21.12.2013 Aufrufe

Mimikry

Mimikry

Mimikry

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Mimikry</strong><br />

EINE SEMIOTISCHE BETRACHTUNG 1990<br />

(MIT AUGENZWINKERN)<br />

Harald Kroiss<br />

Dipl. Designer FH<br />

harry_kroiss@yahoo.de<br />

www.harald-kroiss.de


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

<strong>Mimikry</strong><br />

Foliencollage<br />

110 x 110 cm<br />

Harald Kroiss S 2


<strong>Mimikry</strong><br />

Eine semiotische Betrachtung<br />

mit Augenzwinkern<br />

von Harald Kroiss<br />

Idee, Konzept, Manuskript: 1990<br />

Redigiert: 2009<br />

Inhalt<br />

Vorwort<br />

1. Phalluskultur<br />

2. Die Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />

3. Wespen machen dick<br />

4. Punkte oder Augen<br />

5. Tarnung durch Abschreckung<br />

6. Schmetterlinge im Bauch<br />

7. Hieroglyphen<br />

8. Geschichten über die Liebe<br />

9. Individuelle Dekodierung<br />

10. Alles voller Zeichen<br />

11. Herkunft der Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />

11.1. Jugendbewegung und Toilettenspontis<br />

11.2. Etablierte Zeichen<br />

11.3. Verkehrszeichen und mathematische Zeichen<br />

11.4. Farbzeichen<br />

11.5. Neue Zeichen<br />

12. Wie wir Zeichen verstehen oder Dekodierungsmechanismen<br />

13. Zeichenkombinationen<br />

14. Zeichenkombinationen in <strong>Mimikry</strong><br />

15. Die Geschichten in <strong>Mimikry</strong><br />

15.1. Geschichte I, Die Macho-Story<br />

15.2. Geschichte II, Die Aids-Story<br />

15.3. Geschichte III, Die Familien-Story<br />

16. Einteilung der Zeichen nach ihrem Dekodierungsmechanismus<br />

17. Punkt-Strich-Gesichter-Matrix<br />

Harald Kroiss S 3


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

Vorwort<br />

Am Anfang waren ein Stock und eine Fläche. Damit gebar einer den<br />

Punkt und vielleicht bewegte er ihn gleich darauf umher. Er nannte den<br />

bewegten Punkt einfach Linie. Die ganze Welt war davon begeistert<br />

und alle fingen sofort an, wie wild Linien zu erfinden, die ihnen irgendwie<br />

zu helfen schienen. Einige verbrachten viel Zeit damit, einfache<br />

aber sehr wichtige Linien zu erfinden, die dann alle nachmachen lernen<br />

mussten. Bald konnten viele aus nur wenigen Linien etwas lesen, was<br />

ihnen niemand gesagt hat. Sie selbst konnten auch schreiben, ohne<br />

selbst reden zu müssen. Andere versuchten die Linien so zu beugen<br />

und zu knicken, dass der Eindruck eines echten Gegenstandes entstand.<br />

Wollte man den aber begreifen, zeigte er sich als ganz flach.<br />

Zu unzähligen anderen Sachen machten sich die Menschen die Linie<br />

zunutze und nur selten vergaßen sie ihr eine Bedeutung zu geben, die<br />

ein anderer wiedererkennen konnte, der gerade nicht da war oder viel<br />

später erst geboren werden sollte. Dieses Urding kann alle Formen<br />

annehmen und bezeichnen. Deshalb will auch ich mich mit der Linie<br />

und ihren möglichen Bedeutungen beschäftigen.<br />

1. Phalluskultur<br />

Im Mittelpunkt von <strong>Mimikry</strong> steht ein Liniengebilde, das auf der ganzen<br />

Welt seit jeher ohne Missverständnisse als Phallus interpretiert wird.<br />

Häufig findet es sich auf öffentlichen Toiletten, in denen Teenager und<br />

andere Bedürftige ihrer Bedrängnis auf mannigfaltige Weise Ausdruck<br />

verleihen. In unseren Breitengraden hat es einen pubertären oder/und<br />

vulgären Beigeschmack, während es zum Beispiel in Indien Tempelwände<br />

ziert und als höchst religiöses Symbol behandelt wird. In steinzeitlichen<br />

Höhlenmalereien drückt es Fruchtbarkeit und Männlichkeit<br />

aus. Quer durch die Geschichte stößt man immer wieder auf das<br />

Phallussymbol. Bestimmte zeitgenössische Gruppen interpretieren<br />

jede Banane und jeden Kirchturm als solches, aber das führt nicht nur<br />

jetzt in die falsche Richtung. Von dieser einfachen Strichkombination<br />

scheint eine Faszination auszugehen, die Zeit und Länder umspannt.<br />

Gemeinsam ist überall die einfache Verständlichkeit und die grundsätzliche<br />

Bedeutung von Fortpflanzung. Unterschieden kann der moralische,<br />

gesellschaftliche oder religiöse Kontext werden. Letzteres überlassen<br />

wir gerne dem dahin geneigten Leser. Wir wenden uns diesem<br />

Zeichen in naiver Begeisterung zu, fasziniert von der charismatischen<br />

Einfachheit und der schönsten Bedeutung, die es trägt, nämlich der<br />

körperlichen Liebe.<br />

Harald Kroiss S 4


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

2. Die Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />

In <strong>Mimikry</strong> zieren weitere Zeichen das Phallussymbol. Sie sind bestimmt<br />

ebenso bekannt, unterliegen aber einer völlig anderen Herkunft.<br />

Es sind farbige Streifen und mittig ineinander liegende Kreise zu<br />

sehen, runde Streifen, wenn man so will. In der Kultur des Straßenverkehrs<br />

lernen wir schnell die Bedeutung von Streifen, insbesondere<br />

die der rot/weißen. Oder sollte ich besser sagen: Wir erfassen intuitiv,<br />

dass rot/weiße Streifen in einer Kurve oder vor einem Bahnübergang<br />

„Achtung“ bedeuten. Unsere Sinne sind geschärft, die Handlungsfreiheit<br />

dahingehend eingeschränkt, als die falsche Reaktion empfindliche<br />

Folgen nach sich ziehen könnte.<br />

3. Wespen machen dick<br />

Die gelb/schwarzen der Streifen im Phallus erinnern allerdings eher<br />

an das Hinterteil einer Wespe. Für Menschen sind Wespen zwar nicht<br />

ganz so tödlich wie ein übersehener Intercity, aber doch recht<br />

schmerzlich. Die Kreise in den Hoden schauen uns regelrecht an.<br />

Erkennen wir Augen, oder verleitet uns der Umriss dazu, Schmetterlingsflügel<br />

