Die Macht der Ideen - Buch.de
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Isaiah Berlin<br />
<strong>Die</strong> <strong>Macht</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>I<strong>de</strong>en</strong><br />
Herausgegeben von Henry Hardy<br />
Aus <strong>de</strong>m Englischen von Michael Bischoff<br />
Berlin Verlag
Mein intellektueller Weg<br />
I<br />
DIE OXFORD-PHILOSOPHIE<br />
VOR DEM ZWEITEN WELTKRIEG<br />
Mein Interesse an philosophischen Fragen erwachte während<br />
meines Studiums En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> 1920er und Anfang <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
1930er Jahre in Oxford, weil die Philosophie dort damals<br />
zum üblichen Studiengang vieler Stu<strong>de</strong>nten gehörte. Wegen<br />
<strong>de</strong>s anhalten<strong>de</strong>n Interesses an diesem Gebiet erhielt ich<br />
1932 einen philosophischen Lehrauftrag, und meine Anschauungen<br />
stan<strong>de</strong>n natürlich unter <strong>de</strong>m Einfluss <strong><strong>de</strong>r</strong> philosophischen<br />
Diskussionen, die damals in Oxford geführt<br />
wur<strong>de</strong>n. Es gab viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Fragen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophie,<br />
doch die Themen, die meine Kollegen und ich in <strong>de</strong>n Mittelpunkt<br />
unseres Interesses rückten, waren das Ergebnis<br />
einer Rückwendung zum Empirismus, <strong><strong>de</strong>r</strong> die britische Philosophie<br />
vor allem unter <strong>de</strong>m Einfluss <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n gefeierten,<br />
in Cambridge lehren<strong>de</strong>n Philosophen G. E. Moore und<br />
Bertrand Russell seit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg<br />
beherrschte.<br />
Verifikationismus<br />
<strong>Die</strong> erste Frage, die unsere Aufmerksamkeit Mitte bis En<strong>de</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 1930er Jahre in Anspruch nahm, galt <strong>de</strong>m Wesen von<br />
Sinn und Be<strong>de</strong>utung – ihrem Verhältnis zu Wahrheit und
20 die macht <strong><strong>de</strong>r</strong> i<strong>de</strong>en<br />
Falschheit, Wissen und Meinung und insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Überprüfung von Sinn o<strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>utung durch die Verifizierung<br />
von Aussagen, in <strong>de</strong>nen sie ihren Ausdruck fin<strong>de</strong>n. Der<br />
Anstoß zu diesen Fragen kam von Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Wiener<br />
Schule, ihrerseits Schüler von Russell und stark beeinflusst<br />
von Denkern wie Carnap, Wittgenstein und Schlick. Nach<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> damals modischen Auffassung lag <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn einer Aussage<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Art ihrer Verifizierung, das heißt, wenn es keinen<br />
Weg gab, eine Aussage zu verifizieren, war sie nicht<br />
wahrheitsfähig und damit auch keine Tatsachenbehauptung.<br />
Sie war we<strong><strong>de</strong>r</strong> wahr noch falsch, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n entwe<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
sinnlos o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Beispiel für einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Sprachgebrauch,<br />
wie er sich in Befehlen, Wünschen, literarischer Fantasie<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> sonstigen Ausdrucksformen zeigte, die keinen Anspruch<br />
auf empirische Wahrheit erheben.<br />
Beeinflusst wur<strong>de</strong> ich von dieser Schule insofern, als<br />
ich mich intensiv mit <strong>de</strong>n dort behan<strong>de</strong>lten Problemen<br />
und Theorien auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong> setzte, aber ein wirklicher Schüler<br />
wur<strong>de</strong> ich nie. Ich war immer <strong><strong>de</strong>r</strong> Ansicht, dass Aussagen,<br />
die wahr o<strong><strong>de</strong>r</strong> falsch o<strong><strong>de</strong>r</strong> plausibel o<strong><strong>de</strong>r</strong> zweifelhaft<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> interessant sein mögen, sich aber durchaus auf eine als<br />
