KEIN ICH OHNE ANDERES - Fachhochschule Salzburg
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Kein Ich ohne Anderes<br />
Stellung der Gruppe in der Identitätsbildung<br />
Bachelorarbeit 1<br />
Verfasserin: Lilija Tchourlina<br />
Vorgelegt am Bachelorstudiengang MultiMediaArt, <strong>Fachhochschule</strong> <strong>Salzburg</strong><br />
Begutachtet durch: Dr. Michael Manfé<br />
<strong>Salzburg</strong>, 15.04.2011
EIDESSTATTL<strong>ICH</strong>E ERKLÄRUNG<br />
Hiermit versichere ich, Lilija Tchourlina, geboren am 09.12.1988 in Moskau, dass ich die<br />
Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens nach bestem Wissen und Gewissen eingehalten habe und<br />
die vorliegende Bachelorarbeit von mir selbstständig verfasst wurde. Zur Erstellung wurden von mir<br />
keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet.<br />
Ich versichere, dass ich die Bachelorarbeit weder im In- noch Ausland bisher in irgendeiner Form als<br />
Prüfungsarbeit vorgelegt habe und dass diese Arbeit mit der den BegutachterInnen vorgelegten<br />
Arbeit übereinstimmt.<br />
<strong>Salzburg</strong>, am 14.04.2011<br />
Unterschrift<br />
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Vorname Familienname Matrikelnummer
Kurzfassung<br />
Vor- und Zuname:<br />
Institution:<br />
Studiengang:<br />
Titel der Bachelorarbeit:<br />
BegutachterIn:<br />
Lilija TCHOURLINA<br />
FH <strong>Salzburg</strong><br />
Bachelor MultiMediaArt<br />
Kein Ich ohne Anderes<br />
Stellung der Gruppe in der Identitätsbildung<br />
Michael Manfé<br />
Schlagwörter:<br />
Identität | Gruppe | Selbstkonzept<br />
„Wer bin ich?“ ist eine Frage die sich jeder Mensch im Lauf seines Lebens stellt und wenn man<br />
das genau betrachtet, ist das eine Frage, die er sich immer wieder stellen kann und muss. Diese<br />
Arbeit widmet sich der Suche nach wesentlichen Faktoren, die das Zustandekommen einer Identität<br />
innerhalb sozialer Gebilde bedingen. Der Fokus wird speziell auf das Konstrukt der Primärgruppe<br />
und deren Verhältnis zum Individuum gelegt. Es gilt sich mit den Einflüssen auf die Identitätsentwicklung<br />
des Individuums auseinanderzusetzen, Abhängigkeiten, Strukturen, Phänomene und Wechselwirkungen<br />
zwischen den Instanzen, Individuum und Gruppe, zu erkennen und zu beschreiben.<br />
Ganz abgesehen davon, wer man für sich selbst ist, nimmt man immer wieder neue Rollen an.<br />
Jemandes Kind, jemandes PartnerIn, FreundIn, KundeIn, etc. kurz, der Mensch wird nicht in eine<br />
Welt von Einzelkämpfern hineingeboren, sondern in eine Welt aus sozialen Konstrukten.<br />
Welchen Kleingruppenverbänden gehört der Mensch im Laufe seines Lebens an, sind diese Mitgliedschaften<br />
für immer, welche Kräfte wirken innerhalb solcher Gruppen, vor welche Entscheidungen<br />
werden die Mitglieder gestellt und warum kommen Menschen überhaupt zusammen?<br />
3
ABSTRACT<br />
“Who am i?” is a question every person asks oneself in a given moment in live. Taking a closer look<br />
one will recognize that this question is to be answered even multiple times in a lifetime. This paper<br />
turns the attention on the search for the essential factors on the process of developing identity in<br />
a given social circle. Therefor the focus will lie on the relationship between the individual and the<br />
primary group. It is necessary to examine and characterize the dependencies, structures, phenomenons<br />
and reciprocity between those instances individual and group.<br />
Apart from the fact that everyone has a mental picture about oneself, one often has to act a part. As<br />
a child, a partner, a friend, a customer, as human and so on. In short one doesn’t live in a world of<br />
individuals, but in a world of social structures.<br />
Which small groups does a person belong to in ones live, and are those participations for ever?<br />
Witch social forces take effect in those groups? Why do people gather in groups at all?<br />
4
Inhalt<br />
AbkÜrzungsverzeichnis<br />
Einleitung<br />
7<br />
6<br />
1. Identität<br />
8<br />
1.1 historischer Rückblick<br />
1.2 Identität als Gegenstand der Sozialwissenschaften<br />
1.3 soziologische identitätskonzepte<br />
8<br />
12<br />
14<br />
2. Gruppe<br />
15<br />
2.1 Historische Entwicklung<br />
2.2 Gruppe als Gegenstand der Sozialwissenschaften<br />
2.3 Soziologische Gruppentheorien<br />
15<br />
16<br />
18<br />
3. Zusammenführung Identität und Gruppe<br />
21<br />
3.1 Funktionen der Gruppe für das Individuum<br />
3.2 Wirkung der Gruppe auf das Individuum<br />
21<br />
23<br />
Conclusio<br />
Literaturverzeichnis<br />
25<br />
29<br />
5
Akürzungsverzeichnis<br />
Auflage: Aufl.<br />
Band: Bd.<br />
Bände: Bde.<br />
beispielsweise: bspw.<br />
beziehungsweise: bzw.<br />
ebendort: ebd.<br />
erweiterte Auflage: erw. Aufl.<br />
et cetera: etc.<br />
Herausgeber: Hg.<br />
Identität: ID<br />
Jahrhundert: Jh.<br />
korrigierte Auflage: korrig. Aufl.<br />
Name unbekannt: o. V.<br />
ohne Jahresangabe: o. J.<br />
ohne Ortsangabe: o. O.<br />
ohne Seitenangabe: o. S.<br />
Primärgruppe: PG<br />
und andere: et al.<br />
und folgende Seite: f<br />
und folgende Seiten: ff<br />
vergleiche: vgl.<br />
vor Christi Geburt: v.Chr.<br />
überarbeitete Auflage: überarb. Aufl.<br />
zitiert nach: zit. n.<br />
6
EINleitung<br />
Ist Gruppenerfahrung ein elementarer Bestandteil der Identitätsbildung und wenn ja, wodurch?<br />
Diese Frage soll mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse erörtert und beschrieben werden.<br />
Dabei unterteilt sich diese Arbeit in 3 Hauptkapitel. Die ersten 2 Kapitel widmen sich je einzeln<br />
den Begriffen der Identität und der Gruppe. Erst wird deren Entwicklung kurz aus historischer Sicht<br />
aufgezeigt, darauf folgt eine Beschreibung der Begriffe als Forschungsgegenstände der Sozialwissenschaften.<br />
Die Kapitel schließen mit beispielhaften Kategorisierungen dieser Begriffe. Im 3 Hauptkapitel<br />
wird versucht die vorangegangenen Begriffsbesprechungen zu vereinen und sie auf ihre<br />
Wechselwirkung hin zu untersuchen.<br />
Die Quellen dieser Arbeit sind in Soziologie und Sozialpsychologie zu finden, denn obwohl Identität<br />
auch “in der Philosophie eine wesentlichen Rolle spielt, sind die Fragestellungen der Sozialwissenschaften<br />
an die Identitätsforschung [...] sehr unterschiedlich” ( Frey/Haußer 1987, 18).<br />
Bezugsrahmen der Soziologie bilden soziale Konstrukte, die auf ihre Struktur hin untersucht werden,<br />
die Sozialpsychologie interessiert sich mehr für das Individuum in Wechselwirkung zu seinem sozialen<br />
Kontext.<br />
Da dieses Thema im Rahmen einer Bachelor 1 Arbeit behandelt wird, bediene ich mich dem Studium<br />
von Fachliteratur als Forschungsmethode. Die Beantwortung der Forschungsfrage soll durch das<br />
Vereinen der rezipierten Inhalte erfolgen.<br />
7
1.Identität<br />
Identität leitet sich vom lateinischen Wort “idem” ab und bedeutet “der selbe”. Ein Fremdwörterlexikon<br />
liefert zu Identität folgende Beschreibung: “Das-Selbe-sein; das Sich-gleich-bleiben im<br />
Wechsel der Zustände; Völlige Gleichheit” (Kienle 1982,175)<br />
Einen etwas genaueren Einblick bietet folgende Definition von Englisch und Englisch (2006)<br />
“Im allgemeinen Sinne beschreibt der Begriff der Identität die einzigartige Kombination von persönlichen<br />
und damit unverwechselbaren Eigenschaften des Individuums und umfasst dabei beispielsweise<br />
