

Machtkämpfen zurück nach Mäqdäla und kommt<br />

dort im März 1868 an.<br />

Die ersten Kampfhandlungen zwischen Engländern<br />

und Äthiopiern finden erst am 9./10. April<br />

1868 in der Schlacht von Fala (Aroge) statt. 700<br />

Äthiopier sollen getötet worden sein, die Engländer<br />

hatten keine Verluste. Tewodros schickt nun<br />

Botschafter mit einem Friedensangebot und lässt<br />

einige Geiseln frei, auch Hormuzd Rassam. Napier<br />

lehnt das Angebot ab, er fordert die Freilassung<br />

aller Geiseln und die Unterwerfung Tewodros.<br />

Ein Briefwechsel folgt, Tewodros zitiert in<br />

seinen Briefen Bibelverse. Am Ostersonntag<br />

(12.4.) lässt er alle Geiseln frei. Sein Friedensangebot<br />

einschließlich Friedensgeschenk (1000<br />

Rinder und 500 Schafe) nimmt Napier nicht an.<br />

Tewodros begeht einen Selbstmordversuch. Napier<br />

ordnet nichtsdestotrotz die Erstürmung<br />

Mäqdälas an. Die Engländer erklimmen am 13.<br />

April die Bergfestung, viele Äthiopier werden<br />

getötet. Tewodros nimmt sich mit der silbernen<br />

Pistole von Viktoria das Leben. Mäqdäla wird<br />

niedergebrannt, am 21. April wird der Rückzug<br />

angetreten und am 2. Juni 1868 Zula erreicht. Interessanterweise<br />

waren nicht alle befreiten Ausländer<br />

glücklich über eine Abreise aus Äthiopien,<br />

für sie war die Geiselhaft nicht gleichzusetzen<br />

mit einer gesamten negativen Einschätzung<br />

Äthiopiens. Sie blieben vor Ort oder kehrten bald<br />

wieder zurück.<br />

Die politischen und kulturellen Folgen dieser militärischen<br />

Geiselbefreiung werden bis heute<br />

kontrovers diskutiert. Dies beginnt bereits bei<br />

den unterschiedlichen Bezeichnungen für die Aktion,<br />

wie Strafexpedition, Militärexpedition, Napier<br />

Expedition, Britische Expedition, Abyssinian<br />

Expedition, Abyssinian Campaign, Britische<br />

Intervention, British Mission to Theodor, Englischen<br />

Expeditionscorps, Feldzug oder Befreiungsaktion.<br />

„Krieg“ oder „Angriff“ wird jedoch<br />

kaum verwendet. Angesichts der Anzahl der Soldaten<br />

und das Vorgehen der Engländer bei den<br />

Schlachten, die Ablehnung der Friedensangebote<br />

durch Napier, der erneute Angriff nach der Freilassung<br />

der Geisel und der Mitnahme von<br />

Kriegsbeute ist zu fragen, ob die Bezeichnung<br />

„Krieg“ – auch wenn dies nur im Zusammenhang<br />

mit einer offiziellen Kriegserklärung benutzt<br />

werden soll – nicht angemessener wäre.<br />

Die Bezeichnung Expedition verschönert und<br />

verschleiert den Tatbestand. Auf englischer Seite<br />

gab es zwar kaum Tote, bei den Äthiopiern viele<br />

Gefallene. Es ist auch zu fragen, ob Napier vom<br />

ersten Selbstmordversuch von Tewodros wusste.<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 64 / November 2011


