Mimikry
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<strong>Mimikry</strong><br />
EINE SEMIOTISCHE BETRACHTUNG 1990<br />
(MIT AUGENZWINKERN)<br />
Harald Kroiss<br />
Dipl. Designer FH<br />
harry_kroiss@yahoo.de<br />
www.harald-kroiss.de
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
<strong>Mimikry</strong><br />
Foliencollage<br />
110 x 110 cm<br />
Harald Kroiss S 2
<strong>Mimikry</strong><br />
Eine semiotische Betrachtung<br />
mit Augenzwinkern<br />
von Harald Kroiss<br />
Idee, Konzept, Manuskript: 1990<br />
Redigiert: 2009<br />
Inhalt<br />
Vorwort<br />
1. Phalluskultur<br />
2. Die Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />
3. Wespen machen dick<br />
4. Punkte oder Augen<br />
5. Tarnung durch Abschreckung<br />
6. Schmetterlinge im Bauch<br />
7. Hieroglyphen<br />
8. Geschichten über die Liebe<br />
9. Individuelle Dekodierung<br />
10. Alles voller Zeichen<br />
11. Herkunft der Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />
11.1. Jugendbewegung und Toilettenspontis<br />
11.2. Etablierte Zeichen<br />
11.3. Verkehrszeichen und mathematische Zeichen<br />
11.4. Farbzeichen<br />
11.5. Neue Zeichen<br />
12. Wie wir Zeichen verstehen oder Dekodierungsmechanismen<br />
13. Zeichenkombinationen<br />
14. Zeichenkombinationen in <strong>Mimikry</strong><br />
15. Die Geschichten in <strong>Mimikry</strong><br />
15.1. Geschichte I, Die Macho-Story<br />
15.2. Geschichte II, Die Aids-Story<br />
15.3. Geschichte III, Die Familien-Story<br />
16. Einteilung der Zeichen nach ihrem Dekodierungsmechanismus<br />
17. Punkt-Strich-Gesichter-Matrix<br />
Harald Kroiss S 3
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
Vorwort<br />
Am Anfang waren ein Stock und eine Fläche. Damit gebar einer den<br />
Punkt und vielleicht bewegte er ihn gleich darauf umher. Er nannte den<br />
bewegten Punkt einfach Linie. Die ganze Welt war davon begeistert<br />
und alle fingen sofort an, wie wild Linien zu erfinden, die ihnen irgendwie<br />
zu helfen schienen. Einige verbrachten viel Zeit damit, einfache<br />
aber sehr wichtige Linien zu erfinden, die dann alle nachmachen lernen<br />
mussten. Bald konnten viele aus nur wenigen Linien etwas lesen, was<br />
ihnen niemand gesagt hat. Sie selbst konnten auch schreiben, ohne<br />
selbst reden zu müssen. Andere versuchten die Linien so zu beugen<br />
und zu knicken, dass der Eindruck eines echten Gegenstandes entstand.<br />
Wollte man den aber begreifen, zeigte er sich als ganz flach.<br />
Zu unzähligen anderen Sachen machten sich die Menschen die Linie<br />
zunutze und nur selten vergaßen sie ihr eine Bedeutung zu geben, die<br />
ein anderer wiedererkennen konnte, der gerade nicht da war oder viel<br />
später erst geboren werden sollte. Dieses Urding kann alle Formen<br />
annehmen und bezeichnen. Deshalb will auch ich mich mit der Linie<br />
und ihren möglichen Bedeutungen beschäftigen.<br />
1. Phalluskultur<br />
Im Mittelpunkt von <strong>Mimikry</strong> steht ein Liniengebilde, das auf der ganzen<br />
Welt seit jeher ohne Missverständnisse als Phallus interpretiert wird.<br />
Häufig findet es sich auf öffentlichen Toiletten, in denen Teenager und<br />
andere Bedürftige ihrer Bedrängnis auf mannigfaltige Weise Ausdruck<br />
verleihen. In unseren Breitengraden hat es einen pubertären oder/und<br />
vulgären Beigeschmack, während es zum Beispiel in Indien Tempelwände<br />
ziert und als höchst religiöses Symbol behandelt wird. In steinzeitlichen<br />
Höhlenmalereien drückt es Fruchtbarkeit und Männlichkeit<br />
aus. Quer durch die Geschichte stößt man immer wieder auf das<br />
Phallussymbol. Bestimmte zeitgenössische Gruppen interpretieren<br />
jede Banane und jeden Kirchturm als solches, aber das führt nicht nur<br />
jetzt in die falsche Richtung. Von dieser einfachen Strichkombination<br />
scheint eine Faszination auszugehen, die Zeit und Länder umspannt.<br />
Gemeinsam ist überall die einfache Verständlichkeit und die grundsätzliche<br />
Bedeutung von Fortpflanzung. Unterschieden kann der moralische,<br />
gesellschaftliche oder religiöse Kontext werden. Letzteres überlassen<br />
wir gerne dem dahin geneigten Leser. Wir wenden uns diesem<br />
Zeichen in naiver Begeisterung zu, fasziniert von der charismatischen<br />
Einfachheit und der schönsten Bedeutung, die es trägt, nämlich der<br />
körperlichen Liebe.<br />
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<strong>Mimikry</strong><br />
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EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
2. Die Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />
In <strong>Mimikry</strong> zieren weitere Zeichen das Phallussymbol. Sie sind bestimmt<br />
ebenso bekannt, unterliegen aber einer völlig anderen Herkunft.<br />
Es sind farbige Streifen und mittig ineinander liegende Kreise zu<br />
sehen, runde Streifen, wenn man so will. In der Kultur des Straßenverkehrs<br />
lernen wir schnell die Bedeutung von Streifen, insbesondere<br />
