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Management of Neuromuscular Diseases Letter Nr. 23 - DGM

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<strong>Management</strong> <strong>of</strong><br />

<strong>Neuromuscular</strong> <strong>Diseases</strong><br />

Deutsche Gesellschaft<br />

für Muskelkranke e.V.<br />

<strong>Letter</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>23</strong><br />

Polyneuropathien<br />

Klinik, Ätiologie und Elektrophysiologie<br />

B. Neundörfer · J. D. Rollnik · B. Mohammadi<br />

Klinik und Ätiologie der Polyneuropathien<br />

B. Neundörfer<br />

Allgemeine Vorbemerkungen<br />

Die Diagnose einer Polyneuropathie (PNP) beruht<br />

gleichsam auf drei Säulen: den Beschwerden der Patienten<br />

(sensible, motorische und vegetative Reizerscheinungen<br />

und Defizite), dem klinischen Befund<br />

und der neurophysiologischen Diagnostik. Das klinische<br />

Bild wird davon bestimmt, welcher Faseranteil<br />

(motorischer, sensibler [dickbemarkt, dünnbemarkt,<br />

marklos], autonomer) und an welcher Stelle<br />

das periphere Nervensystem (PNS) geschädigt ist<br />

(Wurzel, gemischte Nerven, Nervenplexus, einzelne<br />

Nerven, Hirnnerven). Vor allem im angelsächsischen<br />

Raum differenziert man zwischen einer symptomatischen<br />

(mit Beschwerden), asymptomatischen<br />

(keine Beschwerden, aber pathologisch klinischer<br />

Befund) und einer subklinischen PNP (nur pathologisch<br />

neurophysiologischer Befund).<br />

Beschwerden<br />

Sensible Reizerscheinungen (Parästhesien,<br />

Schmerzen) und Defizite<br />

Aus der Art der Beschwerden kann man auf den betr<strong>of</strong>fenen<br />

Fasertyp rückschliessen: sind die dickkalibrigen<br />

A-ß-Fasern betr<strong>of</strong>fen, die das Berührungsempfinden<br />

und die Tiefensensibilität leiten, berichten<br />

die Patienten über Kribbeln, Prickeln, Ameisenlaufen,<br />

Pelzigkeits- und Taubheitsgefühle, über Gefühle<br />

des Eingeschnürtseins, Schwellungsgefühle, Gefühle<br />

des unangenehmen Druckes sowie der Gangunsicherheit,<br />

insbesondere in Dunkelheit. Bei einer Irritation<br />

der dünnkalibrigen A-δ- und C-Fasern sind Klagen<br />

Tabelle 1<br />

Klinischer Befund bei Polyneuropothien<br />

■ Hypo-/Areflexie<br />

■ Sensibilitätsstörungen<br />

(meist gliedabschnittweise begrenzt)<br />

■ schlaffe, atrophische Paresen<br />

■ autonome Störungen<br />

■ Hirnnervenausfälle<br />

über Wärme- und Kälteparästhesien, über Schmerzen<br />

und evt. schmerzlose Verletzungen typisch.<br />

Motorische Reizerscheinungen und Defizite<br />

Bei einer Irritation der motorischen A-α-Fasern treten<br />

Faszikulationen, Myokymien und Crampi auf,<br />

und die Patienten geben eine Muskelschwäche an.<br />

Neurologisch klinischer Befund<br />

Die für eine PNP typischen klinischen Befunde<br />

können der Tabelle 1 entnommen werden. Die Störungsmuster<br />

des autonomen Nervensystems sind in<br />

der Tabelle 2 zusammengefasst.<br />

Neurophysiologische Diagnostik<br />

Bezüglich der neurophysiologischen Diagnostik<br />

kann auf das entsprechende gesonderte Kapitel verwiesen<br />

werden.<br />

1


Tabelle 2<br />

Autonome Störungen<br />

Somatische Nerven begleitende<br />

autonome Nerven<br />

■ Pupillenstörungen<br />

■ trophische Störungen<br />

■ Hypo-/Anhidrosis<br />

■ vasomotorische Störungen<br />

Viszerale Nerven<br />

■ kardio-vaskulär<br />

■ gastro-intestinal<br />

■ urogenital<br />

Autonome Afferenzen<br />

■ fehlender koronarer Ischämieschmerz<br />

■ fehlende Wahrnehmung und vegetative<br />

Reaktion auf Hypoglykämie<br />

■ fehlendes Gefühl für Blasenfüllung<br />

■ fehlender Wehenschmerz<br />

Tabelle 3<br />

Zusatzuntersuchungsmethoden,<br />

Funktionstest des autonomen<br />

Nervensystems (QAT)<br />

(San Antonio-Conference 1988)<br />

Herzfrequenz<br />

■ beim Valsalva-Manöver;<br />

■ bei tiefen Atemzügen;<br />

■ nach dem Aufstehen;<br />

Blutdruckänderung<br />

■ nach dem Aufstehen<br />

■ bei anhaltendem Handdruck<br />

Sudomotorenfunktion<br />

■ temperaturinduziertes Schwitzen;<br />

■ chemisch induziertes Schwitzen<br />