empirisch verstan<strong>de</strong>ne Welt beziehen (und bis heute habe<br />
ich die Welt niemals an<strong><strong>de</strong>r</strong>s verstan<strong>de</strong>n), <strong>de</strong>nnoch nicht notwendig<br />
durch ein einfaches Ausschlusskriterium verifiziert<br />
wer<strong>de</strong>n können, wie die Wiener Schule und <strong><strong>de</strong>r</strong>en Anhänger<br />
unter <strong>de</strong>n logischen Positivisten behaupteten. Von Anfang<br />
an hatte ich das Gefühl, dass allgemeine Aussagen sich<br />
nicht auf diese Weise verifizieren lassen. Aussagen in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Umgangssprache o<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>n Naturwissenschaften (<strong>de</strong>m<br />
I<strong>de</strong>al <strong><strong>de</strong>r</strong> Wiener Schule) können auch dann vollkommen<br />
sinnvoll sein, wenn sie sich nicht streng verifizieren lassen.<br />
Bei einer Aussage wie »Alle Schwäne sind weiß« kann ich
mein intellektueller weg 21<br />
mir niemals sicher sein, ob ich dies von allen Schwänen<br />
weiß, die es gibt, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ob die Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwäne nicht vielleicht<br />
unendlich ist. Ein schwarzer Schwan hätte diese allgemeine<br />
Aussage natürlich wi<strong><strong>de</strong>r</strong>legt, aber eine im vollen<br />
Sinne positive Verifizierung erschien mir unerreichbar. Dennoch<br />
wäre es absurd, diese Aussage als sinnlos zu bezeichnen.<br />
Dasselbe gilt für hypothetische Aussagen und erst<br />
recht für unerfüllte hypothetische Aussagen, bei <strong>de</strong>nen es<br />
völlig paradox wäre, wenn man behauptete, sie könnten<br />
durch empirische Beobachtung als wahr o<strong><strong>de</strong>r</strong> falsch bewiesen<br />
wer<strong>de</strong>n. Dennoch besitzen sie offensichtlich einen<br />
Sinn.<br />
Ich dachte über viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Aussagen dieser Art nach,<br />
die ein<strong>de</strong>utig einen Sinn in <strong><strong>de</strong>r</strong> vollen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes<br />
besaßen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Sinn sich aber <strong>de</strong>m dafür vorgeschlagenen<br />
engen Kriterium entzog: <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> empirischen Beobachtung<br />
nämlich, <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinne. So beteiligte ich mich zwar<br />
lebhaft an diesen Diskussionen (und tatsächlich nahm die<br />
später so genannte Oxford-Philosophie ihren Anfang in<br />
meinen Räumen, wo später so berühmte Philosophen wie<br />
A. J. Ayer, J. L. Austin und Stuart Hampshire <strong>de</strong>s Abends<br />
zusammenkamen, stark beeinflusst vom Oxfor<strong><strong>de</strong>r</strong> Empirismus<br />
und in gewissem Gra<strong>de</strong> auch vom Oxfor<strong><strong>de</strong>r</strong> Realismus<br />
– also <strong><strong>de</strong>r</strong> Überzeugung, dass die Außenwelt auch<br />
unabhängig vom Beobachter existiert). Aber ich blieb ein –<br />
wenngleich freundlich gesinnter – Häretiker. Ich habe meine<br />
damals entwickelten Anschauungen niemals aufgegeben und<br />
glaube immer noch, dass empirische Erfahrung alles ist,<br />
was Worte auszudrücken vermögen – es gibt keine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />
Wirklichkeit. Dennoch ist Verifizierbarkeit nicht das einzige<br />
und nicht einmal das plausibelste Kriterium für Erkenntnisse,<br />
Überzeugungen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Hypothesen. <strong>Die</strong>se Einsicht hat
22 die macht <strong><strong>de</strong>r</strong> i<strong>de</strong>en<br />
mich mein Leben lang begleitet und mein ganzes übriges<br />
Denken geprägt.<br />
Ein weiteres Thema, auf das ich die Aufmerksamkeit<br />
meiner jungen Kollegen lenkte, war <strong><strong>de</strong>r</strong> Status von Aussagen<br />
wie: »<strong>Die</strong>ses Rosa ähnelt stärker diesem Zinnoberrot<br />
als diesem Schwarz.« Wenn man sie verallgemeinerte, war<br />
klar, dass es sich um eine Wahrheit han<strong>de</strong>lte, die sich durch<br />
