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<strong>Nachruf</strong><br />

»Vater, es wird nicht gut ablaufen,<br />

Bleiben wir von <strong>de</strong>m Soldatenhaufen.«<br />

Schiller<br />

Nicht dies, son<strong>de</strong>rn, daß die Kerle uns nicht totschießen,<br />

ist das Merkwürdigste.<br />

Friedrich <strong>de</strong>r Große bei einem Para<strong>de</strong>manöver<br />

Man sollte glauben, dieses alles, mit Kunst, Wissenschaft,<br />

Tapferkeit und Ehrenpunkt, Leben und Habe,<br />

könnte einmal durch ein unberechenbares Versehen<br />

in die Luft fliegen. Zu solchen Ereignissen in großartigstem<br />

Stile dürfte, nach<strong>de</strong>m unser Frie<strong>de</strong>nswohlstand<br />

dort verpufft wäre, nur noch die langsam, aber<br />

mit blin<strong>de</strong>r Unfehlbarkeit vorbereitete allgemeine<br />

Hungersnot ausbrechen ....<br />

Während je<strong>de</strong>r Zeitungsschreiber in <strong>de</strong>r Regel nichts<br />

andres repräsentiert, als das verkommene Literatentum<br />

o<strong>de</strong>r verunglückte reine Geschäftswesen, bil<strong>de</strong>n<br />

viele, o<strong>de</strong>r gar alle Zeitungsschreiber zusammen, die<br />

ehrfurchtgebieten<strong>de</strong> Macht <strong>de</strong>r »Presse« ...<br />

Wie <strong>de</strong>r Patriotismus <strong>de</strong>n Bürger für die Interessen<br />

<strong>de</strong>s Staates hellsehend macht, läßt er ihn noch in<br />

Blindheit für das Interesse <strong>de</strong>r Menschheit überhaupt,<br />

ja, seine wirksamste Kraft übt er darin aus,<br />

daß er diese Blindheit, die im gemeinen Lebensverkehre<br />

von Mensch zu Mensch oft schon sich bricht,<br />

auf das eifrigste verstärkt.<br />

Richard Wagner<br />

Ich möchte was drum geben, genau zu wissen, für<br />

wen eigentlich die Taten getan wor<strong>de</strong>n sind , von <strong>de</strong>nen<br />

man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland<br />

getan wor<strong>de</strong>n.<br />

Es soll in einem gewissen Lan<strong>de</strong> Sitte sein, daß bei<br />

einem Kriege <strong>de</strong>r Regent sowohl als seine Räte über<br />

einer Pulvertonne schlafen müssen, solange <strong>de</strong>r<br />

Krieg dauert, und zwar in beson<strong>de</strong>rn Zimmern <strong>de</strong>s<br />

5


Schlosses, wo je<strong>de</strong>rmann frei hinsehen kann, um zu<br />

beurteilen, ob das Nachtlicht je<strong>de</strong>smal brennt. Die<br />

Tonne Ist nicht allein mit <strong>de</strong>m Siegel <strong>de</strong>r Volks<strong>de</strong>putirten<br />

versiegelt, son<strong>de</strong>rn auch mit Riemen an <strong>de</strong>n<br />

Fußbo<strong>de</strong>n befestigt, die wie<strong>de</strong>r gehörig versiegelt<br />

sind. Alle Abend und alle Morgen wer<strong>de</strong>n die Siegel<br />

untersucht. Man sagt, daß seit geraumer Zeit die<br />

Kriege in jener Gegend ganz aufgehört hätten..<br />

Es macht <strong>de</strong>n Deutschen nicht viel Ehre, daß anführen<br />

so viel heißt, als einen betrügen. Sollte das nicht<br />

ein Hebraismus sein?<br />

Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wer<strong>de</strong>n<br />

wird, wenn es an<strong>de</strong>rs wird; aber so viel kann ich sagen,<br />

es muß an<strong>de</strong>rs wer<strong>de</strong>n, wenn es gut wer<strong>de</strong>n<br />

soll..<br />

Lichtenberg<br />

Orakel<br />

»Sag an, wer wird In diesen Kriegen unterliegen?«<br />

»Der tapfere Mann.«<br />

»Der kann nur siegen!«<br />

»Wohlan! Weil er nur siegen kann.«<br />

Worte in Versen<br />

»O meine Bürger, welch ein Fall war das!«<br />

Shakespeare<br />

Durch die Nacht <strong>de</strong>r Nächte, in <strong>de</strong>r wir, hungernd und frierend, vom<br />

Schicksal als Deutsch—Österreicher gezeichnet, gebeugt von <strong>de</strong>m Fluch Wiener<br />

zu sein, also nicht staub—, nur kotgeborne Wesen, uns forttappen müssen<br />

zum Frie<strong>de</strong>n und an <strong>de</strong>n Tag hin, wo die Notwendigkeiten <strong>de</strong>s Lebens nicht<br />

mehr Denkproblem und Daseinsinhalt sein wer<strong>de</strong>n — leuchtet ein trost— und<br />

hoffnungspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Stern: nicht mehr Österreicher zu sein! Die Glückesfülle<br />

dieses Bewußtseins, die <strong>de</strong>n Jammer mit Freu<strong>de</strong>ntränen überwältigt, von gestern<br />

auf heute errafft, in <strong>de</strong>r überraschen<strong>de</strong>n Antwort auf ein »Wie geht's?«<br />

zwischen Bekannten, die sich neulich noch als Österreicher begegnen mußten,<br />

dies Erlebnis, seltener als eine Jahrtausendwen<strong>de</strong>, kann durch nichts getrübt<br />

wer<strong>de</strong>n als durch <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s neugebornen Staates, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Welt<br />

nach <strong>de</strong>m ganzen zentralmächtlichen Odium klingen wird, durch die mitgeschleppte<br />

Erinnerung an die Hölle <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte, durch solche Zeremonie<br />

pietätvoller Selbstbefleckung, womit er sich <strong>de</strong>m Verdacht preisgibt, nur eine<br />