(z.B. durch Azetylcholin oder Pilocarpin)<br />

Quantitative<br />

Sensibilitätstestmethoden (QST)<br />

sowie Funktionstests des autonomen<br />

Nervensystems (QAT)<br />

Um die Sensibilität besser quantifizierbar zu machen,<br />

wurden in den letzten Jahren Methoden entwickelt,<br />

die vorwiegend im Rahmen von wissenschaftlichen<br />

Studien (z.B. Medikamentenstudien),<br />

aber auch in der Klinik zur Erhöhung der diagnostischen<br />

Genauigkeit eingesetzt werden: Zur Messung<br />

des Vibrationsempfindens die Vibratometrie<br />

mit Hilfe von sog. Vibratometern zur Funktionsprüfung<br />

der dickkalibrigen Fasern, zur Messung<br />

der Funktion der dünnkalibrigen Fasern die Thermotestung<br />

mit Hilfe von Thermoden. Die zur<br />

Funktionsmessung des autonomen Nervensystems<br />

entsprechend der Empfehlung der San Antonio-<br />

Tabelle 4<br />

Klinisch-chemische Untersuchungen<br />

■ Blutzuckertagespr<strong>of</strong>il ■ Glukosebelastungstest ■ HbA1c<br />

■ Blutsenkung ■ Blutbild ■ Elektrophorese<br />

■ Immunelektrophorese ■ Bence-Jones-Protein ■ Transaminasen<br />

■ Porphyrine ■ Xylose-Test ■ Schilling-Test<br />

■ Kalzium ■ Anorganisches Phosphat ■ Eisen<br />

■ Vitamin B 1 ■ Vitamin B 6 ■ Vitamin B 12<br />

■ Folsäure ■ Vitamin E ■ harnpflichtige Substanzen<br />

■ TSH ■ ACE ■ Borrelia burgdorferi (IFT)<br />

Immunologische Parameter<br />

■ Kryoglobuline ■ Komplement C 3 ■ Komplement C 4<br />

■ Waaler-Rose-Test ■ CRP ■ ANA<br />

■ ANCA<br />

■ Anti-Cardiolipin-AK<br />

2


Konferenz von 1988 einsetzbaren Methoden für<br />

den klinischen Alltag sind in Tabelle 3 aufgelistet,<br />

wobei die Herzfrequenztestungen v.a. die Funktion<br />

des Parasympathikus, die Testungen des Blutdruckes<br />

die Funktion des Sympathikus und die<br />

Schweißsekretionstestungen die der Sudomotoren<br />

erfassen. Ein auch in der ärztlichen Praxis mit üblichen<br />

EMG-Geräten durchführbarer Test ist die<br />

Messung der sympathischen Hautantwort (SSR).<br />

Manifestationstypen (MT)<br />

Nach der Feststellung eines polyneuropathischen<br />

Syndroms ist die Beobachtung des Verteilungsmusters<br />

der klinischen Ausfälle, des sog. Manifestationstyps<br />

von großer Wichtigkeit, weil sie zusammen<br />

mit dem elektroneurographischen Befund die Weichen<br />

für weitere ätiologisch-diagnostische Schritte<br />

stellt.<br />

Man differenziert die symmetrischen von den asymmetrischen<br />

Manifestationstypen. Beim symmetrischsensiblen<br />

MT findet man die Kombination von<br />

distal betonten symmetrisch angeordneten Sensibilitätsstörungen<br />

in socken-, strumpf- bis handschuhförmiger<br />

Verteilung mit Reflexverlust, anfänglich<br />

meist der ASR. Dieser MT ist typisch für die meisten<br />

toxischen Formen, einschließlich der Alkohol-PNP,<br />

die nephrogene, die Amyloid-PNP, die senorische paraneoplastische<br />

PNP und für den Hauptteil der diabetischen<br />

PNP. Kommen zusätzlich symmetrisch angeordnete<br />

motorische Ausfälle hinzu oder sind diese<br />

von Anfang an dominierend, z.T. proximal betont,<br />

bezeichnet man dies als den symmetrisch-paretischen<br />

(oder motorischen) MT. Dieser geht z.T. aus<br />

dem symmetrisch-sensiblen MT hervor oder er ist<br />

von Anfang an vorhanden, wie z.B. beim akuten und<br />

z.T. chronischen GBS, der akuten intermittierenden<br />

Porphyrie und bei den HMSN.<br />

Unter den asymmetrischen MT versteht man die<br />

Mononeuropathia multiplex mit Ausfällen entsprechend<br />

dem Versorgungsgebiet einzelner Nerven<br />

und die Schwerpunkts-PNP mit zusätzlich symmetrisch-sensiblen<br />

oder symmetrisch-paretischen distal<br />

betonten Ausfällen. Bei asymmetrischem MT<br />

ist differentialdiagnostisch v.a. an eine vaskulär bedingte<br />

PNP zu denken (z.B. bei Kollagenosen oder<br />

bei nicht systemischer, auf das periphere Nervensystem<br />

beschränkter Immunvaskulitits, oder bei bestimmten<br />

Formen der diabetischen PNP). Aber<br />

auch entzündliche Formen kommen in Betracht,<br />

wie die Zosterneuritis, die Neuroborreliose oder<br />

die neuralgische Schulteramyotrophie.<br />

Tabelle 5<br />