zu sehen. Es handelt sich also um Zeichensysteme, die in<br />

der Tierwelt zum Überleben dienen. Wir haben diese Zeichen in unserer<br />

Kultur teilweise als lernbare Symbole adaptiert, andererseits erfassen<br />

wir die warnenden Streifen einer Wespe intuitiv, bis zu phobisch. Ihren<br />

Fressfeinden erklärt die Wespe durch ihre Färbung: Ich steche echt<br />

giftig, ist es dir das wert?<br />

4. Punkte oder Augen<br />

Zwei leuchtende Punkte in der<br />

Nacht können nur Augen sein<br />

Bei Tag reichen die Andeutung<br />

einer Pupille und eir Iris<br />

Waren Sie schon mal nachts im Wald, und das Licht Ihrer Taschenlampe<br />

wurde von zwei Lichtpunkten reflektiert? Es waren nur Punkte,<br />

aber im gleichen Moment war klar: Augen – ein unidentifizierbares<br />

Tier – sofort fliehen. Wenn dieses einfache Zeichen tatsächlich noch<br />

bei kultivierten Menschen funktioniert, um wieviel besser gehen dann<br />

Tiere damit um. Sicherlich können sie Tigeraugen von Schafsaugen<br />

unterscheiden. Was aber, wenn ein bisher unsichtbarer Schmetterling<br />

bei Bedrohung die Flügel aufklappt und ein Paar Augen sichtbar werden,<br />

bevor er das Weite sucht. Der erschrockene und verblüffte Jäger geht<br />

erst mal leer aus. Unser trickreicher geflügelter Freund schmückt sich<br />

also mit fremden Federn, genauer gesagt einem fremden Abschreckungsmechanismus.<br />

Er ahmt ein spontan auftauchendes großes Tier<br />

durch die Simulation dessen Augen nach.<br />

In der Dunkelheit reichen zwei Lichtpunkte in gleichem Abstand aus,<br />

um die Assoziation „Augen“ zu erzeugen. Am Tag erkennen wir das<br />

Auge an einem dunklen Mittelpunkt und einem helleren Kreis (oder<br />

Streifen) drumherum.<br />

Harald Kroiss S 5


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

5. Tarnung durch Abschreckung<br />

Ahmen schwache, unbewaffnete Tiere durch Färbung große, gefährliche<br />

oder giftige Tiere nach, um nicht gefressen zu werden, so nennt<br />

man das <strong>Mimikry</strong>, ein Phänomen, das für das vorliegende Werk<br />

namensgebend war. Es gibt beispielsweise mehrere Arten von völlig<br />

ungefährlichen Schwebefliegen, die durch Muster und Färbung eine<br />

Wespe nachahmen, womit wir wieder bei dem schwarz/gelb gestreiften<br />

Phallus gelandet wären. Ob er zu den Echten oder den Blöffern<br />

gehört, bleibt uns selbst überlassen.<br />

Wer ist hier wirklich gefährlich?<br />

Der Feldwespe glaube ich ihre<br />

Abschreckung auf Wort (oder auf die<br />

Streifen).<br />

Die Schwebefliege ahmt die Wespe<br />

sehr gut nach, ist aber ungefährlich.<br />

Die Wespenspinne ist äussest wohlschmeckend<br />

für einige Vögel, nimmt<br />

es aber mit den größten einheimischen<br />

fliegenden Raubinsekten auf,<br />

den Mosaikjungfern.<br />

Auch der Bock-Käfer scheint von der<br />

Tarnung zu profitieren.<br />

<strong>Mimikry</strong> ist ein ausgeprägtes Zeichensystem, das Tiere und Menschen<br />

gleichermaßen zur Kommunikation nutzen. Während es Tieren hauptsächlich<br />

darauf ankommt nicht gefressen zu werden, bremsen wir beispielsweise<br />

vor einer gestreift ausgeschilderten Kurve ab und entschärfen<br />

sie damit. Trotzdem passieren immer wieder Unfälle, und<br />

auch so manches Tier hat sich schon an einer Wespe schmerzlich verschluckt.<br />