die der rot/weißen. Oder sollte ich besser sagen: Wir erfassen intuitiv,<br />
dass rot/weiße Streifen in einer Kurve oder vor einem Bahnübergang<br />
„Achtung“ bedeuten. Unsere Sinne sind geschärft, die Handlungsfreiheit<br />
dahingehend eingeschränkt, als die falsche Reaktion empfindliche<br />
Folgen nach sich ziehen könnte.<br />
3. Wespen machen dick<br />
Die gelb/schwarzen der Streifen im Phallus erinnern allerdings eher<br />
an das Hinterteil einer Wespe. Für Menschen sind Wespen zwar nicht<br />
ganz so tödlich wie ein übersehener Intercity, aber doch recht<br />
schmerzlich. Die Kreise in den Hoden schauen uns regelrecht an.<br />
Erkennen wir Augen, oder verleitet uns der Umriss dazu, Schmetterlingsflügel<br />
zu sehen. Es handelt sich also um Zeichensysteme, die in<br />
der Tierwelt zum Überleben dienen. Wir haben diese Zeichen in unserer<br />
Kultur teilweise als lernbare Symbole adaptiert, andererseits erfassen<br />
wir die warnenden Streifen einer Wespe intuitiv, bis zu phobisch. Ihren<br />
Fressfeinden erklärt die Wespe durch ihre Färbung: Ich steche echt<br />
giftig, ist es dir das wert?<br />
4. Punkte oder Augen<br />
Zwei leuchtende Punkte in der<br />
Nacht können nur Augen sein<br />
Bei Tag reichen die Andeutung<br />
einer Pupille und eir Iris<br />
Waren Sie schon mal nachts im Wald, und das Licht Ihrer Taschenlampe<br />
wurde von zwei Lichtpunkten reflektiert? Es waren nur Punkte,<br />
aber im gleichen Moment war klar: Augen – ein unidentifizierbares<br />
Tier – sofort fliehen. Wenn dieses einfache Zeichen tatsächlich noch<br />
bei kultivierten Menschen funktioniert, um wieviel besser gehen dann<br />
Tiere damit um. Sicherlich können sie Tigeraugen von Schafsaugen<br />
unterscheiden. Was aber, wenn ein bisher unsichtbarer Schmetterling<br />
bei Bedrohung die Flügel aufklappt und ein Paar Augen sichtbar werden,<br />
bevor er das Weite sucht. Der erschrockene und verblüffte Jäger geht<br />
erst mal leer aus. Unser trickreicher geflügelter Freund schmückt sich<br />
also mit fremden Federn, genauer gesagt einem fremden Abschreckungsmechanismus.<br />
Er ahmt ein spontan auftauchendes großes Tier<br />
durch die Simulation dessen Augen nach.<br />
In der Dunkelheit reichen zwei Lichtpunkte in gleichem Abstand aus,<br />
um die Assoziation „Augen“ zu erzeugen. Am Tag erkennen wir das<br />
Auge an einem dunklen Mittelpunkt und einem helleren Kreis (oder<br />
Streifen) drumherum.<br />
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BETRACHTUNG<br />
5. Tarnung durch Abschreckung<br />
Ahmen schwache, unbewaffnete Tiere durch Färbung große, gefährliche<br />
oder giftige Tiere nach, um nicht gefressen zu werden, so nennt<br />
man das <strong>Mimikry</strong>, ein Phänomen, das für das vorliegende Werk<br />
namensgebend war. Es gibt beispielsweise mehrere Arten von völlig<br />
ungefährlichen Schwebefliegen, die durch Muster und Färbung eine<br />
Wespe nachahmen, womit wir wieder bei dem schwarz/gelb gestreiften<br />
Phallus gelandet wären. Ob er zu den Echten oder den Blöffern<br />
gehört, bleibt uns selbst überlassen.<br />
Wer ist hier wirklich gefährlich?<br />
Der Feldwespe glaube ich ihre<br />
Abschreckung auf Wort (oder auf die<br />
Streifen).<br />
Die Schwebefliege ahmt die Wespe<br />
sehr gut nach, ist aber ungefährlich.<br />
Die Wespenspinne ist äussest wohlschmeckend<br />
für einige Vögel, nimmt<br />
es aber mit den größten einheimischen<br />
fliegenden Raubinsekten auf,<br />
den Mosaikjungfern.<br />
Auch der Bock-Käfer scheint von der<br />
Tarnung zu profitieren.<br />
<strong>Mimikry</strong> ist ein ausgeprägtes Zeichensystem, das Tiere und Menschen<br />
gleichermaßen zur Kommunikation nutzen. Während es Tieren hauptsächlich<br />
darauf ankommt nicht gefressen zu werden, bremsen wir beispielsweise<br />
vor einer gestreift ausgeschilderten Kurve ab und entschärfen<br />
sie damit. Trotzdem passieren immer wieder Unfälle, und<br />
auch so manches Tier hat sich schon an einer Wespe schmerzlich verschluckt.<br />
Nüchtern betrachtet verlangt ein Gefahrenzeichen Entscheidungsprozesse:<br />
Wird es als solches erkannt und beachtet oder erkannt<br />
und nicht beachtet oder nicht erkannt und damit nicht beachtet.<br />
Jedes Wesen, auch das einfachste, steht mehr oder weniger bewusst<br />
vor diesen drei Möglichkeiten.<br />
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EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
6. Schmetterlinge im Bauch<br />
Betrachten wir nun die Hoden im Bild unter diesen Gesichtspunkten.<br />
Entscheiden wir uns lieber für die Schmetterlingsflügel<br />
als Assoziation und nicht für die Raubtieraugen<br />
in freier Wildbahn. Schmetterlinge lösen bei uns sicher<br />
keine negativen Gefühle aus, und wir sind auch nicht unbedingt<br />
auf sie als Nahrung angewiesen. Schmetterlinge erinnern<br />
uns eher angenehm an Anmut, Zerbrechlichkeit,<br />
Schutzbedürftigkeit, Schönheit, Flüchtigkeit, Zartheit und<br />