Neubildung jenes welthistorischen Krebses zu sein, an <strong>de</strong>ssen Überwindung<br />

<strong>de</strong>r Erdkreis <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>skampf dieser vier Jahre gewen<strong>de</strong>t hat. Das Hochgefühl,<br />

zwar nichts auf <strong>de</strong>r Welt zu sein, mit Sün<strong>de</strong>n und Schul<strong>de</strong>n vor ihr zu<br />

stehen, weniger als nichts, aber doch nicht mehr Österreicher zu sein, wird<br />

ferner beeinträchtigt durch die Enttäuschung aller, die <strong>de</strong>m befreiten Menschentum<br />

gern ein Fest gegönnt hätten: daß dieser aufgelöste Verein jovialer<br />

Scharfrichter, diese Gevatterschaft weltbetrügerischer Kräfte, <strong>de</strong>ren Einheit<br />

in <strong>de</strong>r Schändung <strong>de</strong>s Heimatsgefühls sämtlicher Nationen gewährleistet war,<br />

dieser bürokratische Alpdruck landschaftlicher Schönheit, diese k. k. und zum<br />

6


Überdruß noch k. u. k. Verunreinigung <strong>de</strong>r Anlagen, die von Gott <strong>de</strong>m Schutze<br />

<strong>de</strong>s Publikums empfohlen und vom Teufel als Privatbesitz einer allerhöchst<br />

be<strong>de</strong>nklichen Familie zugeschanzt waren, daß also dieser elen<strong>de</strong> Staat, <strong>de</strong>n<br />

man doch am treffendsten mit <strong>de</strong>m Schimpfwort Österreich bezeichnet, seine<br />

Auflösung nicht mehr erlebt hat! Er ist, einge<strong>de</strong>nk <strong>de</strong>r Lorbeerreiser, die das<br />

Heer so oft sich wand, an <strong>de</strong>r Glorie gestorben, ehe er in die Lage versetzt<br />

war, seine Nie<strong>de</strong>rlage in vollen Zügen, in jenen, von welchen noch die heimkehren<strong>de</strong>n<br />

Soldaten fallen, zu erleben, und die Verantwortung für diese letzte,<br />

größte Schurkerei eines Zwangs zum Tod für ein Vaterland, das nicht<br />

mehr existierte, hatte er füglich nicht mehr zu tragen. Wie dieses unwahrscheinliche<br />

Vaterland, nach <strong>de</strong>m Geständnis <strong>de</strong>s unwahrscheinlichen Czernin,<br />

seine Märtyrer in einen Krieg schickte, von <strong>de</strong>m es wußte, daß er verloren sei,<br />

so zwang es sie noch zu sterben, nach<strong>de</strong>m er been<strong>de</strong>t und mit ihm das Vaterland<br />

selbst verloren war. So wäre <strong>de</strong>r Perversität eines Verbrechens, welches<br />

bis zum Schlußpunkt das realste Leben <strong>de</strong>m nichtigsten Schein geopfert hat,<br />

eine Sühne phantastischer Art angepaßt gewesen. Wohl läßt sich über die<br />

Selbstausrottung eines sündigen Staates und über die Auflösung in seine<br />

Lumpenmoleküle hinaus ein welthistorischer Strafprozeß nicht führen und die<br />

Erhaltung eines Reiches zwecks persönlicher Teilnahme an seiner Vernichtung<br />

nicht <strong>de</strong>nken. Dennoch ist es in diesem speziellen Fall, wo es sich um ein<br />

an Ausnahmszustän<strong>de</strong> gewöhntes Staatswesen han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>ssen Kriegsjustiz so<br />

häufig unschuldigen Greisen die To<strong>de</strong>sstrafe durch die Nötigung, das eigene<br />

Grab zu schaufeln, sohin durch die befohlene Zeugenschaft bei <strong>de</strong>r eigenen<br />

Hinrichtung verschärft hat — es ist also ein schmerzlich empfun<strong>de</strong>ner Mangel<br />

<strong>de</strong>s Verfahrens, daß eine Exekution nicht möglich war, <strong>de</strong>r dieser greise Gewohnheitsverbrecher<br />

<strong>de</strong>r Weltgeschichte zugleich mit sehen<strong>de</strong>n Augen beiwohnen<br />

konnte, so daß er, wenn auch nur einen Tag lang vor <strong>de</strong>m sichern<br />

En<strong>de</strong>, noch einmal die umfassen<strong>de</strong> Schmach seiner Existenz, die volle Beschämung<br />

ihres Ausgangs, das ganze Maß seiner Züchtigung gekostet hätte. Für<br />

die Satansi<strong>de</strong>e eines Staates, <strong>de</strong>ssen Dasein allen Anfor<strong>de</strong>rungen physischer<br />

und sittlicher Reinheit wi<strong>de</strong>rsprach, <strong>de</strong>r, weit über die Zumutung europäischer<br />

Rücksicht für einen kranken Mann im Osten, das Ärgernis eines unbegrabenen<br />

Leichnams im Hause bot, nein, durch sieben Dezennien <strong>de</strong>r Welt<br />

das Schauspiel eines als Thron kaschierten Leibstuhls gewährte, worauf sich<br />

die legendäre Dauerhaftigkeit eines nicht mehr Vorhan<strong>de</strong>nen breitmachte; für<br />

das frevle Unterfangen einer Autorität, die in unablässigem Regierungswechsel<br />

nur die Beständigkeit <strong>de</strong>r europäischen Mißachtung gesichert hat und von<br />

<strong>de</strong>r einen Reisepaß zu besitzen eine durch Schamröte vor <strong>de</strong>m Ausland teuer<br />

erkaufte Wohltat war; also für diesen Schlager einer Blutoperette: daß ein solcher<br />

von <strong>de</strong>r Großmut zivilisierter Anrainer gedul<strong>de</strong>ter Übelstand <strong>de</strong>r gesamten<br />