den Namen, das Geschlecht und den Beruf [,] durch diese Charakteristika lässt sich die<br />
Person von anderen Individuen unterscheiden. In einer deutlich engeren und psychologischen Sicht<br />
beschreibt Identität eine einzigartige Persönlichkeitsstruktur und schließt das Bild ein, welches<br />
andere von derselben haben. Nicht nur in der Jugend – in der die Entwicklung einer eigenen Identität<br />
nach Erikson (1973) als Entwicklungsaufgabe zu verstehen ist – ist aber auch die Sicht, die<br />
das Individuum selbst auf die eigene Identität hat, von entscheidender Bedeutung. Damit kann man<br />
Identität auch als das Selbst verstehen, welches um eine affektive und eine kognitive Komponente<br />
bereichert wird.” 1<br />
Der Begriff der Identität findet sich auch im Bereich der Mathematik wieder, seine Definition ist als<br />
solcher für diese Arbeit nicht relevant.<br />
1.2 historischer Rückblick<br />
Einerseits wird Identität im Kontext von Kontrolle und Überwachung als rechtliche und politische<br />
Notwendigkeit gesehen, so sind Geburts- und Todesdaten die in Kirchenbüchern festgehalten<br />
wurden, lange Zeit die einzigen Daten, die etwas über einen bestimmten Menschen aussagen. Erst<br />
mit dem Aufkommen des Polizeiwesens kam das Interesse an der Festlegung weiterer individueller<br />
Identitätsdaten. Typische Identitätsmerkmale waren und sind Zahlen, Bilder, besondere körperliche<br />
Merkmale, wie im weiteren Verlauf der Zeit Fingerabdrücke und mittlerweile DNA. Diese Daten dienen<br />
der zuverlässigen Wiedererkennbarkeit im Falle von Überschreitung von politischen oder gesetzlichen<br />
Grenzen sowie zum Schutz. 2<br />
______________________________________________________________<br />
1. vgl. http://www.stangl.eu/psychologie/definition/Identitaet.shtml (April 2011)<br />
2. vgl. Assmann 2006, 209 8
Andererseits ist der Begriff Identität im Zusammenhang mit Selbsterforschung, Selbsterkenntnis und<br />
Selbstinszinierung zu betrachten. 3 Blickt man ins Altertum zurück, so gibt es wenig über einzelne<br />
Persönlichkeiten preis. Inhalt der Überlieferungen - größtenteils künstlerische Darstellungen - sind<br />
göttliche Botschaften die an die Menschen weitergegeben wurden. Die Abbilder einzelner Personen<br />
offenbaren nicht die ihnen eigentümlichen Charakterzüge, sondern bilden sie als Repräsentanten<br />
ihrer Tätigkeit, im zeitlichen, räumlichen und weltanschaulichen Kontext ab. Bildnisse die die Abgebildeten<br />
als bestimmte Personen identifizieren soll es in Ägypten seit Pharao Aknaton, um 1360 v.<br />
Chr gegeben haben. Erstmals wurden Personen erkennbar und außerhalb ihrer Funktion, ihres Amtes<br />
dargestellt. 4<br />
Den Philosophen der Antike stellte sich die Frage nach der Einheit und Gleichheit von Objekten,<br />
speziell Aristoteles und Platon untersuchten wie ein Ding im Wandel der Zeit das selbe bleiben konnte.<br />
Alles auf der Welt ist äußerlichen Einflüssen unterworfen und existiert nicht isoliert von diesen. 5<br />
Im 16 Jh. tauchte das Wort Identität in der englischen Literatur auf, bezog sich aber noch auf die<br />
Bereiche der Algebra und Logik. Als Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543) die Abhängigkeit der Himmelskörper<br />
durchschaute und das Konzept eines heliozentrischen Weltbilds - die Erde drehe sich um<br />
die Sonne - vorstellte, war damit nicht nur ein Grundstein der Skepsis gegenüber den kirchlichen<br />
Lehren 6 gelegt, seine Entdeckung symbolisierte auch das Aufleben von rationalem und individuellem<br />
Denken.<br />
Im 17 Jh. wurde René Descartes’ (1596 - 1650) Ausspruch “cogito ergo sum” zum Repräsentanten<br />
eines neuen Selbstverständnisses. “Der Mensch sei in der Lage sich selbst zum Gegenstand seiner<br />
Beobachtungen zu machen und unabhängig von Autoritäten zu denken” (Elias 1996b, 133ff.). Selbstbewusstsein<br />
und Selbstreflexivität zeichneten dieses Denken aus, Erkenntnisse können von innen<br />
heraus gewonnen werden, ohne auf äußere Strukturen angewiesen zu sein. 7<br />
Als völlig autonom wurde der Mensch allerdings noch nicht betrachtet, Descartes verortete Gott in<br />
allen und beschrieb, dass “[...] alles in uns von ihm kommt.”<br />
John Locke (1632 - 1704) erwähnte ID erstmals im philosophischen Kontext 8 und beschrieb den<br />
Begriff der “personalen Identität” dessen Ursprung er im Bewusstsein festmachte. Durch eben dieses<br />
werde man zu dem was man <strong>ICH</strong> oder SELBST nennt. 9<br />
______________________________________________________________<br />
3. vgl. Greenblatt 1980, o.A<br />
4. vgl. http://www.templatenetwork.org/topaz/14/de/06.html, April 2011<br />
5. vgl. Müller 2010,19<br />
6. vgl. Abels 2006, 77<br />
7. vgl. Taylor 1996, 263<br />
8. vgl. Locke “Essay Concerning Human Understanding”<br />
9. vgl. Hausner 1994, 92 9
“Das Bewusstsein ist das sich an Vergangenheit erinnernde und in die Zukunft blickende und [somit<br />
das wesentliche Element, dass] [..] überhaupt eine einheitliche ID dazustellen vermag. Personale<br />
Identität gründet nicht auf einer denkenden Substanz (dem Körper), sondern ist im immateriellen<br />
Bewusstsein verankert” (Müller 2010,21).<br />
Anders bei Leibniz, der den Sitz der Identität in der Seele bzw. im Geist ausmachte. Er verstand die<br />
Seele als substanzielle Einheit und obwohl er auch den Dingen (Pflanzen und Tieren) eine solche<br />
zuschrieb, blieb die Vorstellung einer moralischen und persönlichen Identität den Menschen vorbehalten,<br />
da nur sie zur Selbstreflexion fähig seien. Leibniz wies auch darauf hin, dass die personale<br />
Identität nicht ausschließlich von innen beschreibbar sei und erklärte Fremdzuschreibung 10 zu einem<br />
Bestandteil der Identitätsbildung. 11 Somit lässt sich festmachen, dass die “[...] ‘einzigartige Persönlichkeitsstruktur’<br />
unweigerlich mit der Umwelt und der Wahrnehmung dieser verstrickt ist.” 12<br />
David Hume (1711-1776) äußerte sich folgendermaßen zu Seele und Geist als Ursprung der ID:<br />
“Es gibt Philosophen [hier meint er Locke und Leibniz], die sich einbilden, wir seien uns dessen, was<br />
wir unser Ich nennen, jeden Augenblick aufs unmittelbarste bewusst; wir fühlen seine Existenz und<br />
seine Dauer; wir seien sowohl seiner vollkommenen Identität als seiner Einfachheit [...] [unbittelbar]<br />
gewiss” (Hume 1989 zit. n. Müller 2010,21).<br />
Damit stellte Hume den Faktor einer gewissen Unbestimmtheit dar und sah die Begriffe Seele, Geist<br />
und Ich als Behältnisse, die dieses scheinbar unfassbare ‘Selbst’ zu greifen versuchen. In William<br />
Shakespeares’ (1564 -1616) Dramen wurde den Personen Identität, ihrem Stand, Geschlecht und<br />
Alter nach, bestimmt, damit dramatische Handlungen überhaupt ins Rollen kommen konnten, war<br />
es notwendig aus diesen fixen Rollen Zuschreibenden herauszubrechen. In Hamlet wird zum “ersten<br />
Mal in der Literatur der Zumutungscharakter solcher Identitätszuschreibungen, deren Blindheit,<br />
Beschränktheit und der damit verbundene Entzug persönlicher Freiheit, der allen sozialen Rollen<br />
innewohnt, thematisiert” (Assmann 2006, 211)<br />
Kommt ID also einerseits von innen heraus, durch Selbstreflexion und dadurch seiner Vergangenheit<br />
bewusst zu sein und andererseits als eine von Außen geleitete, strukturbietende Rolle. In der<br />
Spätmodern wurde das Individuum zum “Baumeister seines eigenen Selbst”. Aus den institutionell<br />