vieles mehr. Die „Schmetterlinge im Bauch“ sind sprichwörtlich<br />
für das Gefühl verliebt zu sein geworden. Erstaunlich,<br />
mit wie vielen Bedeutungen ein einziges Zeichen belegt<br />
sein kann, und welche Möglichkeiten der Vernetzung sich<br />
jetzt schon bieten.<br />
7. Hieroglyphen<br />
Ein Blick in alte ägyptische Grabkammern zeigt schnell, wer<br />
Meister war im Entwerfen komplexer Zeichensysteme, die<br />
hauptsächlich auf direkter Abstraktion und Abbildung realer<br />
Gegenstände basieren. Wären wir im alten Ägypten aufgewachsen<br />
und hätten diese Kultur, die Sitten und die<br />
Götterwelt live miterlebt, würden sich uns die Hieroglyphen<br />
größtenteils ohne Lernprozess erschließen. Unsere Schrift<br />
dagegen ist rein abstrakt und muss erlernt werden. Buchstaben<br />
sind Lauten zugeordnet, die in einer bestimmten<br />
Reihenfolge Wörter bilden, denen ist dann eine reale<br />
Bedeutung zugeordnet, und in dritter Instanz reihen sich<br />
Wörter zu Sätzen und erschließen einen größeren Zusammenhang.<br />
Ich bin in dieser Kultur aufgewachsen und habe<br />
mit Schildern, die gleichzeitig verschiedene Zeitparkzonen<br />
bezeichnen sollen, immer noch meine Schwierigkeiten.<br />
Wenden wir uns lieber wieder den Hieroglyphen zu.<br />
8. Geschichten über die Liebe<br />
In <strong>Mimikry</strong> sind rund um das Phallussymbol drei kurze<br />
Geschichten angeordnet. In jeder dreht es sich um die vielbesungene<br />
Problematik, mit der sich Mann und Frau<br />
immer wieder befasst sehen. Dafür verwende ich<br />
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EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
„Umgangshieroglyphen“ und erzeuge einen Zusammenhang, der in<br />
unserer Kultur leicht verstanden werden kann. Jedes Kästchen stellt<br />
ein Argument in einem Gespräch zwischen Mann und Frau dar, wobei<br />
die blau umrahmten vom Mann gesprochen werden, und im roten<br />
Rahmen spricht die Frau. Jede der drei Geschichten enthält eine<br />
Instanz des zentralen Phallussymbols. Die oben beschriebenen Bedeutungen<br />
dieser Zeichenkombinationen erschließen sich in jeder Geschichte<br />
neu aus dem Sinnzusammenhang. Der unglaubliche Interpretationsspielraum<br />
dieser Zeichenkombinationen erklärt die Namensgebung<br />
von <strong>Mimikry</strong>.<br />
Meine „Umgangshieroglyphen“ erlauben mir die Charaktere so abstrakt<br />
zu halten, dass jeder sich oder einen anderen darin wiederfinden<br />
und darüber schmunzeln kann. Der geneigte Leser findet ein<br />
Erlebnismuster, das sich mit seinen eigenen Erfahrungen auschmückt.<br />
Jeder hat eine eigene Geschichte und eigene Akteure. Eine einfache<br />
Kombination von Zeichen liefert so viele Geschichten wie Leser. An<br />
dieser Stelle möchte ich empfehlen, jetzt die Geschichten zu „lesen“,<br />
denn im Folgenden wird so viel darüber erklärt, dass sich die<br />
Dekodierung objektiviert.<br />
9. Individuelle Dekodierung<br />
Haben Sie alle drei Geschichten dekodieren können, oder sind Sie über<br />
einzelne Zeichen gestolpert? Es könnte daran liegen, dass sich eben<br />
dieses Zeichen nicht in Ihrem „Umgangszeichenschatz“ befindet. Zwei<br />
ineinander geschlungene Kreise stehen nicht in jeder Kultur für Hochzeit.<br />
und wenn ich einen weiblichen Fuß durch angedeutete Pumps<br />
abstrahiere, ist auch kein einzig wahres Ergebnis zu erwarten. Hat<br />
jemand gerade schlechte Erfahrungen mit der Liebe gemacht, steht<br />
ihm (oder ihr) die Wespe, die allenfalls einen dicken Bauch macht,<br />
sicher näher als Schmetterlingsgefühle. Individuelle Erfahrungen, kulturelle<br />
Herkunft, Milieuzugehörigkeit, Abstraktionsgewohnheiten und viele<br />
andere Faktoren beeinflussen also das Verständnis und den Umgang<br />
mit Zeichen.<br />
10. Alles voller Zeichen<br />
Die Zeichen in <strong>Mimikry</strong> sind aus Natur und Kultur bekannt, und es soll<br />
Spaß machen, die Geschichte dahinter zu entschlüsseln. Was passiert,<br />
wenn die Zeichen abstrakter eingesetzt werden, wenn die Herkunft<br />
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EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
weiter reicht als Kulturräume und Gefahrstreifen? Rot spannt den<br />
Bogen von Liebe bis Schmerz. Die tatsächliche Bedeutung erschließt<br />
sich auch hier aus der Kombination mit anderen Zeichen. Formen wie<br />
Herz oder Tropfen ordnen die Farbe eindeutig zu. Spitze Formen wirken<br />
aggressiv, runde eher weiblich. Ein Dreieck wirkt extrovertiert und<br />
tritt viel freudiger in Beziehung zu anderen Formen als der nach innen<br />
strebende Kreis. Kunst kann so in einzelne Zeichen zerlegt werden.<br />
Dadurch erschließen sich ungeahnte Bedeutungen, geradezu ein<br />
Schlüssel, um moderne oder zeitgenössische Kunst zu erfahren. Systeme<br />
werden in Einzelzeichen zerlegt, die Bedeutung und Herkunft<br />
zugeordnet, und dann wieder als Ganzes erfasst. Natürlich ist dies nur<br />
eine von vielen Herangehensweisen.<br />
