Meike Fessmann: Wo ist bloß die Postkarte aus Argentinien ...
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<strong>Meike</strong> <strong>Fessmann</strong>: <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>bloß</strong> <strong>die</strong> <strong>Postkarte</strong> <strong>aus</strong> <strong>Argentinien</strong> geblieben?<br />
Ein Abenteuerroman über <strong>die</strong> Ehe, in dem zum Glück ein Stützstrumpf<br />
allgegenwärtig <strong>ist</strong>: Arno Geigers neuer Roman „Alles über Sally”<br />
In: Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2010<br />
Sally <strong>ist</strong> zweiundfünfzig, Alfred fünf Jahre älter, seit dreißig Jahren sind sie ein Paar.<br />
Sie machen Urlaub in Yorkshire, ohne ihre drei Kinder, <strong>die</strong> so gut wie erwachsen<br />
sind. Heute steht der Besuch von Sylvia Plaths Grab auf dem Programm. Doch Alfred<br />
sitzt gemütlich im Bett und schreibt Tagebuch, den korpulenten Körper mit Kissen<br />
abgestützt, ein Kompressionsstrumpf ziert sein Bein, <strong>die</strong> Wanderung am Vortag hat<br />
ihn angestrengt. Er würde lieber im Hotelzimmer bleiben, gerne auch mit etwas Sex,<br />
seine Aufzeichnungen könnten mal wieder ein wenig Abwechslung vertragen. Sally<br />
tigert unterdessen hin und her, schaut <strong>aus</strong> dem Fenster und auf ihren Mann. Die<br />
Selbstgenügsamkeit, mit der er sich dem Altern hingibt, macht sie rasend, und<br />
natürlich kann sie es nicht lassen, auf seinem Stützstrumpf rumzuhacken, der im Lauf<br />
des Romans immer wieder zum Stein des Anstoßes wird. Im Hintergrund läuft der<br />
Fernseher, kein besonders gutes Gerät, <strong>die</strong> dumpfe Stimme des Nachrichtensprechers<br />
referiert über Ehebruch und darüber, dass er in den me<strong>ist</strong>en Gesellschaften kein<br />
Problem mehr darstellt, während ein verwackeltes Video <strong>die</strong> Steinigung einer Frau<br />
zeigt.<br />
Hier wird niemand gesteinigt<br />
Man ahnt, wohin <strong>die</strong> Reise geht. Und doch steckt <strong>die</strong>ser in seiner ganzen<br />
Beiläufigkeit grandiose Roman, der geschickt zwischen seelenruhiger<br />
Gemächlichkeit und rabiater Zuspitzung hin und her schaltet, voller Überraschungen.<br />
Es <strong>ist</strong> klar: Sally, <strong>die</strong>se lebenshungrige und ungeduldige Frau, steht schon in den<br />
Startlöchern. Lange kann es nicht mehr dauern, bis sie sich in eine Affäre stürzt.<br />
„Alles über Sally” <strong>ist</strong> ein Ehebruchroman, da gibt es von Anfang an keinen Zweifel,<br />
und wie es zu <strong>die</strong>sem Genre gehört, <strong>ist</strong> es <strong>die</strong> Frau, <strong>die</strong> den Ehebruch begeht (denn<br />
Männer brechen <strong>die</strong> Ehe nicht, sie haben Seitensprünge). Vorhersehbar <strong>ist</strong> auch, dass<br />
sie weder gesteinigt werden wird, noch selbst Hand an sich legt oder an gebrochenem<br />
Herzen stirbt. Seit Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest haben sich <strong>die</strong><br />
Zeiten geändert. Doch was gibt das Genre dann überhaupt noch her? Macht sich<br />
nicht, wo <strong>die</strong> Tragö<strong>die</strong> <strong>aus</strong>bleibt, <strong>die</strong> Komö<strong>die</strong> breit? Oder, schlimmer noch, <strong>die</strong><br />
Banalität?<br />