Erfahrung kaum wi<strong><strong>de</strong>r</strong>legen ließ – da das Verhältnis zwischen<br />
sichtbaren Farben festliegt. <strong>Die</strong>se allgemeine Aussage<br />
konnte aber auch nicht als apriorisches Urteil gelten, da sie<br />
nicht rein formal aus Definitionen hervorging und <strong>de</strong>shalb<br />
auch nicht zu <strong>de</strong>n formalen Disziplinen <strong><strong>de</strong>r</strong> Logik und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Mathematik gehörte, die allein apriorische Sätze, damals<br />
als Tautologien verstan<strong>de</strong>n, enthielten. Wir waren also im<br />
empirischen Bereich auf eine universelle Wahrheit gestoßen.<br />
Wie lauteten die Definitionen für »Rosa«, »Zinnoberrot«<br />
und die übrigen Farben? Es gab keine. Farben konnte man<br />
nur erkennen, wenn man sie sah, so dass man ihre Definition<br />
<strong>de</strong>n Zeige-Definitionen zuordnete, und aus solchen<br />
Definitionen folgte logisch gar nichts. Aussagen dieser Art<br />
kamen in die Nähe <strong><strong>de</strong>r</strong> von Kant so genannten synthetischen<br />
Urteile a priori, und wir diskutierten mehrere Monate<br />
lang über solche und analoge Sätze. Ich war <strong><strong>de</strong>r</strong> Überzeugung,<br />
dass es sich bei meinem Satz um eine zwar nicht<br />
im strengen Sinne apriorische, aber doch selbstevi<strong>de</strong>nte Aussage<br />
han<strong>de</strong>lte und dass ihr logisches Gegenteil keine nachvollziehbare<br />
Be<strong>de</strong>utung besaß. Ob meine Kollegen sich<br />
jemals wie<strong><strong>de</strong>r</strong> mit dieser Frage beschäftigt haben, weiß ich<br />
nicht, doch das Thema fand formell Eingang in unsere damaligen<br />
Diskussionen. Es entsprach einer Auffassung, die<br />
Russell in einem Werk mit <strong>de</strong>m Titel The Limits of Empiricism<br />
vertreten hatte.
mein intellektueller weg 23<br />
Phänomenalismus<br />
Das zweite große Thema, das meine Zeitgenossen damals<br />
diskutierten, war <strong><strong>de</strong>r</strong> Phänomenalismus, also die Frage, ob<br />
die menschliche Erfahrung sich auf das von <strong>de</strong>n Sinnen Gegebene<br />
beschränkte, wie die britischen Philosophen Berkeley<br />
und Hume (und in einigen ihrer Schriften auch Mill und<br />
Russell) gelehrt hatten, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ob auch unabhängig von unserer<br />
sinnlichen Erfahrung eine Wirklichkeit existiert. Für<br />
manche Philosophen wie Locke und seine Anhänger gab<br />
es solch eine Wirklichkeit, auch wenn sie uns nicht direkt<br />
zugänglich war – diese Wirklichkeit verursachte die Sinneserfahrungen,<br />
die allein wir zu erkennen vermochten. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />
Philosophen meinten, die äußere Welt sei eine materielle<br />
Realität, die direkt – aber durchaus auch falsch –<br />
wahrgenommen wer<strong>de</strong>n könne. <strong>Die</strong>se Einstellung bezeichnet<br />
man als Realismus, im Unterschied zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Auffassung,<br />
wonach unsere Welt vollständig durch menschliche Fähigkeiten<br />
wie Vernunft, Vorstellungskraft und <strong><strong>de</strong>r</strong>gleichen hervorgebracht<br />
wird und die man als I<strong>de</strong>alismus bezeichnet.<br />
Daran habe ich nie geglaubt. Und ich habe nie an irgendwelche<br />
metaphysischen Wahrheiten geglaubt, we<strong><strong>de</strong>r</strong> an<br />
rationalistische, wie sie Descartes, Spinoza, Leibniz und auf<br />
seine eigene, ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>sartige Weise auch Kant vertraten,<br />
noch an die Wahrheiten <strong>de</strong>s (objektiven) I<strong>de</strong>alismus und<br />
seiner Väter Fichte, Friedrich Schelling und Hegel, die heute<br />
noch ihre Anhänger haben. Sinn, Wahrheit und das Wesen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> äußeren Welt waren also die Themen, über die ich<br />
damals nachdachte und gelegentlich schrieb – und einige<br />
dieser Gedanken wur<strong>de</strong>n auch publiziert. 1<br />
1 Siehe Concepts and Categories: Philosophical Essays (London 1978;<br />
New York 1979).