11. Herkunft der Zeichen in <strong>Mimikry</strong><br />
Bestimmte Zeichen finden sich an bestimmten Orten oder werden von<br />
bestimmten Personengruppen benutzt. Sie können einzeln kodiert sein<br />
und sich durch eine Milieuzugehörigkeit erschließen, oder als Zeichensystem<br />
der Kommunikation dienen. Jede Mischform ist dabei denkbar.<br />
Daher ist die folgende Klassifizierung als Versuch zu verstehen, und<br />
ich beschränke mich weitgehend auf Zeichen, die in <strong>Mimikry</strong> verwendet<br />
werden.<br />
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BETRACHTUNG<br />
11.1. Jugendbewegung und Toilettenspontis<br />
Phallus,<br />
nackte Frau,<br />
feminin,<br />
Frauenbewegung,<br />
Diese Zeichen finden sich häufig an Stellen, an denen Heranwachsende<br />
ihren aufkommenden Trieben in Bildern und Sprüchen meist<br />
anonym Ausdruck verleihen. Wer es gerne persönlicher hat, schreibt<br />
seine Telefonnummer oder die des liebsten Feindes dazu. Es fällt auf,<br />
dass einige dieser Zeichen wissenschaftlichen Ursprungs sind wie das<br />
Zeichen für „maskulin und feminin“. Erstaunlich ist auch, dass sich hier<br />
wie selbstverständlich Zeichenkombinationen finden, deren Eigenbedeutungen<br />
sich etabliert haben, wie etwa die Zeichen für Frauenbewegung<br />
und Bisexualität.<br />
maskulin,<br />
Bisexualität<br />
11.2. Etablierte Zeichen<br />
Totenkopf,<br />
Herz mit Pfeil,<br />
Doppelherz,<br />
Telefon,<br />
Eheringe<br />
Dies sind nur wenige Beispiele für Symbole, die unser tägliches Leben<br />
begleiten. Sie dienen als Warnung, als Geste oder als Erfassungsbeschleuniger.<br />
Ein Telefon-Symbol findet sich sehr viel schneller als<br />
das ausgeschriebene Wort und ist zudem sprachübergreifend. Obwohl<br />
es das Telefon mit Hörer und Wählscheibe heute nur noch im Museum<br />
gibt, war es offenbar so einprägsam, dass es sofort auf seinen jetzigen<br />
Referenten verweist. Der Totenkopf bezeichnet ein Piratenschiff<br />
oder erklärt den Inhalt einer Flasche zu Gift. Die Symbolkraft des Schädels<br />
könnte vermutlich bis zu den Anfängen der Menschheit zurückverfolgt<br />
werden. Hochzeitskarten und Liebesbriefe werden gern mit Ringen<br />
und Herzen verziert. In der Symbolik von Amors Pfeil liegt mehr<br />
Ausdruck als in den entsprechenden Worten, sofern sie der Schreiber<br />
überhaupt findet. Einem kleinen griechischen Gott verdanken wir also<br />
dieses eigentlich grausame Symbol, das weit über Amor hinaus alle<br />
Phantasien Verliebter bedient. Ein Symbol dieser Kategorie sagt mehr<br />
als tausend Worte und ist gleichzeitig emotional und schnell erfassbar.<br />
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BETRACHTUNG<br />
11.3. Verkehrszeichen und<br />
mathematische Zeichen<br />
Vorfahrt,<br />
Vorfahrt<br />
achten<br />
Durchfahrt<br />
verboten<br />
Parkverbot,<br />
Plus,<br />
Minus,<br />
Ist-gleich,<br />
Ist-nicht-gleich,<br />
Multiplikationszeichen<br />
In beiden Fällen handelt es sich um geschlossene Zeichensysteme, die<br />
von Personengruppen erfunden wurden, um eine spezielle Art der<br />
Kommunikation untereinander zu ermöglichen oder zu vereinfachen.<br />
Außenstehende erfassen diese Zeichen nicht oder nur teilweise. Erst<br />
ein Lernprozess erschließt die gesamte Welt dieser Systeme. Sie sind<br />
exakt auf den Nutzungsanspruch abgestimmt, was bedeutet, ein<br />
Zeichen hat nur eine Bedeutung, es bezieht sich nur auf einen<br />
Referenten. Es ist damit unmissverständlich. Da diese Zeichen größtenteils<br />
erlernt werden müssen, können sie sehr reduziert gestaltet<br />
sein, obwohl sie teilweise komplexe Sachverhalte transportieren. Ein<br />
weißes Dreieck mit rotem Rand, Spitze nach unten, kann nicht wie die<br />
„Streifen in der Kurve“ emotional erfasst werden. Es sagt dem Fahrer:<br />
„Pass auf, denn ein anderer Verkehrsteilnehmer, der hier von rechts<br />
oder links kommen könnte, hat das Recht vor dir zu fahren.“ Die Formulierung<br />
„vor dir zu fahren“ kann durch das Wort „Vorfahrt“ ersetzt<br />
werden. Dafür existiert eigens ein Zeichen, das dem von rechts oder<br />
links kommende Fahrer sagt, er kann zügig diese Kreuzung passieren,<br />
die anderen müssen warten. An diesem Beispiel wird die Abhängigkeit<br />
komplexer Einzelzeichen innerhalb einer Systematik deutlich. Versuchen<br />
Sie einmal die Rechnung: 1 + 2 = 3 ohne die mathematischen<br />
Zeichen, also mit „plus“, „addieren“, oder „zusammenzählen“ auszudrücken,<br />
und stellen Sie sich dann eine kompliziertere Rechnung über<br />
mehrere Zeilen vor. Eine mathematische Vorgehensweise ist damit<br />
nicht mehr möglich. Nicht nur Straßenverkehr und Mathematik hängen<br />
von derartig abstrakten Zeichensystemen ab. Schon vor den ersten<br />
Schuljahren werden wir mit solchen kulturellen Errungenschaften<br />
regelrecht überschüttet. Die Sprache in Worten gesprochen, als<br />
Schrift mit dazugehöriger Grammatik festgehalten und transportabel<br />
gemacht, reiht sich ebenfalls in diese Zeichensparte.<br />