______________________________________________________________<br />
10. Mit Fremdzuschreibung verweist Leibniz auf die Tatsache, dass sich ein Individuum nicht an alles erinnern kann und somit auf<br />
Berichte von anderen über sich selbst, angewiesen ist (vgl. Leibniz 1961,391ff.).<br />
11. vgl. Müller 2010,19-21<br />
12. vgl. Oerter / Dreher 2002, 290 auf http://www.grin.com/e-book/80411/identitaetsentwicklung-definitionen-und-die-personale-undsoziale-identitaet<br />
(April 2011) 10
vorgegebenen “Bausätzen biografischer Kombinationsmöglichkeiten” sowie aus sozial verfügbaren<br />
Lebensstilen und Identitätsangeboten – bspw.: Mode, Medien und Populärkultur – galt es eine eigene<br />
“Wahlbiografie” und ein ganz persönliches “Existenzdesign” zusammenzustellen. 13<br />
Hier kam eindeutig der Aspekt der Materialität hinzu, nicht nur die Fragen wer und wie jemand ist,<br />
sondern auch was dieser Mensch besitzt und sein Eigen nennt, wird zum Teil der Identitätskonstruktion.<br />
In diesem kurzen Abriss zeigt sich, dass “der Begriff der Person, in der Geschichte einen Bedeutungswechsel<br />
erfahren hat. Vom Namens-, Rollen- uns Statusträger in vor- modernen Gesellschaften<br />
hin zum autonomen, selbstbestimmten Individuum der Moderne” (Assmann 2006, 235) und<br />
das der Zugang zu Identität sowohl von außen, also im sozialen als auch von innen, vom persönlichen<br />
Kontext aus erforscht werden muss.<br />
Ein weiteres Thema der Identität ist die zunehmende Wertigkeit von Individualität. Einzigartigkeit<br />
ist eine “kulturelle Norm, die sich aus dem abendländischen Bild von der Sonderstellung<br />
des Menschen im Universum ergibt. In der modernen Welt wird Einzigartigkeit zum Problem, der<br />
einzelne wird in seiner Entscheidung allein gelassen” (Frey / Haußer 1987, 16-22).<br />
Die Idee der individuellen Identität jedes Menschen scheint sich in vieler Hinsicht mit den in der<br />
Realität herrschenden Strukturierungen und Interaktionskonstrukten innerhalb sozialer Systeme zu<br />
widersprechen.<br />
Wodurch bestimmt der Mensch also seine Identität und gibt es Faktoren, die er/sie nicht<br />
bestimmen kann?<br />
Mittlerweile bewegt sich der Begriff der Identität in vielen unterschiedlichen Feldern: Kulturelle Identität,<br />
Gender Identität, Gruppenidentität, politische Identität, Markenidentität, Unternehmensidentität<br />
u.v.m. Im folgenden Kapitel möchte ich die verschiedenen Herangehensweisen an den Identitätsbegriff<br />
im Bereich der Sozialwissenschaften aufzeichnen.<br />
______________________________________________________________<br />
13. vgl. Kellner/Heuberger 1988 in Eickelpasch/Rohrmoser 204,7) 11
1.3 IdentitÄt als Gegenstand der Sozialwissenschaften<br />
Soziologie, Sozialpsychologie, Philosophie und Psychologie sind sozialwissenschaftliche Bereiche<br />
die sich mit der Identitätsforschung beschäftigen. Dabei interessieren sie sich für unterschiedliche<br />
Aspekte.<br />
“Sozialpsychologie [...] [versucht], zu verstehen und zu erklären, wie Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen<br />
von Personen durch die tatsächliche, vorgestellte oder erschlossene Anwesenheit<br />
anderer Menschen beeinflusst werden. Soziologie [...] interessiert sich [...] für die Wirkung des sozialen<br />
Kontexts, [...] Analyseeinheit sind Gruppen - Erklärungsansätze beziehen sich daher eher auf<br />
strukturelle Variablen wie Normen, Rollen und soziale Schichten, und weniger auf Variablen die im<br />
Individuum verankert sind, wie etwa Ziele, Motive und Kognitionen von Individuen [...]” 14<br />
So stößt man bei näherer Betrachtung auf diverse Forschungskonzepte im Bezug auf Identität. Frey<br />
und Haußer (1987) beschreiben die Verwendung des Identitätsbegriffs in den Sozialwissenschaften<br />
folgendermaßen:<br />
1) soziale, öffentliche, ‚situierte‘ Identität, die dem Individuum in einem sozialen System zugeschrieben<br />
wird, eine Kombination von Merkmalen und Rollenerwartungen, die es kenntlich, identifizierbar<br />
macht.9 Identität als ein von der Außenwelt zugeschriebener Merkmalskomplex.<br />
2) Identität als Kennzeichnung von sozialen Systemen. Objekt der Identifizierung sind Gruppen,<br />
Organisationen, Schichten, Kulturen. Bsp.: ethnische, nationale, Gruppen- aber auch soziale Identität.<br />
Wieder werden die Merkmale für die Identität des Objekts aus der Außenperspektive definiert.<br />
Man ist Teil davon, aber nicht mehr.<br />
3) Identität als selbstreflexiver Prozess eines Individuums. Identität als Selbsterfahrung ist auf die von<br />
der Außenwelt vorgenommenen Verortungen angewiesen.<br />
Weiters sehen sie die Aufgabe der Sozialwissenschaften in der Auseinandersetzung mit der Frage<br />
“wie Individuen trotz Vergesellschaftung Individuen bleiben können und wie soziale Ordnung trotz der<br />
divergenten Individualität ihrer Mitglieder ihre normierende Kraft aufrecht erhalten können.”<br />
______________________________________________________________<br />
14. zit. n. http://www.lehrbuch-psychologie.de/sozialpsychologie/einfuehrung_in_die_sozialpsychologie/examquestions?format=html<br />
(April 2011) 12
Obwohl Frey und Hauser eine eindeutige, allgemein Anerkannte Definition von Identität ausschließen,<br />
beschreiben sie sie als:<br />
“Integrationsleistung diskrepanter Selbsterfahrungen, d.h. den Integrations- und Balanceaspekt zwischen<br />
externem und internem Aspekt. Dabei ist der externe Aspekt “das Ergebnis externer Typisierungsund<br />
Zuschreibungsprozesse. Der interne Aspekt (das “Selbst”) ist ein reflexiver Prozess, der sich auf<br />
den Ebenen des sozialen (Bild von der Meinung anderer über sich selbst) und des privaten Selbst<br />
(Selbstinterpretation aus der eigenen Perspektive) abspielt” (Frey/Haußer 1987, 4).<br />
Ähnlich definiert Krappmann (1936), in Anlehnung an Erving Goffman, Ich-Identität als Leistung des<br />
Individuums zwischen personaler Identität (biografische Dimension, Individualität) und sozialer Identität<br />
(die zu einem gewissen Zeitpunkt nebeneinander aktualisierten Rollen) zu balancieren. 15<br />
Diese Definitionsversuche zeigen, dass Identität etwas prozesshaftes anhaftet, es wird nicht von<br />
einer Endgültigkeit der Identität ausgegangen da “das menschliche Bewusstsein aus seiner selbst,<br />
aus Erfahrungen hervorgehe, welche er mit sich selbst und im Umgang mit sozialen und sächlichen<br />
Gegenständen macht.” 16<br />
In der Psychologie spricht man von einem “dynamischen Selbstkonzept, dass lebenslang in Entwicklung<br />
bleibt” (Köck & Ott 1997, 312). 17 Daher wird Identitätsforschung als Systematisierungsversuch<br />
gehandelt und Identität als notwendige Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der / des Einzelnen<br />
in der Gesellschaft gesehen. 18<br />
Es ist die konstruktive Aufgabe der/des Einzelnen, sich durch Selbstreflexion - die Betrachtung ihrer/<br />
seiner eigenen Person als Objekt - ebenso wie im Kontexte ihrer/seiner Umwelt, zu begreifen und zu<br />
finden. 19<br />
Die Identitätsthematik gewann in den Sozialwissenschaften seit dem 20 Jh. an Popularität. Unter<br />
anderem weil ID als ein universelles Thema verstanden wurde, welches jeden Menschen betrifft.<br />
Sigmund Freuds (1865 - 1939) Arbeit im Bereich der Psychoanalyse, in der er die Person in <strong>ICH</strong>,<br />
ÜBER-<strong>ICH</strong> und ES einteilte spielte eine gewichtige Rolle für die Klärung des Identitätsbegriffs. Zur<br />