Indikation zur Nerven-/Muskelbiopsie<br />

bei PNP ungeklärter Ätiologie<br />

■ asymmetrisches Verteilungsmuster;<br />

■ schwere sensomotorische Ausfälle;<br />

■ serologische Hinweise auf Immunopathie;<br />

■ schnell progrediente Symptomatik;<br />

■ stark schmerzhafte PNP;<br />

■ Verdacht auf Lepra, Amyloidose.<br />

Diagnostische Ausbeute: ca. 20–30%<br />

(v.a. Immunvaskulitis)<br />

Unter Berücksichtigung des elektroneurographischen<br />

Befunds entsteht dann der in Abbildung 1 dargestellte<br />

Algorithmus des diagnostischen Vorgehens.<br />

Zusatzuntersuchungsmethoden<br />

Wichtige Zusatzuntersuchungsmethoden, um im<br />

Rahmen des o.a. Algorithmus die differentialdiagnostische<br />

Abklärung vornehmen zu können, sind<br />

die Liquoruntersuchung (Zytologie, Gesamteiweiß),<br />

serologische Laborparameter, die aus der<br />

Tabelle 4 entnommen werden können, und die Tumorsuche.<br />

Der letzte diagnostische Schritt ist dann<br />

die Muskel-/Nervenbiopsie, deren Indikation der<br />

Tabelle 5 zu entnehmen ist. Es ist eine kombinierte<br />

Muskel-Nerv-Biopsie grundsätzlich zu empfehlen,<br />

weil die diagnostische Ausbeute v.a. im Hinblick<br />

auf eine Vaskulitis deutlich höher ist als bei einer<br />

isolierten Muskel- oder Nervenbiopsie.<br />

Bei Verdacht auf eine familiäre Erkrankung können<br />

molekulargenetische Untersuchungen bei manchen<br />

PNP-Formen die diagnostische Einordnung ermöglichen<br />

(z.B. bei den HMSN Typen 1a und 1b oder<br />

der tomakulösen Neuropathie).<br />

Ätiologien der Polyneuropathien<br />

Die Tabelle 6 gibt eine gegliederte Übersicht über<br />

die Fälle der möglichen Ätiologien.<br />

3


Abbildung 1<br />

Algorithmus zur differenzialdiagnostischen Abklärung von PNP<br />

(modif. nach Asbury, 1995)<br />

Typische PNP-Symptomatik<br />

Anamnese und neurologische Untersuchung<br />

positiv<br />

negativ<br />

Mononeuropathie<br />

Mononeuropathia multiplex<br />

symmetr. PNP<br />

EMG/NLG<br />

EMG/NLG<br />

EMG/NLG<br />

Suche nach Ätiologie:<br />

z.B. Engpasssyndrome,<br />

Diabetes, Lepra<br />

evtl. Op.<br />

axonal<br />

v.a. Vaskulitis,<br />

andere fokale<br />

Prozesse<br />

evtl. Biopsie<br />

Demyelinisation<br />

Verdacht auf<br />

MMN<br />

HIV,<br />

Paraproteinämie:<br />

HIV-Test,<br />

Immunelektrophorese<br />

L.P., Biopsie<br />

axonal<br />

Demyelinisation<br />

akut<br />

(Tage)<br />

subakut<br />

(Wochen<br />

Monate)<br />

chronisch<br />

(Jahre)<br />

diffuse Verlangsamung<br />

ohne Leitungsblock<br />

oder Dispersion<br />

Leitungsblock<br />

und/oder<br />

Dispersion<br />

akute<br />

Intoxikation,<br />

axonales GBS<br />

Familienanamnese,<br />

Untersuchung<br />

von Familienangehörigen<br />

Intoxikation,<br />

Systemerkrankung<br />

Immunelektrophorese<br />

(Paraproteinämie)<br />

akut<br />

(GBS)<br />

subakut<br />

oder<br />

chronisch<br />

(CIDP)<br />

Genetische<br />

Untersuchung<br />

und Beratung<br />

4


Tabelle 6<br />

Ursachen der Polyneuritiden und Polyneuropathien<br />

„ENTZÜNDLICHE“ POLYNEUROPATHIEN<br />

■ Immunopathien<br />

Akutes und chronisches Guillain-Barré-Syndrom (GBS), Fisher-Syndrom, multifokal motorische<br />

Neuropathie, akute bis subakute Pandysautonomie, neuralgische Schulteramyotrophie(?)<br />

■ Virale Infekte<br />

AIDS, Zytomegalie, Encephalitis epidemica, Grippe, Hepatitis C, Herpes zoster, Masern,<br />

Mononukleose, Mumps, Varizellen<br />

■ Bakterielle Infekte<br />

Borreliosen: Acrodermatitis chronica atrophicans, Polyneuritis bei lymphozyterer Meningitis<br />

(Bannwarth-Syndrom), Bruzellosen, Botulismus, Diphtherie, Lepra, Leptospirosen, Neurolues,<br />

Rickettsiosen, Ruhr, Toxoplasmose, Typhus, Paratyphus<br />

■ Allergische Reaktionen<br />

Serogenetische Polyneuritis<br />

VASKULÄR BEDINGTE POLYNEUROPATHIEN (UNTER EINSCHLUSS DER KOLLAGENOSEN)<br />

Obliterierende Gefäßerkrankungen, Periarteriitis nodosa, Lupus erythematodes, Rheumatische<br />

Arthritis, Sjögren-Syndrom, Sklerodermie, Immunvaskulitis (nicht systemische, auf das PNS<br />

begrenzte Vaskulitis), Kryoglobulinämie, Critically ill-PNP (?), Diabetes mellitus<br />