11.4. Farbzeichen<br />
Werden Farben an sich als Zeichen betrachtet, wird schnell klar, dass<br />
ein Farbzeichen nie allgemeingültig auf einen Referenten verweist. Gelb<br />
steht für die wärmende Sonne, ein anderer sieht darin Gefahr, Hass<br />
oder Eifersucht. Die wichtigsten Kriterien für die Bedeutung eines<br />
Farbzeichens sind Form, Umgebung, und Sinnzusammenhang. Betrachten<br />
wir einmal Kurvenstreifen und Wespe mit verschiedenen Augen.<br />
Die Wahrnehmung von Tieren unterscheidet sich grundlegend von der<br />
menschlichen. Auch unter den Tieraugen gibt es verschiedene „Modelle“.<br />
Einige sehen nur schwarz/weiß, Facettenaugen nehmen tausende<br />
Einzelbilder wahr und bilden damit Umrisse ab, die allerdings weit<br />
über 10-mal schneller verarbeitet werden als beim Menschen. Das<br />
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BETRACHTUNG<br />
macht es so schwierig eine Fliege zu erwischen. Sogar beim Menschen<br />
differiert die Farbsichtigkeit erheblich. Damit liegt nahe, dass für<br />
die Gefahrerkennung der Hell/dunkel-Kontrast in Verbindung mit der<br />
Form, also den Streifen, die entscheidendere Rolle spielt. Wahrnehmung<br />
und Individualität erhöhen die Komplexität von Farbzeichen zu<br />
sätzlich. Betrachten wir die Sache mal aus einfacher kultureller Sicht.<br />
Blau,<br />
Rot,<br />
Grün,<br />
Gelb<br />
Im Volksmund ist die Hoffnung blau, die Liebe rot, die Treue grün, gelb<br />
die Eifersucht usw. Haben wir diese Zusammenhänge nur gelernt, oder<br />
stecken wirkliche Assoziationen dahinter? Fest steht, Himmel und<br />
Wasser sind blau. Hofft der Volksmund auf ewiges Leben im Himmel<br />
oder die Rückkehr eines Bekannten über den Ozean? Oder hoffen wir<br />
auf beides in Form eines Urlaubs? Im Allgemeinen wird Blau eher der<br />
kühlere Bereich des Spektrums zugeordnet, Rot hingegen der warme.<br />
In einem rot gestrichenen Zimmer wird die Temperatur um 2-3 Grad<br />
Celsius höher empfunden als in einem blauen. Auf diese Weise können<br />
wir unser Unterbewusstsein überlisten und Heizkosten sparen. Rot<br />
hebt uns in ein höheres Energielevel, Wärme und Behaglichkeit stellt<br />
sich ein. Das Farbspektrum des Feuers zeigt uns dies seit den Anfängen<br />
der Menschheit. Allerdings hat sich so mancher schon die Finger<br />
daran verbrannt, eine Tatsache, die man auch dem Verliebtsein gerne<br />
zuschreibt. Rot bezeichnet also einen aktiven Zustand, von aufwärmen<br />
bis verbrennen, von behaglich bis schmerzhaft. Letzterem kommt die<br />
Farbe des Blutes entgegen. Ebenso können hier Farbschattierungen<br />
und die Kombination mit Formen Klarheit schaffen. Augenblicklich klar<br />
wird auch die Bedeutung von roten Schaltern bei gefährlichen technischen<br />
Geräten. Das Chlorophyll in der Natur ist grün, jährlich kehrt es<br />
verlässlich wieder und ernährt so Mensch und Tier. Schilder für Notausgänge<br />
haben die gleiche Farbe. Auf welches Ziel dürfen wir also<br />
hoffen, wenn wir sie benützen? Empfinden wir letztlich die Natur als<br />
verlässlicher und treuer als Kulturbauten? Eifersucht ist Gift für jede<br />
Beziehung, daher möglicherweise Gelb als volkstümliche Symbolik. War<br />
etwa ein bestimmtes, besonders giftiges Gelb gemeint? Hier kann bis<br />
ins Unendliche spekuliert werden. Die psychologische Wirkung von<br />
Farbe füllt ganze Bände. Ich beschränke mich jetzt wieder auf Wahrnehmung<br />
der Farben in <strong>Mimikry</strong>.<br />
Der erste Farbeindruck soll durch die Kombination von goldenem<br />
Hintergrund und dem quantitativ dominanten Blau die Assoziation von<br />
Tutenchamuns Totenmaske oder ähnlichem ägyptischem „Zierrat“<br />
vermitteln. Dieser Brückenschlag zur alten Hochkultur und die Fülle<br />
kleiner geordneter Zeichen lassen ahnen: Ah, hier gibt’s Hieroglyphen<br />
zu entdecken. Und als nächstes stellt man fest: Ja, das kenne ich doch<br />
alles! Diese Gebrauchsanweisung wurde bis dahin in Sekundenbruchteilen<br />
aufgenommen, so jedenfalls meine Intention bei der Planung von<br />
<strong>Mimikry</strong>. Jetzt geht’s ins Detail. Ich wähle dunkles Blau für den männlichen<br />
Teil der Unterhaltung, und Rot bezeichnet den weiblichen. Bei<br />
den Menschen ist das Weibchen nun mal das schillerndere der beiden<br />
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EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
Geschlechter. Auch sagt man ihm mehr Emotionalität nach, also Rot<br />
für die Frau. Den Umkehrschluss, dass der blau dargestellte Mann der<br />
Kühlere sei, widerlegen hoffentlich die Geschichten. Vielmehr spielt der<br />
gängige Farb-dress-code hier mit eine Rolle. Rot tritt in einer hellen<br />
und einer dunklen Variante auf. Dunkles Rot steht für die negativen<br />
Assoziationen wie Schmerz, Blut und Verbot. Helles Rot transportiert<br />
die Eigenschaften Geborgenheit, Liebe, Verliebtsein usw. Wenn Farben<br />
mit schillernder Holografiefolie unterlegt sind, soll dies die Emotionalität<br />