50 Buchbesprechungen<br />

Matthies als Experte für Kriegsforschung thematisiert<br />

diese Fragen nicht ausreichend. Er zieht<br />

zwar durchaus eine kritische Bilanz und zweifelt<br />

den „grandiosen militärischen Sieg über die<br />

Äthiopier“ als einmalige historische Aktion oder<br />

„erste große humanitäre Intervention der Weltgeschichte“<br />

an, doch er vertieft dieses Thema nicht.<br />

Der Begriff Geisel ist ebenfalls vieldeutig. Auf<br />

Mäqdäla gab es Gefangene und Geiseln. Zahlreiche<br />

äthiopische Machthaber - europäische Begriffe<br />

wie Fürst oder Adel greifen nicht - wurden<br />

dort gefangen gehalten, drohten sie Tewodros gefährlich<br />

zu werden. Unter den Gefangenen waren<br />

auch Ausländer, so der koptische Metropolit<br />

Abunä Sälama, der 1867 in Mäqdäla stirbt. Die<br />

Geiselnahme der englischen Diplomaten war für<br />

England eine Verletzung der Immunität, für Tewodros<br />

übliche Machtpolitik. Möglicherweise<br />

versuchte Tewodros durch das Festhalten von<br />

Menschen unterschiedlichster Nationalitäten einen<br />

internen Machtverlust auszugleichen. Er sah<br />

seine Macht schwinden und brauchte eine spektakuläre<br />

Unterstützung. Auch der Sohn der Oromo<br />

Herrscherin Mästawät wurde festgehalten<br />

und aufgrund ihrer Unterstützung der Engländer<br />

von Tewodros getötet.<br />

Matthies vermeidet die Thematisierung der großen<br />

Gegensätze zwischen Nationalgefühl auf der<br />

englischen Seite mit einer Königin und dem regionalen,<br />

teilweise ethnisch und religiös bedingten,<br />

vorherrschenden Machtgefüge auf äthiopischer<br />

Seite mit vielen Herrschern. Die Idee eines<br />

Kaisers als einzigen Machthabers war in Äthiopien<br />

vorhanden, doch ständige Machtkämpfe mit<br />

kriegerischen Auseinandersetzungen waren an<br />

der Tagesordnung. Die Vergrößerung des eigenen<br />

Herrschaftsgebietes hatte Priorität vor einem Nationalgefühl.<br />

Gerade diese Konflikte führten den<br />

Engländern neue Verbündete zu. Die Kämpfe<br />

zwischen den christlichen Amhara und den muslimischen<br />

Oromo (Galla) waren stark. Die beiden<br />

Oromo Herrscherinnen (der Titel Königin ist<br />

nicht gesichert) Wärqitu (Wekait) und Mästawät<br />

(Mastiat) in Wällo und Wärrä Himäno hatten somit<br />

einen großen Einfluss auf den Verlauf der<br />

Militäraktion. Mästawät (ca. 1830-ca. 1885)<br />

nahm aktiv an Kämpfen teil und leitete die Aufstände<br />

gegen Tewodros. (Wichtige Persönlichkeiten<br />

wie Sir Robert Napier und Gerhard Rohlfs<br />

werden im Buch gesondert dargestellt, Tewodros<br />

und Mästawät fehlen leider). Nach Verhandlungen<br />

