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Gorgi und die Geister über dem See

„Haben wir jetzt erlebt, wie ihr euch getrennt habt?“ wollte Janine wissen. „Kann ich nicht sagen. Vielleicht kommt er ja noch mal wieder.“ ich dazu. Janine machte einen fragwürdig skeptischen Mund. Das war nicht ihr Stil, mit anderen Menschen umzugehen. Meiner ja auch nicht. „Was willst du denn machen, Janine? Wochenlang diskutieren, ob ihr euch nicht mehr versteht? Ich will einfach nicht mehr. Hab' keine Lust auf den Typen mehr. Soll ich ihm sagen „Verschwinde, ich hab' dich satt.“? Ist das freundlicher? Jetzt ist er sauer auf mich. Soll er's, und ihm tut's nicht weh.“ erklärte ich. Bei Mutter, Gitti oder auch Janine war ich frei, hatte ich Lust, uneigennützig und absichtslos zu geben. Bei Thomas und den früheren Freunden? So war es da nie. Sie blieben immer in meinen kalkulatorischen Abläufen gefangen. Die Kommunikationsebenen, auf denen sich Liebe bildet, waren für fremde Männer bei mir nicht zugänglich. Erklären konnte ich es nicht, aber mit Julian hatte sich alles absolut anders entwickelt. „Ist die Sehnsucht nach Liebe, die Sehnsucht danach, die Einzigartigkeit unser Existenz vom anderen anerkannt und bewundert zu bekommen nicht gegenseitig erfüllt? Macht es uns nicht beide glücklich, dem anderen seine Liebe völlig uneigennützig und absichtslos zu schenken? Was wollen wir mehr? Wenn wir zwei Frauen oder zwei Männer wären, könnten wir uns Größeres nicht vorstellen. Du bist aber ein Mann und ich eine Frau, da reicht es nicht, da müssen wir auch zusammen ins Bett.“ erklärte ich leicht aufgebracht, aber unzufrieden war ich mit unserer Situation schon auch. Mit Männern, die ich nicht liebte, hatte ich gern Sex gehabt, aber mit Julian ging das nicht, so etwas passte nicht zu uns. „O. k., wir lieben uns, und zur Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse suchen wir uns jeder einen anderen Partner.“ schlug Julian vor, ernst konnte er dabei aber auch nicht sein. Ich schaute ihn nur mit großen vorwurfsvollen Augen und einem mokanten Grinsen an. „Du kannst es nicht ertragen, nicht wahr? Fängst an völlig durchzudrehen, oder?“ kommentierte ich seinen Beitrag. Wir würden bestimmt selbst allein keine Lösung finden, da mussten wir uns schon den Geistern, die in der frühen Dämmerung über dem See schwebten, anvertrauen.

„Haben wir jetzt erlebt, wie ihr euch getrennt habt?“ wollte Janine wissen. „Kann ich nicht sagen. Vielleicht kommt er ja noch mal wieder.“ ich dazu. Janine machte einen fragwürdig skeptischen Mund. Das war nicht ihr Stil, mit anderen Menschen umzugehen. Meiner ja auch nicht. „Was willst du denn machen, Janine? Wochenlang diskutieren, ob ihr euch nicht mehr versteht? Ich will einfach nicht mehr. Hab' keine Lust auf den Typen mehr. Soll ich ihm sagen „Verschwinde, ich hab' dich satt.“? Ist das freundlicher? Jetzt ist er sauer auf mich. Soll er's, und ihm tut's nicht weh.“ erklärte ich. Bei Mutter, Gitti oder auch Janine war ich frei, hatte ich Lust, uneigennützig und absichtslos zu geben. Bei Thomas und den früheren Freunden? So war es da nie. Sie blieben immer in meinen kalkulatorischen Abläufen gefangen. Die Kommunikationsebenen, auf denen sich Liebe bildet, waren für fremde Männer bei mir nicht zugänglich. Erklären konnte ich es nicht, aber mit Julian hatte sich alles absolut anders entwickelt. „Ist die Sehnsucht nach Liebe, die Sehnsucht danach, die Einzigartigkeit unser Existenz vom anderen anerkannt und bewundert zu bekommen nicht gegenseitig erfüllt? Macht es uns nicht beide glücklich, dem anderen seine Liebe völlig uneigennützig und absichtslos zu schenken? Was wollen wir mehr? Wenn wir zwei Frauen oder zwei Männer wären, könnten wir uns Größeres nicht vorstellen. Du bist aber ein Mann und ich eine Frau, da reicht es nicht, da müssen wir auch zusammen ins Bett.“ erklärte ich leicht aufgebracht, aber unzufrieden war ich mit unserer Situation schon auch. Mit Männern, die ich nicht liebte, hatte ich gern Sex gehabt, aber mit Julian ging das nicht, so etwas passte nicht zu uns. „O. k., wir lieben uns, und zur Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse suchen wir uns jeder einen anderen Partner.“ schlug Julian vor, ernst konnte er dabei aber auch nicht sein. Ich schaute ihn nur mit großen vorwurfsvollen Augen und einem mokanten Grinsen an. „Du kannst es nicht ertragen, nicht wahr? Fängst an völlig durchzudrehen, oder?“ kommentierte ich seinen Beitrag. Wir würden bestimmt selbst allein keine Lösung finden, da mussten wir uns schon den Geistern, die in der frühen Dämmerung über dem See schwebten, anvertrauen.

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Carmen Sevilla<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong><br />

Jedes halbe Jahr ein Neuer<br />

Erzählung<br />

"L'amour est plus sensé lorsqu'il est nu."<br />

„Haben wir jetzt erlebt, wie ihr euch getrennt habt?“ wollte Janine wissen.<br />

„Kann ich nicht sagen. Vielleicht kommt er ja noch mal wieder.“ ich dazu.<br />

Janine machte einen fragwürdig skeptischen M<strong>und</strong>. Das war nicht ihr Stil, mit<br />

anderen Menschen umzugehen. Meiner ja auch nicht. „Was willst du denn<br />

machen, Janine? Wochenlang diskutieren, ob ihr euch nicht mehr versteht? Ich<br />

will einfach nicht mehr. Hab' keine Lust auf den Typen mehr. Soll ich ihm sagen<br />

„Verschwinde, ich hab' dich satt.“? Ist das fre<strong>und</strong>licher? Jetzt ist er sauer auf<br />

mich. Soll er's, <strong>und</strong> ihm tut's nicht weh.“ erklärte ich. Bei Mutter, Gitti oder<br />

auch Janine war ich frei, hatte ich Lust, uneigennützig <strong>und</strong> absichtslos zu<br />

geben. Bei Thomas <strong>und</strong> den früheren Fre<strong>und</strong>en? So war es da nie. Sie blieben<br />

immer in meinen kalkulatorischen Abläufen gefangen. Die<br />

Kommunikationsebenen, auf denen sich Liebe bildet, waren für fremde Männer<br />

bei mir nicht zugänglich. Erklären konnte ich es nicht, aber mit Julian hatte<br />

sich alles absolut anders entwickelt. „Ist <strong>die</strong> Sehnsucht nach Liebe, <strong>die</strong><br />

Sehnsucht danach, <strong>die</strong> Einzigartigkeit unser Existenz vom anderen anerkannt<br />

<strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ert zu bekommen nicht gegenseitig erfüllt? Macht es uns nicht<br />

beide glücklich, <strong>dem</strong> anderen seine Liebe völlig uneigennützig <strong>und</strong> absichtslos<br />

zu schenken? Was wollen wir mehr? Wenn wir zwei Frauen oder zwei Männer<br />

wären, könnten wir uns Größeres nicht vorstellen. Du bist aber ein Mann <strong>und</strong><br />

ich eine Frau, da reicht es nicht, da müssen wir auch zusammen ins Bett.“<br />

erklärte ich leicht aufgebracht, aber unzufrieden war ich mit unserer Situation<br />

schon auch. Mit Männern, <strong>die</strong> ich nicht liebte, hatte ich gern Sex gehabt, aber<br />

mit Julian ging das nicht, so etwas passte nicht zu uns. „O. k., wir lieben uns,<br />

<strong>und</strong> zur Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse suchen wir uns jeder einen<br />

anderen Partner.“ schlug Julian vor, ernst konnte er dabei aber auch nicht sein.<br />

Ich schaute ihn nur mit großen vorwurfsvollen Augen <strong>und</strong> einem mokanten<br />

Grinsen an. „Du kannst es nicht ertragen, nicht wahr? Fängst an völlig<br />

durchzudrehen, oder?“ kommentierte ich seinen Beitrag. Wir würden bestimmt<br />

selbst allein keine Lösung finden, da mussten wir uns schon den <strong>Geister</strong>n, <strong>die</strong><br />

in der frühen Dämmerung über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> schwebten, anvertrauen.<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 1 von 26


<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> - Inhalt<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong>...............................4<br />

Thomas..........................................................................4<br />

Toskana.......................................................................... 8<br />

Julian <strong>und</strong> Désirée.......................................................... 9<br />

Montepulciano.............................................................. 11<br />

Streit zwischen Désirée <strong>und</strong> Julian...............................13<br />

Laetitia......................................................................... 14<br />

Flucht........................................................................... 16<br />

Julians Liebe.................................................................17<br />

Toskana Family.............................................................19<br />

Liebe <strong>und</strong> Lust.............................................................. 20<br />

Neue Körperlichkeiten..................................................22<br />

<strong>See</strong>geister....................................................................23<br />

Hexentanz.................................................................... 24<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 2 von 26


<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong><br />

Thomas<br />

„Ich habe Karten für <strong>die</strong> Traviata besorgt.“ sagte Thomas. „Was hast du?“ ich<br />

entrüstet. „Na, du liebst doch deine Traviata.“ Thomas erklärend. „Thomas, ob<br />

ich in <strong>die</strong> Traviata gehe, das möchte ich, solange ich lebe, ich ganz allein entscheiden.<br />

Kannst du das verstehen? Abgesehen davon, hast du dir mal <strong>die</strong> Rezensionen<br />

angesehen? Nein, aber du weißt, dass ich in <strong>die</strong> Traviata muss. Und<br />

dann <strong>die</strong>se westfälischen Feld-, Wald- <strong>und</strong> Wiesen Sopranistinnen <strong>und</strong> Tenöre,<br />

keinen kenne ich davon. Wahrscheinlich sind sie froh, wenn sie „Lustig ist das<br />

Zigeunerleben.“ gescheit singen können.“ reagierte ich erbost. „Thomas wollte<br />

dir doch nur eine Freude machen, <strong>Gorgi</strong>.“ versuchte Gitty, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Schärfe in<br />

meiner Stimme bemerkte, zu besänftigen. <strong>Gorgi</strong> war <strong>die</strong> fre<strong>und</strong>liche Form meines<br />

Namens Gorgette, unter <strong>dem</strong> ich wegen der französischen Fre<strong>und</strong>in meiner<br />

Mutter zu leiden hatte. Die mich ärgern wollten, nannten mich Gertrud. Als<br />

junges Mädchen hatte ich extra einen Karatekurs besucht, um alle vertrimmen<br />

zu können, <strong>die</strong> mich so nannten. Es sich gefallen lassen müssen, <strong>die</strong>ses Ohnmachtsempfinden,<br />

nur weil das Bürschchen ein wenig stärker war, konnte ich<br />

nicht ertragen. Irgendwann im Leben würde ich es allen heimzahlen, <strong>die</strong> mich<br />

je so genannt hatten. Heute sah ich es eher als matten Scherz, der keine Lust<br />

zuzuschlagen mehr in mir auslöste. Die Schärfe in meiner Stimme hatte ich<br />

auch bemerkt. Sie regte mich an. Ich wollte nicht in <strong>die</strong>se Traviata, <strong>und</strong> ich<br />

wollte Thomas nicht mehr. Vorgenommen hatte ich mir nichts, nichts überlegt,<br />

ich spüre es in <strong>dem</strong> Moment, als er sagte, dass er Karten für <strong>die</strong> Oper besorgt<br />

hätte. „Reg' dich nicht auf, <strong>Gorgi</strong>. Ich gebe sie zurück, dann ist alles o. k.“<br />

meinte Thomas, der immer sofort einlenkte, wenn mir etwas nicht recht zu<br />

sein schien. „Nichts ist o. k., Thomas. Das Problem sind doch nicht <strong>die</strong> Karten<br />

in deiner Tasche. Das Problem liegt in deinem Kopf.“ ich dazu. „Macht doch<br />

nicht aus den dämlichen Karten für <strong>die</strong> Oper so ein Problem.“ meine Janine,<br />

der wohl eine Eskalation schwante. Genauso sah ich es auch <strong>und</strong> wollte es. Wir<br />

saßen zu viert bei uns auf der Terrasse, meine Fre<strong>und</strong>innen Gitti <strong>und</strong> Janine<br />

<strong>und</strong> Thomas <strong>und</strong> ich. „Janine, was gehen mich <strong>die</strong> Karten an <strong>und</strong> was er damit<br />

macht. Meinetwegen kann er sich h<strong>und</strong>ert Karten kaufen. Er bildet sich ein, zu<br />

wissen was ich will. Nicht ich weiß, was in meinem Kopf abläuft, er weiß es,<br />

weiß, dass ich in <strong>die</strong> Oper zu wollen habe. Was muss der sich dabei denken?<br />

Wie behandelt der mich?“ fragte ich provozierend. „<strong>Gorgi</strong>, ich wollte doch<br />

nur ...“ weiter ließ ich Thomas nicht kommen. „Es geht doch nicht darum, was<br />

du wolltest, Thomas, es ist geschehen. Du hast es faktisch vollzogen.“ schrie<br />

ich ihn fast an. Unter einem „Mit dir kann man ja nicht reden.“ stand Thomas<br />

auf <strong>und</strong> ging. Gitti <strong>und</strong> Janine starrten mich fragend an. „Was hatte das denn<br />

zu bedeuten?“ wollte Gitti wissen. Dass mir so etwas nicht zufällig passiert sein<br />

konnte, musste ihr klar sein. Ich machte nur einen breiten M<strong>und</strong> in einem Gesicht<br />

das „erledigt“ sagte <strong>und</strong> sich wieder entspannen wollte. „Ach, das war ja<br />

nicht nur jetzt. Das lief schon lange nicht mehr r<strong>und</strong> bei uns.“ bemerkte ich la-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 3 von 26


pidar, <strong>und</strong> Janine, <strong>die</strong> mit ihrem Pit wohl schon seit der Geburt zusammen sein<br />

musste, grinste. Ich kannte Thomas erst ein wenig länger als ein halbes Jahr,<br />

aber anders lief es nie. Zu Anfang war's oft ganz nett gewesen, aber jetzt<br />

wusste ich gar nicht mehr, was ich mit ihm sollte. Er war immer nur dabei, <strong>und</strong><br />

das nervte. „Haben wir jetzt erlebt, wie ihr euch getrennt habt?“ wollte Janine<br />

wissen. „Kann ich nicht sagen. Vielleicht kommt er ja noch mal wieder.“ ich<br />

dazu. Janine machte einen fragwürdig skeptischen M<strong>und</strong>. Das war nicht ihr Stil,<br />

mit anderen Menschen umzugehen. Meiner ja auch nicht. „Was willst du denn<br />

machen, Janine? Wochenlang diskutieren, ob ihr euch nicht mehr versteht? Ich<br />

will einfach nicht mehr. Hab' keine Lust auf den Typen mehr. Soll ich ihm sagen<br />