Nüchtern betrachtet verlangt ein Gefahrenzeichen Entscheidungsprozesse:<br />

Wird es als solches erkannt und beachtet oder erkannt<br />

und nicht beachtet oder nicht erkannt und damit nicht beachtet.<br />

Jedes Wesen, auch das einfachste, steht mehr oder weniger bewusst<br />

vor diesen drei Möglichkeiten.<br />

Harald Kroiss S 6


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

6. Schmetterlinge im Bauch<br />

Betrachten wir nun die Hoden im Bild unter diesen Gesichtspunkten.<br />

Entscheiden wir uns lieber für die Schmetterlingsflügel<br />

als Assoziation und nicht für die Raubtieraugen<br />

in freier Wildbahn. Schmetterlinge lösen bei uns sicher<br />

keine negativen Gefühle aus, und wir sind auch nicht unbedingt<br />

auf sie als Nahrung angewiesen. Schmetterlinge erinnern<br />

uns eher angenehm an Anmut, Zerbrechlichkeit,<br />

Schutzbedürftigkeit, Schönheit, Flüchtigkeit, Zartheit und<br />

vieles mehr. Die „Schmetterlinge im Bauch“ sind sprichwörtlich<br />

für das Gefühl verliebt zu sein geworden. Erstaunlich,<br />

mit wie vielen Bedeutungen ein einziges Zeichen belegt<br />

sein kann, und welche Möglichkeiten der Vernetzung sich<br />

jetzt schon bieten.<br />

7. Hieroglyphen<br />

Ein Blick in alte ägyptische Grabkammern zeigt schnell, wer<br />

Meister war im Entwerfen komplexer Zeichensysteme, die<br />

hauptsächlich auf direkter Abstraktion und Abbildung realer<br />

Gegenstände basieren. Wären wir im alten Ägypten aufgewachsen<br />

und hätten diese Kultur, die Sitten und die<br />

Götterwelt live miterlebt, würden sich uns die Hieroglyphen<br />

größtenteils ohne Lernprozess erschließen. Unsere Schrift<br />

dagegen ist rein abstrakt und muss erlernt werden. Buchstaben<br />

sind Lauten zugeordnet, die in einer bestimmten<br />

Reihenfolge Wörter bilden, denen ist dann eine reale<br />

Bedeutung zugeordnet, und in dritter Instanz reihen sich<br />

Wörter zu Sätzen und erschließen einen größeren Zusammenhang.<br />

Ich bin in dieser Kultur aufgewachsen und habe<br />

mit Schildern, die gleichzeitig verschiedene Zeitparkzonen<br />

bezeichnen sollen, immer noch meine Schwierigkeiten.<br />

Wenden wir uns lieber wieder den Hieroglyphen zu.<br />

8. Geschichten über die Liebe<br />

In <strong>Mimikry</strong> sind rund um das Phallussymbol drei kurze<br />

Geschichten angeordnet. In jeder dreht es sich um die vielbesungene<br />

Problematik, mit der sich Mann und Frau<br />

immer wieder befasst sehen. Dafür verwende ich<br />

Harald Kroiss S 7


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

„Umgangshieroglyphen“ und erzeuge einen Zusammenhang, der in<br />

unserer Kultur leicht verstanden werden kann. Jedes Kästchen stellt<br />

ein Argument in einem Gespräch zwischen Mann und Frau dar, wobei<br />

die blau umrahmten vom Mann gesprochen werden, und im roten<br />

Rahmen spricht die Frau. Jede der drei Geschichten enthält eine<br />

Instanz des zentralen Phallussymbols. Die oben beschriebenen Bedeutungen<br />

dieser Zeichenkombinationen erschließen sich in jeder Geschichte<br />

neu aus dem Sinnzusammenhang. Der unglaubliche Interpretationsspielraum<br />

dieser Zeichenkombinationen erklärt die Namensgebung<br />

von <strong>Mimikry</strong>.<br />

Meine „Umgangshieroglyphen“ erlauben mir die Charaktere so abstrakt<br />

zu halten, dass jeder sich oder einen anderen darin wiederfinden<br />

und darüber schmunzeln kann. Der geneigte Leser findet ein<br />

Erlebnismuster, das sich mit seinen eigenen Erfahrungen auschmückt.<br />

Jeder hat eine eigene Geschichte und eigene Akteure. Eine einfache<br />

Kombination von Zeichen liefert so viele Geschichten wie Leser. An<br />

dieser Stelle möchte ich empfehlen, jetzt die Geschichten zu „lesen“,<br />

denn im Folgenden wird so viel darüber erklärt, dass sich die<br />

Dekodierung objektiviert.<br />

9. Individuelle Dekodierung<br />

Haben Sie alle drei Geschichten dekodieren können, oder sind Sie über<br />

einzelne Zeichen gestolpert? Es könnte daran liegen, dass sich eben<br />

dieses Zeichen nicht in Ihrem „Umgangszeichenschatz“ befindet. Zwei<br />

ineinander geschlungene Kreise stehen nicht in jeder Kultur für Hochzeit.<br />

und wenn ich einen weiblichen Fuß durch angedeutete Pumps<br />

abstrahiere, ist auch kein einzig wahres Ergebnis zu erwarten. Hat<br />

jemand gerade schlechte Erfahrungen mit der Liebe gemacht, steht<br />

ihm (oder ihr) die Wespe, die allenfalls einen dicken Bauch macht,<br />

sicher näher als Schmetterlingsgefühle. Individuelle Erfahrungen, kulturelle<br />

Herkunft, Milieuzugehörigkeit, Abstraktionsgewohnheiten und viele<br />

andere Faktoren beeinflussen also das Verständnis und den Umgang<br />

mit Zeichen.<br />

10. Alles voller Zeichen<br />

Die Zeichen in <strong>Mimikry</strong> sind aus Natur und Kultur bekannt, und es soll<br />

Spaß machen, die Geschichte dahinter zu entschlüsseln. Was passiert,<br />

wenn die Zeichen abstrakter eingesetzt werden, wenn die Herkunft<br />

Harald Kroiss S 8


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

weiter reicht als Kulturräume und Gefahrstreifen? Rot spannt den<br />

Bogen von Liebe bis Schmerz. Die tatsächliche Bedeutung erschließt<br />

sich auch hier aus der Kombination mit anderen Zeichen. Formen wie<br />

Herz oder Tropfen ordnen die Farbe eindeutig zu. Spitze Formen wirken<br />

aggressiv, runde eher weiblich. Ein Dreieck wirkt extrovertiert und<br />

tritt viel freudiger in Beziehung zu anderen Formen als der nach innen<br />

strebende Kreis. Kunst kann so in einzelne Zeichen zerlegt werden.<br />

Dadurch erschließen sich ungeahnte Bedeutungen, geradezu ein<br />

Schlüssel, um moderne oder zeitgenössische Kunst zu erfahren. Systeme<br />

werden in Einzelzeichen zerlegt, die Bedeutung und Herkunft<br />

zugeordnet, und dann wieder als Ganzes erfasst. Natürlich ist dies nur<br />

eine von vielen Herangehensweisen.<br />

11. Herkunft der Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />

Bestimmte Zeichen finden sich an bestimmten Orten oder werden von<br />

bestimmten Personengruppen benutzt. Sie können einzeln kodiert sein<br />

und sich durch eine Milieuzugehörigkeit erschließen, oder als Zeichensystem<br />

der Kommunikation dienen. Jede Mischform ist dabei denkbar.<br />

Daher ist die folgende Klassifizierung als Versuch zu verstehen, und<br />

ich beschränke mich weitgehend auf Zeichen, die in <strong>Mimikry</strong> verwendet<br />