Umwelt Krieg angesagt hat, weil sein Prestige nicht vierundzwanzig Stun<strong>de</strong>n<br />

länger <strong>de</strong>n Zustand, daß sie sich die Nase zuhielt, ertragen konnte, und<br />

daß ein Dreckhaufe ein Ultimatum an <strong>de</strong>n Mistbauer gestellt hat, um seiner<br />

Wegräumung um ein paar Jahre zuvorzukommen — für diesen tragikomischesten<br />

aller Präventivkriege war das Kaputtwer<strong>de</strong>n eine zu geringe Sühne! Man<br />

<strong>de</strong>nke nur, wenn man sich in <strong>de</strong>r Enttäuschung an einem Sieger nicht genugtun<br />

kann, <strong>de</strong>r nach Millionen unsühnbarer Mor<strong>de</strong> <strong>de</strong>n vollen Ersatz für <strong>de</strong>n<br />

durch einen räuberischen Mißwachs bewirkten materiellen Scha<strong>de</strong>n begehrt<br />

— man <strong>de</strong>nke nur einmal, was da durch die Eingebung herz— und phantasieverlassener<br />

Staatsbankrotteure über die atmen<strong>de</strong> Welt verhängt wor<strong>de</strong>n ist.<br />

Ein Staat, <strong>de</strong>r in seinen vielen Kirchen Gelegenheit hatte, je<strong>de</strong>n Tag auf <strong>de</strong>n<br />

Knieen Gott zu danken, daß er noch auf <strong>de</strong>r Welt sei, und ihrer Aufmerksam-<br />

7


keit seine innere Schan<strong>de</strong> keineswegs aufdrängen durfte; ein Staat, <strong>de</strong>ssen<br />

Regierungsmaxime »Mir san ja eh die reinen Lamperln« wirksam nur durch<br />

<strong>de</strong>n Vorsatz »Schön stad sein!« zu stützen war; dieser Schalanter als Oberhaupt<br />

einer Völkerfamilie; dieser alte Staatsfallot, <strong>de</strong>m zwar nie etwas erspart<br />

blieb, <strong>de</strong>r aber doch stets mehr Kaiserwetter als Verstand gehabt hat; ein<br />

Hundsgemeinwesen, <strong>de</strong>ssen Anspruch, die Welt mit seiner nationalen Mordshetz<br />

zu belästigen, ausgerechnet in <strong>de</strong>r Gottgewolltheit <strong>de</strong>s Pallawatsch unter<br />

Habsburgs Zepter begrün<strong>de</strong>t war, unter einem Zepter, <strong>de</strong>ssen Mission es<br />

schien, als Damoklesschwert über <strong>de</strong>m Weltfrie<strong>de</strong>n zu hängen; ein budgetprovisorisches<br />

Gebil<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen ewiges Völkerproblem nur durch die innere<br />

Amtssprache <strong>de</strong>s Rotwelsch tunlichst zu lösen war und <strong>de</strong>ssen Verständigung<br />

durch ein Kau<strong>de</strong>rwelsch versucht wer<strong>de</strong>n mußte, wie es die hohnlachen<strong>de</strong><br />

Epoche noch nicht gehört hatte; <strong>de</strong>ssen ethnisches Kunterbunt die Einheit einer<br />

un<strong>de</strong>finierbaren Kultur ergab, die <strong>de</strong>m europäischen Geschmack als die<br />

Spezialität einer gräulichen Melange mit Doppelschlag aufgenötigt und im<br />

Abort <strong>de</strong>r Welt zur Anlockung <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>n ausgelegt war; dieser Wiener Gemein<strong>de</strong>schlauchtrommelwagenspritzenbegleiter,<br />

wenn's eh geregnet hat, und<br />

Staubaufwirbler, wenn's trocken ist; dieses hochlöbliche Chaos und wienerische<br />

Telephongespräch zwischen <strong>de</strong>n Nationen; dieser gestutzte Doppeladler<br />

als Wahrzeichen von einer Mo<strong>de</strong>, wenn halt die Völker Sekzession machen,<br />

weil man halt sonst nix machen kann; ein Unwesen, in allem Geistigen und<br />

Körperlichen windschief und <strong>de</strong>formiert, auf <strong>de</strong>n Glanz hergerichtet und rettungslos<br />

verhatscht, <strong>de</strong>ssen rebellische Lebensform, aus Manieren, Plakaten<br />

und Walzern brüllend, wie <strong>de</strong>r Protest gefangener Rassen war, die so ihre<br />

Werte reklamierten, ihre Unwerte zu einem Monstrum aller Dialekte veruneinigt<br />

fühlten; dieses Unikum von viribus unitis aus siebzig Jahren, da ein Dämon<br />

<strong>de</strong>r Mittelmäßigkeit wie eine Trud auf <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Völker lag, ihnen<br />

allen dafür das gol<strong>de</strong>ne Wienerherz einschupfend, da <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Geschichte<br />

<strong>de</strong>r Schöpfung beispiellose Fall sich begab, daß eine Nichtpersönlichkeit ihren<br />

Stempel allen Dingen und Formen lieh, so daß wir in allem was uns <strong>de</strong>n<br />

Weg verstellte, in allen Miseren, Verkehrshin<strong>de</strong>rnissen, im Querschnitt je<strong>de</strong>s<br />

Pechs diesen Kaiserbart agnoszierten; diese angestammte Schlamperei, die<br />

das Justament zum fundamentum regnorum erkoren hatte; dieses graue Verhängnis,<br />

das sich durch die Zeiten frettet wie ein chronischer Katarrh und unsere<br />

Entwicklung glücklich von Schwind bis Schönpflug, von Lanner bis Lehar<br />

geleitet — Titel für die Geschichte eines Weltuntergangs, die eine Klio mit<br />

Friedjungbart dazu schreibt —: dieses ganze blutgemütliche Etwas, <strong>de</strong>m<br />

nichts erspart blieb und das eben darum <strong>de</strong>r Welt nichts ersparen wollte, justament,<br />

sollen s' sich giften — beschließt eines Tages <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>r Welt. Mit<br />

einem Satz, <strong>de</strong>r wahrhaftig die volle Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Altersweisheit trägt und die<br />

ganze Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schwergeprüften — kürzer als je<strong>de</strong>r Satz, <strong>de</strong>r zur Brandmarkung<br />