unterstreichen, was hier in der Reproduktion leider nur schwer<br />
wiederzugeben ist. Schwarz übernimmt die Erzählfunktion in Form<br />
einer neutralen Linie. Als Farbe eingesetzt bezeichnet es Negativwendungen<br />
in den Geschichten wie beim Totenkopf.<br />
11.5. Neue Zeichen<br />
Mensch<br />
Kind<br />
Auge<br />
Kuh<br />
Wespe<br />
Schlange<br />
Galgen<br />
Schwangerschaft<br />
Mann<br />
Frau<br />
Fuß(tritt)<br />
* Frei nach Umberto Ecco: Zeichen.<br />
Einführung in einen Begriff und<br />
seine Geschichte, Suhrkamp Verlag<br />
Nicht jede Situation konnte mit vorhandenen Zeichen aus Natur, Kultur<br />
und Farbwelt hinreichend beschrieben werden. Daher mussten neue<br />
Zeichen geschaffen werden. Der gängigste Weg, ein Zeichen zu erschaffen,<br />
besteht darin, den zu bezeichnenden Gegenstand auf das Wesentliche<br />
zu reduzieren, so dass seine Erkennbarkeit unmissverständlich gewahrt<br />
bleibt. Wenn das Wesen eines Zeichens in irgendeiner Form einen optischen,<br />
haptischen oder akustischen Bezug zu seinem Referenten aufweist,<br />
so nennt die Lehre der Semiotik dies einen ikonischen Bezug. Das Zeichen<br />
selbst ist ein Ikon. Symbole sind kulturell oder von bestimmten Personengruppen<br />
geschaffene Zeichen, die die interne Kommunikation erleichtern<br />
sollen. Der zeigende Finger hat einen vektorischen Bezug zum bezeigten<br />
Gegenstand. Der Finger als Zeichen wird als Index bezeichnet. Und schließlich<br />
zeugt zum Beispiel „Rauch“ von vorhandenem Feuer, obwohl man das<br />
Feuer nicht sieht. Der Bezug ist symptomatisch, Rauch damit ein Symptom<br />
für Feuer. Dieser keine Ausflug in die Semiotik vermittelt ansatzweise die<br />
Spielarten beim Dekodieren von Zeichen.* Ein Männchen aus Strichen<br />
bezeichnet einwandfrei einen Menschen. Reckt das Männchen die Arme<br />
schräg nach oben, wird daraus zweifelsfrei ein Kind. Ein Ikon, das durch<br />
optische Kleinigkeiten konkretisiert wird. Neben der „Mars“- und „Spiegel“-<br />
Symbolik aus Wissenschaft und Graffiti können Mann und Frau auch durch<br />
„Smilies“ dargestellt werden. Aus Punkt, Punkt, Komma, Strich fertigt man<br />
das Mondgesicht, lange Haare definieren die Frau, und ein Bart zeigt<br />
Männlichkeit. Durch Stellung, Form und Größe von Augen, Mund und Nase<br />
lassen sich Emotionen transportieren. Nach oben gezogene Mundwinkel<br />
lachen, nach unten geneigt verraten sie schlechte Stimmung. Große Augen<br />
mit hoher Stirn bedienen das Kindchenschema, Punktaugen, schmaler<br />
Mund und tiefe Stirn wirken dagegen alt. Sogar ethnische Zugehörigkeiten<br />
lassen sich dadurch ausdrücken. Nach innen geneigte Striche als Augen<br />
reichen um einen Asiaten zu erzeugen. Vertiefen sie sich in die „Punkt-<br />
Strich- Gesichter-Matrix“ auf Seite 21 und sie werden noch eine Reihe<br />
anderer Aspekte entdecken, die sich allein mit diesen einfachen Mitteln<br />
ausdrücken lassen.<br />
Harald Kroiss S 13
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
12. Wie wir Zeichen verstehen<br />
oder Dekodierungsmechanismen<br />
Je historischer, um so deutlicher.<br />
In der eben vollzogenen Einteilung der Zeichen fallen häufig Überschneidungen<br />
auf. Im Straßenverkehr haben wir gesehen, dass sogar<br />
innerhalb eines Systems Zeichen einerseits emotional erfasst werden<br />
und andererseits gelernt werden. Wenn nun ein erlerntes Zeichen in<br />
den „Umgangszeichenschatz“ übergegangen ist, wird es dann weiterhin<br />
emotional erfasst, oder bleibt es eine Vokabel? Je mehr Sie in<br />
einer erlernten Sprache kommunizieren, desto mehr Emotionen bringen<br />
sie automatisch ein. Personen, die jahrelang nur in der Fremdsprache<br />
kommunizieren, erfahren diese zunehmend als die eigene.<br />
Das System Sprache wird emotional erfasst. Allerdings selten in der<br />
gleichen Emotionalität wie die Muttersprache. Es gibt also eine<br />
Graduierung der emotionalen Erfassbarkeit.<br />
Klar, was hier passieren könnte<br />
„Trinke nie aus Flaschen, deren Inhalt du nicht kennst“, ist einer der<br />
elementarsten Lehrsätze, die wir einem Kind zuteil werden lassen.<br />
Insbesondere, wenn sich darauf das Symbol des Totenkopfes befindet.<br />
Nehmen wir an, dass ein echter Totenkopf tatsächlich intuitiv als<br />
Warnung erfasst wird, so ist kaum zu erwarten, dass das Abstraktionsvermögen<br />
eines Dreijährigen ausreicht, um in der linearen<br />
Zeichnung auf der Flasche eben dies zu erkennen. Wir tun also gut<br />
daran, ihm dieses Ikon als Symbol zu lernen.<br />
Hier ist es mehr die Blechprägung,<br />
die mich von der Ernsthaftigkeit<br />
der Warnung überzeugt.<br />
Neonfarbe lasst sich hier nicht<br />
darstellen. Selbst in der Dämmerung<br />
bündelt Neon das Restlicht.<br />
Bei den Farben verwickelt sich die Problematik noch mehr. Sie sind<br />
reine Abstraktion, da sie nie ohne Form auftreten können und finden<br />
sich unweigerlich (in der einen oder anderen Form) überall. Man müsste<br />