Zeit um den 2 WK wurde die Auseinandersetzung mit der nationalen ID als Aufgabe der Sozialwissenschaften<br />
gesehen. Es galt die Gesellschaft besser kennen und verstehen zu lernen.<br />
Margaret Mead, eine amerikanische Anthropologin und Ethnologin befasste sich mit dem Zusammenhang<br />
zwischen personaler, individuelle und kultureller ID. Es stellte sich die Frage, in welcher<br />
______________________________________________________________<br />
15. vgl. Krappmann 2000, o.S.<br />
16. vgl. James 1890 : “empirical self”<br />
17. vgl. http://lexikon.stangl.eu/522/identitaet/ (April 2011)<br />
18. vgl. Frey / Haußer 1987, 16-22<br />
19. vgl. Assmann 2006, 216ff. 13
Weise eine bestimmte Kultur die persönliche Identität formt. In den 60er Jahren sprang der Fokus auf<br />
die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. 20<br />
David Riesman schreibt in seinem Werk „The Lonely Crowd“ (1950)<br />
„Die in der Phase der ‘beginnenden Bevölkerungsschrumpfung’ befindliche Gesellschaft schließlich<br />
formt in ihren typischen Vertretern eine Verhaltenskonformität, die durch die Tendenz, für die Erwartungen<br />
und Wünsche anderer empfänglich zu sein, gesichert wird. Diese Menschen werde ich mit<br />
‘außen-geleitet’ bezeichnen, die Gesellschaft, in der sie leben, beruht auf ‘Außen-Lenkung’“ (Riesman<br />
et. al. 1958 [1950] zit. n. Müller 2010,26).<br />
Der Forschungsgegenstand der Identität kennzeichnet sich besonders durch seine Interdisziplinarität.<br />
Müller markiert ihn als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft. 21<br />
1.4 soziologische identitÄtskonzepte<br />
Wie bereits beschrieben existiert und entwickelt sich Identität auf unterschiedlichen Ebenen.<br />
Triandis (1989) unterscheidet zwischen dem privatem Selbst - dieses beschreibt, wie die/der<br />
einzelne sich selbst sieht, wahrnimmt und beschreibt, dem öffentlichem Selbst, als Sichtweise wie<br />
die/der eine von anderen wahrgenommen wird und dem kollektivem Selbst, welches sich auf die<br />
Sichtweise einer Gruppe - in diesem Fall, einer Bezugsgruppe - über die/den einzelnen bezieht. 22<br />
Darauf aufbauend, sieht er die Herausbildung eines starken, privaten Selbst in individualistischen<br />
Kulturen verankert. Diese kennzeichnen sich durch Erziehung, die starken Fokus auf Werte wie Selbstvertrauen,<br />
Selbstbestimmung, Selbstfindung und Selbstverwirklichung legen. Gegensätzlich dazu<br />
verhält es sich in kollektivistischen Kulturen, in denen sich die/der Einzelne als Mitglied einer Gruppe<br />
definiert und die Erziehung Werte wie Konformität, Gehorsam und Wohlverhalten vermittelt.<br />
Im Unterschied dazu gehen Markus und Kitayama (1991) nur von zwei Komponenten des Selbstkonzepts<br />
aus. Das unabhängige Selbst - eine typisch westliche Einstellung - welches die eigene<br />
Person als unabhängiges und einzigartiges Subjekt erfährt und sich durch die eigenen Gedanken<br />
und Gefühle weiterentwickelt. Das bezogene Selbst lebt von der Grundannahme der Verbundenheit<br />
zwischen menschlichen Wesen und wird nur im Bezug auf seine Mitmenschen und seine Funktion<br />
______________________________________________________________<br />
20. vgl. Müller 2010, 25<br />
21. vgl. Müller 2010, 11<br />
22. vgl.Triandis 1989, 507 14
innerhalb dieser sozialen Kontexte wahrgenommen. In diesem Konzept nimmt sich die/der Einzelne<br />
zurück, ihre/ seine “Meinung, Fähigkeiten und Eigenarten sind sekundär, sie müssen kontrolliert und<br />
der Hauptaufgabe wechselseitiger Bezogenheit angepasst werden” (Markus/Kitayama 1991, o. S.).<br />
George Herbert Mead (1863-1931) sieht individuelle Identität als Balanceakt zwischen persönlichen<br />
Entscheidungen und äußerlichen Verhaltenserwartungen. Dabei vergleicht er die gesellschaftliche<br />
Seite des Individuum - diese nennte er ME - von der Seite der individuelle Spontanität - dem I - und<br />
beschreibt die Wichtigkeit, die diesen Verhaltenserwartungen zukommen. 23<br />
In all diesen Konzepten wird ersichtlich, dass die Vorstellung eines Ichs, ohne die Berücksichtigung<br />
von äußeren Einflüssen undenkbar ist. Der Mensch existiert nicht isoliert für sich allein und so<br />
entwickelt sich seine persönliche Identität nicht von “[...] ‘Innen nach Außen’ sondern von ‘Außen<br />
nach Innen’” (Luckmann 1979 zit. n. Frey/Haußer 1987,16).<br />
2.Gruppe<br />
Etymologisch kommt das Wort „Gruppe“ aus dem germanischen und bedeutet so etwas wie<br />
„Klumpen“. Das französischen “groupe” bzw. das italienischen “gruppo” wurden ursprünglich im<br />
Bereich der bildenden Kunst verwendet und beschrieb eine auf einen Blick erfassbare Ansammlung<br />
von Objekten. Erst im 18 Jh. - in England und Frankreich - fand eine Übertragung des Begriffs auf<br />
soziale Beziehungen statt. 24<br />
2.2 Historische Entwicklung<br />
„Die Wahrheit ist, dass sich die soziale Welt […] immer und überall nur gruppenweise bewegt, gruppenweise<br />
in Aktion tritt, gruppenweise kämpft und strebt […]. In dem harmonischen Zusammenwirken<br />
der sozialen Gruppen liegt die einzige mögliche Lösung der sozialen Fragen [...]“ (Gumplowicz<br />
1885 zit. n. Schäfers 1980, 25).<br />
______________________________________________________________<br />
23. vgl. Scherr 1995, 136<br />
24. vgl. Schäfers 1980, 19 15
Ethnologisch betrachtet hat der Mensch die längsten Phasen seiner Geschichte in sozialen Konstellationen<br />
- Horden, Klans, Familienstämme - gelebt. Die Interaktion innerhalb gruppenhafter Zusammenschlüsse<br />
ist wesentlicher Bestandteil für die Prozesse der Sozialisation und sozialen Integration.<br />
Funktionsgeschichtlich hat sich das Zusammenleben von Menschen von der Zweckgemeinschaft<br />
- Schutz, Stärke -, zum Weiterbildungsinstrument - lernen vom Älteren - zur Interessensgemeinschaft<br />
- anstreben eines gemeinsamen Ziels - und letztlich zur “Selbsthilfegruppe” entwickelt. 25<br />
2.3 Gruppe als Gegenstand der Sozialwissenschaften<br />
Der Begriff der Gruppe fungiert in den Sozialwissenschaften als ein “Ordnungs- und Klassifikationsbegriff,<br />
der die Gemeinsamkeit einer Reihe von gleichen bzw. ähnlichen Elementen hervorhebt“.<br />
Schäfers schreibt der soziale Gruppe folgende Komponenten zu:<br />
„Eine soziale Gruppe umfasst eine bestimmte Zahl von Mitgliedern (Gruppenmitgliedern), die zur<br />
Erreichung eines gemeinsamen Ziels (Gruppenziel) über längere Zeit ein einem relativ kontinuierlichen<br />
Kommuniaktions- und Interaktionsprozess stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir –<br />
Gefühl) entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist<br />
ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches<br />
Rollendifferential erforderlich.“ (Schäfers 1980, 20)<br />
Grundsätzlich wird innerhalb der Soziologie zwischen folgenden sozialen Interaktionskonstellationen<br />
unterschieden:<br />
Menge -<br />
örtliche Nähe, meist Anonymität, wenig bis keine Kommunikation und Interaktion<br />
( bspw.: Schlange vor der Kasse, Wartende an der Bushaltestelle )<br />
Masse -<br />
aktivierte Menge - örtliche Nähe, minimale Kommunikation und Interaktion hinsichtlich<br />
eines reduzierten Ziels - irrational, emotional, unberechenbar, anonym<br />
( bspw.: Stadionbesucher, Demonstranten )<br />
______________________________________________________________<br />
25. vgl. Gukenbiehl/Schäfers 1992,119 und<br />
groups.uni-paderborn.de/.../scha_Gruppen-Teams%20in%20Organisationen_Soziale%20Identitaet%20in%20Gruppen.pdf<br />