EXOTOXISCHE POLYNEUROPATHIEN<br />

■ Medikamente<br />

Amiodaron, Amitriptylin, Amphotericin B, Carbimazol, Chloramphenicol, Chloroquin,<br />

Chlorprotixen, Cimetidin, Cisplatin, Cromoglicinsäure, Cytarabin, Dapson, Diamidine,<br />

Diphenylhydantoin (?), Disulfiram, Enalapril, Ethambutol, Ethionamid, Ethoglucid, Gentamicin,<br />

Gluthemid, Gold, halogenierte Hydroxychinoline, Hydralazin, Imipramin, Indometacin, INH,<br />

Lachgas, Lithium, Methaqualon, Methimazol, Methylthiouracil, Metronidazol,<br />

Mutterkornalkaloide, Natriumzyanat, Neosalvarsan, Nialamid, Nitr<strong>of</strong>urane, Nitroimidazol,<br />

Nucleosid-Analoga (ddl, ddC, duT, 3Tc), Penizillin, Perhexilinmaleat, Procarbazin,<br />

Propylthiouracil, Salvarsan, Streptomycin, Sulfonamide, Sultiam, Suramin, Taxol, Thalidomid,<br />

Trichloräthylen, Vidarabinphosphat, Vinblastin, Vincristin, Vitamin B 6<br />

■ Umweltgifte, Gewerbegifte, Genussmittel<br />

Acrylamid, Äthylenoxid, Alkohol, Alkylphosphate, Arsen, Benzol, Blei, DDT, Dichlorbenzol,<br />

Dinitrophenol, Dimethylaminopropionitril (DMAPN), Doxorubicin, 2,4 D, Heroin,<br />

Hexacarbone, Hexachlorophen, Iminodipropionitril (IDPN), Methylbromid, Pentachlorphenol,<br />

polychlorierte Biphenyle, Quecksilber, Schwefelkohlenst<strong>of</strong>f, Tetrachlorkohlenst<strong>of</strong>f, Thallium,<br />

Triäthylzinn, Triarylphosphat, Zinkpyridinethion<br />

5


Tabelle 6 (Fortsetzung)<br />

Ursachen der Polyneuritiden und Polyneuropathien<br />

ENDOTOXISCH-METABOLISCHE POLYNEUROPATHIEN (UNTER EINSCHLUSS VON GRANULOMATOSEN UND<br />

MALIGNEN PROZESSEN MIT INFILTRATION UND KOMPRESSION DER NERVEN UND CHRONISCH-HEREDITÄREN<br />

VERLAUFSFORMEN)<br />

■ St<strong>of</strong>fwechselerkrankungen und Endokrinopathien<br />

Akromegalie, Amyloidose, Diabetes mellitus, Hypoglykämie, Hypothyreose, Porphyrie,<br />

Schwangerschaft, Urämie<br />

■ Mangelernährung<br />

Beri-Beri (Vitamin B 1<br />

-Mangel), Vitamin B 6<br />

, Vitamin B 12<br />

, Vitamin E, Hungerdystrophie,<br />

gastroenteropankreatogene Malabsorption<br />

■ Paraneoplastische Syndrome<br />

v.a. bei Karzinomen der Lunge, des Magens, der Mammae und der femininen Genitalorgane,<br />

M. Hodgkin, Leukämie, maligne Retikulosen<br />

■ Paraproteinämie<br />

Plasmozytom, M. Waldenström, Kryoglobulinämie, benigne monoklonale Gammopathien<br />

■ Infiltrierende Prozesse<br />

M. Boeck, M. Hodgkin, Leukämien, maligne Retikulosen, Meningiosis blastomatosa,<br />

Polyzythämie(?)<br />

■ Chronisch-hereditäre Verlaufsformen<br />

Amyloidose (Paramyloidose oder primäre Amyloidose), hereditäre sensible Neuropathien<br />

(HSAN), hereditäre motorisch-sensible Neuropathien (HMSN), familiäre rezidivierende polytope<br />

Neuropathie (tomakulöse Neuropathie), Refsum-Syndrom (Heredopathia atactica polyneuritiformis),<br />

metachromatische Leukodystrophie, M. Krabbe, Adrenomyeloneuropathie, Cockayne-<br />

Syndrom, Bassen-Kornzweig-Syndrom, Louis-Bar-Syndrom, Tangier-Erkrankung, M. Fabry,<br />