stark fehlsichtig sein, um Farben zu übersehen. Betrachten wir nur<br />
die bis hier eingeführten Referenten von Gelb genauer. Als ein Aspekt<br />
der Sonne besteht ein ikonischer Bezug. Soll Gelb Gefahr bezeichnen,<br />
bezieht es sich wahrscheinlich auf eine optische Eigenschaft des<br />
Feuers, die eigentlich für eine haptische, nämlich die Hitze steht. Die<br />
muss dann für für alle Referenten herhalten, die gefährlich sein können,<br />
also auch: Achtung! Spitze Ecke, stoß dich nicht. In diesem Fall ist<br />
eine emotionale Erfahrung als Zeichen zwischengeschaltet. Bei Hass<br />
und Eifersucht könnte es sich mit dem „gelben Gift“ ebenso verhalten,<br />
dies aber ohne Gewähr. In Zeichen, die besondere Aufmerksamkeit<br />
erregen sollten, wird oft die Neonvariante von Gelb benutzt. Neongelb<br />
wirkt viel kühler als reines Gelb, da es zusätzlich den ultravioletten<br />
Bereich des Farbspektrums reflektiert. Dies ist eine Farbe, die wir aus<br />
der Natur, insbesondere vom Feuer nicht kennen. Daher vermute ich,<br />
dass hier nicht die Hitze des Feuers für das Zeichen Pate stand, sondern<br />
einzig die fremdartige Leuchtkraft für die warnende Signalwirkung<br />
verantwortlich zeichnet. Bei Farbzeichen entscheiden Nuancen<br />
über die Bedeutung. Daher scheinen Farben eines der vernetztesten<br />
Zeichensysteme überhaupt zu sein.<br />
Harald Kroiss S 14
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
Zeichen können erlernt sein, emotional erfasst werden, oder sie können<br />
sich durch einen Lernprozess emotional etablieren. Darüber hinaus<br />
können sie noch bewusst kodiert werden und vieles mehr. Dabei<br />
ist jede Mischform und auch jedes Missverständnis denkbar. Vielleicht<br />
hatten Sie im letzten Urlaub auch das eine oder andere Problem, Zeichen<br />
zu entschlüsseln, die für Landsleute selbstverständlich waren. Ein<br />
Mensch aus dem Mittelalter würde zwar einen komplizierten mathematischen<br />
Lösungsweg kaum nachvollziehen können, würde aber die<br />
Rechnung befriedigt mit den Worten weglegen: „Bei diesen vielen<br />
Kreuzen müssen die Urheber immerhin christliche Menschen sein.“<br />
Die Tabelle auf Seite 20 dient dem Versuch, die Zeichen aus <strong>Mimikry</strong><br />
nach ihrem Dekodierungsmechanismus zu klassifizieren. Ein Punkt in<br />
der entsprechenden Koordinate ordnet das Zeichen sicher zu, eine<br />
Wellenlinie meint: teilweise richtig und ein x kann sich nicht festlegen.<br />
Die Zuordnung stellt sich bei diesen wenigen, verspielten Zeichen<br />
schon außerordentlich schwierig und unscharf dar, dazu kommt, dass<br />
es keine objektiven Kriterien gibt.<br />
13. Zeichenkombinationen<br />
Von Farben wissen wir bisher, dass sie optisch erfassbar nur in<br />
Kombination mit Formen auftreten können. Ich kann „Blau“ als Wort<br />
gebrauchen, worauf mein Gegenüber eine Vorstellung von dieser<br />
Farbe entwickeln wird. Dies kommt abstraktem „Blau“ sicher näher als<br />
einem blauen Kreis oder einem blauen Auto. Trotzdem fühlt man sich<br />
mit dem Wort „Blau“ etwas allein gelassen, worauf das Gehirn sofort<br />
versucht Assoziationen zu schaffen, um der Farbe Halt bzw. Form zu<br />
geben oder einem Gegenstand zuzuordnen. Zeichenkombinationen sind<br />
nicht nur selbstverständlich, sondern in diesem Fall sogar unumgänglich.<br />
Ein Kreis verweist als abstraktes Zeichen nur unklar auf eine<br />
Vielzahl konkreter Assoziationsmöglichkeiten. Auch er bedarf eines<br />
Kontextes. Im Umfeld eines Textes wird er zum Buchstaben „O“, in<br />
einer Zahlenreihe zur Null. Kombiniert man ihn mit einem Strich, entsteht<br />
ein „Q“, strahlenförmig angeordnete Striche lassen eine Sonne<br />
scheinen. Nur wenig ist notwendig, um eine konkrete Kodierung zu<br />
schaffen. Fügt man ein Kreuz an die Unterseite des Kreises, entsteht<br />
das Zeichen für „weiblich“ oder schlicht „Frau“. Wird dieses Zeichen<br />
überlappend dupliziert, erhält man zwei Frauen, möchte man glauben.<br />
Durch die sich schneidenden Kreise enthält diese Kombination zusätzlich<br />
das Zeichen für Ehe. Also Ehe zwischen zwei Frauen. Aber der<br />
Volksmund belehrt uns eines Besseren. Es steht für „Frauenbewegung“<br />
allgemein, für gleichgeschlechtliche weibliche Beziehungen,<br />
richtet sich gegen Chauvinismus und schlägt Machos in die Flucht. In<br />
der Entstehungszeit dieses Zeichens wurde damit Neuland betreten.<br />
Es war und ist Lebenseinstellung und Philosophie. Der gesamte<br />
Zeitgeist einer Gruppe von Personen bildet den Referenten dieser<br />
Harald Kroiss S 15
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
Zeichenkombination. Ein weniger abstraktes Beispiel für Zeichenkombinationen<br />
sind historische Wappen. Als Banner in die Schlacht getragen,<br />
standen sie für ein Volk und boten Orientierung für Freund und<br />
Feind. Eine Zeichenkombination kann also weit mehr oder etwas ganz<br />
anderes ausdrücken als die Summe der Einzelzeichen erahnen lässt.<br />
14. Zeichenkombinationen in <strong>Mimikry</strong><br />