<strong>de</strong>s Ungeheuers dient —, mit einem Satz, <strong>de</strong>ssen angemaßte Tiefe<br />

nur darum echt war, weil <strong>de</strong>r Verfasser ein an<strong>de</strong>rer war, ein Stilkünstler aus<br />

<strong>de</strong>m Ministerium, <strong>de</strong>r glaubte und darum erlebte (<strong>de</strong>r an die Fackel und <strong>de</strong>nnoch<br />

an Österreich glaubte), mit einem Satz, <strong>de</strong>ssen ausgesparte Fülle <strong>de</strong>n<br />

Schwall aller Kriegslyrik aufwog: mit einem »Ich habe alles reiflich erwogen«,<br />

springt die Vergangenheit, die sich nicht zu helfen weiß, <strong>de</strong>r Welt an die Gurgel.<br />

Und doch war nie etwas weniger reiflich erwogen, und Shakespeares altersberatener<br />

Monarch, <strong>de</strong>r aus Hitze und nicht aus Kälte ins Ver<strong>de</strong>rben raste,<br />

ist daneben ein Gipfel staatsmännischer Erkenntnis. Ein Serbien, das keineswegs<br />

schuldig einer Tat war, auf <strong>de</strong>r sich eben dieses greise Österreich<br />

bei kaum gehemmten Jubelgefühlen frisch ertappen ließ — eine ganze Welt,<br />

8


<strong>de</strong>ren Kondolenz von einem Jahrmarktsfest, welches »Begräbnis dritter Klasse«<br />

hieß, ausgesperrt wur<strong>de</strong>: sie fan<strong>de</strong>n sich plötzlich im Besitz eines Ultimatums,<br />

mit <strong>de</strong>m ein passionierter Selbstmör<strong>de</strong>r seine Vernichtung angedroht<br />

hat, wenn ein an<strong>de</strong>rer nicht binnen vierundzwanzig Stun<strong>de</strong>n in die seinige zu<br />

willigen bereit war. Wohl, dieses Ultimatum Österreichs an sich selbst, binnen<br />

fünf Jahren vom Erdbo<strong>de</strong>n zu verschwin<strong>de</strong>n, wenn Serbien nicht sofort bereit<br />

sei, seine Staatlichkeit auslöschen zu lassen, diese hirnverbrannte Zumutung,<br />

<strong>de</strong>n Mangel an österreichischen Gendarmen in Sarajevo durch einen Überfluß<br />

an österreichischen Gendarmen in Belgrad wettmachen zu lassen, <strong>de</strong>r tragische<br />

Scherz, <strong>de</strong>r in jenem Blutrotbuch von <strong>de</strong>r Unschuld, die die For<strong>de</strong>rung<br />

gestellt hat, zur jüdischen Anekdote gewen<strong>de</strong>t wird: »Und wegen so einer<br />

Lappalie haben sie sich hergestellt und da ist <strong>de</strong>r Weltkrieg ausgebrochen« —<br />

wohl, dieser gröbste Unfug <strong>de</strong>r Geschichte wäre nicht möglich gewesen, wenn<br />

die Weltanschauung <strong>de</strong>s »Wer' mr scho machen« nicht auf die Nibelungentreue<br />

<strong>de</strong>s »Machen wir« hätte pochen dürfen. Es versteht sich von selbst, daß<br />

die Kapuzinergruft bei aller Begehrlichkeit allein nicht zu <strong>de</strong>m Gelüste fähig<br />

gewesen wäre, die ganze lebendige Welt zu verschlucken, wenn sie nicht ihren<br />

Rückhalt in <strong>de</strong>r einzigartigen Verbindung mit jenem Warenhaus gehabt<br />

hätte, das die Zeit gekommen sah, <strong>de</strong>r schon auf die rascheste Verbindung<br />

Berlin—Bagdad warten<strong>de</strong>n Kundschaft seine Pofelware anzuhängen. Die Ursache<br />

<strong>de</strong>s Weltkriegs hat so viel Flächen wie er Fronten hatte: ob man aber<br />

von <strong>de</strong>r österreichischen Hausmacht o<strong>de</strong>r vom ma<strong>de</strong> in Germany her, von dieser<br />

o<strong>de</strong>r jener Mache ausgeht, von Prestige o<strong>de</strong>r Export, serbischen Schweinen<br />

o<strong>de</strong>r Hohenzollern, hohen Zöllen o<strong>de</strong>r gezogenen Schwertern, Habsburg<br />

o<strong>de</strong>r Fertigware, Scheißgasse o<strong>de</strong>r Platz an <strong>de</strong>r Sonne — man wird unfehlbar<br />

zu <strong>de</strong>m Punkte gelangen, wo in Wahrheit die Kräfte aufgespeichert waren,<br />

welche die Explosion bewirken mußten, und eben das, was uns durch vier Lügenjahre<br />

zum Treffpunkt von russischer Eroberungsgier, französischer Revanchelust<br />

und britischem Neid gedreht wur<strong>de</strong>, offenbart sich als ein viel tieferer<br />

Mischmasch, als jene Furcht und Mitleid erwecken<strong>de</strong> Tragödie, in <strong>de</strong>r sich ein<br />

Geist, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Mittelalter, und ein Gefühl, das nach <strong>de</strong>n Lebensmitteln<br />

orientiert ist, zu <strong>de</strong>m Gesamtkunstwerk einer mitteleuropäischen Lebensform<br />

manifestiert haben: ebenso anziehend in <strong>de</strong>n Gestalten dieser kriegsgewinnerischen<br />

Erzherzoge wie in <strong>de</strong>r Vision jenes schwertzücken<strong>de</strong>n und seine Porzellanmanufaktur<br />

rekommandieren<strong>de</strong>n Kaisers, <strong>de</strong>r im Königlichen Schauspielhaus<br />

lernt, wie man in <strong>de</strong>n Krieg zieht, bei Kempinsky auftritt, um einen<br />