Riesenaxonopathie, infantile neuroaxonale Dystrophie<br />

Literatur<br />

[1] Asbury AK, Thomas PK: The clinical<br />

approach to neuropathy. In: Asbury AK,<br />

Thomas PK (eds): Peripheral Nerve Disorders<br />

2. Butterworth Heinemann, Oxford 1995;<br />

1–28<br />

[2] Dengler R, Heidenreich F: Polyneuropathien.<br />

Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 1999<br />

[3] Neundörfer B: Polyneuropathien: Standards.<br />

Nervenheilk 1995;14: 164–74<br />

[4] Schaumburg HH, Berger AR, Thomas PK:<br />

Disorders <strong>of</strong> peripheral Nerves, Ed 2. Davis<br />

Comp. Philadelphia 1992<br />

[5] Thomas PK, Ochoa J: Clinical features and<br />

differential diagnosis. In: Dyck PJ, Thomas<br />

PK, Griffin JW, Low PA, Poduslo J (eds):<br />

Peripheral Neuropathy, Ed 3. Saunders<br />

Comp. Philadelphia, London, Toronto,<br />

Montreal, Sydney, Tokyo 1993; 749–74.<br />

6


Neurophysiologische Diagnostik bei Polyneuropathien<br />

J. D. Rollnik · B. Mohammadi<br />

Einleitung<br />

Neben der klinisch-neurologischen Untersuchung<br />

können neurophysiologische Methoden einen<br />

wichtigen Beitrag zur Differenzialdiagnostik bei<br />

Polyneuropathien leisten. Das Spektrum neurophysiologischer<br />

Methoden erstreckt sich dabei von der<br />

Nadel-Elektromyografie (EMG) über die Untersuchung<br />

der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) bis<br />

hin zu den sogenannten Evozierten Potenzialen<br />

(Motorisch Evozierte Potenziale – MEP, Somatosensibel<br />

Evozierte Potenziale – SSEP). Letztere<br />

ermöglichen bei klinisch zweideutigem Befund die<br />

Abgrenzung peripher-neurologischer Schäden von<br />

zentralen Läsionen. Routineverfahren in der<br />

klinisch-neurophysiologischen Polyneuropathie-<br />

Diagnostik sind jedoch das EMG sowie die Elektroneurografie,<br />

mit der Bestimmung der NLG sensibler<br />

und motorischer Nerven. Über diese Standardverfahren<br />

möchte die vorliegende Übersicht<br />

informieren. Zur Vertiefung seien Lehrbücher der<br />

Klinischen Neurophysiologie genannt [1–3].<br />

Motorische Elektroneurografie<br />

Zahlreiche motorische und sensible Nerven sind einer<br />

neurophysiologischen Untersuchung gut zugänglich.<br />

Für die Routinediagnostik bei Polyneuropathien<br />

hat sich die Untersuchung des N. peroneus<br />

und des N. suralis an den unteren Extremitäten in<br />

besonderer Weise bewährt.<br />

Abbildung 1<br />

Normale motorische Neurografie des<br />

N. peroneus<br />

Zeitachse 5 ms/div, Verstärkung 2 mV/div.<br />

Spur A1: MSAP nach Reizung oberhalb des<br />

Sprunggelenkes, distal-motorische Latenz: 4.5 ms,<br />

Amplitudenhöhe des MSAP: 5.8 mV.<br />

Spur A2: MSAP nach Reizung unterhalb des Fibulaköpfchens,<br />

motorische NLG am Unterschenkel:<br />

53 m/s, Amplitudenhöhe des MSAP: 5.9 mV.<br />

Spur A3: MSAP nach Reizung oberhalb des<br />

Fibulaköpfchens, motorische NLG über dem<br />

Fibulaköpfchen: 60 m/s, Amplitudenhöhe des<br />

MSAP: 5.8 mV.<br />

Bei der motorischen Neurografie des N. peroneus<br />

wird wie folgt vorgegangen: Oberflächenelektroden<br />

werden über dem vom N. peroneus innervierten<br />

M. extensor digitorum brevis am lateralen Fußrücken<br />

fixiert. Zum Auffinden dieses Muskels bittet<br />

man den Patienten, die Zehen gegen den<br />

Widerstand des Untersuchers zu strecken. Die sog.<br />

differente Elektrode wird dann über dem Muskelbauch<br />

plaziert, die indifferente weiter distal davon,<br />

über der Sehne. Dann wird mit der Reizgabel an<br />

drei Stellen stimuliert (orthodrom, d.h. entlang der<br />

normalen Erregungsrichtung des Nerven – die<br />

Reizkathode weist nach distal), und zwar über dem<br />

Fußgelenk, zwischen der Sehne des M. extensor digitorum<br />

longus und des M. extensor hallucis longus.<br />

Der zweite Reizort liegt unterhalb des Fibulaköpfchens,<br />

der dritte oberhalb und medial der<br />

Sehne des M. biceps femoris. Die Abstände zwischen<br />

den einzelnen Stimulationsorten müssen genau<br />

gemessen werden. Die resultierende elektrische<br />

Erregung des M. extensor digitorum brevis wird<br />

dann in Form der nur wenige Millivolt großen<br />

Muskelsummenaktionspotenziale (MSAP) als Muskel-<br />

(oder M-) Antwort aufgezeichnet und hinsichtlich<br />

Amplitudengröße sowie Latenz beurteilt (Abb.<br />

1). Bewertet werden im einzelnen:<br />

1. die distal motorische Latenz (DML), d.h. die<br />

Zeit vom Beginn der Stimulation (oberhalb des<br />

Fußgelenkes) bis zum negativen (nach oben<br />