(April 2011)<br />
16
Gruppe<br />
2er Gruppe - “Dyade” - kleinste soziale Einheit, sehr komplex, mögliche Basis für eine<br />
größere Gruppe<br />
(bspw.: Liebespaar, Freundespaar, Ehepaar )<br />
Kleingruppe - Anzahl von Mitgliedern zw. 3 und 25, gemeinsames Ziel, kontinuierlicher<br />
Kommunikationsprozess, Wir-Gefühl, gemeinsame Normen, klare Rollen<br />
(bspw.: Familie, Spielgruppe, Gleichaltrigen Gruppe, Freundes Gruppe)<br />
Großgruppe - ab 25 und bis 500 bzw. 1000 Personen<br />
Institution -<br />
Einrichtungen die das menschliche Zusammenleben regulieren, schützen und<br />
Werte und Wissen tradieren. 26<br />
(bspw.: Familie, Ehe, Justiz, Bildungseinrichtungen)<br />
Organisation -<br />
klar vorgegebenes Ziel und genau definierte Mittel zur Zielerreichung, klar<br />
strukturierte Kompetenzstruktur, hierarchische Rollenverteilung, klare Ab-<br />
grenzung gegenüber der Außenwelt<br />
( bspw.: Formen der Bürokratie, Militär, Krankenhaus, Verwaltung)<br />
Assoziation -<br />
Mitglieder sind keine Einzelpersonen sondern Repräsentanten von Gruppen-<br />
interessen<br />
(bspw.: Genossenschaften, Gewerkschaften)<br />
Gesellschaft -<br />
globales Steuerungssystem 27 , das nicht als eigenes soziales Gebilde fungiert<br />
sondern auf alle oben genannten sozialen gebilde strukturierend einwirkt<br />
(vgl. Schäfers 1980, 22-24)<br />
Die Zusammensetzung und Strukturmerkmale dieser sozialen Gebilde lassen darauf schließen, dass<br />
sie sich in ihren Funktions- und Handlungsmustern nicht unwesentlich unterscheiden.<br />
Jedoch sind die “Grenzen zwischen [...] [diesen] oft fließend [...]” und so kann die Konstellation der<br />
Familie als “typische Kleingruppe aber auch als Organisation strukturiert [betrachtet werden]“ (Schäfers<br />
1980, 24).<br />
Schon Claessens beschrieb 1977 „Gruppen [...] [als] ‘Normalfall’ der Vergesellschaftung des<br />
Menschen[...]” (Claessens 1977 zit. n. Schäfers 1980, 29) und so sieht Schäfers, anhand der oben<br />
______________________________________________________________<br />
26. vgl. Spencer o. J., o. S und Durkheim o. J., o. S.<br />
27. vgl. Luhmann 1970, 137- 153 17
angeführten sozialen Klassifikationen, die Aufgabe der Gruppensoziologie darin, der ”Entwicklung<br />
[...] [dieser] auf der Spur zu bleiben und in den neuen oder sich wandelnden Gruppen ein besonderes<br />
Merkmal der Prozesse und Strukturen der Vergemeinschaftung und der Vergesellschaftung<br />
des Menschen analytisch einsichtig zu machen.“ (Schäfers 1980, 17)<br />
2.4 Soziologische Gruppentheorien<br />
In den Sozial und Humanwissenschaften werden Gruppen anhand ihrer besonderen Struktur, Größe,<br />
Beziehung ihrer Mitglieder und anderen Faktoren unterteilt. Im Folgenden wird ein Überblick über<br />
bestehende, soziale Formationen gegeben. Der Begriff der Kleingruppe und die Differenzierung zur<br />
Primärgruppe erklärt.<br />
Die Kleingruppe erweist sich als das “häufigste soziale Gebilde”, wobei grundsätzlich davon auszugehen<br />
ist, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens durchschnittlich etwa 5-8 verschiedenen sozialen<br />
Gruppen angehört: Familie, Spielgruppe, Arbeitsgruppe, Freundesgruppe, Sportgruppe usw. 28<br />
Der Rahmen solcher sozialen Gruppen dient dem Individuum als Sozialisationsgrundlage und Orientierungsbasis<br />
in einer “sicheren” Umgebung. Die angeführten Beispiele fallen in den Bereich der<br />
Kleingruppenforschung, die sich nach der Jahrhundertwende durch die Entdeckung des Primärgruppenkonzepts<br />
entwickelt hat. Um 1909 definiert Charles Horton Cooley die Primärgruppe als soziales<br />
Gebilde einer bestimmten Größe und Struktur und schreibt ihr folgende Eigenschaften zu: 29<br />
„Unter PG verstehe ich Gruppen, die durch eine sehr enge unmittelbare persönliche Verbindung<br />
(face-to-face association) und Kooperation gekennzeichnet sind. Sie sind primär in verschiedener<br />
Hinsicht, aber hauptsächlich in derjenigen, dass sie fundamental an der Herausbildung der Sozialnatur<br />
und der sozialen Ideale der Individuen beteiligt sind. Das Ergebnis dieser sehr engen Verbindung<br />
ist – psychologisch betrachtet – eine gewissen Verschmelzung (fusion) von Individualitäten in einem<br />
gemeinsamen Ganzen, so dass das eigene Selbst zumindest für viele Zwecke identisch ist mit dem<br />
gemeinsamen Leben und dem Ziel der Gruppe. Der vielleicht einfachste Weg, diese Gemeinsamkeit<br />
zu beschreiben, besteht in der Feststellung, dass sie (die Gruppe) zu einem ‘Wir’ geworden ist. Sie<br />
setzt jene Form der Sympathie und der gegenseitigen Identifikation voraus, für die das ‘Wir’ der<br />
natürliche Ausdruck ist. Man lebt mit dem Gefühl der Gemeinsamkeit und findet die wichtigsten Ziele<br />
seines Strebens in diesem Gefühl[...]“(Cooley et al. 1933 zit. n. Schäfers 1980, 69).<br />
______________________________________________________________<br />
28. vgl. Schäfers 1980, 11<br />
29. vgl. Schäfers 1980, 68 18
Als primär wird diese Klassifikation von Gruppe vor allem deshalb bezeichnet, da sie dem Individuum<br />
die früheste und umfassendste Erfahrung vom sozialen Ganzen vermittelt und im Falle der<br />
Familie eine über die Zeit hinweg kontinuierliche und somit universale Erfahrungsumbgebung bildet.<br />
So zeichnen sich die oben bereits erwähnten Formen von primären, sozialen Zusammenschlüssen<br />
besonders durch relativ beständige Strukturen aus. 30<br />
Das Individuum ist auf solch kleine, überschaubare Intimgruppen angewiesen, da sie ihm einen Platz<br />
zur Erprobung und Überprüfung seines Selbstbildes geben und das innerhalb eines, vor gesellschaftlichen<br />
Phänomenen wie Anonymität; Entfremdung; Rollen-Spezialisierung, geschützten Rahmens.<br />
Folgende Elemente zeichnen die PG laut Cooley und seinen Kollegen aus: 31<br />
• PG sind zeitlich und inhaltlich als erste an der Formung der Sozialnatur des Menschen beteiligt<br />
• das soziale Selbst (eine Individualität) entsteht im gemeinsamen Leben der PG<br />
• Basis und Voraussetzung der Selbst-Identifikation ist die Fähigkeit und Breitschaft zur Übernahme<br />
der Rollen (Motive, Zwecke, Verhaltensweisen, Normen etc.) anderer PG-Mitglieder in das eigene<br />
Selbst-Bild<br />
• Familie, Spielgruppe und Nachbarschaft kommt eine hervorragende Bedeutung bei der<br />
Formung der sozialen Persönlichkeit, zu allen Zeiten und auf allen Stufen der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung zu<br />
• unterliegen nicht im gleichen Maße wie komplexere soziale Gebilde (sekundäre Gruppen) dem<br />
sozialen Wandel<br />
• PG gibt es unter allen institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen<br />
• Menschen gehören PG als Individuen an, nicht als Funktionsträger<br />
Cooleys Konzept unterstreicht die wesentliche Rolle die der Sozialisation, Wert- und Identitätsbildung<br />
innerhalb der Primärgruppe zu Teil wird. Er begründet das unter anderem durch die Positionierung<br />
dieser Primärgruppenerfahrungen an wichtigen Stellen des Lebenslaufes. Als wesentliche Komponenten<br />
dieser Sozialkontakte werden Intensität, Intimität, Vielseitigkeit, Personhaftigkeit und Unmittelbarkeit<br />
beschrieben. 32 Des weiteren sieht er gerade in den PG die Wiege der menschlichen Vorstellungen<br />
von Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit und nicht in philosophischen Systemen oder sozialen<br />
Institutionen. 33<br />
______________________________________________________________<br />
30. vgl. Schäfers 1980, 72<br />