„Verschwinde, ich hab' dich satt.“? Ist das fre<strong>und</strong>licher? Jetzt ist er sauer auf<br />

mich. Soll er's, <strong>und</strong> ihm tut's nicht weh.“ erklärte ich.<br />

So lief es immer. Ich hatte Thomas an der Theke im Bistro der Uni kennengelernt.<br />

Er stand vor mir in der Schlange, drehte sich zu mir <strong>und</strong> meinte, <strong>die</strong> Barristas<br />

würden immer dicker, weil sie sich wahrscheinlich ausschließlich von <strong>dem</strong><br />

Fastfood-Fraß aus ihrer eigenen Theke ernährten. Den Anlass dazu gab <strong>die</strong><br />

ziemlich füllige Be<strong>die</strong>nung hier. „Und <strong>die</strong> Männer essen was anderes. Nur alles<br />

Bio wahrscheinlich, oder?“ fragte ich. Er saß allein an einem Tisch <strong>und</strong> ich setzte<br />

mich zu ihm. Informatik stu<strong>die</strong>rte er. „Es ist eine Sünde, dass man das losgelöst<br />

von den übrigen Kommunikationsbereichen stu<strong>die</strong>ren kann.“ meinte ich,<br />

<strong>die</strong> Kommunikationswissenschaften stu<strong>die</strong>rte. Dabei handele es sich um einen<br />

Schwafelbegriff, damit alle, <strong>die</strong> mal was mit Me<strong>die</strong>n machen wollten, stu<strong>die</strong>ren<br />

könnten. Wir alberten noch weiter, kamen auf Filme zu sprechen <strong>und</strong> wollten<br />

gemeinsam ins Kino gehen. Anschließend gingen wir noch in eine Kneipe, <strong>und</strong><br />

nach der zweiten Fète, <strong>die</strong> wir gemeinsam besucht hatten, landeten wir bei mir<br />

im Bett. Jetzt war Thomas mein Fre<strong>und</strong>. Liebe? Thomas hat mal gesagt, dass<br />

er mich liebe. Wahrscheinlich habe ich sogar gesagt: „Ich dich auch.“. Ich<br />

mochte ihn schon. Er fühlte sich nicht nur gut an, sondern brachte mich auch<br />

häufig durch seine nicht immer beabsichtigte Komik zum Lachen.<br />

„Liebt ihr euch denn gar nicht?“ wollte Janine wissen. „Ist das Vorschrift?“ fragte<br />

ich zurück. „Nur für Sex?“ erk<strong>und</strong>igte sie sich genauer. „Ne, auch für Kino<br />

<strong>und</strong> schon mal für <strong>die</strong> Oper zum Beispiel.“ erklärte ich lachend <strong>und</strong> fragte sie:<br />

„Aber ihr beide seit richtig verliebt, nicht wahr?“ „Ja meinst du, sonst hielte<br />

man es so lange miteinander aus. Aber Höhen <strong>und</strong> Tiefen gibt’s auch schon.“<br />

war ihre Antwort. Ich fixierte sie. Janine war genauso alt wie ich, aber sie wirkte<br />

so jugendlich, in gewisser weise kindlich. Was sie wohl in ihrem Pit sah? Genau<br />

würde sie es wahrscheinlich selbst nicht wissen, aber dass er Züge von einem<br />

Beschützer, einem Vaterersatz hatte, könnte ich mir gut vorstellen. So etwas<br />

fehlte mir noch, <strong>die</strong> Geborgenheit der Arme meines großen weisen Meisters<br />

suchen.<br />

Was man bei mir wohl ansprechen musste, damit ich Lust darauf hätte, einen<br />

Mann so nah an mich ran zu lassen. Mir fiel nichts ein, <strong>und</strong> ich wollte es ja<br />

auch gar nicht. Nicht nur Thomas, auch Jan <strong>und</strong> Dirk, sie waren alle sehr weit<br />

außen vor geblieben. Widersprüchlich war es eigentlich, <strong>die</strong> Intimität gegenseitiger<br />

Liebkosungen zu suchen <strong>und</strong> gleichzeitig große Distanz zu wahren. Aber<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 4 von 26


es war einfach so. So lief es in mir ab. Es gab keine Absicht oder einen Vorsatz.<br />

Ich mochte Thomas ja. Einen Fre<strong>und</strong>, nur weil ich Sex wollte, das war für mich<br />

nicht vorstellbar. Aber was wollte ich denn von einem Fre<strong>und</strong>, wenn ich wusste,<br />

dass es mit der großen Liebe sowieso nichts werden würde.<br />

„Dein Fre<strong>und</strong>?“ fragte Gitti, „Einen guten Bekannten, mit <strong>dem</strong> ich auch ins Bett<br />

gehe, würde ich das eher nennen. Du machst mir ja Angst, wenn du mich als<br />

deine Fre<strong>und</strong>in bezeichnest. Wirst du mich auch morgen satt haben <strong>und</strong> verscheuchen?“<br />

„Das ist es ja, Gitti. Wir sind befre<strong>und</strong>et, verstehen uns gut, reden<br />

gern miteinander <strong>und</strong> können mal <strong>die</strong>s oder jenes zusammen machen. Ein<br />

Mann als Fre<strong>und</strong> der klebt an dir. Da musst du dich drum kümmern, musst sehen,<br />

dass er Lust auf dich hat, so was alles, <strong>und</strong> irgendwann fragst du dich:<br />

„Warum tue ich das überhaupt? Ist der so interessant?“ <strong>und</strong> dann stellst du<br />

fest, dass es im Gr<strong>und</strong>e langweilig ist, er dich gar nicht mehr reizt. Zu Beginn<br />

war das anders, aber das ist nicht mehr so. Warum sollst du es weiterschleppen,<br />

wenn du gar keine Lust mehr darauf hast? Aus masochistischen<br />

Gelüsten?“ antwortete ich, „Aber vielleicht hast du Recht. Möglicherweise ist<br />

Thomas primär ein fremder Mann. Das steht ganz oben <strong>und</strong> viel weiter unten<br />

kommt, was uns verbindet.“ „Und was war es, das euch verb<strong>und</strong>en hat?“ fragte<br />

Gitti nach. „Jetzt weiß ich es auch nicht mehr so genau.“ scherzte ich. „Es<br />

gefiel uns einfach miteinander. Machte Spaß, mit <strong>dem</strong> anderen gemeinsam etwas<br />

zu machen. Das ist aber nicht mehr so. Mittlerweile stört es mich eher.<br />

Wenn wir zusammen ins Kino gingen, dächte ich: „Was will der fremde Typ da<br />

neben mir?“. Was dich verbindet ist fast nur noch, dass du rücksichtsvoll bist<br />

<strong>und</strong> höflich bleibst.“ „Du hast massive Beziehungsprobleme, meine Süße. Du<br />

musst mal zum Therapeuten.“ diagnostizierte Janine.<br />

Ich hatte selbst schon mal gedacht, dass bei mir in der Beziehung zu Männern<br />

etwas nicht ganz koscher sein könne. Nur irgendeine Art von Leidensdruck<br />

kannte ich doch nicht. Musste ich mich denn in Thomas mit Herz <strong>und</strong> Schmerz<br />

<strong>und</strong> inbrünstiger Sehnsucht verlieben? Dann hätte ich keine Beziehungsprobleme?<br />

So ein Unfug. Man konnte doch jemanden nett finden <strong>und</strong> feststellen,<br />

dass es irgendwann reichte. So ist das beim Joggen oder beim Lesen, irgendwann<br />

ist es genug, du hast keine Lust mehr <strong>und</strong> hörst auf. Bei Beziehungen<br />

auch? Außer bei den Männern, <strong>die</strong> ich als meine Fre<strong>und</strong>e bezeichnete, hatte ich<br />

noch nie Beziehungen abgebrochen. Selbst wenn du einen H<strong>und</strong> hast, sagst du<br />

doch nicht nach ein paar Wochen: „War schön, aber jetzt langweilt er mich.“.<br />

„Ein Gebrauchsgegenstand, der mit dir sprechen <strong>und</strong> ficken kann, <strong>und</strong> mit <strong>dem</strong><br />

du 'ne Weile Spaß hast, so sieht ein Mann für dich aus.“ meinte Gitti, „Aber als<br />

anderen Menschen siehst du ihn nicht.“ Vielleicht hatte Gitti nicht ganz Unrecht.<br />

Übertriebene Distanz durch <strong>die</strong> Geschlechterrollendifferenz. Aber üble<br />

Erfahrungen mit Männern hatte ich doch gar nicht gemacht. Mein Vaterbild<br />

vielleicht? Aber den hatte ich hauptsächlich als Schluffi wahrgenommen, der<br />

sich langsam immer mehr aus der Familie zurückgezogen hatte. Zunächst psychisch,<br />

dann auch mehr <strong>und</strong> mehr physisch <strong>und</strong> dann hatte er 'ne Fre<strong>und</strong>in.<br />

Dass sie froh war, hatte meine Mutter zwar expressis verbis nie gesagt, aber<br />

von Traurigkeit war auch nichts zu spüren. Immerhin hatte es sechzehn Jahre<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 5 von 26


<strong>und</strong> nicht ein paar Monate gedauert, bis sie sich trennten. Die Vorstellung,<br />

dass sie ewig zusammen glücklich sein würden, hatte sie bestimmt auch<br />

gehabt. Alle hatten sie ja <strong>die</strong>se unrealistische Perspektive. So schön wie jetzt<br />

sollte's immer bleiben. Der Gedanke daran, dass es höchstwahrscheinlich nicht<br />

dazu kommen würde, tat weh <strong>und</strong> wurde verdrängt. Solche Gedanken waren<br />

mir noch nie gekommen, auch wenn ich mich mit meinem Fre<strong>und</strong> im Bett<br />

absolut wohl fühlte.<br />

Gitti <strong>und</strong> Janine blieben noch zum Abendbrot. „Ihre Tochter hat gerade ihren<br />

Mann verscheucht, Frau Löffler.“ meinte Janine. „Den Thomas?“ fragte Mutti,<br />

„das war doch so ein Netter. Aber wenn's nichts mehr bringt, hat's ja keinen<br />

Zweck.“. Sie unterstützte mich in allem, wir uns gegenseitig. Das war Liebe,<br />

zwischen meiner Mutter <strong>und</strong> mir, auch ohne sehnsuchtsvolles Verlangen. Einem<br />

anderen Menschen näher sein als wir untereinander, das ging nicht. Schon als<br />

Kind war ich ihre Vertrauensperson gewesen, nicht mein Vater. Vielleicht hatte<br />

sie ja auch <strong>die</strong>ses Männerdistanzsyndrom <strong>und</strong> wandte sich lieber intensiv ihrem<br />

Töchterchen zu. Ob ich es auch mal lieber mit anderen Frauen versuchen sollte?<br />

Nur reizte mich daran gleich von Anfang an nichts. Vielleicht hatte meine<br />

Mutter ja auch sehr bald festgestellt, dass ihre Bilder von der großen Liebe ihre<br />

eigenen Träume <strong>und</strong> Illusionen waren. Es handelt sich ja immer darum, was du<br />

unter Liebe verstehst, wie du sie dir vorstellst <strong>und</strong> dir wünscht, <strong>die</strong> Vorstellung<br />

über <strong>die</strong> Korrelation mit den Ansichten deines Partners ist auch dein Bild <strong>und</strong><br />

kann vornehmlich von Wunschvorstellungen gemalt sein. Vielleicht war es ja<br />

gut, dass es bei mir so an der Oberfläche blieb. Aber <strong>die</strong> Vorstellung, dass es<br />

immer so bleiben sollte mit durchschnittlich jährlich wechseln<strong>dem</strong> Partner,<br />

wollte mir auch nicht als der Traum vom Glück erscheinen. Gitti, <strong>die</strong> sonst immer<br />

sprudelnd quaselte, sagte kaum etwas <strong>und</strong> auch Janine war nicht besonders<br />

redselig. Ziemlich stumm war es bei uns am Abendbrottisch. Die Geräusche<br />

von Geschirr <strong>und</strong> Besteck dominierten das Klanggeschehen. Ich konnte<br />

<strong>die</strong>s betretene Gebaren nicht ertragen. Am liebsten hätte ich es laut schmatzend<br />

gestört. Trennungserfahrungen, auch wenn es sich nicht um <strong>die</strong> eigenen<br />

handelt, scheinen nicht der Kategorie freudige Emotionen auslösender Erlebnisse<br />

zuzurechnen zu sein.<br />

„Jetzt suchst'e wieder 'nen Neuen?“ fragte meine Mutter. „Ich hab' noch nie<br />

einen gesucht. Es gibt Männer, <strong>die</strong> mögen Frauen gut leiden, <strong>und</strong> einer von denen<br />

findet mich dann.“ reagierte ich. „Sei nicht traurig.“ wünschte sie mir noch<br />

für <strong>die</strong> Nacht. Mit einem durch <strong>die</strong> Lippen geblasenen „Pfff“ gab ich ihr zu verstehen,<br />

was es für mich bedeutete. Beim Lesen im Bett kam ich darauf, von<br />

Gitti zu träumen. Ich mochte sie, weil, weil, weil … . Nein das war es nicht,<br />

oder zumindest nicht allein <strong>und</strong> nicht das Bedeutende. Da musste in <strong>dem</strong><br />

Patchwork meiner Persönlichkeit eine Komponente existieren, <strong>die</strong> mich freudig<br />

stimmte aber meinen Blicken unzugänglich war. Gitti traf sie in unserer Kommunikation.<br />

Sie vermittelte mir Anerkennung, <strong>die</strong> mir wohl sehr bedeutsam<br />

war <strong>und</strong> ich hatte Lust es ihr gleich zu tun.<br />

Natürlich stellt Sex auch eine Art von Kommunikation dar, mit sehr verschiedenen<br />

Spielbreiten, nur das hatte mit den Ebenen der Kommunikation, <strong>die</strong> zwi-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 6 von 26


schen Gitti <strong>und</strong> mir, oder meiner Mutter <strong>und</strong> mir statt fanden, nichts zu tun. Bei<br />

Mutter, Gitti oder auch Janine war ich frei, hatte ich Lust, zu geben. Bei<br />

Thomas <strong>und</strong> den früheren Fre<strong>und</strong>en? So war es da nie. Sie blieben immer in<br />

meinen kalkulatorischen Abläufen gefangen. Die Kommunikationsebenen, auf<br />

denen sich Liebe bildet, waren für fremde Männer bei mir nicht zugänglich.<br />

Toskana<br />

Im Urlaub sollte es in <strong>die</strong> Toskana gehen. „Oh, Schreck!“ Warum 'oh, Schreck',<br />

wusste ich gar nicht. Ich hatte eine unbestimmte Aversion gegen <strong>die</strong>sen italienischen<br />