gerichteten) Abgang des MSAP über dem<br />

Zielmuskel (Normgrenze in unserem Labor:<br />

6.5 ms, bei einer Distanz von 9–12 cm),<br />

7


Abbildung 2<br />

Normale sensible Neurografie des<br />

N. suralis<br />

Zeitachse 1 ms/div, Verstärkung 10 µV/div.<br />

Sensible NLG: 43 m/s, Amplitudenhöhe des<br />

SNAP: 14.5 µV.<br />

2. die motorische Nervenleitgeschwindigkeit<br />

(NLG) zwischen zwei Reizorten (Normgrenze:<br />

40 m/s),<br />

3. die Amplitudenhöhe der resultierenden MSAP<br />

(normal: ≥ 2 mV), sowie schließlich<br />

4. die kürzeste F-Wellen-Latenz (normal:<br />

52–61ms, abhängig von der Körpergrösse!).<br />

Zur Bestimmung der sog. F-Wellen wird eine Reizung<br />

des motorischen Nerven durchgeführt. Es<br />

kommt zu einer antidrom laufenden Erregung, die<br />

am a-Motoneuron ohne Zwischenschaltung einer<br />

Synapse umschlägt und orthodrom zum Muskel<br />

zurückläuft. Dort kommen dann mit erheblich<br />

größerer zeitlicher Latenz als die M-Antwort (nach<br />

52–61ms, je nach Körpergröße) die F-Wellen zur<br />

Aufzeichnung.<br />

Die Berechnung der motorischen NLG erfolgt zumeist<br />

automatisiert, und zwar nach der Formel:<br />

NLG = Dd/Dt. Dabei ist Dd die Distanz (in mm)<br />

zwischen den Stimulationspunkten und Dt (in ms)<br />

die Differenz der Leitungszeit zum Muskel nach<br />

proximaler und distaler Stimulation. Hieraus ergibt<br />

sich dann die maximale motorische NLG in m/s<br />

(Normgrenze für den N. peroneus: 40 m/s). Es sollte<br />

beachtet werden, dass die motorische NLG lediglich<br />

Aussagen über die am schnellsten leitenden<br />

Axone eines Nerven erlaubt.<br />

Die distale motorische Latenz (DML) hängt neben<br />

der Reizleitung im untersuchten Segment des Nerven<br />

auch noch von zahlreichen anderen Einflussgrößen<br />

ab, u.a. der neuromuskulären Übertragungszeit.<br />

Daher darf die Berechnung der NLG<br />

nicht allein mit den Befunden der DML erfolgen,<br />

die resultierende NLG wäre fälschlich zu niedrig.<br />

Weitere Fehlermöglichkeiten ergeben sich z.B.<br />

durch die Wahl zu niedriger Abstände zwischen<br />

den einzelnen Messorten. Bei der Peroneus-Neurografie<br />

sollte die Distanz zwischen zweitem und drittem<br />

Reizort z.B. mindestens 10 cm betragen. Des<br />

weitern muss die Intensität der Stimulation sicher<br />

supramaximal sein, d.h. die Reizstärke soll so lange<br />

erhöht werden, bis die Amplituden der vom M.<br />

extensor digitorum brevis abgeleiteten Summenaktionspotenziale<br />

nicht mehr anwachsen. Dieser Wert<br />

wird dann noch um 15–20% erhöht. Weiterhin ist<br />

die korrekte Platzierung der Erdelektrode zwischen<br />

Reiz- und Ableiteort zu beachten. Es handelt sich<br />

hierbei um ein in der Neurophysiologie übliches<br />

Vorgehen, um Artefakte möglichst zu minimieren.<br />

Auch auf die korrekte Positionierung der Ableitelektroden<br />

muss peinlich genau geachtet werden,<br />

um eine valide Untersuchung zu gewährleisten. Ein<br />

positiver Abgang des MSAP ist nicht akzeptabel<br />

und sollte zu einer Überprüfung der Ableitebedingungen<br />

(insbesondere der Ableitelektroden) Anlass<br />

geben. Es soll noch darauf hingewiesen werden,<br />

dass die NLG eine erhebliche Temperatur-Abhängigkeit<br />

aufweist. Unterkühlte Extremitäten sind eine<br />

häufige Ursache für fälschlich zu niedrig gemessene<br />

NLGs!<br />

Neben dem N. peroneus wird in der neurophysiologischen<br />

Routinediagnostik an den unteren Extremitäten<br />

auch gerne der N. tibialis (Zielmuskel: M.<br />

abductor hallucis) motorisch gemessen. An den<br />

oberen Extremitäten wird vor allem der N. medianus<br />

(M. abductor pollicis brevis) und N. ulnaris<br />

(M. abductor digiti quinti), seltener auch der N. radialis<br />

(M. extensor digitorum), zur motorischen<br />

Neurografie herangezogen.<br />

Sensible Elektroneurografie<br />

Wie bereits dargestellt hat sich zur Routinediagnostik<br />

bei einer PNP auch die sensible Neurografie des<br />

N. suralis an den unteren Extremitäten bewährt.<br />

Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zur motorischen<br />

Neurografie ist die Tatsache, dass die zur<br />

8


Abbildung 3<br />

Motorische Neurografie des N. ulnaris<br />

bei einer demyelinisierenden Schädigung<br />

Abbildung 4<br />

Motorische Neurografie des N. peroneus<br />

bei einer axonalen PNP<br />

Es handelt sich um einen 38jährigen Patienten mit<br />

HMSN Typ I. Es zeigt sich primär eine drastische<br />

Verlangsamung der maximalen motorischen NLG.<br />

Zeitachse 10 ms/div, Verstärkung 2 mV/div.<br />