31. vgl. Cooley et al.1933 in Schäfers 1980, 70<br />
32. vgl. Gukenbiehl/ Schäfers in Schäfers 1998, 121<br />
33. vgl. Schäfers 1980, 70 19
Im Gegensatz zu Primärgruppe kennzeichnet sich die Sekundärgruppe durch begrenzte persönliche<br />
Interaktion, schwache persönliche Verschmelzung und Zuneigung zwischen den Gruppenmitgliedern,<br />
deren Austauschbarkeit, meist oberflächliche Kontakte und eine begrenzte Dauer. Die<br />
Sekundärgruppe ist ein bewusst gewähltes und rational organisiertes Gebilde. Es gelten klare Regeln<br />
im Anstreben eines ausgemachten Ziels. Der Ausstieg aus einer solchen Gruppe ist relativ einfach. 34<br />
Auf die Gefahr einer Ideologisierung weist Helmut Schelskys (1992) kritische Stellungnahme zur sozialen<br />
Gruppe hin:<br />
„Die Betonung der kleinen Gruppe als der sozialen Hülle, von der der Mensch gehalten [...] wird, in<br />
der er erst seine Identität, sein Selbstbewusstsein findet oder – wenn verloren – wieder gewinnt, ist<br />
in der westlichen Welt die Hoffnung und Lehre der Erzieher vom Kindergarten bis zu Universität […].<br />
Gruppenforschung und Gruppendynamik, Gruppenarbeit und Gruppentherapie, Gruppenmoral und<br />
Gruppentrainer sind einige der vielen Ausdrucksformen einer sich immer unkritischer verbreitenden<br />
Geistesbewegung unter den von den Sozialwissenschaften beeinflussten Intellektuellen“ (Schelsky<br />
1975 zit. n. Schäfers 1980, 30). 35<br />
Soziale Gruppen erweisen sich in der Soziologie aus inhaltlichen wie didaktischen Gründen als<br />
Musterfall für die Untersuchung von Vergesellschafts- und Vergemeinschaftungsprozessen. 36<br />
Deren Funktion und ihr Einfluss auf die Identitätskonstruktion der/des Einzelnen soll im nächsten<br />
Kapitel erörtert werden.<br />
______________________________________________________________<br />
34. vgl. Joans 2001, 225<br />
35. vgl. Schelsky 1975, 270. Er legt das Phänomen des Einflusses auf die/den einzelne/einzelnen außerhalb der bereits genannten<br />
sozialen Konstrukte frei und bezieht sich dabei auf ‘informelle’ bzw. Meinungs- und Gesinnungsgruppen.<br />
36. vgl. Schäfers 1980, 11<br />
20
3. Zusammenführung Identität und Gruppe<br />
3.1 Funktionen der Gruppe für das Individuum<br />
Die voran gegangenen Kapitel lassen darauf schließen, dass “individuelle Eigenständigkeit und Eingebundensein<br />
in soziale Zusammenhänge nicht unabhängig von einander [...] [gesehn werden sollten.<br />
So ist das Individuum immer in seinem sozialen Kontext zu betrachten, da genau dieser der Person]<br />
erst ein individuelles Dasein ermöglicht” (Simmel 1958 zit. n. Schwonke 1980, 35)<br />
Das Selbst konstituiert sich also nicht nur auf der individuellen sondern noch viel mehr auf der<br />
gesellschaftlichen Ebene, so begreift sich der Mensch als Mitglied oder Nicht-Mitglied einer Gruppe<br />
was zu folgenden Annahmen führt: 37<br />
- Individuen streben die Mitgliedschaft in, für ihre soziale Identität vorteilhaften, Gruppen an.<br />
- Das Individuum wird die Mitgliedschaft in einer Gruppe aufgeben, wenn diese nicht für die<br />
Förderung eines positiven Selbstbildes sorgt.<br />
- Ist der Ausstieg nicht möglich, bieten sich zwei Varianten: negative Merkmale werden positiv<br />
interpretiert oder es wird sich um eine Verbesserung der bestehenden Bedingungen bemüht.<br />
- Die eigene Gruppe (in-group) wird immer im Vergleich zu anderen Gruppen (out-groups) bewertet.<br />
(Tajfel 1982 zit. n. Müller 2010, 53)<br />
Das Individuum sucht sich also für die Entwicklung ihrer/seiner sozialen Identität bestimmte „[...]<br />
Gruppen, [...] [diese] bilden gleichsam ein Koordinationssystem, derart, dass jede neu hinzukommende<br />
[sie/] ihn genauer und unzweideutiger bestimmt.“ (Simmel 1968 zit. n. Schäfers 1980, 26)<br />
Das geschieht allerdings nicht nur zur Identitätsfindung, den Erkenntnissen der Gruppenforschung<br />
zu folge, empfinden “Menschen, ganz gleich aus welchem Gesellschaftssystem, Einzeldasein ohne<br />
Gruppenzugehörigkeit als Defizit [...]” (Schwonke 1980, 35). Zugehörigkeit, wird als Voraussetzung<br />
für eine normale Persönlichkeitsentfaltung beschrieben, diese gehört offenbar zu den individuellen<br />
Grundbedürfnissen des Menschen. 38 So ist beispielsweise für Japaner “[…] der Ausschluss aus einem<br />
Gruppenverband […] mit dem Verlust des <strong>ICH</strong> (Moi) gleichzusetzen. In keiner sozialen Gruppe integriert<br />
zu sein, ist für Menschen in Japan eine völlig untolerierbare Situation, da die Akzeptanz innerhalb<br />
einer Gruppe die nötige Sicherheit gibt” (Manfé 2005, 16).<br />
______________________________________________________________<br />
37. vgl. Tajfel 1982,103 in Müller 2010, 52<br />
38. vgl. Schwonke 1980, 35<br />
21
So spricht auch der Soziologe Norbert Elias (1897 -1990) davon, dass eine Ich-Identität<br />
ohne eine Wir-Identität nicht möglich ist. “Menschen sind von Natur aus aufeinander angewiesen<br />
und Isolation ist ein für Individuen unhaltbarer Zustand. Gruppen bzw. Zusammenschlüsse<br />
von Menschen (Familie, Sippe, Stamm, Nation) bilden die Überlebenseinheiten des<br />
Einzelnen” (Elias 1996b zit. n. Müller 2010, 60). Und das gilt auch für unsere Zeit, auch wenn<br />
sich die Gefahren gewandelt und die Abwehr dieser auf andere Ebenen verlagert haben.<br />
Im Gegensatz zum Altertum, als sich der Mensch durch sein Sippe definierte, sieht sich der Mensch<br />
einer modernen Gesellschaft als Teil mehrerer, oftmals in sich verschachtelter Gruppen, die jedoch<br />
weniger kontinuierlich sind und Veränderungen unterliegen. 39<br />
Weiters kann der Rahmen einer Gruppe funktional betrachtet als Zufluchtsort verstanden werden, so<br />
beschreibt Dieter Claessens (1921 -1997), ein deutscher Soziologe und Anthropologe,<br />
“die Gruppe als Möglichkeit, den gesellschaftlichen Zwängen mit ihren ausgeprägten Trends und<br />
Mechanismen der Vereinzelung und Entfremdung zu entgehen bzw. ihnen überhaupt standhalten zu<br />
können“ (Claessens 1965 zit. n. Schäfers 1980, 30).<br />
Einen weiteren Aspekt bringt Charles Horton Cooley (1864 – 1929) durch seine Metapher der Spielgelbildidentität<br />
auf die soziale Bedingtheit der Identität hin, mit ein. So bedarf es laut ihm<br />
der Reaktionen und Rückmeldungen der anderen damit sich Identität überhaupt bilden kann. Das<br />
führt zu einer dreigeteilten Idee des Selbst: “die Vorstellung unseres Bildes aus der Sicht der anderen,<br />
die Vorstellung über das Urteil der anderen über dieses Bild und das daraus resultierende Selbst-<br />
Gefühl, das sich etwa in Stolz oder Demütigung äußert” (Cooley 1956 zit. n. Müller 2010, 27).<br />
Vor allem Jugendliche sind auf der Suche nach ihrer Position und Funktion innerhalb der Gesellschaft<br />
und sind daher besonders auf diese Reziprozität angewiesen. Die dadurch gewonnene positive<br />
Anerkennung fördert die Herausbildung der Identität. 40<br />
Bis jetzt kennzeichnet sich die Funktion von sozialen Gruppen für die/den Einzelne/ Einzelnen<br />
durch Merkmale wie Stabilität, Sicherheit, Selbstfindung, Sozialisation, Rahmen zum Austesten von<br />
Grenzen, soziale Unterstützung und Zusammenhalt. Als weitere besondere Leistungen der kleinen<br />
Gruppe können Vertrautheit, Geborgenheit und damit das Gefühl, als Person akzeptiert zu werden,<br />
gennant werden. 41 22<br />
______________________________________________________________<br />
39. vgl. Elias 1996, 270ff<br />