In <strong>Mimikry</strong> habe ich den Versuch unternommen, verschiedene etablierte<br />
Zeichen zu kombinieren, die weder aus einem Zeichensystem stammen,<br />
noch historisch gewachsen sind. (Abb. links) Zudem wurden etablierte<br />
Elemente modifiziert. Der Kreis mit dem Pfeil ist auch mit verbogenem<br />
Pfeil noch eindeutig als Zeichen für „Mann“ dekodierbar.<br />
Allerdings scheint dieser Mann psychisch nicht ganz einwandfrei, was<br />
durch das Punkt-Strich-Gesicht noch untermauert wird. Es treffen drei<br />
Elemente aufeinander: Die Mann/Frau-Symbolik definiert die Geschlechter,<br />
die Punkt-Strich-Gesichter zeigen die Stimmungen und die<br />
gebogene oder gewellte Linie verdeutlicht diese. Bei einem lachenden<br />
Mund weisen die Mundwinkel nach oben, bei einem traurigem nach<br />
unten, ein unschlüssiger Mund ist gewellt. Die ersten beiden lassen<br />
sich in der Realität leicht bestätigen, aber einen gewellten Mund habe<br />
ich noch nicht gesehen. Offenbar handelt es sich auch hier um eine<br />
Zeichenkombination, die den traurigen und den lachenden Mund vereint.<br />
Zusammen mit den Augen entsteht der Gesichtsausdruck, der<br />
von unschlüssig über ängstlich bis zur Verzweiflung gesteigert werden<br />
kann. Aus der Welt des Comics sind uns diese Phänomene erschrekkend<br />
vertraut.<br />
Eine weitere Kombination personalisiert Verkehrszeichen. Vorfahrt,<br />
Vorfahrt achten und Einfahrt verboten werden auf die Kommunikation<br />
im geschlechtlichen Verkehr angewandt. Wenn man so will, kann man<br />
Imponiergehabe und Autokult oben drauf interpretieren. Und jetzt<br />
schließlich zu den Geschichten.<br />
15. Die Geschichten in <strong>Mimikry</strong><br />
Harald Kroiss S 16
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
15.1. Geschichte I, Die Macho-Story<br />
Ein Mann sieht eine Frau, die ihm gefällt, und möchte mit ihr „spielen“. Die<br />
Frau legt ihm nahe, dass seine Bedürfnisse nichts mit Liebe zu tun haben,<br />
und dass sie solche Männer nicht leiden kann. Daraufhin ist der Mann<br />
etwas verunsichert, erklärt ihr aber, dass er schwer in Flammen steht.<br />
Sie beschreibt ihm, wozu es führt, wenn nur er bestimmt, wo’s lang geht.<br />
Sie will sich nicht unterordnen und erteilt damit sexuelles „Einfahrverbot“.<br />
Der Mann ist geknickt. Weiter erklärt sie ihm, dass sie erst nach der<br />
Hochzeit Liebe machen wolle. Ihm vergeht sämtliche Lust, worauf er sich<br />
mit nicht ganz korrekten Worten verabschiedet.<br />
Harald Kroiss S 17
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
15.2. Geschichte II, Die Aids-Story<br />
Ein Mann macht einer Frau schöne Augen und schildert sein Vorhaben<br />
in den schillerndsten Farben. Sie weist ihn darauf hin, dass Sex heutzutage<br />
sehr gefährlich sei, weil man sich leicht mit tödlichem Aids infizieren<br />
könne. Der Mann beteuert seine Liebe und schlägt vor ein Kondom<br />
zu benutzen, worauf sie ihm „freie Fahrt“ erteilt. .... Hinterher verschwindet<br />
der Mann mit den Worten: „Lass uns bald mal telefonieren“.<br />
Sie bleibt zurück und weiß nicht, was sie davon halten soll.<br />
Harald Kroiss S 18
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
15.3. Geschichte III, Die Familien-Story<br />
Eine Frau ist traurig, jemand hat ihr das Herz gebrochen. Irgendwann<br />
trifft sie einen Mann, der ihr zuhört. Sie erklärt ihm, dass kein Mann<br />
das ist, was sie sich wünscht, und dass sie kurz davor ist sich aufzuhängen.<br />
Der Mann erklärt ihr sehr einfühlsam, dass es auch Ausnahmen<br />
gibt. Beide verlieben sich ineinander, heiraten und bekommen<br />
Kinder. Und wenn sie nicht gestorben sind, so lieben sie (sich) noch<br />
heute.<br />
Harald Kroiss S 19
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
16. Einteilung der Zeichen nach<br />
ihrem Dekodierungsmechanismus<br />
Von bestimmten<br />
Gruppen codierte<br />
Zeichen, um die<br />
interne Kommunikation<br />
zu ermöglichen<br />
Emotional oder<br />
intuitiv erfassbare<br />
Zeichen<br />
Erlernte Zeichen<br />
Kulturelle<br />
Zeichen<br />
Dekodierung<br />
erfolgt durch<br />
Assoziation<br />
eines<br />
Gegenstandes<br />
sicher zuzuordnen teilweise zuzuordnen nicht eindeutig zuzuordnen<br />
Harald Kroiss S 20
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
17. Punkt-Strich-Gesichter-Matrix<br />
Gesichtsaufteilung<br />
Gesicht im unteren Drittel im oberen Drittel mittig und gedrungen mittig und gesperrt<br />
eng weit eng weit eng weit eng weit<br />
Augenformen<br />
beide schräg in eine Richtung schräg nach innen schräg nach aussen waagrecht Punkte<br />
lang kurz lang kurz lang kurz lang kurz groß klein<br />
Harald Kroiss S 21
<strong>Mimikry</strong><br />
1990<br />
EINE SEMIOTISCHE<br />
BETRACHTUNG<br />
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Jahr der Erstveröffentlichung ist 1990.<br />
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Des Weiteren gilt das UrhR.<br />
Harald Kroiss S 22