Landstrich. Als kleines Kind war ich mal dagewesen. Unendlich öde <strong>und</strong><br />

langweilig. Immer träumte ich vom letzten Urlaub am Meer. Das Meer war toll,<br />

das Wasser war toll, <strong>die</strong> vielen Eisverkäufer waren toll, vor allem aber <strong>die</strong> vielen<br />

Kinder, mit denen ich spielen konnte. Jetzt war ich allein, musste mir etwas<br />

anschauen, was mich nicht interessierte <strong>und</strong> immer den Erklärungen meiner<br />

Eltern über <strong>die</strong> Bedeutsamkeit lauschen. Vielleicht hatte sich damals so etwas<br />

wie ein Urmisstrauen gegen <strong>die</strong>se Toskana etabliert, sodass mir heute noch<br />

alle, fast alle Leute zuwider waren, <strong>die</strong> da hinfuhren.<br />

Laetititia Sprenger fuhr auch dort hin. Auf sie traf das nicht zu. Ich mochte sie<br />

ausgesprochen gern. Sie war Mutters Fre<strong>und</strong>in, <strong>und</strong> wir beide schienen, auf der<br />

gleich Welle Lust am Blödsinn zu haben. Nur Lust auf etwas anderes als <strong>die</strong><br />

Toskana schien sie nicht zu suchen. Sie hatten sich, mit ihrem Mann damals<br />

noch, ein Haus dort zugelegt. Jetzt musste sie es auch nutzen, zumal das Geld<br />

nicht mehr so üppig floss. Vor zwei Jahren hatten sie sich erst nach längeren<br />

Querelen getrennt <strong>und</strong> Laetitia war richtig aufgeblüht. „Frauen alleine sind<br />

stark.“ lautete unser gemeinsamer Kampfspruch seit<strong>dem</strong>. Julian, ihr Sohn, sollte<br />

auch mit in Urlaub fahren. „Dann fahr ich nicht mit.“ war meine prompte kategorische<br />

Reaktion. Ich kannte Julian gar nicht, hatte ihn nur ein paar mal gesehen,<br />

wenn er seine Mutter abholte. Er musste in meinem Alter sein <strong>und</strong> stu<strong>die</strong>rte<br />

Geschichte <strong>und</strong> Politik. Mehr wusste ich nicht. Das war doch der Gipfel,<br />

da wollten <strong>die</strong> beiden Weiber uns miteinander verkuppeln. „Unter schweren<br />

Phobien hast du zu leiden, mein Schatz.“ machte meine Mutter sich über mich<br />

lustig. „Wenn das deine ersten Gedanken <strong>und</strong> Ängste sind. Julian hat eine feste<br />

Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> <strong>die</strong> beiden sind strengstens verliebt.“ „Trotz<strong>dem</strong> komm ich nicht<br />

mit. Ich bin nicht im Angebot.“ ich dazu. „Gorgette, du hast aber wirklich Ängste.“<br />

meinte Mutter, „Meinst du denn, Julian würde ohne seine geliebte Désirée<br />

in Urlaub fahren?“ Désirée, was war das denn für ein Name? Wer würde denn<br />

seine Tochter so nennen? Na ja, musste ja vor über zwanzig Jahren gewesen<br />

sein. Desirée, da steckte doch schon alles im Namen, was zur Liebe gehört.<br />

Konnte denn das Verlangen nach einer Désirée je erlahmen?<br />

In der Toskana ist alles bedeutsam. Die Städte, <strong>die</strong> Kunst, <strong>die</strong> Landschaft, <strong>die</strong><br />

Geschichte, der Wein, <strong>die</strong> Oliven, alles eben. Wo kann man schon seinen Flughafen<br />

nach <strong>dem</strong> Namensgeber für Amerika benennen? Nur in der Toskana. Die<br />

Dichte der historisch bedeutsamen Personen ist sicher nirgendwo so hoch wie<br />

hier. Unser einzig geschichtlich bedeutsamer Mann saß neben mir im Flieger.<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 7 von 26


„Was willst du denn eigentlich mal werden, wenn du groß bist, Historiker oder<br />

Politiker?“ wollte ich wissen. „Und du Kommunistin?“ fragte er zurück. „Gibt's<br />

<strong>die</strong> denn überhaupt noch außer den paar übrig gebliebenen in Russland?“<br />

wollte ich von <strong>dem</strong> angehenden Politologen wissen. Aber bevor er auflachte<br />

war mir schon klar, wie dumm meine Frage war. Désirée wusste, dass ganz<br />

China doch kommunistisch sei <strong>und</strong> Vietnam <strong>und</strong> Nordkorea. Mit „Und Kuba<br />

doch auch immer noch“ versuchte ich Désirées Wissen zu komplettieren. „Nein,<br />

<strong>die</strong> Blöcke sind zwar verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> <strong>die</strong> kommunistischen Länder streben<br />

ja auch nicht mehr <strong>die</strong> Weltrevolution an, aber auf kommunistischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen basierende Ideen sind in Philosophie, Soziologie <strong>und</strong> Politik doch<br />

präsent. „Ja, ja.“ war mir schon klar, „Negri, Agamben, Agnes Heller <strong>und</strong> so“<br />

Wieder hatte ich ziemlich daneben gehauen, aber <strong>die</strong> Diskussion über Agnes<br />

Heller, bis zur Ankunft am kleinen Flughafen der großartigen Toskana, war<br />

spannend. Mit ihr sollte ich mich doch mal wieder beschäftigen. Désirée hatte<br />

dabei nur zugehört oder auch nicht. Vergessen habe ich, zu erwähnen, dass<br />

auch <strong>die</strong> Luft in der Toskana wohl bedeutsam sein muss. So fühlte sie sich<br />

jedenfalls an. Mit brüllender italienischer Sommerhitze hatte ich gerechnet,<br />

<strong>und</strong> sicher war es auch an vielen Tagen so, aber zu unserer Begrüßung wehte<br />

ein leichter Wind. Mild war es.<br />

Das Haus war gar nicht klein <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sprengers hatten es w<strong>und</strong>ervoll restauriert.<br />

Kein historisierender oder rustikaler Firlefanz. Es gefiel mir. Wir wollten ja<br />

nur zwei Wochen bleiben, aber hier hätte ich es gut länger ausgehalten. Am<br />

Abend stritten wir darüber, wie wir den Urlaub verbringen wollten. Immer alle<br />

zu fünft von einem Sightseeing Objekt zum andern hasten, das wollte keiner,<br />

nur um <strong>die</strong> Uffizien <strong>und</strong> den Dom <strong>und</strong>, <strong>und</strong>, <strong>und</strong> bis zum schiefen Turm in Pisa<br />

kam man doch nicht herum. Dann wären <strong>die</strong> vierzehn Tage schon vorbei gewesen.<br />

„Also ich brauche nicht zu <strong>dem</strong> schiefen Turm oder so etwas. Ich würde<br />

lieber mal in kleine Dörfer <strong>und</strong> Städte fahren, ein Weingut in Montepulciano besuchen<br />

oder mich mit Gianna Nannini treffen, <strong>die</strong> kommt doch auch von hier.“<br />

juxte ich, „Nein, ich möchte lieber etwas erleben als <strong>die</strong> Touristen Kulminationspunkte<br />

abhaken.“ Es war ja schön, wenn Laetitia den Dom von Sienna in<br />

den verführerischsten Farben malen konnte. Wir hörten uns gern zu. Klar geworden<br />

war jedoch nur, dass wir uns am nächsten Tag ein Auto besorgen wollten,<br />

aber das wussten wir auch vorher schon.<br />

Julian <strong>und</strong> Désirée<br />

Mit Laetitia allein hier Urlaub machen. Das würde mir gefallen. Wir würden jeden<br />

Tag etwas Neues entdecken <strong>und</strong> unendlichen Spaß haben. Dessen war ich<br />

mir sicher. Sie brauchte ja nichts mehr zu besichtigen <strong>und</strong> neben einer Kopie<br />

von Michelangelos David zu stehen? Sollte mich das bewegen? Sollte es mich<br />

erregen? Sie könnte ja genauso gut bei uns auf <strong>dem</strong> Markt stehen. Die ganze<br />

Welt könnte man mit Kopien davon überschwemmen. Eine brennende Neugier<br />

konnte Derartiges nicht in mir entzünden. Mit Mutti könnte ich's mir auch gut<br />

vorstellen. Mit Mutti war alles gut. Schon ein gutes Gefühl, zu wissen, dass alles<br />

in selbstverständlich sicherem Vertrauen, mit intensiver gegenseitiger Zu-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 8 von 26


neigung, in Liebe sich ereignen wird. Bei den anderen beiden wusste ich gar<br />

nicht so recht. Sympathisch war mir Julian schon, er wusste ja auch einiges,<br />

<strong>und</strong> ich konnte gut mit ihm darüber reden. Auch Désirée war ja nicht unangenehm<br />

aufgefallen, aber dass sie nicht auf meinem Ticket fuhr, war mir schon<br />

beim Warten am Gate klar geworden. Alles Vorurteile? Vielleicht. Aber was<br />

spielte das schon für eine Rolle. Ich konnte doch nicht nur mit Leuten auskommen,<br />

<strong>die</strong> auch meine Weisen sangen.<br />

Am ersten Tag fuhren wir natürlich schon alle zusammen <strong>und</strong> selbstverständlich<br />

nach Florenz. „Ist der wenigstens echt, oder ist das auch 'ne Kopie?“ fragte<br />

ich als wir vorm Dom standen <strong>und</strong> wollte scherzen. „Das Original hat Andreotti<br />

an <strong>die</strong> Mafia verscherbelt. Das steht jetzt in einem sizilianischen Dorf, wo sich<br />

niemand hintraut.“ reagierte Laetitia als einzige entsprechend. Die Gesichter<br />

der andern kommentierten meine Bemerkung als disgusting angesichts der<br />

Würde <strong>und</strong> Hochachtung, <strong>die</strong> einem solchen Kunstwerk gebühre.<br />

Im Flieger hatten wir uns gegenseitig zu erklären versucht, was Agnes Heller<br />

darunter verstand, dass <strong>die</strong> Industriegesellschaft den Menschen ein widersprüchliches<br />

Leben führen ließ <strong>und</strong> sein Verhalten schizoid sei. Auf Désirée traf<br />

das nicht zu. Bei ihr konnte nur alles glatt <strong>und</strong> r<strong>und</strong> <strong>und</strong> ungespalten sein. Wo<br />

sollte sie denn Widersprüchlichkeiten bei sich entdecken. Julian <strong>und</strong> ich bekamen<br />

von den Sehenswürdigkeiten im Dom kaum etwas mit, weil wir uns engagiert<br />

stritten <strong>und</strong> gegenseitig energisch widersprachen. Désirée fand alles w<strong>und</strong>erschön.<br />

„Im Gartencenter oder Baumarkt könntest du das heute verkaufen.<br />

Kein Museum der Welt würde so etwas ausstellen.“ unterstrich ich meine Position,<br />

dass Ästhetik ohne historischen, kulturgeschichtlichen Bezug keinen Sinn<br />

ergebe. Julian spielte Empörung über solche Aussagen. „Bei Ästhetik geht es<br />

doch nicht darum einen Sinn zu ergeben, das ästhetische will <strong>die</strong> Sinne ansprechen.<br />

Das ist doch zeitlos. Was gestern schön war, wird auch morgen noch<br />

schön sein.“ so seine Sicht. „Mag ja sein, dass es nicht kompletter Blödsinn ist,<br />

was du sagst. Deine Désirée würde sicher überall auf der Welt für eine schöne<br />

Frau gehalten <strong>und</strong> eine hässliche würde man auch überall so bezeichnen. Nur<br />

geht’s in der Kunst doch nicht um 'schön sein'. Schön ist gar kein Wort. Kunst<br />

ist eine Form von Kommunikation, <strong>und</strong> <strong>die</strong> ist immer zeitbezogen.“ ließ ich ihn<br />

wissen. „Für dich gibt es nichts auf der Welt, was nicht Kommunikation ist, damit<br />

du es für deinen Forschungsbereich krallen kannst.“ störte Julian <strong>die</strong> Diskussion<br />

über ästhetische Fragen. „Ja, ja, was meinst du weshalb ich das stu<strong>die</strong>re,<br />

damit ich das ganze Leben <strong>und</strong> <strong>die</strong> ganze Welt unter meinen Fittichen<br />

habe. Was nicht kommuniziert ist tot, <strong>und</strong> selbst mit denen wollen ja einige reden<br />

können.“ reagierte ich scherzhaft, was aber dazu führte, das <strong>die</strong> Betrachtung<br />

des Doms für uns vornehmlich aus <strong>dem</strong> Austausch unseres Wissens über<br />

<strong>die</strong> Kontakte ins Jenseits bestand. Während wir uns vorher <strong>die</strong> Argumente unserer<br />

von jeder Diskursethik freien Auseinandersetzung leise zuschreien mussten,<br />

befürchteten wir jetzt häufig zu laut losprusten zu müssen. Zum Beispiel,<br />

wenn Julian wusste, das Leute auch mit ihren H<strong>und</strong>en reden konnten, aber erst<br />

wenn der H<strong>und</strong> tot war. Es wurde richtig lustig im Dom. „Der H<strong>und</strong> ist tot, der<br />

H<strong>und</strong> ist tot. Er kann nicht mehr ...“ summte ich. Manchmal bog ich mich. Aufgerichtet<br />

etwas anschauen kam auch vor. Es ist ja nicht so, dass mich das nicht<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 9 von 26


interessierte, oder dass ich nicht auf Renaissance stand, war alles wichtig, toll<br />

<strong>und</strong> bedeutsam, auch für mich. Nur musste ich wohl auch ein wenig empfindsam,<br />

feinfühlig oder wenn man so will, fimschig sein. Ich besuchte gern Ausstellungen,<br />

konnte mich st<strong>und</strong>enlang in ein Bild vertiefen, hatte das Empfinden,<br />

das Leben der Malerin nachgelebt zu haben. War es aber crowded, immer<br />

sieben bis zwanzig Leute vor einem Bild, konnte ich es nicht ertragen <strong>und</strong> ging,<br />

wie sehr mich auch <strong>die</strong> Ausstellung interessierte. Im Dom fühlte ich mich auch<br />

nicht wohl. So wie Désirée äußerten oder dachte bestimmt noch über h<strong>und</strong>ert<br />

andere Menschen. Warum wussten sicher nur <strong>die</strong> wenigsten, sie wussten dass<br />

es schön <strong>und</strong> großartig war, weil es so im Reiseführer stand. Wenn Julian <strong>und</strong><br />

ich nicht gestritten <strong>und</strong> gelacht hätten, würde es mir <strong>die</strong> Stimmung verdorben<br />

haben. Ob Julian mit Désirée auch wohl über Kontakte ins Jenseits redete. Die<br />