40. vgl. Müller 2010, 32<br />
41. vgl. Schwonke 1980, 39
3.2 Wirkung der Gruppe auf das Individuum<br />
So sehr Gruppen dem Individuum einen sicheren Handlungsrahmen bieten, darf man die intern wirkenden<br />
Kräfte nicht außer Acht lassen. Gruppen beeinflussen das Verhalten ihrer Mitglieder.Einerseits<br />
fördern sie das individuelle Handeln und die Persönlichkeitsentwicklung, andererseits schränken sie<br />
Handlungsmöglichkeiten ein und erzwingen Konformität. 42<br />
Durch Inklusion, Aufnahme und Einbindung des Individuums in die Gruppe, was durch entsprechende<br />
Riten, allen voran die Initiationsriten befördert wird vollzieht sich ein gewisser Wandel. 43<br />
“In der Initation wird ein Jüngling zum Erwachsenen, durch die Heirat wird ein Mann zum Ehemann,<br />
eine Frau zur Ehefrau, durch Promotion wird ein Student zum Doktor [...] nachher ist man jemand<br />
anderer” (Michaels 2011, 8).<br />
Das wiederum bedeutet nicht, dass man ein neuer oder vollkommen anderer Mensch wird, sondern<br />
verweist auf die Gruppeninterne Strukturierung und Rollenverteilung. Auch wenn dieses Zitat sich auf<br />
traditionsreiche Lebensmomente bezieht, so ist der Wandlungsaspekt auch im kleineren Rahmen zu<br />
verorten. Wird ein Individuum Teil einer Gruppe, also Mitglied, so muss es sich erst in den Normen<br />
und Regeln dieser Gruppe zurechtfinden, um darauf aufbauend seine Funktion bzw. Rolle 44 innerhalb<br />
dieser einnehmen zu können. Die Position innerhalb einer solchen sozialen Struktur ist maßgebend<br />
für die Identitätsbildung, sie kann frei gewählt oder muss übernommen werden. 45 Bereits Shaftesbury<br />
verstand das “Subjekt im Sinne eines sozialen Wesens, als urbaner Mensch der seine Identität nicht<br />
in schroffer Abgrenzung gegen die Gesellschaft behauptet, sondern sie innerhalb dieser Gesellschaft<br />
entwickelt“ (Shaftesbury o.J. zit. n. Assmann 2006, 214).<br />
Und da der Mensch mehreren Gruppen angehört, die er zum Teil selbst wählt, zum Teil diesen aber<br />
durch Merkmale wie Geschlecht, Alter und anderen ‘unveränderliche’ Faktoren angehört, verfügt er<br />
je nach Zugehörigkeit “[...] über mehrere Selbstdefinitionen, die einen Teil [...] [seines] Selbstkonzepts<br />
ausmachen” (Müller 2010, 53). Bei der Untersuchung, welche Merkmale Menschen spontan zu ihrer<br />
Selbstbeschreibung heranziehen, wurden Designata im Bezug auf ihre “Position in der Gesellschaft<br />
und ihre zentralen Interaktionsfelder (Familie, Ausbildungssystem, Arbeitswelt, Freizeit) [sowie] der<br />
Qualität ihrer Rolle darin [verwendet]” (Frey/Haußer 1987, 16-22).<br />
______________________________________________________________<br />
42. vgl. Schwonke 1980, 36-37<br />
43. vgl. Assmann, 2006, 210<br />
44. Rolle meint die Verhaltensweisen, die man von einer Person mit einer bestimmten Position innerhalb der Gruppe erwartet.<br />
siehe http://www.lehrbuch-psychologie.de/sozialpsychologie/gruppenpsychologie__grundlegende_prinzipien/glossar , April 2011<br />
45. vgl. Müller 2010, 55<br />
23
Anhand dieses Beispiels lässt sich erkennen wie weit die Strukturmerkmale und internen Gesetzmäßgkeiten<br />
einer Gruppe auf die Identitätskonstruktion des Mensch wirken.<br />
Des weiteren sind in diesem Zusammenhang die Handlungsschemata zu nennen, die sich im Verlauf<br />
des Kultur- und Zivilisationsprozesses entwickelt haben. Im Laufe der Sozialisation werden diese<br />
erlernt und bestimmen das soziale Handeln von Individuen in Interaktionsprozessen. In der Alltagssprache<br />
kennt man den Begriff des Handlungsschematas besser als Brauch, Sitte oder auch<br />
Gewohnheit. Eine Stellungnahme von Claude Lévi Strauss (1908-2009) dazu lautet:<br />
„In Interaktionen muss immer wieder neu geklärt werden, wer man eigentlich in dieser spezifischen<br />
Situation ist. Dies geschieht durch das Klassifizieren der Situation, was bei routinemäßigen oder<br />
konventionellen Zusammenkünften nicht mehr notwendig ist, da bereits Deutungs- und Handlungsmuster<br />
vorliegen.“ (Strauss 1968 zit. n. Müller 2010, 38)<br />
Die Janusköpfigkeit von solchen Schemata ist nicht zu übersehen, denn obwohl sie durch ihre “Vor-<br />
Strukturierung” entlasten, engen sie gleichzeitig ein und verlangen nach Anpassung und Konformität. 46<br />
“Je größer die Gruppe, desto mehr individuelle Freiheit hat die/der Einzelne - je enger die Gruppe ist,<br />
desto geringer ist ihre / seine Individualität” (Simmel 1898 zit. n. Abels 2009, 188).<br />
“Die Menschen orientieren ihr Verhalten an der öffentlichen Meinung. Diese wird durch Signale der<br />
Massenmedien, der Kollegen, der Alters- und der Standesgenossen vermittelt” (Gleason 1996 zit. n.<br />
Müller 2010,26)<br />
Mit diesem Zitat wird nicht nur deutlich, dass der Mensch von sich aus, nach Vorgaben und Orientierungen<br />
sucht sondern auch, dass er diese je nach seinem Interesse in sein Identitätskonzept mit<br />
einbinden kann oder eben auch nicht. Das ist ganz von seiner Position innerhalb solcher sozialer<br />
Gruppen abhängig.<br />
______________________________________________________________<br />
46 vgl. Norbert Elias 1976<br />
24
SCHLUSS<br />
“Ich bin jemand, den ich noch nicht kenne”. So lautet der Titel eines Selbstportraits. Und genau<br />
dieser repräsentiert auch mein grundsätzliches Interesse am Wesen Mensch, an seiner Identität,<br />
seinen Entscheidungs- und Entwicklungsprozessen. Warum ist jemand so wie sie/ er ist, was sind<br />
ihre/seine Beweggründe, was hat sie/ er erlebt, wie hat sie/ er es erlebt, welche Bedeutung haben<br />
diese Erfahrungen für sie/ihn.<br />
In Anlehnung an die vorausgegangenen Erkenntnisse über die Entwicklung der Person, zum Subjekt<br />
als Träger von Identität die sich auf unterschiedlichen Ebenen bildet, möchte ich für mich den Begriff<br />
der Identität als nicht endender, von Erfahrung zu Erfahrung, von Gedanke zu Gedanke sich entwickelnder<br />
Prozess, mit nachvollziehbaren Eckpunkten, anerkennen.<br />
Obwohl diese Arbeit einen eher oberflächlichen Exkurs in die sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenstände<br />
der Identität und Gruppe unternommen hat, lässt sich die gestellte Forschungsfrage,<br />
ob Gruppenerfahrung ein elementarer Bestandteil der Identitätsbildung sei, durchaus beantworten.<br />
Der Mensch wird in den Sozialwissenschaften als grundsätzlich soziales Wesen betrachtet und ist<br />
deshalb auch nur im Zusammenhang mit seinem sozialen Kontext ganzheitlich erfassbar. Genauer;<br />
Will man also einen Menschen verstehen um Rückschlüsse auf seine Entwicklung, seinen Charakter<br />
und endlich, seiner Identität ziehen zu können, muss man die Gruppen in denen er Mitglied ist<br />
beachten, ebenso wie die Stellung die er in diesen einnimmt. Diese Sozialität wird von Norbert Elias<br />
und Martin Schwonke als wesentliches Grundbedürfnis des Individuums nach Zugehörigkeit zu einer<br />
sozialen Gruppe beschrieben. So autonom der Mensch auch sein mag - ich wage zu behaupten,<br />
dass er es zu früheren Zeiten mehr war, als es noch nicht für jede Banalität eine technische Lösung<br />
gab - den sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen nach, ist er auf Intimität und Interaktion mit anderen<br />
angewiesen um überhaupt eine gesunde Entwicklung zu durchlaufen. 47 Diese Schlussfolgerung<br />
erscheint schlüssig, in Anbetracht der Tatsache, dass wir menschliche Wesen unsere Sozialisation<br />