24 die macht <strong><strong>de</strong>r</strong> i<strong>de</strong>en<br />
Eine <strong><strong>de</strong>r</strong> intellektuellen Erscheinungen, die <strong>de</strong>n größten<br />
Eindruck auf mich machten, war die Suche <strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophen<br />
nach absoluter Gewissheit, nach Antworten, die nicht angezweifelt<br />
wer<strong>de</strong>n können, nach vollkommener intellektueller<br />
Sicherheit. <strong>Die</strong>ses Bestreben erschien mir von Anfang an<br />
als Illusion. So fundiert, verbreitet, unausweichlich, »selbstevi<strong>de</strong>nt«<br />
eine Schlussfolgerung o<strong><strong>de</strong>r</strong> eine unmittelbare Gegebenheit<br />
auch erscheinen mag, es ist immer vorstellbar,<br />
dass sie durch irgen<strong>de</strong>twas verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t o<strong><strong>de</strong>r</strong> als ungültig erwiesen<br />
wird, auch wenn man sich im Augenblick nicht vorstellen<br />
kann, was das sein könnte. Und dieser Verdacht,<br />
dass weite Teile <strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophie auf einen illusorischen Weg<br />
geraten waren, sollte mein Denken in einem ganz neuen<br />
und an<strong><strong>de</strong>r</strong>sartigen Zusammenhang beherrschen.<br />
Während ich in <strong><strong>de</strong>r</strong> oben beschriebenen Weise Philosophie<br />
lehrte und diskutierte, erhielt ich <strong>de</strong>n Auftrag, eine<br />
Biographie von Karl Marx zu schreiben. Dessen philosophische<br />
Ansichten waren mir niemals son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich originell<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> interessant erschienen, aber meine Studien zu seinen<br />
Anschauungen veranlassten mich, auch seine Vorläufer<br />
genauer zu betrachten, vor allem die französischen philosophes<br />
<strong>de</strong>s achtzehnten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts – die ersten organisierten<br />
Gegner <strong>de</strong>s Dogmatismus und Traditionalismus, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Religion und <strong>de</strong>s Aberglaubens, <strong><strong>de</strong>r</strong> Unwissenheit und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Unterdrückung. Schon bald empfand ich Bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung für<br />
die große Aufgabe, an <strong><strong>de</strong>r</strong>en Verwirklichung sich die Denker<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> französischen Encyclopédie gemacht hatten, und<br />
für ihre große Leistung bei <strong>de</strong>m Versuch, die Menschen aus<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Dunkelheit klerikaler, metaphysischer, politischer und<br />
sonstiger Art zu holen. Und obwohl ich im Verlauf meiner<br />
Arbeit ganz unvermeidlich auch einige <strong><strong>de</strong>r</strong> Grundlagen ihrer<br />
gemeinsamen Überzeugungen ablehnen musste, verlor ich
mein intellektueller weg 25<br />
nie meine Bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung für diese Phase <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung und<br />
fühlte mich stets mit ihr verbun<strong>de</strong>n. Meine Kritik galt<br />
neben ihren empirischen Mängeln einigen ihrer logischen<br />
wie auch gesellschaftlichen Konsequenzen. Mir wur<strong>de</strong> damals<br />
klar, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> bei Marx und seinen Anhängern zu beobachten<strong>de</strong><br />
Dogmatismus zum Teil auf die Gewissheiten<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung <strong>de</strong>s achtzehnten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts zurückging.<br />
II<br />
IDEENGESCHICHTE UND POLITISCHE THEORIE<br />
Während <strong>de</strong>s Krieges arbeitete ich im britischen Staatsdienst.<br />
Als ich meine philosophische Lehrtätigkeit in Oxford<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufnahm, befasste ich mich hauptsächlich mit zwei<br />
Problemen. Das erste war <strong><strong>de</strong>r</strong> Monismus – von Platon bis in<br />