Vorstellung ließ mich lachen. Gleichzeitig ärgerte ich mich aber. Immer <strong>die</strong>se<br />

Désirée. Sollte sie doch machen, was sie wollte. Aber meine Gedanken wollten<br />

es nicht bleiben lassen, irgendetwas fiel mir auf oder ein mit der schönen jungen<br />

Désirée. Wollte ich jetzt auch noch eine Frauenantipathie entwickeln? Sonderbar<br />

war es schon, wenn ein Mann einen Schuss hatte, ließ mich das völlig<br />

kalt. War ja nichts Besonderes, eher <strong>die</strong> Regel, gehörte eben dazu. Warum regte<br />

ich mich auf, wenn ich eine Frau für eine Tussi hielt. Hatten Frauen bessere<br />

Wesen zu sein. Ach wo, nur in meiner Nähe, immer Verhaltens- <strong>und</strong> Denkweisen<br />

präsentiert zu bekommen, wie ich sie für mich selbst gehasst hätte, schien<br />

mich zu stören. Was sollte das? Sie war doch ein liebes Mädchen, „<strong>und</strong> hinten<br />

hat <strong>die</strong> Désirée ein schönes r<strong>und</strong>es Heck.“ Immer wieder. Ich konnte es nicht<br />

lassen, so einen Mist zu denken <strong>und</strong> mich innerlich über sie lustig zu machen.<br />

Ein gr<strong>und</strong>sätzlich fre<strong>und</strong>licher, liebenswerter Mensch war ich wohl doch nicht.<br />

Montepulciano<br />

Laetititia <strong>und</strong> ich wollten nach Montepulciano. Und <strong>die</strong> anderen drei? Nur Désirée<br />

wollte auf jeden Fall etwas besichtigen. Mutti konnte sie nicht allein fahren<br />

lassen. Wir setzten <strong>die</strong> beiden in Sienna ab <strong>und</strong> fuhren weiter. Eine Himmelfahrt.<br />

Jetzt wusste ich, warum es so viele unberührte Dörfer <strong>und</strong> Gegenden<br />

in Italien gab. Niemand fand dahin. Ständig musste man rechts oder links abbiegen,<br />

aber Schilder standen nirgendwo. Ganz sicher waren wir uns nicht, ob<br />

wir uns nicht letztendlich doch im Kreis bewegen würde. „Wenn ich heute von<br />

den Jugendlichen Kampftrinkern höre, muss ich immer an ihn denken. Die haben<br />

das sogar während des Unterrichts gemacht.“ erzählte Laetitia. Immer<br />

wieder kam sie auf irgendwelche Jugendsünden zu sprechen. „Mami, hör doch<br />

auf. Du langweilst Gorgette doch. Keiner will das hören.“ stöhnte Julian. „Ich<br />

hab' gehört, ihr habt mal einen H<strong>und</strong> gehabt.“ sagte ich halb fragend. „Nein,<br />

einen H<strong>und</strong> haben wir nicht gehabt.“ antwortete Laetitia. „Einen toten H<strong>und</strong>?“<br />

hakte ich nach. Julia überlegte <strong>und</strong> meinte: „Nicht dass ich wüsste.“ „Aber Julian<br />

hat doch mit ihm im Jenseits gesprochen.“ bekräftigte ich todernst meine<br />

H<strong>und</strong>etheorie, während sich Julian schon auf <strong>dem</strong> Rücksitz krümmte. Als Julia<br />

lachend fragte: „Was habt ihr vor?“ lachte ich auch. „Nein, Laetitia, ich wollte<br />

deinem rüpelhaften Sohn nur mal zeigen, wie man das Gespräch auf ein anderes<br />

Thema bringt, anstatt seiner Mutter zu sagen: „Halt <strong>die</strong> Klappe. Was du er-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 10 von 26


zählst, interessiert niemanden.“ „Müssen dass denn unbedingt tote H<strong>und</strong>e sein,<br />

wenn man das Thema wechseln möchte.?“ erk<strong>und</strong>igte sich Laetitia mit bibbern<strong>dem</strong><br />

Zwerchfell. „Ja mindestens, Meerschweinchen, Ratten <strong>und</strong> Mäuse, <strong>die</strong><br />

sind doch zu klein. Das interessiert doch niemanden.“ war meine Überzeugung.<br />

„Ja, siehst du, so etwas habe ich alles nicht gewusst. Ich habe da bestimmt<br />

ganz viel falsch gemacht, in der Erziehung bei <strong>dem</strong> Jungen.“ klagte Laetititia.<br />

„Ja, Jungen, <strong>die</strong> muss man kurz halten, sonst laufen sie aus <strong>dem</strong> Ruder.“ gab<br />

ich altklug zu bedenken <strong>und</strong> platzte los. „Und wie würde das konkret für dich<br />

aussehen?“ erk<strong>und</strong>igte Laetitia sich nach den Details. „Na ja, nicht zu lange<br />

Leine eben. Keinesfalls bis zum Fußballplatz, höchstens bis in <strong>die</strong> Küche zum<br />

Helfen bei der Hausarbeit.“ konkretisierte ich. „Ah ja, ich verstehe schon. Wenn<br />

das allgemeine Erziehungsrichtlinien wären, würde sich später kein Mann mehr<br />

für Fußball interessieren, sondern nur noch für Hausarbeit. Nur noch<br />

Hausarbeit würde im Fernsehen übertragen.“ dachte Laetitia es weiter. „Ja, so,“<br />

bestätigte ich sie. „Wettkämpfe in verschiedensten Disziplinen, wie<br />

Spülmaschine ein- <strong>und</strong> ausräumen, Küchenboden wischen <strong>und</strong> so weiter würde<br />

man ausrichten. Und <strong>die</strong> Männer säßen grölend vorm Fernseher <strong>und</strong> bejubelten<br />

ihre Stars?“ wollte ich mich vergewissern. „Vielleicht, wer weiß?“ bemerkt<br />

Laetitia. Wir diskutierten weiter über Bedürfnisse <strong>und</strong> möglichen Fehler bei der<br />

Erziehung von Jungen <strong>und</strong> jungen Männern. Julian lag <strong>die</strong> ganze Zeit nur auf<br />

der Bank, lachte sich krumm <strong>und</strong> versuchte manchmal, sich mit einer<br />

Bemerkung einzubringen. „Wenn ich als Betroffener von euren Folterplänen<br />

auch mal etwas dazu sagen dürfte,“ begann er, hielt sich aber <strong>die</strong> Hand vor's<br />

Gesicht, lachte <strong>und</strong> sprach nicht weiter. Die endlose Strecke, schien uns schnell<br />

bewältigt, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zeit in Montepulciano viel zu knapp. Ich war mir nicht sicher,<br />

aber ich meinte, den gleichen Wein bei Aldi schon mal billiger bekommen zu<br />

haben.<br />

Mutti <strong>und</strong> Désirée waren schon längst wieder zu Hause <strong>und</strong> hatten das Abendbrot<br />

vorbereitet. Désirée sprudelte vor Begeisterung <strong>und</strong> Mutti unterstützte<br />

sie: „Ja, ihr habt wirklich was verpasst.“ „Ja, wäre ich mal bei euch geblieben.“<br />

sagte Julian, obwohl er mit Sicherheit das Gegenteil meinte. „Die beiden waren<br />

ja nicht nur bei der Ankunft, sondern <strong>die</strong> ganz Fahrt über schon besoffen.“ Damit<br />

konnte Désirée nichts anfangen, Mutti schon. Sie meinte: „Wenn man als<br />

Männlein mit den beiden zusammen ist, kann's schon gefährlich werden.“ „Ja,<br />

ganz schlimm.“ meinte Julian <strong>und</strong> lachte. „Wieso, was war denn?“ erk<strong>und</strong>igte<br />

sich Désirée. Sie war bestimmt eine, der man <strong>die</strong> Scherze immer erklären<br />

musste, schoss es mir durch den Kopf. Beim Essen erzählten wir von Montepulciano,<br />

obwohl man es Désirée ansehen konnte, wie gern sie von Sienna erzählt<br />

hätte.<br />

Als wir nach <strong>dem</strong> Abendbrot bei <strong>dem</strong> neuen Wein zusammen saßen, meinte Julian:<br />

„Wie gut, das du nicht meine Schwester bist. Ich hätte bei euch beiden ja<br />

keine Schnitte gekriegt.“ „Dann wärst du ja mein Bruder gewesen.“ fünf Ms<br />

lachte ich. Einen Bruder, sonderbar, dass ich noch nie daran gedacht hatte.<br />

Man sagt doch, dass Mädchen sich immer einen Bruder wünschen, aber ich war<br />

nicht auf den Gedanken gekommen weder als Kind noch als Jugendliche. Ob da<br />

bei mir schon etwas faul war? Schließlich werden <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lagen für das kom-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 11 von 26


munikative Verhalten ja schon im Kleinstkindesalter präpariert. Sinnierend hatte<br />

ich in <strong>die</strong> Ferne geschaut <strong>und</strong> Julian starrte mich an. „Hätt'ste gerne einen<br />

gehabt?“ fragte er. „Jaha“ log ich <strong>und</strong> ließ dabei den M<strong>und</strong> lächelnd leicht offen<br />

stehen. Warum? Ich weiß es nicht. Mir war danach. Julian schaute eine Weile<br />

lächelnd zurück <strong>und</strong> meinte dann: „Wir können dich ja adoptieren, dann hast<br />

du einen Bruder <strong>und</strong> Laetitia würde sich bestimmt riesig freuen.“ „Nur du<br />

hättest dann ja auch eine Schwester. Hattest du dich danach denn auch immer<br />

schon gesehnt?“ wollte ich wissen. „Na, klar.“ nur das Lachen dabei sagte, dass<br />

es wohl nicht so war. Laetitia mischte sich ein: „Absoluter Schwachsinn ist das,<br />

was der da erzählt. Ich wollte ja sagen, was er für ein Schlimmer war, aber ich<br />

durfte nicht. Musste ja über tote H<strong>und</strong>e sprechen.“ Jetzt verstand Mutti<br />

allerdings auch nichts mehr. Weil wir aber wieder lachten, lächelte sie mit. „Der<br />

sich ein Schwesterchen wünschen. Damit er es auch verhauen konnte wie <strong>die</strong><br />

anderen Mädchen?“ stellte Laetitia fragend in den Terrassenraum. Während<br />

Mutti <strong>und</strong> ich unser gespieltes Entsetzen mit aufgesperrten Mündern tief Luft<br />

holend <strong>dem</strong>onstrierten, zeigte Désirée ihre nicht gespielte Verwirrung. Julian<br />

war mit der Hand vorm lachenden M<strong>und</strong> im Sessel versunken. „Ja, du lachst.<br />

Aber so fängt es an. Das sind <strong>die</strong> Männer, <strong>die</strong> später ihre Frauen verhauen. Hat<br />

er dir auch schon mal was getan, Désirée.“ wollte ich Julian ins Gewissen<br />

reden, obwohl ich überhaupt nichts davon wusste. Désirée schien es<br />

ungemütlich zu werden. „Ja, jeden Abend braucht <strong>die</strong> ihre Tracht Prügel.“<br />

erklärte Julian. „Ich dachte ihr hättet den ganzen Tag geulkt. Müssen wir das<br />

denn jetzt weiter machen. Können wir uns nicht schlicht über etwas Nettes<br />

unterhalten? Das passt doch auch viel besser zu der stimmungsvollen<br />

abendlichen Atmosphäre.“ beendete Mutti es. Bestimmt hatte sie<br />

wahrgenommen, dass Désirée darunter litt.<br />

Streit zwischen Désirée <strong>und</strong> Julian<br />

„Nein, krank bin ich nicht, auch nicht traurig. Ich fühl mich pudelwohl. Ich<br />

möchte nur mal einen Tag für mich alleine sein, meine Ruhe haben, mich entspannen,<br />

oder darf man das im Urlaub nicht?“ erklärte ich mich. Damit war genehmigt,<br />

dass ich heute ganz allein zu Hause bleiben durfte. Zu Hause machte<br />

ich das auch manchmal. Ich hielt mich nicht an <strong>die</strong> Bibel, hatte keinen 7 Tage<br />

Rhythmus. An den Wochenenden zu arbeiten, war nichts Ungewöhnliches. Aber<br />

manchmal hatte ich das dringende Bedürfnis nach einem sanften Tag, ohne<br />

Termine, ohne ans Studium zu denken, ein wenig spazieren gehen, milde Musik<br />

hören, etwas Leichtes lesen. Ins Träumen <strong>und</strong> Nachdenken kam ich. Das war<br />

mein Tag. Da kommunizierte ich nur mit mir selber. Vielleicht war ja hinterher<br />

etwas aufgeräumt in mir, aber das erkennst du ja nicht. Ich wusste nur, dass<br />

ich mich danach sehr wohlfühlte. Als ich zwischen den Feldern um unser Haus<br />

schlenderte, dachte ich an das Gespräch gestern Abend. Ich hatte mir nicht<br />

nur nie einen Bruder gewünscht, ich hatte mir auch nie vorgestellt, wie es<br />

wäre, einen zu haben. Jetzt versuchte ich nachträglich <strong>die</strong> Bilder zu malen, wie<br />

es wohl hätte sein können. Ich glaube, sie waren zu idyllisch. Wir hätten uns<br />

gut verstanden, ich hätte viel Freude mit ihm gehabt, alles hätten wir gemeinsam<br />

besprochen, Streit konnte ich mir nicht vorstellen. Womit malte ich denn<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 12 von 26


<strong>die</strong>se Bilder, welche Bedürfnisse animierten mich denn heute dazu? Konnte so<br />

ein anderer Mann aussehen, der nicht ein Fremder war. Vielleicht existierten ja<br />

meine Beziehungsquerelen nicht, wenn ich einen Bruder gehabt hätte. Faktisch<br />

hatte es sich ja gestern so abgespielt, hatte ich Julian erlebt, als ob er mein<br />

Bruder sein könnte. Dieses Bild, das ich immer von meinen Fre<strong>und</strong>en hatte,<br />

passte nicht. Ein fremder Mann? Das traf auf Julian nicht zu. Wir waren eher<br />

eine Familie.<br />

Geschaffte, nein mehr betretene Gesichter sah ich, als <strong>die</strong> anderen zurückkamen.<br />

Ihren Worten fehlte <strong>die</strong> Melo<strong>die</strong>. Wie <strong>die</strong> Gebrauchsanweisung für eine<br />

Maschine klang ihre Sprache. „Was ist passiert?“ fragte ich Carina, meine Mutter,<br />

der ich ins Bad gefolgt war. „Désirée <strong>und</strong> Julian haben sich gestritten.“ erläuterte<br />

sie. „Und worüber?“ wollte ich wissen. „Das weiß ich auch nicht.“ antwortete<br />

sie, „Die beiden blieben zurück, man sah nur wie sie heftig miteinander<br />

redeten, <strong>und</strong> dann setzten sie sich an den Tisch eines Cafés. Wir setzten<br />

uns ins nächste Café <strong>und</strong> wollten warten. Aber es dauerte. Laetitia hatte auch<br />

keine Ahnung, worum es sich handeln könnte.“ Nach einer ganzen Weile kamen<br />

sie zu uns <strong>und</strong> meinte: „Sollen wir mal weitergehen?“ Ihre Gesichter erweckten<br />

aber nicht den Eindruck, als ob sie irgendetwas geklärt hätten. So ist<br />

es jetzt noch. Prima Stimmung.“ Beim Abendbrot wurde auch kaum geredet,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> beiden wollten anschließend noch ein wenig spazieren gehen. Jetzt<br />

wusste Laetitia zwar ein wenig mehr, aber es war alles ziemlich verworren, weil<br />