werden.<br />

Harald Kroiss S 9


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

11.1. Jugendbewegung und Toilettenspontis<br />

Phallus,<br />

nackte Frau,<br />

feminin,<br />

Frauenbewegung,<br />

Diese Zeichen finden sich häufig an Stellen, an denen Heranwachsende<br />

ihren aufkommenden Trieben in Bildern und Sprüchen meist<br />

anonym Ausdruck verleihen. Wer es gerne persönlicher hat, schreibt<br />

seine Telefonnummer oder die des liebsten Feindes dazu. Es fällt auf,<br />

dass einige dieser Zeichen wissenschaftlichen Ursprungs sind wie das<br />

Zeichen für „maskulin und feminin“. Erstaunlich ist auch, dass sich hier<br />

wie selbstverständlich Zeichenkombinationen finden, deren Eigenbedeutungen<br />

sich etabliert haben, wie etwa die Zeichen für Frauenbewegung<br />

und Bisexualität.<br />

maskulin,<br />

Bisexualität<br />

11.2. Etablierte Zeichen<br />

Totenkopf,<br />

Herz mit Pfeil,<br />

Doppelherz,<br />

Telefon,<br />

Eheringe<br />

Dies sind nur wenige Beispiele für Symbole, die unser tägliches Leben<br />

begleiten. Sie dienen als Warnung, als Geste oder als Erfassungsbeschleuniger.<br />

Ein Telefon-Symbol findet sich sehr viel schneller als<br />

das ausgeschriebene Wort und ist zudem sprachübergreifend. Obwohl<br />

es das Telefon mit Hörer und Wählscheibe heute nur noch im Museum<br />

gibt, war es offenbar so einprägsam, dass es sofort auf seinen jetzigen<br />

Referenten verweist. Der Totenkopf bezeichnet ein Piratenschiff<br />

oder erklärt den Inhalt einer Flasche zu Gift. Die Symbolkraft des Schädels<br />

könnte vermutlich bis zu den Anfängen der Menschheit zurückverfolgt<br />

werden. Hochzeitskarten und Liebesbriefe werden gern mit Ringen<br />

und Herzen verziert. In der Symbolik von Amors Pfeil liegt mehr<br />

Ausdruck als in den entsprechenden Worten, sofern sie der Schreiber<br />

überhaupt findet. Einem kleinen griechischen Gott verdanken wir also<br />

dieses eigentlich grausame Symbol, das weit über Amor hinaus alle<br />

Phantasien Verliebter bedient. Ein Symbol dieser Kategorie sagt mehr<br />

als tausend Worte und ist gleichzeitig emotional und schnell erfassbar.<br />

Harald Kroiss S 10


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

11.3. Verkehrszeichen und<br />

mathematische Zeichen<br />

Vorfahrt,<br />

Vorfahrt<br />

achten<br />

Durchfahrt<br />

verboten<br />

Parkverbot,<br />

Plus,<br />

Minus,<br />

Ist-gleich,<br />

Ist-nicht-gleich,<br />

Multiplikationszeichen<br />

In beiden Fällen handelt es sich um geschlossene Zeichensysteme, die<br />

von Personengruppen erfunden wurden, um eine spezielle Art der<br />

Kommunikation untereinander zu ermöglichen oder zu vereinfachen.<br />

Außenstehende erfassen diese Zeichen nicht oder nur teilweise. Erst<br />

ein Lernprozess erschließt die gesamte Welt dieser Systeme. Sie sind<br />

exakt auf den Nutzungsanspruch abgestimmt, was bedeutet, ein<br />

Zeichen hat nur eine Bedeutung, es bezieht sich nur auf einen<br />

Referenten. Es ist damit unmissverständlich. Da diese Zeichen größtenteils<br />

erlernt werden müssen, können sie sehr reduziert gestaltet<br />

sein, obwohl sie teilweise komplexe Sachverhalte transportieren. Ein<br />

weißes Dreieck mit rotem Rand, Spitze nach unten, kann nicht wie die<br />

„Streifen in der Kurve“ emotional erfasst werden. Es sagt dem Fahrer:<br />

„Pass auf, denn ein anderer Verkehrsteilnehmer, der hier von rechts<br />

oder links kommen könnte, hat das Recht vor dir zu fahren.“ Die Formulierung<br />