Zur Verblüffung des Lesers verkehrt sich das Genre unter der Hand in sein Gegenteil.<br />
Arno Geiger, der 2005 für seinen vierten Roman, „Es geht uns gut”, mit dem ersten<br />
Deutschen Buchpreis <strong>aus</strong>gezeichnet wurde, gelingt etwas, was man kaum für möglich<br />
gehalten hätte: ein Abenteuerroman über <strong>die</strong> Ehe, den man ernst nehmen kann.<br />
Dabei verlässt er sich ganz auf <strong>die</strong> Stärke und Eigenart seiner beiden Hauptfiguren,<br />
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<strong>die</strong> nie nur zum Exempel einer vorab schon gewissen Weltsicht werden. Fast <strong>ist</strong> es<br />
so, als ließe er sie einfach machen. Und wie er sie machen lässt! Nichts von den<br />
großen und kleinen Animositäten, <strong>die</strong> sich über <strong>die</strong> Jahre zwischen Ehepartnern<br />
einrichten, wird unter den Teppich gekehrt. Lustvoll inszeniert er eingespielte<br />
Dialoge mit hoher Verletzungsgefahr. Jeder kennt <strong>die</strong> empfindlichen Stellen des<br />
anderen, mal werden sie gezielt angesteuert, mal freundlicherweise umgangen. Und<br />
erst das wechselseitige Belauern beim Älterwerden. Alfred <strong>ist</strong> nachsichtiger als Sally,<br />
<strong>die</strong> mit Sport und Schminke den „Stellungskrieg gegen <strong>die</strong> Schwerkraft der<br />
Verhältnisse” kämpft. Umso weniger kann sie es ertragen, dass das Altern ihres<br />
Gatten den Eindruck verstärkt, auch sie selbst sei „eindeutig nicht mehr jung”.<br />
Wie <strong>aus</strong> einem Flächen-Diagramm schneidet Arno Geiger ein halbes Jahr <strong>aus</strong> dem<br />
Leben der Finks her<strong>aus</strong>, von Juli bis zu Silvester 2008, dem Beginn einer Krise über<br />
deren Höhepunkt bis zum allmählichen Abflauen. Sally, <strong>die</strong> ihren englischen Vater<br />
nie kennengelernt hat und bei ihren österreichischen Großeltern aufgewachsen <strong>ist</strong>,<br />
wird ziemlich rasch <strong>aus</strong> der Trostlosigkeit des Hotelzimmers erlöst. Der Anruf einer<br />
Freundin zitiert sie zurück nach Wien: in ihrem H<strong>aus</strong> sei eingebrochen worden. Wie<br />
ein Katalysator verstärkt der Einbruch <strong>die</strong> Spannung zwischen den Ehepartnern.<br />
Während Sally meint, solche Dinge müsse man eben hinnehmen, und sich sofort in<br />
Aufräumungs- und Renovierungsarbeiten stürzt, leckt Alfred monatelang seine<br />
Wunden. Immer wieder entdeckt er den Verlust von Kleinigkeiten, und sei es nur<br />
eine <strong>Postkarte</strong>, <strong>die</strong> er Sally vor Jahren <strong>aus</strong> <strong>Argentinien</strong> geschrieben hat. Für <strong>die</strong><br />
Musealisierung alter Liebesbeweise fehlt seiner Frau <strong>die</strong> Antenne, spätestens seit sie<br />
sich mit dem Mann ihrer Freundin auf eine Affäre eingelassen hat, <strong>die</strong> sie voller<br />
Inbrunst, ohne Skrupel und mit gehörigem Vertuschungsgeschick zelebriert.<br />
Während <strong>die</strong> Schilderungen von Sallys Alltag als Lehrerin eher platt und ein wenig<br />
angelesen wirken, bewährt sich Arno Geiger beim Schürzen der amourösen Intrige<br />
als Me<strong>ist</strong>er der Einfühlung, der szenischen Zuspitzung und nicht zuletzt der sexuellen<br />
Direktheit. Allein wie er <strong>die</strong> Affäre in Gang bringt, <strong>ist</strong> ein dialogisches Kabinettstück.<br />