Spur A1: MSAP nach Reizung am Handgelenk,<br />

distal-motorische Latenz: 8.7 ms,<br />

Amplitudenhöhe des MSAP: 4.6 mV.<br />

Spur A2: MSAP nach Reizung unterhalb des<br />

Sulcus ulnaris, motorische NLG am Unterarm:<br />

21 m/s, Amplitudenhöhe des MSAP: 4.2 mV.<br />

Spur A3: MSAP nach Reizung oberhalb des Sulcus<br />

ulnaris, motorische NLG über dem Sulcus: 17 m/s,<br />

Amplitudenhöhe des MSAP: 4.2 mV.<br />

Es kommt zu einer Reduktion der Amplituden der<br />

MSAP, während die maximale motorische NLG<br />

normal ist. Zeitachse 5 ms/div, Verstärkung 500<br />

µV/div.<br />

Spur A1: MSAP nach Reizung oberhalb des<br />

Sprunggelenkes, distal-motorische Latenz: 4.8 ms,<br />

Amplitudenhöhe des MSAP: 0.5 mV.<br />

Spur A2: MSAP nach Reizung unterhalb des Fibulaköpfchens,<br />

motorische NLG am Unterschenkel:<br />

47 m/s, Amplitudenhöhe des MSAP: 0.5 mV.<br />

Spur A3: MSAP nach Reizung oberhalb des<br />

Fibulaköpfchens, motorische NLG über dem<br />

Fibulaköpfchen: 50 m/s, Amplitudenhöhe des<br />

MSAP: 0.5 mV.<br />

Aufzeichnung kommenden sensiblen Nervenaktionspotenziale<br />

(SNAP) deutlich kleinere Amplituden<br />

(im Bereich von mV) als die MSAP aufweisen<br />

(Abb. 2). Dies führt zu einer höheren Artefaktanfälligkeit<br />

als bei der motorischen Neurografie, so<br />

dass man sich der auch bei den SSEP üblichen Averaging-Methode<br />

bedienen kann, d.h. es wird repetitiv<br />

stimuliert und die erhaltenen SNAP gemittelt.<br />

Das SNAP ist zumeist triphasisch konfiguriert, d.h.<br />

es kann ein kleiner positiver Peak vorausgehen, gefolgt<br />

von einer negativen und einer erneuten positiven<br />

Phase.<br />

Die sensible Neurografie des N. suralis erfolgt<br />

i.d.R. in antidromer Technik, d.h. die Ableitelektroden<br />

werden über dem Unterrand des Malleolus<br />

lateralis positioniert, die Stimulation erfolgt über<br />

der Dorsalseite des distalen Unterschenkeldrittels,<br />

knapp lateral der Mittellinie. Auch bei der sensiblen<br />

Neurografie sollte die Reizintensität sicher supramaximal<br />

sein. Wie bei der motorischen Neurografie<br />

werden dann Amplitude und Latenz des<br />

SNAP bewertet:<br />

1. Amplitude des SNAP (Normgrenze für den<br />

N. suralis in unserem Labor: 4mV ).<br />

2. Sensible NLG (Normgrenze in unserem Labor:<br />

40 m/s).<br />

Bei den Fehlermöglichkeiten ist v.a. eine submaximale<br />

Stimulationsintensität zu nennen, die fälschlicherweise<br />

zu einer verlangsamten NLG und submaximalen<br />

Amplitude des SNAP führt. Temperatur-<br />

9


Abbildung 5<br />

Nachweis von pathologischer<br />

Spontanaktivität – Positive scharfe<br />

Wellen als Hinweis für eine axonale<br />

Schädigung<br />

Abbildung 6<br />

Nachweis von pathologischer<br />

Spontanaktivität –<br />

Fibrillationspotenziale als Hinweis<br />

für eine axonale Schädigung<br />

EMG aus dem M. gastrocnemius, Caput mediale.<br />

Zeitachse 10 ms/div, Verstärkung 50 µV/div.<br />

EMG aus dem M. gastrocnemius, Caput mediale.<br />

Zeitachse 10 ms/div, Verstärkung 50 µV/div.<br />

Definitionsgemäss wird ein Ausschlag nach unten<br />

als positiv bezeichnet.<br />

einflüsse sind ebenso zu beachten wie bei der motorischen<br />

Neurografie.<br />

Pathologische Befunde bei der<br />

Elektroneurografie<br />

Als Faustregel kann festgehalten werden, dass eine<br />

demyelinisierende Polyneuropathie (PNP) primär<br />

zu einer Reduktion der sensiblen und/oder motorischen<br />

Nervenleitgeschwindigkeit führt (Abb. 3),<br />

während eine axonale PNP zu einer Reduktion des<br />

SNAP resp. MSAP führt (Abb. 4). Auf diese Weise<br />

lässt sich neurophysiologisch schon eine Unterscheidung<br />

zwischen einer primär axonalen und einer<br />

primär demyelinisierenden PNP treffen, so dass<br />

die weiterführenden differenzialdiagnostischen<br />

Bemühungen wesentlich fokussierter vorgenommen<br />

werden können.<br />

Elektromyografie<br />

Bei der elektromyografischen Untersuchung wird eine<br />

(i.d.R. bipolare und konzentrische) Nadelelektrode<br />

in den zu untersuchenden Muskel eingestochen.<br />

Nach Befragung des Patienten und Ausschluss<br />

von Kontraindikationen für eine EMG-Untersuchung<br />

(z.B. Marcumarisierung) wird die Nadel bei<br />

großen Muskeln senkrecht, bei kleinen eher tangential,<br />

in der Mitte des Muskels eingeführt. Empfohlen<br />

wird eine Untersuchung an mindestens 20 Positionen,<br />

die durch maximal 2–3 Einstiche und ein<br />

fächerförmiges Vorschieben der EMG-Nadel erreicht<br />