Kachelraum zu eröffnen, Bierhäuser im Geschmack <strong>de</strong>r Walhalla träumt, Odin<br />

und Siegfried sich bei »Rheingold« soupierend vorstellt und eines Tags auf<br />

die I<strong>de</strong>e verfällt, seine Mannen auszusen<strong>de</strong>n, um seinen Commis voyageurs<br />

<strong>de</strong>n Weg in die Welt zu bahnen. Aus <strong>de</strong>m Chaos <strong>de</strong>r Gleichzeitigkeit, aus <strong>de</strong>m<br />

Anachronismus eines Schiebertums in schimmern<strong>de</strong>r Wehr, das dann wie<strong>de</strong>r<br />

zur Bereinigung solchen Wirrsals giftige Gase ausströmt, ist <strong>de</strong>r Weltkrieg<br />

entstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen Beginn nichts war als <strong>de</strong>r letzte verzweifelte Ausbruch<br />

von To<strong>de</strong>skandidaten und <strong>de</strong>ssen Verlauf nichts an<strong>de</strong>res als die Exekutive <strong>de</strong>s<br />

unumgänglichen En<strong>de</strong>s. Mochten wir, pochend auf jene »Organisation«, die<br />

als die feinste Blüte einer auf Krieg eingerichteten Geistesverfassung die völlig<br />

entleerte Seele Deutschlands seit Sedan vor <strong>de</strong>r Welt beglaubigt hat,<br />

mochte, so angefeuert, unsere Käserin<strong>de</strong> von einem Staat ihr Milbenmaterial<br />

mobilisieren; mochten wir in einer <strong>de</strong>r hiesigen Gemütslage ungemäßen, in<br />

ähnlicher Ekelhaftigkeit vom Ohr <strong>de</strong>r Neuzeit noch nicht gehörten Tonart zwischen<br />

Berserkerwut und Börseanerlust von Sieg zu Sieg taumeln — das En<strong>de</strong><br />

bis zu <strong>de</strong>m wir durchhielten, war unentrinnbar, und statt <strong>de</strong>s Mutes, es durch<br />

9


Nie<strong>de</strong>rlagen zu beschleunigen, hatten wir die Dummheit, es durch Siege aufzuhalten.<br />

Das En<strong>de</strong> davon ist ein solches En<strong>de</strong>, daß wir nicht nur bis zum<br />

En<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn noch darüber hinaus durchhalten müssen. Die Schieber hatten<br />

es uns so lange als möglich hinausgeschoben, und die Führer hatten <strong>de</strong>n<br />

Kopf, <strong>de</strong>n man ohnedies nicht bemerkt hätte, in <strong>de</strong>n Sand gesteckt, in <strong>de</strong>r<br />

Hoffnung, ihn so eher behalten zu dürfen. Aber <strong>de</strong>ren Herz für die gefolterte<br />

Menschheit schlug und <strong>de</strong>ren Patriotismus nicht die Hyänenhoffnung war,<br />

daß durch <strong>de</strong>n Martertod von noch hun<strong>de</strong>rttausend Mitbürgern sich vielleicht<br />

doch einmal die Kriegsanleihe rentieren wer<strong>de</strong> — die bangten vor je<strong>de</strong>m Sieg<br />

<strong>de</strong>r Zentralmächte; erbebten und erbleichten, wenn jene verhungerte Proletenstimme<br />

die trostlosen Triumphe »beida Berichtee« ausrief; grämten sich<br />

durch vier Kriegsjahre, daß Österreich nicht im Herbst 1914 die Konsequenz<br />

seiner natürlichen Untreue gezogen hatte, wenn es schon nicht <strong>de</strong>r eben unzulänglich<br />

mobilisierten russischen Armee damals gelungen war, uns weiter<br />

entgegenzukommen, um uns und <strong>de</strong>r Menschheit unendliches Weh zu ersparen;<br />

erschraken bei <strong>de</strong>m umgekehrten, <strong>de</strong>m verkehrten Gelingen von Gorlice<br />

und bei all <strong>de</strong>m kriegsverlängern<strong>de</strong>n Zeitvertreib einer zum Nie<strong>de</strong>rbruch verurteilten<br />

und <strong>de</strong>nnoch die Welt fortschröpfen<strong>de</strong>n Glorie; frohlockten über das<br />

erste Heil an <strong>de</strong>r Marne, das, was immer folgen mochte, die Entscheidung zu<br />

Gunsten einer schnö<strong>de</strong> überfallenen Zivilisation gesetzt hatte, eine Entscheidung,<br />

<strong>de</strong>ren Gültigkeit durch diese fluchwürdigen Scheinsiege mit ihrer blutigen<br />

Realität und ihrer historischen Nichtigkeit aufgehalten, aber nicht aufgehoben<br />

wer<strong>de</strong>n konnte. Ich weiß nicht, ob es viele in Österreich und Deutschland<br />

gegeben hat, die so empfun<strong>de</strong>n haben. Ich habe so empfun<strong>de</strong>n, nie solche<br />

Empfindung verhehlt und soweit es ging, ihr öffentlich, schriftlich und<br />

mündlich, Ausdruck gegeben. Daß ich am Leben bin, ist nicht <strong>de</strong>r Ruhm protegieren<strong>de</strong>r<br />

Henker, son<strong>de</strong>rn das Verdienst <strong>de</strong>s Schicksals, das jene entfesselte<br />

Mechanik <strong>de</strong>s Zufalls, die uns vier Jahre durch diesen Höllenspuk gejagt<br />

hat, einmal gewen<strong>de</strong>t haben muß. Ich habe so empfun<strong>de</strong>n, und weit entfernt,<br />

die Vaterlandsliebe als eine pathetische Gewinstchance aufzufassen, weit entfernt<br />

von <strong>de</strong>m schuftigen Drang, <strong>de</strong>n Kronenkurs, diesen und jenen, durch<br />