„vor dir zu fahren“ kann durch das Wort „Vorfahrt“ ersetzt<br />

werden. Dafür existiert eigens ein Zeichen, das dem von rechts oder<br />

links kommende Fahrer sagt, er kann zügig diese Kreuzung passieren,<br />

die anderen müssen warten. An diesem Beispiel wird die Abhängigkeit<br />

komplexer Einzelzeichen innerhalb einer Systematik deutlich. Versuchen<br />

Sie einmal die Rechnung: 1 + 2 = 3 ohne die mathematischen<br />

Zeichen, also mit „plus“, „addieren“, oder „zusammenzählen“ auszudrücken,<br />

und stellen Sie sich dann eine kompliziertere Rechnung über<br />

mehrere Zeilen vor. Eine mathematische Vorgehensweise ist damit<br />

nicht mehr möglich. Nicht nur Straßenverkehr und Mathematik hängen<br />

von derartig abstrakten Zeichensystemen ab. Schon vor den ersten<br />

Schuljahren werden wir mit solchen kulturellen Errungenschaften<br />

regelrecht überschüttet. Die Sprache in Worten gesprochen, als<br />

Schrift mit dazugehöriger Grammatik festgehalten und transportabel<br />

gemacht, reiht sich ebenfalls in diese Zeichensparte.<br />

11.4. Farbzeichen<br />

Werden Farben an sich als Zeichen betrachtet, wird schnell klar, dass<br />

ein Farbzeichen nie allgemeingültig auf einen Referenten verweist. Gelb<br />

steht für die wärmende Sonne, ein anderer sieht darin Gefahr, Hass<br />

oder Eifersucht. Die wichtigsten Kriterien für die Bedeutung eines<br />

Farbzeichens sind Form, Umgebung, und Sinnzusammenhang. Betrachten<br />

wir einmal Kurvenstreifen und Wespe mit verschiedenen Augen.<br />

Die Wahrnehmung von Tieren unterscheidet sich grundlegend von der<br />

menschlichen. Auch unter den Tieraugen gibt es verschiedene „Modelle“.<br />

Einige sehen nur schwarz/weiß, Facettenaugen nehmen tausende<br />

Einzelbilder wahr und bilden damit Umrisse ab, die allerdings weit<br />

über 10-mal schneller verarbeitet werden als beim Menschen. Das<br />

Harald Kroiss S 11


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

macht es so schwierig eine Fliege zu erwischen. Sogar beim Menschen<br />

differiert die Farbsichtigkeit erheblich. Damit liegt nahe, dass für<br />

die Gefahrerkennung der Hell/dunkel-Kontrast in Verbindung mit der<br />

Form, also den Streifen, die entscheidendere Rolle spielt. Wahrnehmung<br />

und Individualität erhöhen die Komplexität von Farbzeichen zu<br />

sätzlich. Betrachten wir die Sache mal aus einfacher kultureller Sicht.<br />

Blau,<br />

Rot,<br />

Grün,<br />

Gelb<br />

Im Volksmund ist die Hoffnung blau, die Liebe rot, die Treue grün, gelb<br />

die Eifersucht usw. Haben wir diese Zusammenhänge nur gelernt, oder<br />

stecken wirkliche Assoziationen dahinter? Fest steht, Himmel und<br />

Wasser sind blau. Hofft der Volksmund auf ewiges Leben im Himmel<br />

oder die Rückkehr eines Bekannten über den Ozean? Oder hoffen wir<br />

auf beides in Form eines Urlaubs? Im Allgemeinen wird Blau eher der<br />

kühlere Bereich des Spektrums zugeordnet, Rot hingegen der warme.<br />

In einem rot gestrichenen Zimmer wird die Temperatur um 2-3 Grad<br />

Celsius höher empfunden als in einem blauen. Auf diese Weise können<br />

wir unser Unterbewusstsein überlisten und Heizkosten sparen. Rot<br />

hebt uns in ein höheres Energielevel, Wärme und Behaglichkeit stellt<br />

sich ein. Das Farbspektrum des Feuers zeigt uns dies seit den Anfängen<br />

der Menschheit. Allerdings hat sich so mancher schon die Finger<br />

daran verbrannt, eine Tatsache, die man auch dem Verliebtsein gerne<br />

zuschreibt. Rot bezeichnet also einen aktiven Zustand, von aufwärmen<br />

bis verbrennen, von behaglich bis schmerzhaft. Letzterem kommt die<br />

Farbe des Blutes entgegen. Ebenso können hier Farbschattierungen<br />

und die Kombination mit Formen Klarheit schaffen. Augenblicklich klar<br />

wird auch die Bedeutung von roten Schaltern bei gefährlichen technischen<br />

Geräten. Das Chlorophyll in der Natur ist grün, jährlich kehrt es<br />

verlässlich wieder und ernährt so Mensch und Tier. Schilder für Notausgänge<br />

haben die gleiche Farbe. Auf welches Ziel dürfen wir also<br />

hoffen, wenn wir sie benützen? Empfinden wir letztlich die Natur als<br />

verlässlicher und treuer als Kulturbauten? Eifersucht ist Gift für jede<br />

Beziehung, daher möglicherweise Gelb als volkstümliche Symbolik. War<br />

etwa ein bestimmtes, besonders giftiges Gelb gemeint? Hier kann bis<br />

ins Unendliche spekuliert werden. Die psychologische Wirkung von<br />

Farbe füllt ganze Bände. Ich beschränke mich jetzt wieder auf Wahrnehmung<br />

der Farben in <strong>Mimikry</strong>.<br />

Der erste Farbeindruck soll durch die Kombination von goldenem<br />

Hintergrund und dem quantitativ dominanten Blau die Assoziation von<br />

Tutenchamuns Totenmaske oder ähnlichem ägyptischem „Zierrat“<br />

vermitteln. Dieser Brückenschlag zur alten Hochkultur und die Fülle<br />

kleiner geordneter Zeichen lassen ahnen: Ah, hier gibt’s Hieroglyphen<br />

zu entdecken. Und als nächstes stellt man fest: Ja, das kenne ich doch<br />

alles! Diese Gebrauchsanweisung wurde bis dahin in Sekundenbruchteilen<br />

aufgenommen, so jedenfalls meine Intention bei der Planung von<br />

<strong>Mimikry</strong>. Jetzt geht’s ins Detail. Ich wähle dunkles Blau für den männlichen<br />

Teil der Unterhaltung, und Rot bezeichnet den weiblichen. Bei<br />

den Menschen ist das Weibchen nun mal das schillerndere der beiden<br />

Harald Kroiss S 12


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

Geschlechter. Auch sagt man ihm mehr Emotionalität nach, also Rot<br />

für die Frau. Den Umkehrschluss, dass der blau dargestellte Mann der<br />

Kühlere sei, widerlegen hoffentlich die Geschichten. Vielmehr spielt der<br />

gängige Farb-dress-code hier mit eine Rolle. Rot tritt in einer hellen<br />

und einer dunklen Variante auf. Dunkles Rot steht für die negativen<br />

Assoziationen wie Schmerz, Blut und Verbot. Helles Rot transportiert<br />

die Eigenschaften Geborgenheit, Liebe, Verliebtsein usw. Wenn Farben<br />

mit schillernder Holografiefolie unterlegt sind, soll dies die Emotionalität<br />