meist im Rahmen einer intimen, Stabilität bietenden, Werte und Verhaltensmuster vorlebenden<br />
sozialen Gruppe - vorwiegend Familie und falls eine solche nicht existiert, werden Ersatzstrukturen<br />
gesucht - erleben. Ruft man sich in Erinnerung, dass der Mensch seit Anbeginn der Zeit in Gruppenverbänden<br />
gelebt hat, wird schnell klar wie komplex das Verhältnis zwischen dem Individuum<br />
______________________________________________________________<br />
47 vgl. Schwonke 1980, 35<br />
25
und seinen Gegenübern sein muss und wie viele Stadien diese wechselseitige Beziehung bereits<br />
durchlaufen hat. Ich traue mich zu behaupten, dass es auch in Zukunft keinen Entwicklungsstopp<br />
geben wird. Da der Mensch in sich schon ein solch komplexer Organismus ist, erscheint mir die<br />
Unterteilung der Identität in eine personale und soziale Ebene sehr richtig.<br />
So wie sich Aristoteles und Platon mit der Frage nach der Beständigkeit eines Dings im Verlauf<br />
der Zeit beschäftigten, benannten auch Frey und Haußer (1987) zwei auch heute noch relevante<br />
Aspekte, die der Mensch für sich selbst zu lösen sucht. Das Kontinuitätsproblem – wie kann der<br />
Mensch, dieser bestimmte Mensch bleiben wenn er sich doch ständig verändert? - und das Konsistenzproblem<br />
– wie kann ein Individuum ein und dieselbe Person sein, obwohl es sich in unterschiedlichen<br />
Situationen, in unterschiedlichen Rollen, sehr unterschiedlich verhält? 48<br />
Wie am Beginn erwähnt, sehe ich die Identität eines Mensch als Prozess, das Leben selbst erscheint<br />
mir als ein Projekt, wobei es nicht darum gehen sollte dieses abzuschließen (das Projekt, nicht das<br />
Leben) sondern so viele Transformationen und Perspektiven erfahren zu haben wie nur möglich. Das<br />
beinhaltet für mich auch, dass nicht Vollkommenheit und Endgültigkeit - weder das eine noch das<br />
andere scheint mir in der Natur des Menschen zu liegen - angestrebt werden sollte, sondern die<br />
Einsicht darüber, dass der Mensch eigentlich nie aufhört zu wachsen - wenn er es zulassen würde -.<br />
Ich sehe diese Arbeit als einen ersten Versuch, ein Kratzen an der Oberfläche, um mehr über die<br />
Konstruktionen des Selbst zu erfahren. An dieser Stelle möchte ich meine Vermutung über die<br />
unglaubliche Verwurzelung zwischen dem Innen und Außen eines Menschen nennen. Ich bin mir<br />
sicher, dass dem einzelnen im seltensten Fall alle Abhängigkeiten und Wechselwirkungen bewusst<br />
sind oder gar jemals sein werden, allerdings glaube ich daran, dass es sich danach zu streben lohnt<br />
diese so weit wie möglich ausfindig zu machen. Um zu der Forschungsfrage zurückzukommen; ja,<br />
der Mensch braucht zur Ausbildung seiner Identität die Erfahrung in der Gruppe, und er braucht sie<br />
nicht nur in der Form der Primärgruppe, die als Basis seiner Sozialisation bezeichnet wird, er braucht<br />
sie auch im Sinne eines von der Gesellschaft abgesicherten Rahmens, mit Normen, Strukturen,<br />
Zielen und der Akzeptanz seiner Person durch andere, als Bühne und Vergleichsmoment.<br />
Ein Gedanke der mir im Zuge dieser Arbeit gekommen ist, bezieht sich auf Identität als Produkt. Seit<br />
der Industrialisierung haben sich immer mehr Identitätskonzepte entwickelt die der Mensch durch<br />
Besitz an sich binden kann - so, wird es jedenfalls von diversen Instanzen vermittelt-. So könnte man<br />
______________________________________________________________<br />
48. vgl. Frey/Haußer 1987, 16-22<br />
26
nicht nur von der Suche nach Identität sondern auch von Überforderung durch ein unüberschaubares<br />
Angebot an Wahlidentitäten sprechen. Hand in Hand mit dieser Überlegung geht die Vermarktung<br />
und Preisung von Individualität, diese ist selbstverständlich auch zu erwerben. Am augenscheinlichsten<br />
erscheint mir das Beispiel der Mode - nicht nur im Bezug auf Kleidung -, wahrscheinlich ist die<br />
Bezeichnung Trend in diesem Fall richtiger. In maße mir an zu behaupten, dass in jedem Menschen<br />
der Wunsch lebt, als etwas Besonderes anerkannt zu werden. - Hier wird der Außenaspekt wichtig,<br />
denn das Selbstverständnis der eigenen Einzigartigkeit reicht oftmals nicht aus. Das Individuum<br />
trachtet nach Anerkennung seiner Selbst durch die Außenwelt. Die meisten Menschen suchen sich<br />
Vorbilder an denen sie sich orientieren können. Dieses Verhalten würde ich durch das Verlangen<br />
nach Sicherheit - ein Vorbild ist, eine in der Realität erprobte Rolle, die funktioniert und wahrscheinlich<br />
die Wunschvorstellungen eines Individuums repräsentiert - erklären. Wenn der Mensch das<br />
Nicht-Vorhandensein einer eigenen Gruppe als Defizit betrachtet, was muss er dann empfinden,<br />
wenn er aus einer solchen ausgeschlossen wird? Die Tendenz vieler Menschen sich Trends, Moden,<br />
Geisteshaltungen und schließlich Gruppen anzuschließen, zeugt vom Bedürfnis nach Sicherheit und<br />
Anerkennung. Bei der Betrachtung des Wortes “Zugehörigkeit”, fällt seine ambige Bedeutung vielleicht<br />
gar nicht auf. Dabei trägt es die Kernaussage über die Wechselbeziehung zwischen Individuum<br />
und Gruppe bereits in sich. Das “dazugehören” impliziert auch “zu gehorchen”.<br />
Ein für mich erschreckendes Beispiel für ein solches Gehorchen und Abgeben von Verantwortung,<br />
bietet das Experiment von Asch - dabei zeigte sich, dass Menschen sogar bei der simplen Fragestellung,<br />
nach der Länge eines Stäbchens, anfangen ihr eigenes Einschätzungsvermögen anzuzweifeln<br />
und dazu neigen sich der Meinung der Mehrheit der Versuchsgruppe anzuschließen, owbohl<br />
diese augenscheinlich falsch Antwortete - oder noch schockierender das Experiment von Stanley<br />
Milgram - dieses Experiment wurde zwar nicht innerhalb eines Gruppenkontextes ausgeführt, zeigt<br />
aber dennoch auf, wie eine/ ein Einzelne/ Einzelner seine Verantwortung über ihr/ sein Handeln in<br />
einer unklaren Situation an eine scheinbare Authorität übergibt -. 49<br />
Der historische Rückblick auf die Entwicklung der Begriffe Identität und Gruppe beschrieb ihren<br />
Werdegang entlang der chronologischen Aspekte. Für ein tieferes und komplexeres Verständnis über<br />
diese Begriffe und ihre Korrelation, bedarf es der Einbindung der Ethnologie, Philosophie, Psychologie,<br />
der Kultur- und Kommunikationswissenschaften, sowie wahrscheinlich weiterer Forschungsbereiche.<br />
______________________________________________________________<br />
49. siehe dazu Slater, Lauren (2009): Von Menschen und Ratten<br />
27
Mir scheint die Beantwortung der Forschungsfrage mit einem “Ja”, ergänzt durch einige wenige<br />
Erklärungen nicht ausführlich genug. Deshalb sehe ich die interdisziplinäre Zusammenführung, als<br />
ein mögliches Verfahren, um weitere Aspekte dieser Fragestellung innerhalb eines weitläufigeren<br />
Kontextes erörtern zu können.<br />
Bewusstsein ist ein Werkzeug. Wenn dir etwas bewusst ist, kannst du wählen.<br />
Je größer deine Bewusstheit ist, desto sorgfältiger kannst du wählen,<br />
desto mehr Wahlmöglichkeiten hast du.<br />
James S. Simkin<br />
28
Literaturverzeichnis<br />
PrimÄrliteratur<br />
Abels, Heinz (2006 4 ):<br />
Einführung in die Soziologie Bd. 2. Die Individuen in ihrer Gesellschaft.<br />
Hagener Studientexte zur Soziologie.<br />
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(alle angeführten Webadressen wurden im Aprill 2011 abgerufen)<br />
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