Arno Schmidt - KLG
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Hannover heranmacht, um ihr alte hannoveranische Staatshandbücher zu entlocken, die ihm noch in<br />
seiner Sammlung fehlen. Ebenso skrupellos klaut er auch ein Buch aus der Staatsbibliothek in Ost-<br />
Berlin. Nachdem er sein Ziel erreicht hat, beschließt er, heimlich aus Ahlden zu fliehen; da sich<br />
aber zufällig noch ein Schatz aus Goldmünzen in der Zimmerdecke des Hauses findet, hilft er durch<br />
seine hervorragenden historischen und numismatischen Kenntnisse mit, diese Münzen<br />
gewinnbringend zu verkaufen, und beschließt, bei seiner Frieda Thumann zu bleiben, um dort ein<br />
zurückgezogenes Leben als Privatgelehrter zu führen: „Lebenslänglich auch vergänglich!“ Dieser<br />
Handlungsstrang vom skrupellosen Sammler Walter Eggers ist höchst kunstvoll mit der Geschichte<br />
der Prinzessin von Ahlden und der Darstellung der sich auflösenden Ehe der Thumanns verknüpft,<br />
so daß sich die verschiedensten Handlungsstränge höchst facettenreich gegenseitig spiegeln und<br />
kommentieren. Den gleichen Facettenreichtum zeigt die Sprache des Romans, weil die<br />
Protagonisten nicht nur Plattdeutsch, Berlinerisch und Schlesisch reden, sondern auch<br />
berufstypischen Jargon. Wie das gesamte Frühwerk ist auch dieses Buch in der Rastertechnik<br />
geschrieben, die <strong>Schmidt</strong> hier auf der Höhe seiner Kunst vorführt.<br />
Dasselbe faszinierende Sprachgemisch, aber noch vermehrt um Englisch, Mittelhochdeutsch und<br />
Deutsch mit russischem Akzent findet sich in <strong>Schmidt</strong>s nächster größerer Arbeit, dem Roman „Kaff<br />
auch Mare Crisium“ (1960), der auf mehreren Erzählebenen spielt. Die erste Erlebnisebene erzählt<br />
den Besuch des Liebespaares Karl Richter und Hertha Theunert bei einer Tante Karl Richters im<br />
Herbst 1959 in der Heide; die zweite ist ein Längeres Gedankenspiel über das Leben in einer<br />
amerikanischen Mondkolonie nach Zerstörung der Erde, das Karl Richter seiner Hertha erfinden<br />
muß, weil die sich „uffm Lande“ langweilt und den Mond viel spannender fände. Innerhalb dieses<br />
LGs werden außerdem noch zwei Epen vorgetragen, eine amerikanisierte Fassung des Nibelungen-<br />
Liedes und eine russifizierte von Herders „Cid“-Übersetzung. Diese mehrfach verknüpften mit<br />
höchster Kunst und hinreißender Komik gestalteten Handlungsstränge variieren aber alle die<br />
Themen Krieg/Weltuntergang/Flucht/Überleben, und dieser Noah-Komplex durchzieht auch noch<br />
die kleinsten Episoden des Buches, wie z.B. die Lektüre von Silberschlags Rekonstruktion der<br />
Arche Noah oder die Aufführung von Ifflands Posse „Der Komet“. Dieses Neben-, Durch- und<br />
Ineinander von umwerfender Komik, tiefer Melancholie und greller Selbstironie macht „Kaff“ zu<br />
<strong>Schmidt</strong>s Meisterwerk, das allein ihm schon einen Rang unter den ganz großen Humoristen sichert.<br />
Mit „Kaff“ hatte <strong>Schmidt</strong> die in den „Berechnungen“ theoretisch entwickelten<br />
Darstellungsmöglichkeiten weitgehend ausgeschöpft. Das Spätwerk nach „Kaff“ verzichtet zwar<br />
auf diese Errungenschaften nicht, ergänzt sie aber durch eine weitere Ausweitung der poetischen<br />
Mittel. Der Ausdruck ‚Spätwerk‘ soll deshalb auch nicht suggerieren, daß nach „Kaff“ ein Bruch im<br />
Gesamtwerk eingetreten sei, sondern nur, daß hier eine neue Stufe erreicht wird, denn die<br />
thematische Identität und der leitende Gestaltungsimpuls bleiben erhalten. Dies kündigt sich in<br />
„Kaff“ aber schon deutlich an durch eine Art von ‚Schlierenbildung‘ in der Rechtschreibung, durch<br />
die die Wörter zwei oder mehrere Bedeutungen annehmen können (vgl. die „Tao“-Variationen).<br />
Das liest sich in „Kaff“ zunächst eher wie absichtsloses Spiel ohne weiterreichende theoretischpoetologische<br />
Fundierung. Aber durch eine intensive Beschäftigung mit Freuds „Psychopathologie<br />
des Alltagslebens“ und der „Traumdeutung“ stieß <strong>Schmidt</strong> auf den Sachverhalt, daß Wort-<br />
Verformungen durch Verlesen/Verhören / Verschreiben einen zweiten, Unbewußtes bewußt<br />
machenden Sinn ergeben können.<br />
Aber nicht nur von Freud, sondern auch von Joyce nahm <strong>Schmidt</strong> um 1960 entscheidende<br />
Anregungen auf, und erst aus der Verknüpfung beider Anregungen ergab sich für <strong>Schmidt</strong> die<br />
entscheidende Ausweitung der poetischen Mittel. Denn bei Joyce fand <strong>Schmidt</strong> vorgeführt, wie<br />
nicht nur einzelne Wörter bewußt mit Mehrfachbedeutungen aufgeladen werden können, sondern<br />
daß auch ganze Handlungsstränge zwei- und mehrstimmig angelegt werden können, indem man<br />
dem eigenen poetischen Text z.B. ein mythologisches Substrat oder ein anderes vorgegebenes<br />
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