unsere Zeit die zentrale These <strong><strong>de</strong>r</strong> westlichen Philosophie –,<br />
das zweite die Be<strong>de</strong>utung und Anwendung <strong>de</strong>s Begriffs <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Freiheit. Auf bei<strong>de</strong> Fragen verwen<strong>de</strong>te ich viel Zeit, und sie<br />
sollten mein Denken für viele Jahre nachhaltig prägen.<br />
Monismus<br />
Unter <strong>de</strong>m Eindruck <strong><strong>de</strong>r</strong> spektakulären Erfolge <strong><strong>de</strong>r</strong> Naturwissenschaften<br />
in ihrer Zeit und <strong>de</strong>n vorangegangenen<br />
Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten glaubten Männer wie Helvétius, Holbach,<br />
d’Alembert, Condillac und geniale Vermittler wie Voltaire<br />
und Rousseau, man könne, sofern man die richtige Metho<strong>de</strong><br />
fand, fundamentale Wahrheiten über das soziale,<br />
politische, sittliche und persönliche Leben ent<strong>de</strong>cken –<br />
Wahrheiten von <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Art, wie sie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erforschung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> äußeren Welt solche Triumphe gefeiert hatten. <strong>Die</strong> Enzyklopädisten<br />
glaubten an die wissenschaftliche Metho<strong>de</strong>
26 die macht <strong><strong>de</strong>r</strong> i<strong>de</strong>en<br />
als <strong>de</strong>n einzigen Schlüssel zu solcher Erkenntnis. Rousseau<br />
und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e glaubten, dass man auf <strong>de</strong>m Wege <strong><strong>de</strong>r</strong> Introspektion<br />
ewige Wahrheiten ent<strong>de</strong>cken könne. Doch trotz<br />
aller Unterschie<strong>de</strong> gehörten sie zu einer Generation, die<br />
davon überzeugt war, auf <strong>de</strong>m Weg zur Lösung all jener<br />
Probleme zu sein, unter <strong>de</strong>nen die Menschheit seit ihren<br />
Anfängen gelitten hatte.<br />
Dem liegt die noch allgemeinere These zugrun<strong>de</strong>, dass es<br />
auf alle wahren Fragen auch eine – und nur eine – wahre<br />
Antwort gibt, während alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Antworten falsch sind,<br />
weil die Frage sonst keine echte Frage wäre. Es muss einen<br />
Weg geben, <strong><strong>de</strong>r</strong> klar <strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Menschen zur korrekten<br />
Antwort führt, und zwar in <strong><strong>de</strong>r</strong> moralischen, sozialen und<br />
politischen Welt ebenso wie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Naturwissenschaften,<br />
ob man nun dieselbe Metho<strong>de</strong> einsetzt o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht.<br />
Und wenn alle korrekten Antworten auf die tiefsten moralischen,<br />
sozialen und politischen Fragen gefun<strong>de</strong>n sind, welche<br />
die Menschen beschäftigen (o<strong><strong>de</strong>r</strong> beschäftigen sollten),<br />
wird das Ergebnis die endgültige Lösung für alle Probleme<br />
<strong>de</strong>s Daseins darstellen. Natürlich mag es sein, dass wir<br />
diese Antworten niemals fin<strong>de</strong>n. Vielleicht lassen die Menschen<br />
sich allzu sehr von ihren Gefühlen verwirren, vielleicht<br />
sind sie zu dumm, o<strong><strong>de</strong>r</strong> vielleicht haben sie zu wenig<br />
Glück, um dieses Ziel zu erreichen. Es mag sein, dass die<br />
Antworten sich als zu schwierig erweisen, die nötigen Mittel<br />
fehlen o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Techniken zu schwer zu ent<strong>de</strong>cken sind.<br />
Doch wenn es sich um echte Fragen han<strong>de</strong>lt, muss es auch<br />
Antworten geben. Wenn wir sie nicht kennen, wer<strong>de</strong>n unsere<br />
Nachfahren sie vielleicht fin<strong>de</strong>n. Vielleicht waren sie<br />
auch einigen Weisen <strong><strong>de</strong>r</strong> Antike bekannt. Und falls nicht,<br />
kannte Adam im Paradies sie möglicherweise. Und falls sie<br />
ihm nicht bekannt waren, so doch vielleicht <strong>de</strong>n Engeln.