unterstreichen, was hier in der Reproduktion leider nur schwer<br />

wiederzugeben ist. Schwarz übernimmt die Erzählfunktion in Form<br />

einer neutralen Linie. Als Farbe eingesetzt bezeichnet es Negativwendungen<br />

in den Geschichten wie beim Totenkopf.<br />

11.5. Neue Zeichen<br />

Mensch<br />

Kind<br />

Auge<br />

Kuh<br />

Wespe<br />

Schlange<br />

Galgen<br />

Schwangerschaft<br />

Mann<br />

Frau<br />

Fuß(tritt)<br />

* Frei nach Umberto Ecco: Zeichen.<br />

Einführung in einen Begriff und<br />

seine Geschichte, Suhrkamp Verlag<br />

Nicht jede Situation konnte mit vorhandenen Zeichen aus Natur, Kultur<br />

und Farbwelt hinreichend beschrieben werden. Daher mussten neue<br />

Zeichen geschaffen werden. Der gängigste Weg, ein Zeichen zu erschaffen,<br />

besteht darin, den zu bezeichnenden Gegenstand auf das Wesentliche<br />

zu reduzieren, so dass seine Erkennbarkeit unmissverständlich gewahrt<br />

bleibt. Wenn das Wesen eines Zeichens in irgendeiner Form einen optischen,<br />

haptischen oder akustischen Bezug zu seinem Referenten aufweist,<br />

so nennt die Lehre der Semiotik dies einen ikonischen Bezug. Das Zeichen<br />

selbst ist ein Ikon. Symbole sind kulturell oder von bestimmten Personengruppen<br />

geschaffene Zeichen, die die interne Kommunikation erleichtern<br />

sollen. Der zeigende Finger hat einen vektorischen Bezug zum bezeigten<br />

Gegenstand. Der Finger als Zeichen wird als Index bezeichnet. Und schließlich<br />

zeugt zum Beispiel „Rauch“ von vorhandenem Feuer, obwohl man das<br />

Feuer nicht sieht. Der Bezug ist symptomatisch, Rauch damit ein Symptom<br />

für Feuer. Dieser keine Ausflug in die Semiotik vermittelt ansatzweise die<br />

Spielarten beim Dekodieren von Zeichen.* Ein Männchen aus Strichen<br />

bezeichnet einwandfrei einen Menschen. Reckt das Männchen die Arme<br />

schräg nach oben, wird daraus zweifelsfrei ein Kind. Ein Ikon, das durch<br />

optische Kleinigkeiten konkretisiert wird. Neben der „Mars“- und „Spiegel“-<br />

Symbolik aus Wissenschaft und Graffiti können Mann und Frau auch durch<br />

„Smilies“ dargestellt werden. Aus Punkt, Punkt, Komma, Strich fertigt man<br />

das Mondgesicht, lange Haare definieren die Frau, und ein Bart zeigt<br />

Männlichkeit. Durch Stellung, Form und Größe von Augen, Mund und Nase<br />

lassen sich Emotionen transportieren. Nach oben gezogene Mundwinkel<br />

lachen, nach unten geneigt verraten sie schlechte Stimmung. Große Augen<br />

mit hoher Stirn bedienen das Kindchenschema, Punktaugen, schmaler<br />

Mund und tiefe Stirn wirken dagegen alt. Sogar ethnische Zugehörigkeiten<br />

lassen sich dadurch ausdrücken. Nach innen geneigte Striche als Augen<br />

reichen um einen Asiaten zu erzeugen. Vertiefen sie sich in die „Punkt-<br />

Strich- Gesichter-Matrix“ auf Seite 21 und sie werden noch eine Reihe<br />

anderer Aspekte entdecken, die sich allein mit diesen einfachen Mitteln<br />

ausdrücken lassen.<br />

Harald Kroiss S 13


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

12. Wie wir Zeichen verstehen<br />

oder Dekodierungsmechanismen<br />

Je historischer, um so deutlicher.<br />

In der eben vollzogenen Einteilung der Zeichen fallen häufig Überschneidungen<br />

auf. Im Straßenverkehr haben wir gesehen, dass sogar<br />

innerhalb eines Systems Zeichen einerseits emotional erfasst werden<br />

und andererseits gelernt werden. Wenn nun ein erlerntes Zeichen in<br />

den „Umgangszeichenschatz“ übergegangen ist, wird es dann weiterhin<br />

emotional erfasst, oder bleibt es eine Vokabel? Je mehr Sie in<br />

einer erlernten Sprache kommunizieren, desto mehr Emotionen bringen<br />

sie automatisch ein. Personen, die jahrelang nur in der Fremdsprache<br />

kommunizieren, erfahren diese zunehmend als die eigene.<br />

Das System Sprache wird emotional erfasst. Allerdings selten in der<br />

gleichen Emotionalität wie die Muttersprache. Es gibt also eine<br />

Graduierung der emotionalen Erfassbarkeit.<br />

Klar, was hier passieren könnte<br />

„Trinke nie aus Flaschen, deren Inhalt du nicht kennst“, ist einer der<br />

elementarsten Lehrsätze, die wir einem Kind zuteil werden lassen.<br />

Insbesondere, wenn sich darauf das Symbol des Totenkopfes befindet.<br />

Nehmen wir an, dass ein echter Totenkopf tatsächlich intuitiv als<br />

Warnung erfasst wird, so ist kaum zu erwarten, dass das Abstraktionsvermögen<br />