Julian es auch wohl nicht richtig verstanden hatte. Angeblich war Désirée sauer,<br />

dass Julian gestern nicht bei ihr in Sienna geblieben war. Das konnte aber<br />

keiner glauben, nicht nur weil sie kein Wort davon erwähnt hatte. „Pff,“ bließ<br />

Mutti <strong>die</strong> Luft durch <strong>die</strong> Lippen, „Die war doch so gut drauf, ihren Julian hatte<br />

sie gestern bestimmt völlig vergessen.“ „Aber wie kommt sie denn darauf, so<br />

etwas zu erzählen?“ fragte ich. „Désirée wird sich nicht wohl fühlen, denke ich<br />

mal.“ versuchte Laetitia es zu erklären, „Wir sind zwar alle ganz fre<strong>und</strong>lich zu<br />

ihr, aber dass sich ihr trotz<strong>dem</strong> das Empfinden vermittelt, nicht dazu zugehören,<br />

könnte ich mir auch vorstellen.“ „Aber was willst du denn machen? Alle lachen<br />

über einen Scherz, <strong>und</strong> sie merkt dass sie <strong>die</strong> einzige ist, <strong>die</strong> ihn nicht<br />

versteht.“ so ich dazu. Als <strong>die</strong> beiden vom Spaziergang zurück kamen, hatten<br />

sie sich offensichtlich wieder vertragen. Sie lächelten, streichelten <strong>und</strong> küssten<br />

sich. Auch wenn es meinem vorurteilsbehafteten Auge leicht aufgesetzt erschien.<br />

Laetitia<br />

Laetitia kannte ein kleines idyllisches Dorf, in <strong>dem</strong> noch richtige Maler leben<br />

sollten, zumindest vor einigen Jahren. Dass Julian mit Désirée <strong>und</strong> Carina mit<br />

nach Pisa musste, war selbstverständlich. Das Gesicht, das er mir <strong>und</strong> Laetitia<br />

kommentierend dazu zeigte, erklärte alles. „Natürlich wäre ich viel lieber mit<br />

euch gefahren, aber was soll ich den machen, wenn ich nicht den größten Ärger<br />

riskieren will?“ Gedanken darüber, was sich zwischen Julian <strong>und</strong> Désirée<br />

abgespielt haben könnte, ließen mich nicht in Ruhe. „Über drei Jahre sind <strong>die</strong><br />

beiden jetzt schon zusammen, aber streitend habe ich sie noch nie erlebt.“<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 13 von 26


w<strong>und</strong>erte sich Laetitia. Mich interessierte, was Julian denn eigentlich an Désirée<br />

so aufregend fände. Aber das schien kein Thema zu sein, über das Laetitia<br />

gerne redete. Fast schon leicht genervt meinte sie: „Was weiß ich? Ich bin<br />

kein Mann. Weiß ich was Männer an Frauen aufregend finden?“ „Ja, natürlich,<br />

Titten, Arsch <strong>und</strong> Möse.“ reagierte ich. „Und das dann alles ein wenig sublimieren<br />

auf anmutig, elegant <strong>und</strong> hinreißend.“ ergänzte Laetitia, „das bist du doch<br />

auch, anmutig, elegant <strong>und</strong> hinreißend.“ „Aber immer, Laetitia, ich habe doch<br />

auch keine Probleme, einen Mann zu finden. Meine Anmut lässt <strong>die</strong> Männer<br />

erglühen, meine Eleganz lässt sie vor Bew<strong>und</strong>erung schmelzen, hingerissen<br />

werfen sie sich mir um den Hals.“ war meine Erläuterung. Wir hatten wieder<br />

ein Thema. Es gefiel uns cool, ernsthaft <strong>und</strong> nüchtern zu sprechen, bis es dann<br />

eine nicht mehr aushielt <strong>und</strong> losplatzte. „Redest du mit Carina denn auch öfter<br />

so unsinniges Zeug?“ fragte Laetitia. „Ne, sie kann das zwar auch, aber dass ist<br />

nicht unsere Ebene, <strong>die</strong> wir für uns bevorzugen. Zu je<strong>dem</strong> hast du ja eine<br />

andere Kommunikationsstruktur mit unterschiedlichen Ebenen <strong>und</strong><br />

Schwerpunkten, ein unterschiedliches Profil. Bei meiner Fre<strong>und</strong>in zum Beispiel<br />

komme ich mir vor wie ein etwas älter gewordenes Mädchen. Ist auch nicht<br />

schlecht. Hat auch was für sich.“ antwortete ich. „Und was hat unsere<br />

Kommunikationsstruktur für ein Profil?“ erk<strong>und</strong>igte sich Laetititia. „Unsere<br />

Chromosomen sind Träger des gleich Gaga-Gens. Das erkennst du beim<br />

anderen <strong>und</strong> es wirkt sich auf <strong>die</strong> Kommunikation gestaltend, wenn nicht<br />

dominierend aus.“ erklärte ich es. „Ja, geerbt haben wir bestimmt etwas<br />

voneinander. Das kann sich nicht nur an der Oberfläche bewegen. Das liegt<br />

tiefer. Bestimmt bei den Chromosomen in der Gegend oder so.“ bestätigte<br />

Laetititia mich. Für den weiteren Verlauf des Tages hatten wir bestimmt unser<br />

Gaga-Gen abgeschaltet. Wir sprachen über uns selbst, über unseren Zustand,<br />

unsere Vergangenheit <strong>und</strong> unsere Perspektiven. „Ich würde das gar nicht als<br />

Problem sehen.“ meinte Laetitia zu meinen Männern, „Du hast den richtigen<br />

noch nicht gef<strong>und</strong>en, der zu dir passt. Du spürst es, dass der Thomas es nicht<br />

ist <strong>und</strong> es nicht werden kann. Was soll dann so schlimm sein. Du kannst<br />

natürlich sagen, als Fre<strong>und</strong> kommt nur der ultimativ richtige in Frage. Dann<br />

musst du aber eventuell lange warten.“ „Und du? Wie ist es für dich? Du bist<br />

doch auch noch jung <strong>und</strong> geschäftstüchtig?“ fragte ich zurück. Dadurch kamen<br />

wir auf das unendliche Thema Sex, <strong>und</strong> ich erfuhr so, dass ich es fast<br />

nacherleben konnte, wie eine Frau langsam <strong>die</strong> Lust daran verliert. Es war ja<br />

keine anonyme Beschreibung. Laetitia erzählte es ja live von sich <strong>und</strong> es<br />

schockierte mich. Ich umarmte sie <strong>und</strong> wollte sie Trösten. Laetitia lachte:<br />

„Gorgette, es stört mich doch gar nicht. Es ist eher praktisch.“ „Laetitia, es ist<br />

nicht dein Körper, der dir das sagt. Das ist das Produkt der Gehirnwäsche, <strong>die</strong><br />

dein Mann in deinem Kopf bewirkt hat. Das ist schade <strong>und</strong> ein trauriger<br />

Zustand.“ reagierte ich engagiert. „Ich bin keine Therapeutin, aber wie es sich<br />

entwickelt hat, ist doch für jede evident. Mir tat es manchmal richtig weh, was<br />

du erzählt hast. Ich bin es. Meine Lust am Sex ist es. Wie ich es möchte, ist<br />

entscheidend. Wenn <strong>dem</strong> Typ das nicht passt, soll er's sich alleine machen.<br />

Sich etwas gefallen lassen, unvorstellbar für mich. Wenn du auch nach den<br />

Bedingungen gehandelt hättest, wäre dir <strong>die</strong> Lust am Sex nie vergangen.“ war<br />

meine Einschätzung. „Nur hätten wir uns dann wahrscheinlich schon nach<br />

einem Jahr getrennt“ Laetitia dazu. „Das macht mich wütend. Nirgendwo zeigt<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 14 von 26


sich das Patriarchat so unverfroren deutlich frech wie beim Sex. Du bist eine<br />

kluge gebildete Frau <strong>und</strong> musst beim Sex seine Nutte sein, <strong>und</strong> wenn du das<br />

nicht tust, macht's ihm keinen Spaß mehr, er ist nicht mehr mit dir zufrieden<br />

<strong>und</strong> liebt dich nicht mehr.“ reagierte ich.<br />

Das Gespräch über Sexualität wirkte als Beginn einer noch tieferen gegenseitigen<br />

Öffnung. Plötzlich blieben wir beide stehen, drehten uns zueinander <strong>und</strong><br />

umarmten uns. Zu Beginn hatten wir vertrauensvoll miteinander gesprochen,<br />

waren uns immer näher gekommen, jetzt liebten wir uns. Wir sprachen gar<br />

nicht mehr. Vielleicht konnte weiter Gesprochenes nur unbedeutend sein, vielleicht<br />

waren wir uns so nah, dass es unter uns keiner Worte mehr bedurfte.<br />

Mich ließen meine Emotionen ein warmes, sonniges Empfinden spüren, das ich<br />

nur genießen wollte. Gorgette im Glück, so kam ich mir vor. Bestimmt empfand<br />

Laetitia so ähnlich, denn ihr Gesicht zeigte das gleiche Lächeln, zu <strong>dem</strong> es<br />

mich drängte. An Fre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong> Liebe zu denken, macht immer freudige<br />

Gefühle, aber mit Laetitia überstieg es alles.<br />

Sollten wir auch aussteigen? Uns von der Industriegesellschaft verabschieden?<br />

Unsere Einheit als Mensch wiederfinden <strong>und</strong> leben? Die Liebe lässt dich das Bedürfnis<br />

spüren. Aber was sollten wir schon machen? Malen konnte keiner. Nix<br />

konnten wir, was für uns als Aussteiger brauchbar gewesen wäre. Arme Sklavinnen<br />

der Industriegesellschaft waren wir. Wir schmiedeten Pläne, was wir alles<br />

lernen wollten, wenn wir wieder zu Hause wären. „Willst'e nicht zu uns ziehen,<br />

dann könnten wir immer zusammen sein. Ich würde dir <strong>die</strong> Brötchen<br />

schmieren, … .“ meinte Laetititia, „<strong>und</strong> ich dir <strong>die</strong> Kartoffeln braten.“ ergänzte<br />

ich sie „Laetitia, jetzt drehst du völlig durch. Carina erst ermorden oder sie<br />

durch meinen Auszug umbringen? Wie hattest du's gedacht.“. Aber dass wir<br />

uns weiterhin auch nur treffen würden, wenn Laetitia zum Kaffee zu Carina<br />

kam, das war für <strong>die</strong> Zukunft nicht vorstellbar.<br />

Flucht<br />

Julian reichte mir <strong>die</strong> Karten für <strong>die</strong> Oper. Wir hatten außergewöhnliches Glück<br />

gehabt. Zwei waren gerade bevor wir angerufen hatten, zurück gegeben worden.<br />

Auf zwei andere Opern folgte in Florenz immer ein Puccini Schlager. Tosca,<br />

w<strong>und</strong>ervoll. Nur <strong>die</strong> sie auf meinen Aufnahmen gesungen hatten, waren bestimmt<br />

in Florenz gewesen, aber um sich den Dom anzusehen <strong>und</strong> nicht hier in<br />

der Oper zu singen. Das taten sie in der Scala, der Met, in Wien oder an ähnlichen<br />

Orten. Die Oper der Heimat des Komponisten interessierte sie nicht, respektive<br />

konnte ihre Gagen nicht bezahlen. Unausgesprochen stand es fest,<br />

dass eine Karte für mich sein würde. Mutti meinte, ob ich das unbedingt<br />

bräuchte, oder ob es nicht sinnvoller sei, den beiden <strong>die</strong> Karten zu überlassen.<br />

„Wieso, war denn wieder etwas?“ fragte ich. „Nein, nein, nur alles klar ist es<br />

zwischen den beiden mit Sicherheit nicht.“ behauptete sie. „Ich kann das nicht<br />

mehr ausstehen. Diese Kinder, verderben den ganzen Urlaub. Fangen hier an,<br />

sich zu zanken.“ schimpfte ich. „Von Désirée geht das wohl hauptsächlich aus.<br />

Das ist nicht ihre Welt, in der sie sich wohlfühlt. Sonst hat sie Julian immer be-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 15 von 26


w<strong>und</strong>ert, <strong>und</strong> jetzt ist er für alles verantwortlich. Vorgestern war sie so ein liebes<br />

Mädchen, wie du nie gewesen bist, hat sich gefreut, kam auf Ideen, hat<br />

Vorschläge gemacht. Jetzt mit Julian hat sie immer schon so einen zickigen<br />

Tonfall in der Stimme.“ erläuterte meine Mutter. „Ich bin ein bisschen meschugge.“<br />

erklärte ich beim Abendbrot, „Gehe selbstverständlich davon aus,<br />

dass eine Opernkarte für mich ist, nur weil ich meine, mir ein wenig mehr aus<br />

Opern zu machen. Wir könnten sie auslosen, aber das ist ja dumm. Ich habe<br />

mir gedacht, dass es doch für unser Pärchen am schönsten sein müsste,<br />

gemeinsam in <strong>die</strong> Oper zu gehen.“ „Nein, nein, das will ich auf keinen Fall. Du<br />

kannst ja mit Julian in <strong>die</strong> Oper gehen. Ihr werdet euch sicher gut verstehen.“<br />

fiel mir Désirée fast ins Wort. Julian schaut mich an, zog ein Gesicht, das<br />

sagte: „Weiß ich auch nicht, was das zu bedeuten hat.“. Ich wusste es erst<br />

recht nicht, was Désirée sich dabei dachte. War sie etwa eifersüchtig <strong>und</strong><br />

meinte Julian würde von mir mehr halten als von ihr. Ja, am Abend nach<br />

Montepulciano da hatte ihr sicher unsere Harmonie nicht gepasst. Zu wenig<br />

Distanz zu <strong>die</strong>ser fremden Frau. Am Tag darauf hatte <strong>die</strong>ser irrationale Streit ja<br />

auch begonnen. Ich würde mit Laetitia oder Mutti gehen, sie hatte mich damals<br />

ja auch mit <strong>dem</strong> Opernvirus infiziert.<br />

Am Sonntagmorgen gegen sieben wurde ich durch das Zuschlagen von Autotüren<br />

geweckt. Sonderbar, wollte jemand so früh etwas zum Frühstück holen.<br />

Aber das weggefahrene war nicht unser Auto. Das hörte sich anders an. Ich<br />

konnte mich gar nicht umdrehen <strong>und</strong> weiterschlafen. Da musste sich ein Krimi<br />

abspielen. Unser Auto stand auch noch brav vor der Tür. Aber da musste doch<br />

jemand weggefahren sein. Ich hatte es doch nicht geträumt. Aber wer von uns<br />

sollte denn am Sonntagmorgen so früh wegfahren <strong>und</strong> vor allem wohin. Ich<br />

musste doch in alle Zimmer schauen. Julian kam mir schon entgegen mit ganz<br />

entgeistertem Gesicht. „Désirée ist abgehauen.“ sagte er nur. „Allerhand.“<br />

dachte ich, „das hättest du ihr gar nicht zugetraut, mit solcher Konsequenz etwas<br />

durchziehen.“ Ich wusste nicht, wie ich Julian ansprechen sollte. Er machte<br />

nur ein hilfloses Gesicht. Ich nahm ihn erst mal in den Arm <strong>und</strong> tröstete ihn.<br />