mit Napier sorgte sie für einen freien Durchzug<br />

der Engländer in ihrem Gebiet und unterstütze<br />

sie mit Lebensmitteln. Die Bedeutung von<br />

Mästawät und Wärqitu wurde bislang nicht genügend<br />

herausgearbeitet.<br />

Auch andere Herrscher strebten nach einer Niederlage<br />

Tewodros und verbündeten sich mit Napier.<br />

Die taktische Zusammenarbeit mit den regionalen<br />

Machthabern und die genauen geographischen<br />

Kenntnisse Äthiopiens halfen England.<br />

Theodor von Heughlin lieferte bereits 1862 erste<br />

detaillierte Ansichten von Mäqdäla nach Europa.<br />

Doch schon auf dem Rückweg kam es vermehrt<br />

zu Angriffen auf die englischen Truppen. Scheinbar<br />

haben einige Herrscher die Engländer bewusst<br />

benutzt, um Tewodros zu stürzen. Nun<br />

konnten die Äthiopier ihre neuen Waffenkenntnisse<br />

anwenden, wie auch wenig später gegen die<br />

Italiener (Adwa). Die von Napier auf dem Rückweg<br />

an Kaía Mérca gemachten Waffengeschenke<br />

als Dank für seine Mithilfe verhalfen ihm zum<br />

Kaiserthron (Johannes IV. 1872-89). Die Mitnahme<br />

des Thronfolgers Alämayyähu Tewodros<br />

(1860 - 4.11.1879), Sohn von Tewodros II. und<br />

Téru Wärq Wébe (Térunäš) nach England veränderte<br />

die Herrschaftsabfolge, wodurch Menelik<br />

II. (1889-1910) zur Macht gelangt. Alämayyähu<br />

Tewodros ist begraben in der Kapelle von Windsor<br />

in England.<br />

Matthies folgt bei seiner Beschreibung der englischen<br />

Sicht und benutzt hauptsächlich europäische<br />

Quellen. Er verarbeitet die offiziellen Militärberichte,<br />

die Bücher der Teilnehmer, die Schilderungen<br />

der Geiseln, wissenschaftliche Auswertungen<br />

und die Artikel der Kriegsjournalisten<br />

(embedded journalists). Die äthiopischen Quellen,<br />

die Chronik Tewodros wurde mehrfach übersetzt<br />

(Littmann, Moreno, Mondon-Vidailhet<br />

etc.), weitere Berichte und Dokumente berücksichtigt<br />

er kaum. Eine neue Beurteilung dieses<br />

historischen Ereignisses auf Grund äthiopischer<br />

Quellen fehlt somit. Eine Analyse äthiopischer<br />

Dokumente könnte die Sichtweise verändern, genannt<br />

sei der Brief (1870) der Großmutter<br />

Laqiyaye an Königin Viktoria, der der großmütterlichen<br />

Sorge um den kleinen Enkel Alämayyähu<br />

Ausdruck verleiht (Rubenson). England wurde<br />

nicht generell als Feind Äthiopiens angesehen,<br />

eine umfangreiche Korrespondenz zwischen<br />

den Ländern zeugt davon. Die Legendenbildung<br />

von Kaiser Tewodros zum äthiopischen Helden,<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 64 / November 2011