Da stehen <strong>die</strong> beiden befreundeten Ehepaare im vom Einbruch völlig verwüsteten<br />
H<strong>aus</strong>, Alfred verzweifelt, <strong>die</strong> Freundin besorgt, Sally hat soeben tapfer <strong>die</strong> Tränen<br />
unterdrückt und gibt nun zum Besten, sie sei eigentlich „wie geschaffen für ein<br />
sorgloses Leben”. Erik antwortet schlicht: „So geht’s mir auch.”<br />
Arno Geiger bleibt immer nah an seinen Figuren, schmiegt sich mal dem Innenleben<br />
Sallys, mal dem Alfreds an, beide sind für den Leser nicht gänzlich sympathisch,<br />
wohl aber verstehbar. Am Alltag der Familie mit drei erwachsenen, aber noch nicht<br />
ernsthaft flügge gewordenen Kindern nimmt man ebenso teil wie an den mit urbaner<br />
Überzeugungskraft gestalteten Liebesstunden zwischen Sally und Erik. Der Blick<br />
über <strong>die</strong> Donau <strong>aus</strong> dem Vienna Danube <strong>ist</strong> eindeutig imposanter als der <strong>aus</strong> dem<br />
schäbigen Hotelzimmer aufs englische Hochmoor. Doch <strong>die</strong> Affäre geht zu Ende,<br />
früher als es Sally lieb <strong>ist</strong> und auf eine Weise, <strong>die</strong> sie vor Wut und gekränktem Stolz<br />
kochen lässt.<br />
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Am besten, man <strong>ist</strong> einfach da<br />
Wenn man es genau nimmt, beginnt <strong>die</strong> Ehe erhaltende Le<strong>ist</strong>ung des Gatten erst mit<br />
dem Ende der Affäre. Statt einer vor Lebensfreude strotzenden, jederzeit zum Sex<br />
bereiten Sally hat er plötzlich eine Frau zu H<strong>aus</strong>e, <strong>aus</strong> der Missmut und Zorn<br />
förmlich her<strong>aus</strong>eitern. Alfred macht eigentlich nichts anderes, als einfach da zu sein.<br />
Und er schreibt weiter Tagebuch. Erst am Ende des Romans erhält der Leser eine<br />
Kostprobe <strong>die</strong>ser Aufzeichnungen, <strong>die</strong> sich ohne Punkt, doch mit zahlreichen<br />
Kommas und Schleifen voran winden und so sehr für den Schreiber einnehmen, dass<br />
daran nicht mehr zu rütteln <strong>ist</strong>. Ohne Programmatik, allein im Nachzeichnen der<br />
genauen Kenntnis, <strong>die</strong> sein Held von seiner Heldin hat, quer durch den Alltag, quer<br />
durch <strong>die</strong> Jahre, entwirft Arno Geiger das Bild einer glücklichen Ehe.<br />
Sie <strong>ist</strong> nicht deshalb glücklich <strong>ist</strong>, weil keiner den anderen betrügt, sondern weil sich<br />
zumindest einer seiner Liebe so sicher <strong>ist</strong>, dass er sie nie in Frage stellt. Solche<br />
Hingebungsprosa über das unbedingte Zusammengehörigkeitsgefühl, das man Liebe<br />
nennt, kann man sonst nur bei Martin Walser lesen. Dort allerdings sind es <strong>die</strong><br />
Männer, <strong>die</strong> sich bei Affären Blessuren zuziehen, <strong>die</strong> sie zu H<strong>aus</strong>e <strong>aus</strong>kurieren. Bei<br />
dem 1968 in Bregenz geborenen und in Wien lebenden Arno Geiger darf es nun<br />
endlich eine Frau sein.<br />
ARNO GEIGER: Alles über Sally. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2010. 364 Seiten, 21,50<br />
Euro.<br />
Online-Version:<br />
http://buecher-de.welt.de/shop/ehe/alles-ueber-sally/geigerarno/products_products/detail/prod_id/32569940/<br />
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