„Warum?“ fragte ich, „Habt ihr euch wieder in <strong>die</strong> Wolle gekriegt?“ „M, m,“<br />

schüttelte er den Kopf, „ich bin ja erst wach geworden, als sie schon fast ging.<br />

Sie wollte nicht mehr reden, sagte nur, dass sei nicht ihr Ort, sie gehöre hier<br />

nicht hin. So hat sie's auch auf einen Zettel geschrieben, der auf <strong>dem</strong> Schreibtisch<br />

lag.“ „Hat sie's denn vorher mal erwähnt, dass sie fahren wollte?“ fragte<br />

ich nach. „Nein, nie. Nur nach <strong>dem</strong> Abend in Montepulciano passte ihr <strong>die</strong> Welt<br />

nicht mehr. Es war absolut nervig mit ihr. Sie warf mir vor, dass ich über Scherze<br />

von dir lachte <strong>und</strong> mehr so abstruses Zeug. Ja, ich glaube, dich konnte sie<br />

nicht leiden. Du verursachtest mit Sicherheit Minderwertigkeitskomplexe bei<br />

ihr, sonst hätte sie nicht so auf deine angebliche Überheblichkeit geschimpft.“<br />

erläuterte Julian. „Ist sie denn jetzt nur von hier abgehauen oder auch von dir<br />

abgehauen?“ fragte ich Julian. „Keine Ahnung, ich werd' es bestimmt noch erfahren.“<br />

antwortete er. Den ganzen Morgen war natürlich nur Désirée <strong>und</strong> Julian<br />

Thema. Jeder wollte alle Details wissen <strong>und</strong> Einschätzungen abgeben.<br />

„Mensch, <strong>die</strong> Désirée ist bestimmt nicht verschw<strong>und</strong>en, damit wir den ganzen<br />

Morgen über sie reden. Dann lass sie doch auch, <strong>und</strong> lass uns von etwas anderem<br />

reden.“ konnte ich es nicht mehr hören.<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 16 von 26


Julians Liebe<br />

Mir machten keine Sightseeing Touren mehr. Fuhren nur noch in Dörfer oder<br />

kleine Städte <strong>und</strong> gingen dort spazieren. Zu zweit, trafen uns zu einem verabredeten<br />

Zeitpunkt im Café. „Tut dir das sehr weh, wenn Désirée nichts mehr<br />

mit dir zu tun haben will?“ fragte ich Julian auf einem staubigen Feldweg.<br />

„Richtig realisiert habe ich das noch gar nicht. Im Moment finde ich es immer<br />

noch gut, dass sie nicht mehr nervt.“ erklärte Julian. „Aber es wird dir doch<br />

etwas fehlen. Sie bedeutete dir doch etwas.“ erk<strong>und</strong>igte ich mich weiter. Julian<br />

sinnierte <strong>und</strong> meinte: „Natürlich, aber das ist vielschichtig <strong>und</strong> das kann ich<br />

nicht in einem Satz zusammenfassen. Sie mochte mich sehr gern, <strong>und</strong> ich<br />

bedeutete ihr sehr viel. Ja, für einen tollen Mann hielt sie mich.“ „Und das hat<br />

dir gut getan?“ fragte ich nach. „Willst du dich dagegen wehren?<br />

Selbstverständlich schmeichelt es dir.“ war Julians Reaktion. „Das wird nicht<br />

leicht sein, so eine wieder zu finden, <strong>und</strong> dann auch noch eine, <strong>die</strong> so hübsch<br />

ist.“ wies ich ihn auf seine Zukunft hin. „Ich geh' mal davon aus, dass sie es<br />

bedauern wird <strong>und</strong> alles reparieren möchte. Ob ich das auch will? Da bin ich<br />

mir gar nicht mal mehr so sicher.“ sah es Julian. „Ja, sie war eine hübsche<br />

Frau, so total feminin. Das hatte mir absolut gefallen.“ „Was ist das denn? Was<br />

verstehst du denn darunter?“ fragte ich lachend. Dann beschrieb Julian <strong>und</strong><br />

erläuterte, <strong>und</strong> es kristallisierte sich heraus, dass er in Désirée eher so etwas<br />

in Richtung einer lebenden Barbiepuppe gesehen hatte. Und das gefiel ihm. Wir<br />

hatten uns am Wegrand ins Grün gesetzt. Ich starrte Julian an. Mein lieber<br />

Bruder, was war er für ein Machokamel. Ich konnte es gar nicht fassen. Das<br />

wollte nicht zu ihm passen, zu meinem Bild von ihm nicht. Aber der Machismo<br />

äußert sich ja nicht in einer rüden Klappe, sondern in den Gedanken. „Désirée<br />

hat schon Recht, dass du an allem Schuld bist. Ich hatte ihr gegenüber ein<br />

schlechtes Gewissen, aber du hast sie nicht für voll genommen. Und wenn sie's<br />

rational nicht gefasst hat, gespürt hat sie's doch. Ich will ja nichts übertreiben,<br />

Julian, aber deine Einstellung ist frauenverachtend, wenn nicht sogar<br />

menschenverachtend. So gehst du mit einer Frau um, von der du sagst, sie sei<br />

deine Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> du liebtest sie.“ warf ich ihm vor. Das hatte ein weites Feld<br />

für eine hitzige Diskussion eröffnet. Im Verlauf liel mir aber auch auf, dass ich<br />

mich selbst im Gr<strong>und</strong>e nicht besser verhielt. Nur eben umgekehrt. Ein<br />

weiblicher Macho, wenn es so etwas geben konnte. Eine Machisma war ich<br />

bestimmt. Gitti hatte es mir ja schon vorgeworfen. Im Café diskutierten wir<br />

immer noch <strong>und</strong> Laetititia <strong>und</strong> Carina beteiligten sich auch. „Ich habe dir ja<br />

gesagt, ich bin kein Mann. Als Frau habe ich es von Anfang an nicht verstehen<br />

können.“ stellte Laetitia ihre Ansicht dar. „Laetitia, das hat mit geschlechtlich<br />

bedingten Unterschieden nichts zu tun. Was er sucht, das haben reale Frauen<br />

gar nicht. Gebilde aus seinem Kopf sind das, <strong>die</strong> er sich zusammen träumt <strong>und</strong><br />

dann auf lebende Frauen überträgt. Zu seinen Spielzeugen macht er sie.<br />

Akzeptieren so wie dich <strong>und</strong> mich kann er sie gar nicht. Er liebt dich, aber <strong>die</strong><br />

Liebe zu Désirée, war wie <strong>die</strong> Liebe zu einem rasanten Auto etwa.“ ergänzte ich<br />

es. „Das ist nicht wahr.“ protestierte Julian, „Ich mag sie schon.“ „Aber sie ist<br />

nicht in deiner <strong>See</strong>le. Sonst hättest du schon h<strong>und</strong>erttausend mal versucht sie<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 17 von 26


anzurufen.“ stellte ich klar.<br />

Mit Carina war ich in der Tosca. Ein goldiges Erlebnis für uns beide. Ob Carina<br />

auch an <strong>die</strong> Zeiten dachte, in denen sie mir als kleines Kind <strong>die</strong> Arien nicht nur<br />

vorgeträllert, sondern auch gestikulierend gespielt hatte. Ich fand es nicht nur<br />

lustig, auch wenn ich immer lachen musste. Mutti singen hören, tat einfach<br />

gut, machte gute Stimmung. Ob sie <strong>die</strong> Texte extra auswendig gelernt hatte,<br />

habe ich sie nie gefragt, aber sie brach nie nach den ersten Sätzen ab. Das 'E<br />

lucevan le stelle' musste ich wohl schon aus meinen Kindergartenzeiten kennen,<br />

<strong>und</strong> jetzt hörten wir es gemeinsam in Florenz. Für meine <strong>See</strong>le war das<br />

viel ergreifender als der Dom. Carina umarmte mich <strong>und</strong> hatte feuchte Augen.<br />

Toskana Family<br />

Wieder zu Hause trafen wir uns jetzt jeden Sonntag zum gemeinsamen Mittagessen.<br />

Das konnte sich auch schon mal bis in den späteren Abend hinziehen.<br />

Die gemeinsame Aufgabe der drei Frauen, lag in der Erziehung des Zöglings<br />

Julian. Der schien es jedoch an der notwendigen Ernsthaftigkeit mangeln<br />

zu lassen, lachte ständig, fühlte sich pudelwohl <strong>und</strong> empfand sich wohl eher<br />

wie der Hahn im Korb. Nach einer neuen Fre<strong>und</strong>in, drängte ihn nichts. Mit uns<br />

hatte er immer Spaß <strong>und</strong> sehr gehaltvoll diskutieren konnte er mit uns auch.<br />

Mit welcher Frau würde man dass schon können? Und bei uns gefiel es ihm sogar<br />

am besten mit einer Gleichaltrigen. Wie schon im Dom von Florenz, wir<br />

konnten uns gegenseitig beschimpfen aber im nächsten Moment schon wieder<br />

gemeinsam lachen. Auf einander böse sein? Das ging nicht. Prinzipiell nicht,<br />

man hatte den anderen nicht verstanden oder kannte <strong>die</strong> Hintergründe <strong>und</strong><br />

Motivation für seine Argumente nicht, Man würde fragen können, aber über<br />

den anderen ein ablehnendes Urteil bilden, das konnte nicht geschehen. Allein<br />

der Gedanke an den kommenden Sonntag konnte in mir schon freudige Emotionen<br />

wecken.<br />

Das Leben mit meiner Mutter erfüllte mich. Die tiefe, nahe, liebende Kommunikationsbasis<br />

war durch kein Glück der Welt aufzuwiegen. Bei Laetitia war es<br />

anders strukturiert aber nicht weniger bedeutsam. Und mit Julian? Ich mochte<br />

ihn sehr gut leiden, <strong>und</strong> wir waren uns auch sicher ungewöhnlich nahe, aber<br />

als Mann blieb er mein Bruder. Inzesttabu, kein potenzieller Geschlechtspartner.<br />

Der erste Blick tastet den anderen ja immer <strong>die</strong>sbezüglich ab. Warum nicht<br />

so bei Julian. Oder hatte mein Unbewusstes ihn als unbrauchbar klassifiziert?<br />

Fehlte ihm etwas, über das <strong>die</strong> mir fast fremden Männer, <strong>die</strong> ich meine Fre<strong>und</strong>e<br />

genannt hatte, verfügten? War es vielleicht <strong>die</strong> Fremdheit selbst, <strong>die</strong> sie mich<br />

einerseits auf Distanz halten ließ, aber zu Beginn auch reizte? Nicht erst in der<br />

Toscana, schon im Flieger fehlte jegliche Fremdheit zwischen Julian <strong>und</strong> mir.<br />

Wir waren Mitglieder der Familie der beiden älteren Damen. So blieb es auch<br />

weiterhin <strong>und</strong> es war angenehm.<br />

Die Überlegungen, wie wir Weihnachten feiern wollten, wurden selbst zum<br />

Fest, da alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen wurden, von überhaupt nicht<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 18 von 26


is überschwänglich kitschig inclusive Kirchbesuch. Wer meinte, es ginge darum,<br />

möglichst schnell einen für alle gangbaren Weg zu finden, verstand überhaupt<br />

nichts. Wie bei so vielen Diskussionen war auch hier der Weg das Ziel.<br />

Wenn einer durch seinen Beitrag angedeutet hatte, das sich daraus vielleicht<br />

auch etwas zur Freude aller entwickeln ließe, waren <strong>die</strong> anderen schnell bereit,<br />

mit einzusteigen. Eine Satire über Weihnachten <strong>und</strong> seine Bräuche war es im<br />

Gr<strong>und</strong>e genommen, trotz<strong>dem</strong> wussten wir hinterher, dass es ein sechs Gänge<br />

Menü geben sollte, bie <strong>dem</strong> je<strong>dem</strong> Gang <strong>die</strong> Lieblingsspeise eines von uns zugeordnet<br />

war. Mein Gang bestand aus Reibekuchen. Kartoffeln fand ich in allen<br />

Variationen bezaubernd. Als w<strong>und</strong>erbarstes Nahrungsmittel der Welt galten sie<br />

für mich. Eine Kartoffelfetischistin war ich.<br />

Liebe <strong>und</strong> Lust<br />

Der Film, den wir im Fernsehen schauten, schien Julian zu langweilen. Meinen<br />

Geschmack traf er auch nicht. Es war Mitte Februar, -19° C, <strong>und</strong> Laetitia <strong>und</strong><br />

Carina waren im Konzert. „Du hast doch schon ewig lange keinen Fre<strong>und</strong> mehr<br />

<strong>und</strong> ich keine Fre<strong>und</strong>in.“ meinte Julian, „Kannst du dir das eigentlich erklären?“<br />

Ich schmunzelte. „Worauf willst du hinaus, Julian?“ fragte ich. „Ich versteh das<br />

alles überhaupt nicht. Ich habe eine Fre<strong>und</strong>in. Eine bessere als dich, mit der<br />

ich mich so gut verstehe, <strong>die</strong> mir so nahe ist, gibt es außer meiner Mutter<br />

nicht, <strong>und</strong> hat es noch nie gegeben. Was soll ich mit einer fremden Frau? Ich<br />

brauche sie nicht, <strong>und</strong> so wie zwischen uns beiden wird es niemals werden<br />

können, aber warum auch? Wir haben eine w<strong>und</strong>ervolle Beziehung, nur darf in<br />

der Beziehung nicht erkannt werden, dass wir unterschiedlichen Geschlechtern<br />

angehören.“ Ich empfand das Bedürfnis, ihn immer weiter reden lassen zu wollen.<br />

Ich hörte Julian gern zu <strong>und</strong> sah ihn gern reden. Und seine Gedanken waren<br />

ja auch interessant. Vor allem wusste man nicht genau, wohin sie führen<br />

würden. Es sei Liebe zwischen uns, das könne niemand abstreiten, nur warum<br />

wir sie von den Attributen der Liebe zwischen Mann <strong>und</strong> Frau meinten freihalten<br />

zu müssen, das verstehe auch niemand. „Meinst du denn, das du sie von<br />

den genannten Attributen freihalten müsstest? Ich nicht. Ich halte da nichts<br />

frei, nur <strong>die</strong> Attribute kommen ja nicht, mein Schatz.“ erklärte ich <strong>und</strong> lachte.<br />