Buchbesprechungen<br />

51<br />

der durch Geiselnahme und Selbstmord einer europäischen<br />

Großmacht getrotzt hat, ist in den<br />

äthiopischen Quellen zu finden. Für die Sicht der<br />

Oromo (Mästawät) gibt es ebenfalls Zeugnisse.<br />

Weiter ist eine geschichtliche Verbindung zur ersten<br />

Militäraktion einer europäischen Macht ins<br />

Innere von Äthiopien möglich. 1541 schickten<br />

die Portugiesen unter der Leitung von Dom Christovão<br />

da Gama 400 Soldaten zur Unterstützung<br />

im Kampf gegen den muslimischen Eroberer,<br />

Ahmad b. Ibrahim al-Ëazi (Ahmad Grañ). 1543<br />

töteten sie ihn und verließen Äthiopien wieder.<br />

Interessanterweise lief die Logistik auch über Indien.<br />

Matthies gelingt durch seine Herausarbeitung der<br />

wichtigsten Fakten eine spannende Schilderung.<br />

Überzeugend hat er erstmals auf Deutsch den<br />

„Marsch auf Mäqdäla“ zusammengefasst. Im<br />

Buch sind wenige Ungenauigkeiten zu verzeichnen,<br />

so ist Teff (S. 15) keine kleinförmige Hirsenart,<br />

sondern eine Kornart, mohammedanisch<br />

ist durch muslimisch (S. 42) zu ersetzen. Die<br />

deutsche Wissenschaft hatte durch die Geiseln<br />

wie Georg Wilhelm Schimper oder Eduard Zander<br />

und die wissenschaftlichen Begleiter der Militäraktion<br />

wie Gerhard Rohlfs detaillierte Aufzeichnungen<br />

bekommen. Hier liegt auch der Bezug<br />

zu der Reihe Deutsche Kolonialgeschichte<br />

des Ch. Links Verlags. Die Ausstattung des Buches<br />

mit zwei Karten (Marschroute) und zahlreichen<br />

schwarz-weiß Abbildungen von Originalphotographien<br />

und Zeichnungen ist exzellent.<br />

Matthies Buch präsentiert ein Stück Weltgeschichte,<br />

ihm sind viele Leser zu wünschen.<br />

Verena Böll<br />

CHRISTINE CHAILLOT (2011), vie et spiritualité<br />

des Églises orthodoxes orientales des traditon<br />

syriaque, arménienne, copte et éthiopienne.<br />

Préface du Protopresbytre Boris Bobrinskoy.<br />

Patrimoines Orthodoxie. Paris. ISBN 978-2-<br />

204-08979-1.<br />

“Miaphysis, nicht Monophysis” ruft sie laut in<br />

den Konferenzraum in Paris. Das Institut Catholique<br />

de Paris hatte im Oktober 2010 zu einer Tagung<br />

über die äthiopische Kirche eingeladen. In<br />

den Diskussionen kam es vor, dass das Wort Monophysitismus<br />

fiel.<br />

Das neueste Buch von ihr ist wieder genau aus<br />

diesem Grund entstanden. Sie will die Entstehung,<br />

Geschichte und Gegenwart der ersten fünf<br />

orthodoxen Nationalkirchen vermitteln und bekannt<br />

machen. Sie hat schon einige Publikationen<br />

zu diesem Thema veröffentlicht. Doch immer<br />

wieder merkt sie, wie wenig die Menschen<br />

in Europa von diesen Kirchen wissen. Wie kann<br />

das verändert werden?<br />

Was eint diese fünf (sechs) Kirchen? Das Konzil<br />

von Chalkedon im Jahre 451. Auch auf diesem<br />

Konzil wurde über Glaubenssätze debattiert. Die<br />

Diskussion bezog sich dort vorrangig auf die Natur<br />

von Christus. Zum Ende des Konzils wurde<br />

ein für alle Kirchen verbindlicher Lehrsatz festgelegt.<br />

Im Ergebnis wurde von Christus als Gott<br />

und Menschen, vereinigt in einer Person, gesprochen.<br />

Dies als Lehre von den zwei Naturen (göttliche<br />

und menschliche physis) zu interpretieren,<br />

die eine Trennung zwischen Göttlichkeit und<br />

Menschlichkeit vornimmt lag nahe. Die fünf<br />

(sechs) Kirchen verweigerten die Zustimmung.<br />

Sie sprechen von ‚mia physis’, eine Natur, die<br />

das Göttliche und Menschliche beinhaltet. Und<br />

dies ist eben nicht mit ‚mono physis’ zu verwechseln,<br />

da dies die Vermischung von Göttlichkeit<br />

und Menschlichkeit zu einer Natur ausdrückt.<br />

Die Bezeichnung ‚Monophysitische Kirchen’<br />

und Monophysitismus ist daher eindeutig<br />

unkorrekt. Dennoch hat sich eine neue allgemeine<br />

Bezeichnung bislang nicht durchgesetzt. Es<br />

wird meist nicht von den miaphysitischen Kirchen<br />

sondern weiterhin von den altorientalische<br />

Kirchen, den orthodox orientalischen oder den<br />

non-chalkedonensischen Kirchen gesprochen.<br />

In ihrem neuen Buch beschreibt Chaillot zusammenfassend<br />

die Geschichte und die Gegenwart<br />

aller fünf (sechs) Kirchen, die das Konzil von<br />

Chalkedon nicht anerkannt haben, der syrisch-orthodoxen,<br />

der malankarischen, der armenischen,<br />

der koptischen und der äthiopisch-orthodoxen<br />

Kirche. Chaillot musste eine Entscheidung treffen,<br />

um eine breite Leserschaft zu erreichen. Das<br />

Ergebnis ist ein ordentliches Handbuch, eine Art<br />

Nachschlagewerk, wo der Interessierte und der<br />

Laie sich erste Informationen über die jeweilige<br />

Kirche besorgen kann. Sie umschreibt es selber<br />

als neue Zusammenstellung (compilation) ihrer<br />

bisher auf Englisch erschienen Bücher (S. 15):<br />

The Malankara Orthodox Church (1996), The<br />

Syrian Orthodox Church of Antioch (1998), The<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 64 / November 2011