werden. In der PNP-Diagnostik werden zur<br />

Untersuchung üblicherweise distale Muskeln herangezogen,<br />

an den unteren Extremitäten z.B. der M.<br />

extensor digitorum brevis (N. peroneus), der M. tibialis<br />

anterior (N. peroneus), oder der M. gastrocnemius<br />

(N. tibialis). An den oberen Extremitäten<br />

wählt man gerne kleine Handmuskeln, z.B. den M.<br />

interosseus dorsalis I – N. ulnaris oder den M. abductor<br />

pollicis brevis – N. medianus) für eine orientierende<br />

EMG-Untersuchung aus.<br />

Die EMG-Untersuchung vollzieht sich in vier<br />

Schritten:<br />

1. Beurteilung der Einstichaktivität. Bei der Insertion<br />

der Nadel lässt sich physiologischerweise eine<br />

Einstichaktivität von i.d.R. weniger als 300 ms<br />

nachweisen. Bei einer Neuropathie ist die Dauer<br />

dieser Einstichaktivität häufig verlängert.<br />

2. Nunmehr beurteilt der EMG-Arzt die vorhandene<br />

Spontanaktivität, d.h. die elektrische Akti-<br />

10


vität des Muskels in Ruhe. In einem nicht neurogen<br />

geschädigten Muskel lässt sich i.d.R. keine<br />

Spontanaktivität nachweisen (mit Ausnahme<br />

von physiologischer Spontanaktivität: sog. Endplattenrauschen<br />

oder benignen Faszikulationen).<br />

Im pathologischen Fall lässt sich bei axonaler<br />

Schädigung pathologische Spontanaktivität<br />

(PSA) ableiten, die z.B. als sog. positive<br />

scharfe Wellen (Abb. 5) oder Fibrillationspotenziale<br />

(Abb. 6) in Erscheinung treten können.<br />

Eine Unterscheidung der PSA von Willküraktivität<br />

bei unvollständiger Entspannung des<br />

Patienten fällt dem Ungeübten <strong>of</strong>t schwer. Entscheidend<br />

für die Annahme von PSA ist die<br />

Rhythmik der beobachteten Potenziale, während<br />

Willküraktivität deutlich unregelmäßiger<br />

auftritt.<br />

3. Beurteilung der Potenziale motorischer Einheiten<br />

(PmE): Beim Gesunden stellen sich die PmE<br />

sehr heterogen, je nach untersuchtem Muskel<br />

dar. Die Höhe der PmE hängst u.a. von der Faserdichte<br />

des untersuchten Muskels ab und beträgt<br />

0.2–4 mV, die Breite 5–12 ms, wobei als<br />

Faustregel gilt, dass kleine Muskeln höheramplitudige<br />

PmE aufweisen als große, proximale<br />

Muskeln. Im Falle einer chronisch-neurogenen<br />

Schädigung kommt es zu einer Vergrößerung<br />

der PmE sowie zu einer Verbreiterung und Aufsplitterung<br />

(Polyphasie: > 4 Phasen) der Potenziale<br />

(Abb. 7).<br />

4. Als letzter Schritt erfolgt die Bestimmung des<br />

Interferenzmusters bei Maximalinnervation. Im<br />

Normalfall ergibt sich ein dichtes Interferenzmuster<br />

mit deutlich mehr als 50 Entladungen/s.<br />

Im Falle einer Neuropathie ist das Interferenzmuster<br />

gelichtet, bei großen Amplituden.<br />

Zusammenfassung<br />

Abbildung 7<br />

Einzelpotenzialanalyse<br />

EMG aus dem M. tibialis anterior. Nachweis eines<br />

chronisch-neurogenen Umbaus. Das dargestellte<br />

PmE ist polyphasisch aufgesplittert und verbreitert.<br />

Beachte die Darstellung eines Satellitenpotenzials.<br />

Zeitachse 10 ms/div, Verstärkung 0.2 mV/div.<br />

Die klinische Neurophysiologie kann einen wichtigen<br />

Beitrag zur Differenzialdiagnostik von Polyneuropathien<br />

leisten. Durch die Kombination von<br />

Elektroneurografie und Elektromyografie kann sowohl<br />

das Schädigungsmuster (z.B. Mononeuritis<br />

multiplex vs. symmetrische PNP, motorische vs.<br />

sensible vs. sensomotorische PNP) als auch die zu<br />

Grunde liegende Pathophysiologie (axonal vs.<br />

demyelinisierend) ermittelt werden. Während sich<br />

eine axonale PNP in einer Amplitudenreduktion<br />

der MSAP bzw. SNAP und pathologischer Spontanaktivität<br />

im EMG zeigt, lassen sich bei einer<br />

demyelinisierenden PNP verlangsamte NLGs nachweisen.<br />

Auf diese Art und Weise erlaubt die neurophysiologische<br />

Diagnostik erste differenzialdiagnostische<br />

Rückschlüsse, die zu einer Fokussierung<br />

der anschliessenden PNP-Ursachensuche beitragen<br />

können.<br />

Literaturverzeichnis<br />

[1] Stöhr M, Bluthardt M: Atlas der klinischen<br />

Elektromyographie und Neurographie. 3.<br />

Auflage, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln, 1992.<br />

[2] Conrad B, Bisch<strong>of</strong>f C: Das EMG-Buch. Georg<br />

Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 1998.<br />

[3] Hopf HH, Dengler R, Röder R:<br />

Elektromyographie-Atlas: Praktisches<br />

Vorgehen und sichere Befundbewertung.<br />

Thieme, Stuttgart, 1995.<br />

11


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