„Das wird auf verschiedenen Plätzen gespielt, Julian. Ich liebe Laetitia, meine<br />

Mutter, meine Fre<strong>und</strong>in, aber Bedarf nach Körperlichkeit ist dabei noch nie entstanden.<br />

Das wird nicht von der tiefen engen Beziehung, also der Liebe produziert.<br />

Deine Attribute sind Produkte deiner Libido, <strong>und</strong> warum <strong>die</strong> wie <strong>und</strong> worauf<br />

reagiert, wird dir in der Regel selber nicht bewusst. Was möchtest du denn<br />

eigentlich gern, wenn du sagst, dass es dir nicht darum geht, dass wir zusammen<br />

ins Bett gehen?“ fragte ich Julian. Der lachte <strong>und</strong> quälte sich dabei. „Das<br />

weiß ich doch auch nicht, Gorgette. Aber es ist doch gut, dass wir mal darüber<br />

gesprochen haben“ fügte er noch ulkend hinzu. „Nein, Gorgette, findest du das<br />

denn nicht sonderbar. Es gibt keinerlei irgendwie geartete Abneigung zwischen<br />

uns beiden, wir sind uns beide auf's tiefste verb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> trotz<strong>dem</strong> kommt<br />

niemand auf <strong>die</strong> Idee, den anderen mal zu umarmen <strong>und</strong> zu küssen.“ „Komm,<br />

dann machen wir das jetzt mal.“ forderte ich Julian auf. Dass wir uns umarmten,<br />

war ja etwas Alltägliches, nur als wir unsere Lippen zum Küssen aufeinan-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 19 von 26


der zubewegten, verunsicherte es mich leicht. „Richtig küssen?“ fragte ich<br />

noch, kurz bevor unsere Lippen zusammen kamen. Was sollte das denn? Julian<br />

<strong>und</strong> ich konnten uns doch küssen. Was verwirrte mich denn daran? Na ja, vielleicht<br />

tut man das nicht, seinen Bruder küssen, seinem Bruder gegenüber Lustgefühle<br />

entwickeln. Verdutzt schauten wir uns an. „Schön, nicht war?“ fragte<br />

ich lachend. „Oder hat's dir nicht gefallen?“ „Schon, schon, ist nur sehr komisch.<br />

Findest du nicht auch.“ meinte Julian. „Ungewohnt, haben wir ja auch<br />

noch nie gemacht.“ war meine Erklärung. „Ja, sollten wir vielleicht öfter machen,<br />

dann gewöhnen wir uns immer mehr daran.“ war Julians Reaktion. „Du<br />

meinst also <strong>die</strong> Lust könnte auch durch Gewöhnung kommen.“ so verstand ich<br />

Julian. Sein Gesicht sagte nicht, dass er das selber glaubte. „Es ist schon eine<br />

Krux mit uns. Früher hatten wir Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>in, mit denen wir ins Bett<br />

gegangen sind, <strong>die</strong> wir aber nicht lieben konnten. Jetzt lieben wir uns, können<br />

aber keine Lust aufeinander entwickeln.“ beklagte ich den Zustand unserer<br />

Beziehung. „Ich hätte ja schon Lust,“ meinte Julian, „aber mit dir kann ich mir<br />

das auch nicht vorstellen. Gorgette, es gibt überhaupt nichts, was ich an dir<br />

auszusetzen hätte, <strong>und</strong> es ist doch auch schade, dass wir uns all das<br />

W<strong>und</strong>erbare vorenthalten. Aber wir wollen es ja beide nicht, <strong>und</strong> das kann ich<br />

nicht begreifen.“ „Weißt du, Julian, so wie früher meine <strong>See</strong>le für meinen<br />

Fre<strong>und</strong> 'no go area' war, so ähnlich halten wir's jetzt mit unserer Körperlichkeit.<br />

Die Zone des körperlichen Empfindens vom jeweils anderen ist tabu. Lust<br />

durch Gewohnheit wird nicht entstehen, aber vielleicht können wir an der<br />

Tabugrenze etwas ändern. Dass ich dich gern mal Streicheln würde, könnte ich<br />

mir schon vorstellen. Wir sollten uns anders betrachten lernen. Ich sehe dir<br />

gern beim Sprechen zu, aber <strong>die</strong> Frage ob ich gern mal über <strong>die</strong>se Wange<br />

streicheln möchte, taucht nicht auf, weil sie verboten ist. Zu <strong>dem</strong> Verbot hat<br />

unser unbewusstes keine Berechtigung <strong>und</strong> wir sollten es missachten lernen.“<br />

war meine Empfehlung. Die Körperlichkeit des anderen intensiver<br />

wahrnehmen, das sollte uns zu neuen Ebenen führen. So sahen wir es.<br />

Die Strahlen der Märzensonne mit ihren vielen Rotanteilen wollten mir bis ins<br />

Herz leuchten, nur <strong>die</strong> Wärme, <strong>die</strong> sie mit sich brachten entsprach nicht ihrem<br />

prachtvollen Schein. Wir gingen mit unseren Kaffeetassen wieder ins Haus,<br />

denn auf der Terrasse konnte man es nicht lange aushalten. „Du sagst, du seist<br />

jetzt endlich richtig verliebt, aber keine Spur von Sehnsucht <strong>und</strong> Verlangen?<br />

Das ist allerdings in der Tat sonderbar.“ meinte Gitti zur Beschreibung meiner<br />

Situation. „Sonderbar ist das gar nicht. Ich liebe auch meine Mutter <strong>und</strong> dich<br />

zum Beispiel, <strong>und</strong> da ist das ja auch nicht so. Zu Julian hat sich auch Verständnis,<br />

Vertrauen <strong>und</strong> Zuneigung entwickelt, genauso, nur als Mann habe ich ihn<br />

nie wahrgenommen. Er war einer von uns, so wie seine Mutter <strong>und</strong> auch meine<br />

Mutter, Mitglied der Toscana Familie.“ erläuterte ich es. „Trotz<strong>dem</strong>,“ widersprach<br />

Gitti, „das kannst du gar nicht ausblenden. In deiner sexuellen Entwicklung<br />

hast du das für deinen Vater <strong>und</strong> deinen Bruder gelernt. Du lebtest mit ihnen<br />

<strong>und</strong> hast es unbewusst internalisiert. Bei einem fremden Mann kann das<br />

aber so nicht funktionieren, den siehst du zwangsläufig immer in seiner Rolle<br />

als Paarungspartner.“ „Vielleicht habe ich ihn ja auch nicht so gesehen, weil er<br />

gar nicht zur Verfügung stand, als wir fuhren. Zumindest war das der Gr<strong>und</strong><br />

für unseren unbeschwerten Kontakt. „Mit Julian wirst du als Mann sowieso<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 20 von 26


nichts zu tun haben.“ hatte mein Unbewusstes beschlossen, <strong>und</strong> jetzt weigert<br />

es sich den Beschluss zu revi<strong>die</strong>ren.“ lautete mein Interpretationsversuch. Gitti<br />

war da anderer Ansicht. „Das spielt doch keine Rolle, wenn du scharf auf einen<br />

Typen bist. Du sagst dir zwar: „Das hat keine Perspektive, ich lass meine Finger<br />

davon.“, aber deine Emotionen sind doch da, völlig unabhängig davon, ob<br />

er liiert ist oder nicht. Die Wahrnehmung, dass er 'ne Fre<strong>und</strong>in hat, ist doch<br />

nur 'ne Information für dein Bewusstsein.“ meinte sie. „Aber dann erklär du<br />

mir doch mal, warum das nicht klappt. Es ist überhaupt nichts an ihm. In der<br />

Uni hätte ich ihn eventuell angequatscht, <strong>und</strong> jetzt können wir keine Lust entwickeln,<br />

weil wir uns zu sehr lieben. Das ist doch pervers. Mit Männern habe<br />

ich einfach ein gr<strong>und</strong>sätzliches Problem. Immer klappt irgendetwas nicht.<br />

Vielleicht sollte ich mich doch Frauen zuwenden. Nur Lust entsteht da ja auch<br />

nicht bei mir. Ich sehe es bestimmt immer dichotomisch, Frauen sind<br />

potentielle Fre<strong>und</strong>innen oder Tussis <strong>und</strong> Männer taugen entweder für's Bett<br />

oder für <strong>die</strong> Liebe.“ Gitti musste über meinen Quatsch lachen, meinte aber,<br />

dass sie das auch nicht verstehe. Sie an meine Stelle würde mal einen<br />

Therapeuten konsultieren, der könne einem wenigstens <strong>die</strong> Hintergründe<br />

aufzeigen. Mutti wusste natürlich schon lange davon, dass Julian <strong>und</strong> ich uns<br />

lieben wollten, aber nicht konnten. Mit Larissa hatte sie sich immer darüber<br />

amüsiert. „Verstehen kann ich das auch nicht, Gitti.“ unterstützte Carina Gitti,<br />

„Sie stellen fest, das sie sich lieben <strong>und</strong> das es schön wäre, wenn sie auch<br />

zusammen ins Bett gehen könnten. Warum tun sie's dann nicht? Keiner<br />

verbietet es ihnen, keiner hat etwas dagegen. Aber das wäre anscheinend zu<br />

simpel. Da muss es doch noch irgendwo etwas in der Psyche geben, was sich<br />

eignet, alles zu komplizieren. Da liegt dein Problem, mein Schatz. Damit<br />

solltest du mal zum Therapeuten gehen.“<br />

Neue Körperlichkeiten<br />

Ich war früher keineswegs zurückhaltend, sondern eher dominant <strong>und</strong> hatte<br />

'ne große Klappe. Aber das war nur meine Verteidigung, mein Panzer. Dahinter<br />

verbarg sich eher eine zarte, empfindsame Fee. Es fiel mir nicht schwer, so extrovertiert<br />

zu wirken. Ich hatte es ja nicht irgendwann beschlossen, sondern<br />

von Anfang an gelernt, dass man sich so besser wehren konnte. Es lag sicher<br />

auch an meiner Mutter <strong>und</strong> der Liebe zur Musik, <strong>die</strong> sie in mir entwickelt hatte,<br />

<strong>die</strong> mich lieber feinfühligere Melo<strong>die</strong>n hören ließen als <strong>die</strong> harten Akkorde, <strong>die</strong><br />

draußen im Alltag gewöhnlich angeschlagen wurden. Den Spruch „Stell dich<br />

nicht so an.“ kannte ich aus meiner Schulzeit zur Genüge. Ich dachte schon<br />

damals, dass ich häufig etwas empfinden müsse, was meine Mitschülerinnen<br />

<strong>und</strong> Mitschüler gar nicht wahrnahmen. Wenn du mit jeman<strong>dem</strong> kommunizierst,<br />

läuft deine Wahrnehmung auf höchsten Touren. Was sagte Julian mir denn?<br />

Welche Assoziationen weckte es denn in mir. Dass es nicht mit meinen Vorstellungen<br />

von Mann abgeglichen wurde, war allerdings kaum denkbar. Aber <strong>die</strong><br />

ganze Situation unserer Family würde sich dadurch verändern, wenn Julian <strong>und</strong><br />

ich zusammen ins Bett gingen. Vielleicht hatte ich davor Angst, weil ich das<br />

nicht wollte. Vielleicht lag hier das Tabu <strong>und</strong> nicht in Julians Körper. Das Verhältnis<br />

unserer Family für Sex mit Julian zu opfern, das war ein zu hoher Preis.<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 21 von 26


So hatte mein Unbewusstes eventuell sein mein Verhalten bestimmendes Diktum<br />

konstruiert.<br />

Unsere „Neue Körperlichkeit“ gefiel mir gut, auch wenn sie noch nicht das<br />

große erotische Verlangen wecken konnte. Es tat einfach gut, öfter umarmt zu<br />

werden oder <strong>die</strong> Wänglein gestreichelt zu bekommen. Wir mussten immer dabei<br />

lächeln <strong>und</strong> Laetitia <strong>und</strong> Carina ebenso, wenn sie es mitbekamen. „Ich weiß<br />

gar nicht, ob ich mir das überhaupt wünsche, dass Julian <strong>und</strong> ich so ein komplettes<br />

Liebespaar wären. Das würde doch alles zerstören.“ ließ ich Sonntag<br />

am Mittagstisch verlauten. Das verstand natürlich keiner der anderen. „Unser<br />

Viererclub würde doch dann nicht mehr existieren. Zwei bildeten eine Spezialgruppe<br />

mit Kommunikationsformen <strong>und</strong> Verhaltensweisen, <strong>die</strong> nur für sie gelten<br />

würden. Jetzt laufen unsere Kommunikationen auf gleichwertiger Basis,<br />

das wäre dann nicht mehr der Fall. Eine Untergruppe kommunizierte auf einer<br />

anderen Ebene.“ erläuterte ich meine Vorstellungen. „Du spinnst.“ reagierte<br />

Carina, „wenn ich jemanden gut leiden möchte, <strong>und</strong> er mein Freude würde,<br />

käme ich doch nicht auf <strong>die</strong> Idee, zu sagen das ginge nicht, weil es unsere<br />

Gruppenstrukturen stören würde.“ Laetitia äußerte mehr Verständnis <strong>und</strong><br />

meinte, dass <strong>die</strong> Bedingungen einer Gruppe, in der man sich aufgehoben fühle<br />

<strong>und</strong> bedingungslos hohe Anerkennung erhalte, schon massive Einflüsse auf <strong>die</strong><br />

Psyche hätten. „Ein evidenter Ausdruck dessen ist ja schon bei Kindern zu erkennen,<br />

wenn man sagt, dass sie von ihren Fre<strong>und</strong>en mehr lernen, als von ihren<br />

Eltern. Da erhalten sie auch Anerkennung als gleichrangige Mitglieder ihrer<br />

Bezugsgruppe. Nur, Gorgette, du solltest lernen, dass du dich durch eine Veränderung<br />

deiner Beziehung zu Julian weder selbst aus deiner Bezugsgruppe<br />

ausschließt, noch ausgeschlossen wirst.“ gab sie mir zu verstehen.<br />

<strong>See</strong>geister<br />

Es war Anfang Juni <strong>und</strong> schon sehr sommerwarm. Die Abende waren lau <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Biergärten füllten sich. Ich saß mit Julian auf der Terrasse eines Restaurants<br />

am <strong>See</strong>. Wir waren gemeinsam essen gegangen. Nichts Ungewöhnliches.<br />

Wir gingen öfter zusammen ins Kino, ins Theater oder unternahmen sonst etwas<br />

gemeinsam. Nur was bei anderen Paaren libidinöse Bedürfnisse entwickeln<br />

lassen kann oder sie verstärkt, war bei uns, <strong>die</strong> darauf warteten, nicht nu befürchten.<br />