Hel<strong>de</strong>nto<strong>de</strong> befestigt zu wissen, mein Gut durch das Blut <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn, durch<br />

das weitere Lei<strong>de</strong>n auch nur eines einzigen Soldaten, durch die Beschmutzung<br />

auch nur eines einzigen Landsmanns, durch die Vergeudung von Glück<br />

und Zeit <strong>de</strong>s Nebenmenschen vermehrt o<strong>de</strong>r vor Entwertung bewahrt zu sehen,<br />

hätte ich im Gegenteil alles geopfert, Gold für Eisen gegeben, durchgehalten,<br />

Wehrmänner benagelt, schwarzgelbe Kreuzeln gekauft, Kriegsanleihe<br />

gezeichnet und je<strong>de</strong>s nur <strong>de</strong>nkbare Scherflein zur Endnie<strong>de</strong>rlage beigetragen,<br />

wenn ich auf diese Art auch nur einer einzigen Mutter ihren Sohn hätte erhalten<br />

können, einem einzigen Mädchen ihren Geliebten, einem einzigen Freund<br />

<strong>de</strong>n Freund, und doch war alles, was ich dafür tun konnte, daß ich inbrünstige<br />

Gebete während <strong>de</strong>r Schlacht für die schleunige Waffenstreckung dieses absur<strong>de</strong>n<br />

Vaterlands verrichtet habe, damit das sichere, durch keinen Sieg abzuwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

En<strong>de</strong> nicht durch <strong>de</strong>n Blutverlust je<strong>de</strong>r fernern, schrecklich vorgestellten<br />

Stun<strong>de</strong> aufgehalten, erschwert, verschärft wer<strong>de</strong>, damit unser Grab<br />

nicht durch weitere Luftbomben und, wenn's <strong>de</strong>nn ein Geschäft sein soll,<br />

durch täglich, endlos, versenkte Bruttoregistertonnen belastet sei. Und damit<br />

<strong>de</strong>r Tag näherkomme, wo diesen nichtswürdigen Generalen, Montur<strong>de</strong>poträubern,<br />

uniformierten Schleichhändlern und befehlen<strong>de</strong>n Hurentreibern endlich<br />

die Rechnung präsentiert und <strong>de</strong>r vaterländische Vorwand in seiner wahren<br />

Beschaffenheit gezeigt wird, unter <strong>de</strong>m sie die besseren Menschen zum<br />

Sterben und gar zum Töten zwangen. Aber ganz abgesehen davon, daß sich<br />

10


mein werktätiger Patriotismus in <strong>de</strong>r Sorge um die wehrlosen Soldaten betätigt<br />

hat, die für Gott—erhalte zugrun<strong>de</strong>gehen mußten, für das Lebensgeschäft<br />

von Blutspekulanten in Tod und Jammer gepeitscht wur<strong>de</strong>n, für die Champagnergelage<br />

in Hauptquartieren verhungert, für die Hochzeitsausstattung von<br />

Generalstöchtern erfroren sind; ganz abgesehen von meinem durchhalten<strong>de</strong>n<br />

Staunen über die menschenmögliche Erniedrigung durch die schäbige Regiegewalt<br />

eines Kommandos und über die Tragfähigkeit einer Komparserie <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s, die nicht schon am ersten Tag dieses ganze Schin<strong>de</strong>rensemble von<br />

Stabskretins, Auditoren, Han<strong>de</strong>lju<strong>de</strong>n, Regimentsärzten und allerlei Hoflieferanten<br />

von Menschenfleisch auseinan<strong>de</strong>rgejagt hat; ganz abgesehen davon,<br />

daß die Menschlichkeit mit <strong>de</strong>m Ge<strong>de</strong>nken aller befaßt sein mußte, die an allen<br />

Fronten Europas und Asiens im Joch <strong>de</strong>r Schan<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r im Joch <strong>de</strong>r Pflicht,<br />

sie zu bekämpfen, so Unsägliches erlei<strong>de</strong>n mußte war es mein nie verhehlter<br />

Herzenswunsch, <strong>de</strong>n Krieg bald zugunsten <strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong> been<strong>de</strong>t zu sehen.<br />

Denn nicht allein die Abneigung vor <strong>de</strong>r Möglichkeit, daß die ungerechte Sache<br />

über die gerechte triumphiere, daß die Verbrecher an Serbien, die Einbrecher<br />

in Belgien am En<strong>de</strong> statt <strong>de</strong>r Strafe jene Palme davontragen, die ein<br />

<strong>de</strong>lirantes Herrenhausmitglied schon in <strong>de</strong>r Luft baumeln gesehn hat — nein,<br />

ein tiefes Grauen vor <strong>de</strong>n kulturellen Möglichkeiten, die ein Sieg <strong>de</strong>r Zentralmächte,<br />

die Erhaltung <strong>de</strong>r Zentralmächte eröffnen mußte: das war <strong>de</strong>r Gemütszustand,<br />

in <strong>de</strong>m ich diese besoffenen Offensivzeiten, vor körperlicher Gefahr<br />

bewahrt, <strong>de</strong>r geistigen preisgegeben, durchgehalten habe, ohnmächtig<br />

verzweifelnd an einer Staatlichkeit, die anstatt feierlich und rechtzeitig<br />

Selbstmord zu begehen, Glorie nimmt von <strong>de</strong>r Tat eines Chemikers, durch die<br />

drei italienische Briga<strong>de</strong>n lautlos hinsinken, worauf die Durchbrecher in geraubten<br />

Weinfässern ertrinken, während Sei<strong>de</strong>nwarenhändler im Nachtrab<br />

erscheinen und Filmtrupps die Schan<strong>de</strong> für die nachrücken<strong>de</strong>n Generationen<br />

aufheben, wonach ein christkatholischer Kaiser mit einem Erzherzog, <strong>de</strong>m<br />

man vergeben muß, weil er nicht weiß, was er nicht tut, Marschallsstäbe<br />

wechselt! Ein Entsetzen davor, daß ein Sieg solcher Geistesart zur Unterlage<br />