52 Buchbesprechungen<br />

Ethiopian Orthodox Tewahedo Church Tradition<br />

(2002) und The Coptic Orthodox Church (2005).<br />

Nur das Kapitel über die armenische Kirche ist<br />

vollständig neu verfasst. Ebenfalls hinzugekommen<br />

sind viele persönliche Informationen, die sie<br />

auf ihren Reisen und in Gesprächen und Interviews<br />

mit Gläubigen gewonnen hat.<br />

Der Titel des Buches verspricht Aufschluss über<br />

das Leben und die Spiritualität der orientalischen<br />

orthodoxen Kirchen nach syrischer, armenischer,<br />

koptischer und äthiopischer Tradition. Chaillot<br />

nimmt den Lesenden an die Hand auf einer Entdeckungstour<br />

durch den asiatischen und afrikanischen<br />

Kontinent. Zum „Leben“ gehört die Geschichte,<br />

teilweise mit Verfolgung und Exil der<br />

jeweiligen Kirchen, aber natürlich auch der gegenwärtige<br />

Alltag. Unter der Überschrift „Spiritualität“<br />

werden das Erbe der Kirchenväter, Klostertraditionen,<br />

das Mönchs- und Asketentum,<br />

die Liturgie, die Gebete und Rituale, die Pilgerfahrten,<br />

die Marienverehrung, die Heiligen etc<br />

behandelt.<br />

Nach einem Vorwort von Boris Bobrinsky folgt<br />

eine allgemeine Einleitung von der Autorin. Sie<br />

erläutert die hauptsächlich praktische Ausrichtung<br />

des Buches. So sei sie beispielsweise bemüht,<br />

die Liturgie jeder Kirche für den Laien<br />

verständlich zu schildern, auch damit Besuche<br />

der fremden Kirche vor Ort erleichtert werden.<br />

Im Buch wird jede Kirche nach einem eigenen<br />

Prinzip systematisch vorgestellt, die einzelnen<br />

Darstellungen können daher auch separat gelesen<br />

werden. Das erste Kapitel behandelt die syrischorthodoxe<br />

Kirche (L’Église Syrienne Orthodoxe<br />

S. 21-98). Nach Einleitung, Geschichte, Lebensräume<br />

und Exil werden Sprache, Literatur (Manuskripte)<br />

und die wissenschaftliche Beschäftigung<br />

mit Syrien, die Syrologie, beschrieben. Die<br />

Liturgie, Spiritualität und die Schilderung über<br />

das mönchische Klosterleben folgen. Am Ende<br />

des Kapitels steht eine persönliche Stellungnahme,<br />

bei der Chaillot auf die aktuellen Verfolgungen<br />

und Leiden der Gläubigen hinweist.<br />

Im nächsten Kapitel wird die L’Église malankare<br />

syrienne orthodoxe de l’Inde (S. 101-116) thematisiert,<br />

die kürzeste Abhandlung im Buch. Die<br />

korrekte Namensbezeichnung für die entsprechende<br />

non-chalkedonensische syrisch orthodoxe<br />

Kirche in Indien zu finden hat schon viele Menschen<br />

beschäftigt, angefangen von den Namen<br />