Es war ein toskanischer Abend <strong>und</strong> Julian gab etwas aus einem Seminar<br />

zum Besten, worüber wir beide schrecklich lachen mussten. Ich wusste es<br />

durch etwas von mir zu ergänzen <strong>und</strong> bald konnte man den Eindruck haben,<br />

dass es Thema des Abends sei, den anderen zum Lachen zu bringen. Trotz<strong>dem</strong><br />

kamen wir irgendwann wieder auf uns zu sprechen. „Gorgette, ich ertrag es<br />

nicht mehr, <strong>die</strong>ses permanente Reden darüber, obwohl wir wissen, dass sich<br />

dadurch doch nichts ändern wird.“ erklärte Julian. „Wir sollten also deiner Meinung<br />

nach nicht mehr darüber reden, auch wenn es uns bewegt.“ erläuterte<br />

ich seine Äußerung. „Es bringt doch nichts, Gorgette. Wir sollten den M<strong>und</strong> halten,<br />

oder es wenigstens einmal ausprobieren.“ Julian dazu. „Wie? Was ausprobieren?“<br />

fragte ich erstaunt. „Naja, könnte doch sein, dass es uns trotz<strong>dem</strong> gefällt,<br />

<strong>und</strong> alle Probleme <strong>die</strong>ser Welt wären gelöst. Wenn nicht, wissen wir auch<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 22 von 26


escheid, <strong>und</strong> verspüren kein Bedürfnis mehr darüber zu reden. Wenn wir's<br />

aber nicht wenigstens versuchen, sitzen wir mit achtzig noch da <strong>und</strong> wissen<br />

immer noch nicht, ob wir nicht fast sechzig Jahre ein Leben hätten haben können,<br />

dass uns sexuelle Erfüllung geschenkt hätte.“ begründete Julian seine Ansicht.<br />

Ich musste lachen, schloss den M<strong>und</strong> aber gar nicht wieder. Strich mit<br />

meiner Zunge über <strong>die</strong> Schneidezähne des Oberkiefers als wenn ich sie säubern<br />

wollte. Was für ein lustiger Gedanke. Ich sollte einfach mit Julian ins Bett<br />

gehen, obwohl es ja so etwas wie Begehren oder Verlangen, also irgendwelche<br />

Lustgefühle, nicht gab. Das Grinsen darüber würde heute Abend mein Gesicht<br />

bestimmt nicht wieder verlassen. Ich hätte gern bei Tempo 30 verfolgt, wie<br />

meine Gedanken sich dazu durch den Kopf bewegten, Abzweigungen nahmen,<br />

Wege zu Assoziationen suchten, aber sie durchrasten mit überhöhter Geschwindigkeit<br />

das Schnellstraßennetz meines Gehirns. Einfach platt ablehnend<br />

stand ich <strong>dem</strong> gar nicht gegenüber, zumal es ja sicher war, dass Julian mich zu<br />

nichts zu drängen versuchen würde. „Und was würden wir da deiner Ansicht<br />

nach machen?“ fragte ich immer mit <strong>die</strong>sem belustigten, schelmischen Grinsen.<br />

„Das würde ich doch selbstverständlich nur dir überlassen.“ antwortete<br />

Julian, der jetzt auch nicht mehr ernst bleiben konnte. „Bei <strong>dem</strong> was zwischen<br />

uns im Bett geschieht, wir es sich ausschließlich um <strong>die</strong> Erfüllung deiner Wünsche<br />

handeln.“ erklärte er. „Das nehme ich dir nicht ab. Du schummelst. Wenn<br />

es mein Wunsch wäre sofort zu schlafen, weil ich müde bin, dächtest du, dazu<br />

brauchen wir doch nicht zusammen ins Bett zu gehen. Du hast schon Vorstellungen,<br />

was da passieren sollte. Sag es.“ forderte ich ihn auf. „Ich weiß es<br />

doch wirklich nicht, Gorgette. Ich bin völlig offen.“ so Julian. „Das geht nicht,<br />

Julian. Wenn du daran denkst, dass du mit mir ins Bett gehst, zeigt sich dir sofort<br />

ein Bild, <strong>und</strong> das will ich beschrieben haben.“ reagierte ich darauf. Unter<br />

Lachen versuchte Julian etwas zu beschreiben. Ich korrigierte es <strong>und</strong> merkte<br />

an, was er unbedingt noch seinem Bild hinzufügen müsse. Wenn wir es denn<br />

wirklich täten <strong>und</strong> gemeinsam ins Bett gingen, würden wir es wahrscheinlich<br />

gar nicht ernst nehmen.<br />

Hexentanz<br />

„Komm Hexe!“ meinte Julian auf <strong>dem</strong> Weg zu seinem Zimmer. Um welche Art<br />

von verbalem Vorspiel es sich dabei handeln sollte, konnte nicht erörtert werden,<br />

weil wir uns beide vor Lachen kringelten. „Ich kann das nicht, Julian. Das<br />

hat doch keinen Zweck.“ meinte ich. Ob mir irgend etwas riet, in letzter Sek<strong>und</strong>e<br />

noch schnell ein Versuch zu unternehmen, es zu stoppen. Julian sagte<br />

nichts, nur <strong>die</strong> zum Lachen bereiten Gesichtszüge waren aus seinem Gesicht<br />

verschw<strong>und</strong>en. „Mit fremden Männern, <strong>die</strong> du gar nicht liebst, kannst du ins<br />

Bett gehen, nur mit mir kannst du das nicht.“ erklärte Julian, als ich ich ihn<br />

fragend anschaute. „Julian, bitte, sag nicht so etwas. Alles ist in Ordnung.<br />

Selbstverständlich machen wir es so, wie wir es besprochen haben. Es gibt keinen<br />

Gr<strong>und</strong>, dich nicht zu freuen.“ tröstete ich ihn schnell mit Kuss <strong>und</strong> Umarmung.<br />

Ein nüchterner Versuch allein, war es für Julian schon vorher bestimmt<br />

nicht mehr. Wie es sich für mich darstellte? Indifferent, Angst oder Aversionen<br />

hatte ich nicht. Es konnte ja interessant werden <strong>und</strong> ein wenig Spannung ver-<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 23 von 26


spürte ich wohl auch, aber von der brennenden Lust <strong>und</strong> heißen Begierde<br />

musste mir doch wohl einiges fehlen. Mir fiel auf, dass ich Julian noch nie völlig<br />

nackt gesehen hatte. „Ein schöner Mann bist du, Julian.“ empfing ich ihn, als er<br />

ins Bett kam <strong>und</strong> platzte los. Wir scherzten noch ein wenig <strong>und</strong> unterhielten<br />

uns dann normal. Normal war das im Gr<strong>und</strong>e gar nicht. Unsere Sprache war<br />

leiser, hatte einen anderen Tonfall <strong>und</strong> meistens nicht <strong>die</strong> übliche Melo<strong>die</strong>. Sonderbar<br />

war es schon. Das man sich gegenseitig berührte <strong>und</strong> streichelte konnte<br />

man als Beginn des Vorspiels ansehen. Damit hatten unsere Erk<strong>und</strong>ungen des<br />

anderen Körpers nichts zu tun. Wenn meine Hand beim Gespräch Julians<br />

Bauchnabel gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mein Finger darin gepuhlt hatte, musste ich ihm<br />

eine stolz grinsende Schnute zeigen, <strong>die</strong> er wiederum nicht ungeküsst lassen<br />

konnte. Julians Hand <strong>und</strong> Finger auf meiner Haut, empfand ich intensiv <strong>und</strong><br />

auch ungewöhnlich. Diese Hand <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Körper waren nicht <strong>die</strong> eines fremden<br />

Mannes. Unsere Liebe musste sich durch sie vermitteln <strong>und</strong> bestimmte unsere<br />

Wahrnehmung. Im Gr<strong>und</strong>e war es töricht, nicht davon auszugehen, dass<br />

sich zwischen Liebenden, wenn sie zusammen im Bett liegen, auch <strong>die</strong> Lust<br />

entwickelt. Vielleicht hatten wir Angst es zuzulassen <strong>und</strong> unterhielten uns immer<br />

weiter, sodass es schon tief in der Nacht war, bis es dazu kam. „Sollen wir<br />

nicht doch lieber bis zum nächsten mal warten oder möchtest du unbedingt<br />

heute schon?“ meinte Julian noch erwägen zu müssen, als ich mich äußerst erregt<br />

fühlte. „Julian!“ sprach ich ernst, als ob ich mit ihm schimpfen wollte.<br />

„Halt <strong>die</strong> Klappe <strong>und</strong> mach weiter.“ Als wir am Morgen wach wurden, hätte es<br />

so viel zu besprechen gegeben, aber danach war uns jetzt nicht. Nur schmusen<br />

<strong>und</strong> liebkosen.<br />

Laetitias Augen wollten gar nicht wieder auf Normalgröße schalten, <strong>und</strong> ihr<br />

M<strong>und</strong> blieb offen stehen, als sie mich entgeistert anstarrte. „Was war los? Wie<br />

ist das passiert?“ fragte sie erstaunt. Ich zuckte <strong>die</strong> Schultern. „An den lauen<br />

Sommerabenden flüstern einem <strong>die</strong> <strong>See</strong>geister <strong>die</strong> kuriosesten Einfälle zu, <strong>und</strong><br />

denen kannst du dich dann gar nicht entziehen.“ meinte ich dazu. Als ich es ihr<br />

dann genau erläuterte, meinte sie: „Also, gelungener Versuch.“ „Und wohl<br />

auch ein bisschen mehr, meine Liebe. Bei deinem Sohn kannst du gar nichts<br />

falsch gemacht haben, da stimmt alles.“ ergänzte ich.<br />

Carina wollten wir es beide sagen. Nach <strong>dem</strong> Frühstück fuhren wir zu uns. Carina<br />

hatte Besuch von einer Bekannten. Das störte uns überhaupt nicht. „Mutti,<br />

wir waren zusammen im Bett.“ platzte ich einfach in ihre Unterhaltung. Carina<br />

bog sich <strong>und</strong> wir lachten auch. Die fremde Frau lächelte ebenfalls, obwohl sie<br />

ja nichts verstand. Als Carina ausgelacht hatte stand sie auf, drückte jeden von<br />

uns <strong>und</strong> bedeckte ihn mit mehreren Küssen. Ihre Augen hatten dabei wohl gerade<br />

eine Madonnenerscheinung. Sie blickte uns beide tief an <strong>und</strong> fragte: „Wie<br />

kam's?“ „Wir haben's einfach mal versucht.“ antworterte ich betont lapidar. Carina<br />

lachte wieder, <strong>und</strong> ich meinte, wir würden später darüber sprechen. Dann<br />

erklärte sie ihrer Besucherin in groben Zügen, worum es ging. Das komme gar<br />

nicht so selten vor, meinte <strong>die</strong>. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Menschen den<br />

Wert ihrer Beziehung in so hohen Gefilden ansiedelten, ihr ethisch ein so hohes<br />

Gewicht verliehen, dass sie fü so banale, erdverb<strong>und</strong>ene Angelegenheiten wie<br />

erotisches Lustempfinden völlig unerreichbar sei.<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 24 von 26


Dann konnten wir uns ja absolut glücklich schätzen, verfügten über eine in<br />

ethisch wertvollen, hohen Gefilden angesiedelte Beziehung <strong>und</strong> hatten durch<br />

Trial and Error festgestellt, dass uns auch das Erdverb<strong>und</strong>ene lag <strong>und</strong> große<br />

Freude bereiten konnte. Ob ich jetzt <strong>die</strong> Hoffnung auf das immer währende<br />

Glück träumen durfte? Gewollt hät' ich's schon gerne mögen, nur getraut hab'<br />

ich mich dann vorsichtshalber doch nicht.<br />

FIN<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 25 von 26


"L'amour est plus sensé lorsqu'il est nu."<br />

„Haben wir jetzt erlebt, wie ihr euch getrennt habt?“ wollte Janine wissen.<br />

„Kann ich nicht sagen. Vielleicht kommt er ja noch mal wieder.“ ich dazu.<br />

Janine machte einen fragwürdig skeptischen M<strong>und</strong>. Das war nicht ihr Stil, mit<br />

anderen Menschen umzugehen. Meiner ja auch nicht. „Was willst du denn<br />

machen, Janine? Wochenlang diskutieren, ob ihr euch nicht mehr versteht? Ich<br />

will einfach nicht mehr. Hab' keine Lust auf den Typen mehr. Soll ich ihm sagen<br />

„Verschwinde, ich hab' dich satt.“? Ist das fre<strong>und</strong>licher? Jetzt ist er sauer auf<br />

mich. Soll er's, <strong>und</strong> ihm tut's nicht weh.“ erklärte ich. Bei Mutter, Gitti oder<br />

auch Janine war ich frei, hatte ich Lust, uneigennützig <strong>und</strong> absichtslos zu<br />

geben. Bei Thomas <strong>und</strong> den früheren Fre<strong>und</strong>en? So war es da nie. Sie blieben<br />

immer in meinen kalkulatorischen Abläufen gefangen. Die<br />

Kommunikationsebenen, auf denen sich Liebe bildet, waren für fremde Männer<br />

bei mir nicht zugänglich. Erklären konnte ich es nicht, aber mit Julian hatte<br />

sich alles absolut anders entwickelt. „Ist <strong>die</strong> Sehnsucht nach Liebe, <strong>die</strong><br />

Sehnsucht danach, <strong>die</strong> Einzigartigkeit unser Existenz vom anderen anerkannt<br />

<strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ert zu bekommen nicht gegenseitig erfüllt? Macht es uns nicht<br />

beide glücklich, <strong>dem</strong> anderen seine Liebe völlig uneigennützig <strong>und</strong> absichtslos<br />

zu schenken? Was wollen wir mehr? Wenn wir zwei Frauen oder zwei Männer<br />

wären, könnten wir uns Größeres nicht vorstellen. Du bist aber ein Mann <strong>und</strong><br />

ich eine Frau, da reicht es nicht, da müssen wir auch zusammen ins Bett.“<br />

erklärte ich leicht aufgebracht, aber unzufrieden war ich mit unserer Situation<br />

schon auch. Mit Männern, <strong>die</strong> ich nicht liebte, hatte ich gern Sex gehabt, aber<br />

mit Julian ging das nicht, so etwas passte nicht zu uns. „O. k., wir lieben uns,<br />

<strong>und</strong> zur Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse suchen wir uns jeder einen<br />

anderen Partner.“ schlug Julian vor, ernst konnte er dabei aber auch nicht sein.<br />

Ich schaute ihn nur mit großen vorwurfsvollen Augen <strong>und</strong> einem mokanten<br />

Grinsen an. „Du kannst es nicht ertragen, nicht wahr? Fängst an völlig<br />

durchzudrehen, oder?“ kommentierte ich seinen Beitrag. Wir würden bestimmt<br />

selbst allein keine Lösung finden, da mussten wir uns schon den <strong>Geister</strong>n, <strong>die</strong><br />

in der frühen Dämmerung über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> schwebten, anvertrauen.<br />

<strong>Gorgi</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Geister</strong> über <strong>dem</strong> <strong>See</strong> – Seite 26 von 26

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