eines Dreijährigen ausreicht, um in der linearen<br />

Zeichnung auf der Flasche eben dies zu erkennen. Wir tun also gut<br />

daran, ihm dieses Ikon als Symbol zu lernen.<br />

Hier ist es mehr die Blechprägung,<br />

die mich von der Ernsthaftigkeit<br />

der Warnung überzeugt.<br />

Neonfarbe lasst sich hier nicht<br />

darstellen. Selbst in der Dämmerung<br />

bündelt Neon das Restlicht.<br />

Bei den Farben verwickelt sich die Problematik noch mehr. Sie sind<br />

reine Abstraktion, da sie nie ohne Form auftreten können und finden<br />

sich unweigerlich (in der einen oder anderen Form) überall. Man müsste<br />

stark fehlsichtig sein, um Farben zu übersehen. Betrachten wir nur<br />

die bis hier eingeführten Referenten von Gelb genauer. Als ein Aspekt<br />

der Sonne besteht ein ikonischer Bezug. Soll Gelb Gefahr bezeichnen,<br />

bezieht es sich wahrscheinlich auf eine optische Eigenschaft des<br />

Feuers, die eigentlich für eine haptische, nämlich die Hitze steht. Die<br />

muss dann für für alle Referenten herhalten, die gefährlich sein können,<br />

also auch: Achtung! Spitze Ecke, stoß dich nicht. In diesem Fall ist<br />

eine emotionale Erfahrung als Zeichen zwischengeschaltet. Bei Hass<br />

und Eifersucht könnte es sich mit dem „gelben Gift“ ebenso verhalten,<br />

dies aber ohne Gewähr. In Zeichen, die besondere Aufmerksamkeit<br />

erregen sollten, wird oft die Neonvariante von Gelb benutzt. Neongelb<br />

wirkt viel kühler als reines Gelb, da es zusätzlich den ultravioletten<br />

Bereich des Farbspektrums reflektiert. Dies ist eine Farbe, die wir aus<br />

der Natur, insbesondere vom Feuer nicht kennen. Daher vermute ich,<br />

dass hier nicht die Hitze des Feuers für das Zeichen Pate stand, sondern<br />

einzig die fremdartige Leuchtkraft für die warnende Signalwirkung<br />

verantwortlich zeichnet. Bei Farbzeichen entscheiden Nuancen<br />

über die Bedeutung. Daher scheinen Farben eines der vernetztesten<br />

Zeichensysteme überhaupt zu sein.<br />

Harald Kroiss S 14


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

Zeichen können erlernt sein, emotional erfasst werden, oder sie können<br />

sich durch einen Lernprozess emotional etablieren. Darüber hinaus<br />

können sie noch bewusst kodiert werden und vieles mehr. Dabei<br />

ist jede Mischform und auch jedes Missverständnis denkbar. Vielleicht<br />

hatten Sie im letzten Urlaub auch das eine oder andere Problem, Zeichen<br />

zu entschlüsseln, die für Landsleute selbstverständlich waren. Ein<br />

Mensch aus dem Mittelalter würde zwar einen komplizierten mathematischen<br />

Lösungsweg kaum nachvollziehen können, würde aber die<br />

Rechnung befriedigt mit den Worten weglegen: „Bei diesen vielen<br />

Kreuzen müssen die Urheber immerhin christliche Menschen sein.“<br />

Die Tabelle auf Seite 20 dient dem Versuch, die Zeichen aus <strong>Mimikry</strong><br />

nach ihrem Dekodierungsmechanismus zu klassifizieren. Ein Punkt in<br />

der entsprechenden Koordinate ordnet das Zeichen sicher zu, eine<br />

Wellenlinie meint: teilweise richtig und ein x kann sich nicht festlegen.<br />

Die Zuordnung stellt sich bei diesen wenigen, verspielten Zeichen<br />

schon außerordentlich schwierig und unscharf dar, dazu kommt, dass<br />

es keine objektiven Kriterien gibt.<br />

13. Zeichenkombinationen<br />

Von Farben wissen wir bisher, dass sie optisch erfassbar nur in<br />

Kombination mit Formen auftreten können. Ich kann „Blau“ als Wort<br />

gebrauchen, worauf mein Gegenüber eine Vorstellung von dieser<br />

Farbe entwickeln wird. Dies kommt abstraktem „Blau“ sicher näher als<br />

einem blauen Kreis oder einem blauen Auto. Trotzdem fühlt man sich<br />

mit dem Wort „Blau“ etwas allein gelassen, worauf das Gehirn sofort<br />

versucht Assoziationen zu schaffen, um der Farbe Halt bzw. Form zu<br />

geben oder einem Gegenstand zuzuordnen. Zeichenkombinationen sind<br />

nicht nur selbstverständlich, sondern in diesem Fall sogar unumgänglich.<br />

Ein Kreis verweist als abstraktes Zeichen nur unklar auf eine<br />

Vielzahl konkreter Assoziationsmöglichkeiten. Auch er bedarf eines<br />

Kontextes. Im Umfeld eines Textes wird er zum Buchstaben „O“, in<br />

einer Zahlenreihe zur Null. Kombiniert man ihn mit einem Strich, entsteht<br />

ein „Q“, strahlenförmig angeordnete Striche lassen eine Sonne<br />

scheinen. Nur wenig ist notwendig, um eine konkrete Kodierung zu<br />

schaffen. Fügt man ein Kreuz an die Unterseite des Kreises, entsteht<br />

das Zeichen für „weiblich“ oder schlicht „Frau“. Wird dieses Zeichen<br />

überlappend dupliziert, erhält man zwei Frauen, möchte man glauben.<br />

Durch die sich schneidenden Kreise enthält diese Kombination zusätzlich<br />

das Zeichen für Ehe. Also Ehe zwischen zwei Frauen. Aber der<br />

Volksmund belehrt uns eines Besseren. Es steht für „Frauenbewegung“<br />

allgemein, für gleichgeschlechtliche weibliche Beziehungen,<br />

richtet sich gegen Chauvinismus und schlägt Machos in die Flucht. In<br />

der Entstehungszeit dieses Zeichens wurde damit Neuland betreten.<br />

Es war und ist Lebenseinstellung und Philosophie. Der gesamte<br />

Zeitgeist einer Gruppe von Personen bildet den Referenten dieser<br />

Harald Kroiss S 15


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

Zeichenkombination. Ein weniger abstraktes Beispiel für Zeichenkombinationen<br />

sind historische Wappen. Als Banner in die Schlacht getragen,<br />

standen sie für ein Volk und boten Orientierung für Freund und<br />

Feind. Eine Zeichenkombination kann also weit mehr oder etwas ganz<br />

anderes ausdrücken als die Summe der Einzelzeichen erahnen lässt.<br />

14. Zeichenkombinationen in <strong>Mimikry</strong><br />

In <strong>Mimikry</strong> habe ich den Versuch unternommen, verschiedene etablierte<br />