„Thomaschristen“ zu „syrisch – malankarisch“,<br />

was aber andere Nominationen sind. Chaillot<br />

geht nicht tiefer auf die Geschichte dieser Kirche<br />

ein, vielmehr verweist sie auf die weiterführende<br />

Literatur.<br />

Die armenische Kirche wird intensiv behandelt.<br />

Einleitung, Geschichte, Diaspora, Sprache, Literatur,<br />

Armenologie, Liturgie, Spiritualität, und<br />

detaillierten Ausführungen zum Mönchstum werden<br />

durch die persönliche Einordnung der aktuellen<br />

Situation abgeschlossen (S. 116 - 202).<br />

Bei den Kapiteln über die koptische (S. 203-304)<br />

und die äthiopische Kirche (S. 305- 418) werden<br />

noch Diaspora und Mission mit einbezogen. Das<br />

Kapitel über die äthiopische Kirche ist eine<br />

knappe Zusammenfassung ihres Buches, “The<br />

Ethiopian Orthodox Tewahedo Church Tradition.<br />

A brief introduction to its life and spirituality.<br />

Paris 2002 (siehe die Rezension des Buches in<br />

KuS 56, 2003). Die sechste Kirche, die eritreische<br />

Kirche, wird im Buch nicht behandelt. Die<br />

Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo Kirche ist eine<br />

junge Kirche, die nach der Unabhängigkeit Eritreas<br />

von Äthiopien (1993) entstand. Der erste<br />

Patriarch, Abunä Philippos wurde 1998 geweiht.<br />

Einer abschließenden einseitigen Zusammenfassung<br />

folgt die umfangreiche Bibliographie (S.<br />

419-467). Die Bibliographie ist getrennt für jede<br />

Kirche und den einzelnen Themen zusammengestellt.<br />

Im Text selber werden dagegen kaum bibliographische<br />

Angaben gemacht.<br />

Die Frage, die bleibt, ist, für wen das Buch wirklich<br />

geschrieben ist. Für Laien, die sich einen ersten<br />

Überblick verschaffen wollen, ist es teilweise<br />

zu spezifisch, so wenn beispielsweise die<br />

Name der Könige, die in den Heiligenvita vorkommen,<br />

aufgelistet werden (S. 372). Das Buch<br />

setzt zudem zu viele theologische Fachbegriffe<br />

voraus, so wenn die Einzelheiten der Liturgie beschrieben<br />

werden. Dem Anliegen der Ökumene<br />

ist hier wohl am ehesten Rechnung getragen<br />

wurden, Christen anderer Nominationen werden<br />

die orientalischen Kirchen vielleicht auf diese<br />

Weise näher gebracht.<br />

Chaillots ständige Beschäftigung mit diesem<br />

Thema ist sehr wichtig, zumal es immer mehr<br />

auch ein europäisches Thema ist. Viele Gläubigen,<br />

die außerhalb des jeweiligen Landes leben,<br />

haben Kirchengemeinden in ihren Wohnorten<br />

gegründet. Es werden eigenen Kirchen geweiht,<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 64 / November 2011