<strong>de</strong>s Fühlens einer kommen<strong>de</strong>n Welt wer<strong>de</strong>n könnte, <strong>de</strong>r man mit »Saschafilms«,<br />

auf Schandblättern und mit jenen Dokumenten eines schmählichen<br />

Ruhmes aufwarten wollte, die in eigenen Anstalten von <strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m Verrecken<br />

bewahrten Uniformträgern präpariert wur<strong>de</strong>n; eine Furcht davor, daß<br />

die Erkenntnisse <strong>de</strong>s Kriegsarchivs und die Wahrheiten <strong>de</strong>s Kriegspressequartiers<br />

zur Quelle einstigen Bildungsdurstes wer<strong>de</strong>n könnten, daß ein eiserner<br />

Hin<strong>de</strong>nburg noch nach fünfzig gemästeten Frie<strong>de</strong>nsjahren von solchen benagelt<br />

wer<strong>de</strong>, die unter Umstän<strong>de</strong>n auch wie<strong>de</strong>r mit Flammenwerfern zu hantieren<br />

verstehn, daß Conrad von Hötzendorf ein Fibelheiliger, Manfred Weiß ein<br />

dramatisches Vorbild sei, auf <strong>de</strong>r Ringstraße eine Viktoria erstehe, gegen <strong>de</strong>ren<br />

Halbkugeln einer schlechtern Welt die Brüste unsrer Pallas Athene<br />

Gspaßlaberln sind; die To<strong>de</strong>sangst vor einer Elephantiasis jener hypertrophischen<br />

Mißkultur, die uns schon vor 1914 durch ihren Drang nach Quantität,<br />

durch ihren grundlosen Lärm, durch die bunte Qual ihrer Operetten und Plakate<br />

das Leben zum Krieg gemacht hatte; ein Schüttelfrost vor <strong>de</strong>r Verdickung<br />

jener Couleur, die zuerst Berlin, dann Deutschland durch Berlin, dann<br />

Wien und schließlich Österreich durch Wien geschän<strong>de</strong>t hat, vor <strong>de</strong>r Ausgestaltung<br />

<strong>de</strong>s Typus: Koofmich mit Hellebar<strong>de</strong>; <strong>de</strong>r Abscheu vor <strong>de</strong>n Explosionen<br />

von Siegern, die die <strong>de</strong>nkbar schlechteste kulturelle Verdauung haben<br />

und nichts geistig schwerer vertragen als <strong>de</strong>n Gewinn materieller Güter —<br />

ließ mich das Un<strong>de</strong>nkbare befürchten. Aber auch das Mögliche hoffen: daß<br />

die durch Zucht wie Unzucht <strong>de</strong>s Großstadtwahns verdorbene Menschenwür-<br />

11


digkeit von Menschen, die in Thüringen o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Alpen wohnen, daß ein an<br />

<strong>de</strong>r Welt erkranktes <strong>de</strong>utsches Wesen, welches im Fortschritt sich selbst verlor,<br />

durch Abtreibung <strong>de</strong>r Exporti<strong>de</strong>ale, durch politische Demütigung, durch<br />

Verarmung zu jener Tiefe zurückfin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>, von welcher zur »Es ist erreicht«—Höhe<br />

<strong>de</strong>s neu<strong>de</strong>utschen Typus etwa <strong>de</strong>r Weg von Claudius zu jenen<br />

lyrischen Gestaltungen <strong>de</strong>s Wolffbüros war, in <strong>de</strong>nen ein selbstgenügsames<br />

Gemüt sich nach getaner Versenkung o<strong>de</strong>r ausgiebiger Belegung seiner Bravheit<br />

versichert. Welcher wahrhaft Gerechte empfän<strong>de</strong> nach solch täglicher<br />

Scheinheiligsprechung, die Paris und London in Festungen verwan<strong>de</strong>ln mußte,<br />

um die dortigen Säuglinge bei Nacht zu ermor<strong>de</strong>n, nicht das innerste Bedürfnis,<br />

<strong>de</strong>n Frevel <strong>de</strong>r Lüge und <strong>de</strong>r Tat in Armut zu büßen? Welcher wahrhaft<br />

<strong>de</strong>utsche Mann — und stün<strong>de</strong> er, wenn's ihn nicht mehr gibt, aus <strong>de</strong>r<br />

Weimarer Fürstengruft auf — müßte nicht, und litte er darob Hunger und Kälte,<br />

über <strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn erfreut sein? Und wer, <strong>de</strong>r die Er<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wienerwalds<br />

liebt, wür<strong>de</strong> nicht, und sehnte er sich durch <strong>de</strong>n finstersten Winter<br />

nach einem Frühlingstag in Hainbach, alle Lerchen beim Untergang Österreichs<br />

jubeln hören? Wäre all <strong>de</strong>r Jammer, <strong>de</strong>n wir nun durchhalten müssen,<br />

weil wir so verblen<strong>de</strong>t waren, schon vier Jahre vorher durchzuhalten, nicht so<br />

winzig im Vergleich zu <strong>de</strong>n unvorstellbaren Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Millionen Märtyrer in<br />

<strong>de</strong>n Schützengräben, <strong>de</strong>r Zehntausen<strong>de</strong>, die kein Licht haben, weil sie erblin<strong>de</strong>n<br />

mußten, und die kein Feuer mehr haben, weil sie erfroren sind, so geringfügig<br />

auch im Vergleich zu <strong>de</strong>n nie vorgestellten Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bevölkerung <strong>de</strong>s<br />

von uns gemarterten Serbien und <strong>de</strong>s von unseren Bun<strong>de</strong>sbrü<strong>de</strong>rn gefolterten<br />

Belgien; wäre das Los, ein paar Wochen in einer kalten und finstern Wohnung<br />

zu sitzen, nicht so gleichgültig im Vergleich zu <strong>de</strong>n sibirischen Wintern unserer<br />

Verwandten und Freun<strong>de</strong>, zu <strong>de</strong>r jahrelangen Haushaltung in Kellern, die<br />

unsere Fein<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Besuch <strong>de</strong>utscher Bomben vorzogen; wäre es selbst keine<br />