Zeichen zu kombinieren, die weder aus einem Zeichensystem stammen,<br />

noch historisch gewachsen sind. (Abb. links) Zudem wurden etablierte<br />

Elemente modifiziert. Der Kreis mit dem Pfeil ist auch mit verbogenem<br />

Pfeil noch eindeutig als Zeichen für „Mann“ dekodierbar.<br />

Allerdings scheint dieser Mann psychisch nicht ganz einwandfrei, was<br />

durch das Punkt-Strich-Gesicht noch untermauert wird. Es treffen drei<br />

Elemente aufeinander: Die Mann/Frau-Symbolik definiert die Geschlechter,<br />

die Punkt-Strich-Gesichter zeigen die Stimmungen und die<br />

gebogene oder gewellte Linie verdeutlicht diese. Bei einem lachenden<br />

Mund weisen die Mundwinkel nach oben, bei einem traurigem nach<br />

unten, ein unschlüssiger Mund ist gewellt. Die ersten beiden lassen<br />

sich in der Realität leicht bestätigen, aber einen gewellten Mund habe<br />

ich noch nicht gesehen. Offenbar handelt es sich auch hier um eine<br />

Zeichenkombination, die den traurigen und den lachenden Mund vereint.<br />

Zusammen mit den Augen entsteht der Gesichtsausdruck, der<br />

von unschlüssig über ängstlich bis zur Verzweiflung gesteigert werden<br />

kann. Aus der Welt des Comics sind uns diese Phänomene erschrekkend<br />

vertraut.<br />

Eine weitere Kombination personalisiert Verkehrszeichen. Vorfahrt,<br />

Vorfahrt achten und Einfahrt verboten werden auf die Kommunikation<br />

im geschlechtlichen Verkehr angewandt. Wenn man so will, kann man<br />

Imponiergehabe und Autokult oben drauf interpretieren. Und jetzt<br />

schließlich zu den Geschichten.<br />

15. Die Geschichten in <strong>Mimikry</strong><br />

Harald Kroiss S 16


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

15.1. Geschichte I, Die Macho-Story<br />

Ein Mann sieht eine Frau, die ihm gefällt, und möchte mit ihr „spielen“. Die<br />

Frau legt ihm nahe, dass seine Bedürfnisse nichts mit Liebe zu tun haben,<br />

und dass sie solche Männer nicht leiden kann. Daraufhin ist der Mann<br />

etwas verunsichert, erklärt ihr aber, dass er schwer in Flammen steht.<br />

Sie beschreibt ihm, wozu es führt, wenn nur er bestimmt, wo’s lang geht.<br />

Sie will sich nicht unterordnen und erteilt damit sexuelles „Einfahrverbot“.<br />

Der Mann ist geknickt. Weiter erklärt sie ihm, dass sie erst nach der<br />

Hochzeit Liebe machen wolle. Ihm vergeht sämtliche Lust, worauf er sich<br />

mit nicht ganz korrekten Worten verabschiedet.<br />

Harald Kroiss S 17


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

15.2. Geschichte II, Die Aids-Story<br />

Ein Mann macht einer Frau schöne Augen und schildert sein Vorhaben<br />

in den schillerndsten Farben. Sie weist ihn darauf hin, dass Sex heutzutage<br />

sehr gefährlich sei, weil man sich leicht mit tödlichem Aids infizieren<br />

könne. Der Mann beteuert seine Liebe und schlägt vor ein Kondom<br />

zu benutzen, worauf sie ihm „freie Fahrt“ erteilt. .... Hinterher verschwindet<br />

der Mann mit den Worten: „Lass uns bald mal telefonieren“.<br />

Sie bleibt zurück und weiß nicht, was sie davon halten soll.<br />

Harald Kroiss S 18


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

15.3. Geschichte III, Die Familien-Story<br />

Eine Frau ist traurig, jemand hat ihr das Herz gebrochen. Irgendwann<br />

trifft sie einen Mann, der ihr zuhört. Sie erklärt ihm, dass kein Mann<br />

das ist, was sie sich wünscht, und dass sie kurz davor ist sich aufzuhängen.<br />

Der Mann erklärt ihr sehr einfühlsam, dass es auch Ausnahmen<br />

gibt. Beide verlieben sich ineinander, heiraten und bekommen<br />

Kinder. Und wenn sie nicht gestorben sind, so lieben sie (sich) noch<br />

heute.<br />

Harald Kroiss S 19


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

16. Einteilung der Zeichen nach<br />

ihrem Dekodierungsmechanismus<br />

Von bestimmten<br />

Gruppen codierte<br />

Zeichen, um die<br />

interne Kommunikation<br />

zu ermöglichen<br />

Emotional oder<br />

intuitiv erfassbare<br />

Zeichen<br />

Erlernte Zeichen<br />

Kulturelle<br />

Zeichen<br />

Dekodierung<br />

erfolgt durch<br />

Assoziation<br />

eines<br />

Gegenstandes<br />

sicher zuzuordnen teilweise zuzuordnen nicht eindeutig zuzuordnen<br />

Harald Kroiss S 20


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

17. Punkt-Strich-Gesichter-Matrix<br />

Gesichtsaufteilung<br />

Gesicht im unteren Drittel im oberen Drittel mittig und gedrungen mittig und gesperrt<br />

eng weit eng weit eng weit eng weit<br />

Augenformen<br />

beide schräg in eine Richtung schräg nach innen schräg nach aussen waagrecht Punkte<br />

lang kurz lang kurz lang kurz lang kurz groß klein<br />

Harald Kroiss S 21


<strong>Mimikry</strong><br />

1990<br />

EINE SEMIOTISCHE<br />

BETRACHTUNG<br />

Interesse an einer Veröffentlichung?<br />

Bitte wenden Sie sich an:<br />

Tel: 089-26 74 93<br />

Mobil: 01 73 - 4 61 79 94<br />

Mail: harry_kroiss@yahoo.de<br />

Harald Kroiss,<br />

Berchtesgadener Str. 15,<br />

81547 München<br />

www.harald-kroiss.de<br />

Rechte<br />

Die Bilder dürfen nicht verwendet werden, auch nicht in Ausschnitten.<br />

Text darf nicht verwendet werden, auch nicht in Auszügen.<br />

Die Originalfarben können von der Bildschirmdarstellung oder vom Ausdruck<br />

abweichen.<br />

Jahr der Erstveröffentlichung ist 1990.<br />

Alle Rechte am Text und den verwendeten Bildern sind beim Urheber.<br />

Des Weiteren gilt das UrhR.<br />

Harald Kroiss S 22

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!