Buchbesprechungen<br />

53<br />

erinnert sei hier an die Einweihung der Kidanä<br />

Mehrät Kirche der Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo<br />

Kirche im Sommer 2010 in Hamburg.<br />

Wer sich einen schnellen Überblick über die einzelnen<br />

Kirchen verschaffen möchte, der kann zu<br />

diesem lebendigen Handbuch greifen.<br />

Verena Böll<br />

MARIELUISE KREUTER UND ROLF P. SCHWIEDRZIK-<br />

KREUTER Äthiopien – von innen und außen,<br />

gestern und heute; BOD Norderstedt, 2010.<br />

ISBN 978-3-8391-9534-5. 33,- €, 426 Seiten,<br />

1089 Fußnoten (Endnoten), 105 meist farbige<br />

Abb., Abkürzungsverzeichnis der dort tätigen<br />

Organisationen, Zeittafel und Auswahlbibliographie.<br />

Das Buch enthält Informationen aus vielen Fachbereichen<br />

und stellt eine negativ-kritische Betrachtung<br />

der äthiopischen Verhältnisse da. Der<br />

Text ist reduziert auf eine Aneinanderreihung<br />

von Fakten, die den Anspruch erheben mit Autorität<br />

zu sprechen. Er vermittelt den Eindruck,<br />

dass hier ein Körper seziert und in seine Einzelteile<br />

zerlegt, darüber jedoch auf den lebendigen<br />

Organismus mit all seinem möglichen Charme<br />

vergessen wird... Man kennt derlei einseitige<br />

Aburteilungen von frustrierten, aufgeklärten Europäern<br />

und Europäerinnen. Es ist dies eine<br />

Reaktion, die vor allem bei mehr oder minder<br />

frustrierten Entwicklungshelfern zu beobachten<br />

ist, die mit einem vorgefassten Lösungspaket ins<br />

Land kamen und die sich nicht auf die gegebenen<br />

Verhältnisse in Äthiopien einstellen konnten.<br />

Die einen lieben Äthiopien – vor allem wegen<br />

der liebenswerten Menschen, denen sie dort begegnet<br />

sind – und bleiben dem Land ein Leben<br />

lang verbunden, die anderen können nur verächtlich<br />

den Kopf schütteln, weil die äthiopische Realität<br />

so anders und so schwierig ist, dass sie all<br />

ihre Träume zerstörte. Mag es der Korrektur der<br />

Entwicklungsarbeit dienen, der Leser, der<br />

Äthiopien offen und mit echter Freude begegnet,<br />

sollte dieses Buch höchstens kritisch als<br />

Nachschlagewerk nutzen.<br />

Annegret Marx<br />

RUDOLF FISCHER. Äthiopien - Landschaften,<br />

Gesichter, Kirchen, Kleiner Bildband im Format<br />

15 auf 21 cm (DIN A 5 hoch), 76 Seiten,<br />

122 Abbildungen (alle farbig), ISBN 978-3-<br />

906090-33-7, Fr. 22.- / Euro 18,-<br />

Der Verfasser ergänzt den im letzten Heft KuS<br />

63/2010 vorgestellten Bildband "Die äthiopische<br />

Kirche und ihre Bilder" um Aufnahmen aus mehreren<br />

äthiopischen Kirchen und Klöstern, die nur<br />

von Männern betreten werden dürfen.<br />

Neben einigen Landschaftsaufnahmen bringt der<br />

schmale Band einige weniger bekannte Sehenswürdigkeiten<br />

in Aksum: Abba Pantaleon, die<br />

Kirche Arbatu Insessa, Buchillustrationen, den<br />

Tafelberg von Debre Damo, den Kratersee von<br />

Zengena, die Landschaft Geralta mit ihren<br />

schroffen Felsmassiven, Bauern des Hochlandes<br />

bei der Arbeit, den grössten See Äthiopiens und<br />

Kirchen auf seinen Inseln, die Malereien von<br />

Tschelekot Selassie, die Klöster Istefanos und<br />

Debre Libanos. Der Text beschränkt sich leider<br />

nur auf das unbedingt Notwendige, was im Rahmen<br />

eines so kleinen Bändchens verständlich ist.<br />

Bestellung des Buches über: www.piscator.ch<br />

oder http://edition-piscator.surfino.info<br />

Oder schriftlich an:<br />

Edition Piscator, Sandmattstr. 31,<br />

CH-4532 Feldbrunnen / Schweiz<br />

Telefon: +41 3262324 73<br />

Wir möchten ausdrücklich auf das interessante<br />

Verlagsprogramm des Piscator-Verlages hinweisen,<br />

dessen Publikationen für an den orientalischen<br />

Kirchen interessierte Mitglieder der Tabor<br />

Society eine Fundgrube an verständlicher Literatur<br />

darstellt!<br />

Annegret Marx<br />

Kirche und Schule in Äthiopien, Heft 64 / November 2011

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!