mein intellektueller weg 27<br />
Und falls selbst die Engel nichts davon wussten, musste<br />
Gott sie kennen – es musste Antworten geben.<br />
Hatten die Menschen die Antworten auf moralische,<br />
soziale und politische Fragen erst einmal ent<strong>de</strong>ckt und als<br />
wahr erkannt, konnten sie gar nicht umhin, sie zu befolgen,<br />
da sie gar nicht in Versuchung kämen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>s zu han<strong>de</strong>ln.<br />
Und so könne man zur Vorstellung eines vollkommenen<br />
Lebens gelangen. Vielleicht ließ sich dieses Leben nicht verwirklichen,<br />
aber die Vorstellung musste sich grundsätzlich<br />
bil<strong>de</strong>n lassen – und letztlich musste man notwendig an die<br />
Möglichkeit glauben, die einzig wahren Antworten auf die<br />
großen Fragen fin<strong>de</strong>n zu können.<br />
<strong>Die</strong>ses Glaubensbekenntnis war gewiss nicht auf die<br />
Denker <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung beschränkt, auch wenn an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />
Denker an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Metho<strong>de</strong>n vorschlugen. Platon glaubte, die<br />
Mathematik sei <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg zur Wahrheit. Aristoteles sah ihn<br />
eher in <strong><strong>de</strong>r</strong> Biologie. Ju<strong>de</strong>n und Christen suchten die Antworten<br />
in ihren heiligen Schriften, in <strong>de</strong>n Verkündigungen<br />
göttlich inspirierter Lehrer und <strong>de</strong>n Visionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystiker.<br />
An<strong><strong>de</strong>r</strong>e wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um glaubten, experimentelle und mathematische<br />
Metho<strong>de</strong>n könnten die Klärung herbeiführen. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>e meinten wie Rousseau, nur die unschuldige<br />
menschliche Seele, das unverbil<strong>de</strong>te Kind o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> einfache<br />
Bauer wer<strong>de</strong> die Wahrheit erkennen – besser je<strong>de</strong>nfalls als<br />
die verdorbenen Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> einer durch Zivilisation <strong>de</strong>formierten<br />
Gesellschaft. Doch in einem waren sie sich alle<br />
einig, selbst ihre Nachfolger, die nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Französischen<br />
Revolution erkennen mochten, dass es schwieriger war, die<br />
Wahrheit zu ent<strong>de</strong>cken, als ihre naiveren und optimistischeren<br />
Vorgänger 2 geglaubt hatten: dass man die Gesetze <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
2 Fourier, ein Frühsozialist, und Saint-Simon glaubten an eine wissen-
28 die macht <strong><strong>de</strong>r</strong> i<strong>de</strong>en<br />
geschichtlichen Entwicklung erkennen konnte – und inzwischen<br />
auch bereits erkannt hatte – und dass es möglich war,<br />
die Frage, wie man leben und wie man han<strong>de</strong>ln soll – Moral,<br />
soziales Leben, politische Ordnung, persönliche Beziehungen<br />
–, im Lichte von Wahrheiten zu organisieren, die<br />
sich durch korrekte Metho<strong>de</strong>n, wie auch immer sie beschaffen<br />
sein mochten, ent<strong>de</strong>cken ließen.<br />
<strong>Die</strong>s ist eine philosophia perennis – was Menschen, Denker,<br />
von <strong>de</strong>n Vorsokratikern bis hin zu allen Reformern und<br />
Revolutionären unserer Zeit geglaubt haben. Es ist <strong><strong>de</strong>r</strong> zentrale<br />
Glaube, auf <strong>de</strong>n sich das menschliche Denken seit<br />
zweitausend Jahren stützt. Denn wenn es keine wahren<br />
Antworten auf Fragen gibt, wie könnte man dann auf<br />
irgen<strong>de</strong>inem Gebiet Wissen erlangen? Das war über viele<br />
Zeitalter hinweg <strong><strong>de</strong>r</strong> Kern <strong>de</strong>s rationalen und auch spirituellen<br />
Denkens in Europa. Menschen und Kulturen, moralische<br />
und politische Anschauungen mögen sich noch so<br />
sehr voneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> unterschei<strong>de</strong>n, und das Spektrum <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Doktrinen, Religionen, Moralvorstellungen und <strong>I<strong>de</strong>en</strong> mag<br />
noch so groß sein, eines gilt überall: Es muss irgendwo eine<br />
wahre Antwort auf die tiefsten Fragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit<br />
geben.<br />
Ich weiß nicht, weshalb ich diesem universellen Glauben<br />
stets mit Skepsis begegnet bin, aber ich tat es. Vielleicht war<br />
es eine Frage <strong>de</strong>s Temperaments, aber es war so.<br />
schaftlich organisierte Gesellschaft. Nach Saint-Simons Ansicht sollte<br />
sie von Bankiers und Wissenschaftlern, inspirierten Künstlern und<br />
Dichtern geführt wer<strong>de</strong>n. Ihre Nachfolger waren französische Sozialisten<br />
wie Cabet, Pecqueur und Louis Blanc, <strong><strong>de</strong>r</strong> Terrorist Blanqui und<br />
letztlich auch Marx und Engels und <strong><strong>de</strong>r</strong>en Anhänger.