Phrase, <strong>de</strong>n Siegern <strong>de</strong>n Plan <strong>de</strong>r »Brandschatzung« durch einen Gewaltfrie<strong>de</strong>n<br />

vorzuwerfen, da sie ja doch nur die zivilrechtliche Sühne für eine reale<br />

Brandschatzung be<strong>de</strong>utet; wäre es selbst nicht Christenpflicht, getrost allen<br />

Mangel an Feuer, Licht und Gas hinzunehmen für die Wirtschaft von vier Jahren,<br />

wo wir wahrlich zu viel hatten an Gas, Feuer und Flammen — selbst<br />

wenn das Nachspiel unverdient hart jene Unschuldigen träfe, die doch schuldig<br />

sind <strong>de</strong>r Duldung <strong>de</strong>r härtern Ungebühr, <strong>de</strong>r größeren Schmach durch die<br />

vaterländischen Gewalten: selbst dann, und wenn die tyrannischen Allüren<br />

<strong>de</strong>s Siegers nicht offensichtlich nur das <strong>de</strong>utsche Vorbild treffen, uns wie <strong>de</strong>r<br />

Alpenkönig <strong>de</strong>m Rappelkopf die Fratze <strong>de</strong>s Menschheitshasses im Spiegel zeigen<br />

wollten, selbst dann müßte <strong>de</strong>r Sucher ursprünglicher Werte, <strong>de</strong>r Freund<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n verlorenen Menschenlaut in diesem Gebrause<br />

von Donnerhall und Betrieb bejaht, bekennen: So soll es sein, damit zwar die<br />

Welt nicht am <strong>de</strong>utschen Wesen, aber dieses endlich selbst genese! Und damit<br />

sein Genius <strong>de</strong>r Welt wie<strong>de</strong>r mehr zu bieten habe als ein Gift, das ihre<br />

Gasmasken illusorisch macht! Die Kunst sich zu freuen,die ein Schmock <strong>de</strong>r<br />

Nibelungentreue zum Durchhalten in großer Zeit empfohlen hatte, jetzt ist sie<br />

brauchbar, wo die große Zeit beginnen könnte, jetzt, wo Not auch <strong>de</strong>n Wucherer<br />

beten lehrt, und <strong>de</strong>n Pfaffen dazu, <strong>de</strong>r keinen Anlaß mehr hat, für das Walten<br />

von Minen und Mörsern <strong>de</strong>n Segen <strong>de</strong>s Himmels herabzuflehen. So elend<br />

können wir durch die Nie<strong>de</strong>rlage gar nicht wer<strong>de</strong>n, daß wir nicht reich entschädigt<br />

wür<strong>de</strong>n durch die Nie<strong>de</strong>rlage! Der Gewinn dieses Umschwungs ist so<br />

über alle Vorstellung ungeheuer, daß er mit <strong>de</strong>n kleinen Maßen <strong>de</strong>s Bewußtseins<br />

gar nicht zu bestätigen ist und eben darum vor <strong>de</strong>m Gefühl <strong>de</strong>r unmittelbaren<br />

Verluste verschwin<strong>de</strong>t. Welches äußern und innern Zuwachses sind wir<br />

12


nicht versichert durch <strong>de</strong>n Zusammenbruch jener Vampyrgewalt, die das Denken<br />

und Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Generationen von Kindheit an besessen und <strong>de</strong>n Müttern<br />

bei <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s Sohns zum Schmerz die Furcht gefügt hatte! Die To<strong>de</strong>sangst<br />

durch ein Leben im Staatsgehorsam, die Bedingtheit in allem und je<strong>de</strong>m<br />

durch eine Macht, die uns eher als Gott über die Schwelle <strong>de</strong>s Unerforschlichen<br />

weisen konnte, sichtbar und riechbar in <strong>de</strong>n Spukgestalten eines<br />

Musterungslokals, in diesem Fiebertraum von Brutalität, Schmutz und Zufall,<br />

die viehische Möglichkeit einer Fleischbeschau an Menschen, die Musik im<br />

Sinn haben, für einen ihnen frem<strong>de</strong>n und verhaßten Zweck — ein Menschheitsfaktum,<br />

das allein schon hinreichte, die Geschöpfe aller an<strong>de</strong>rn Sterne<br />

zur kosmischen Ächtung dieser Sklavener<strong>de</strong> zu bestimmen —, die Infamie an<br />

Gott und Menschheit, die so ein Fahneneid be<strong>de</strong>utet, die Pflicht: Ehre, Ansehen<br />

und Alter von einem Feldwebel besu<strong>de</strong>ln zu lassen, und die noch grausigere<br />

Schmach, daß solche Exekutive <strong>de</strong>s vaterländischen Willens durch die<br />

Darbietung eines Gul<strong>de</strong>ns paralysiert wer<strong>de</strong>n kann, die Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen,<br />

»abgerichtet« zu wer<strong>de</strong>n für irgen<strong>de</strong>inen dunkeln, seinem Einfluß völlig<br />

entrückten Plan, wenn nämlich Staatskretins, die er doch bezahlt, Krieg<br />

beschließen sollten, und nicht nur sterben zu müssen für solchen Unfug, nein<br />

mehr, habt acht stehn, rechts schaun zu müssen, so und so schreiten zu müssen,<br />

salutieren zu müssen, wenn ein durch und durch grußunwürdiger Bube<br />

vorbeigeht — nein, wer nicht plötzlich wie ich gewahr wird, daß diese ganze<br />

irrsinnsgejagte Gesellschaft die Hand an die Stirn führt, um einan<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n<br />

Zustand aufmerksam zu machen, <strong>de</strong>r hat nie wie ich gespürt, was für eine<br />

Zeit das war, und <strong>de</strong>r spürt nicht, was ihr En<strong>de</strong> be<strong>de</strong>utet!<br />

Ich war gewiß nicht einer Gesinnung verdächtig, die in einer Frie<strong>de</strong>nswelt<br />

<strong>de</strong>n Wert autoritativer Turnübungen für die zuchtlose Mittelmäßigkeit<br />

grundsätzlich unterschätzt hätte, wiewohl ich <strong>de</strong>n Staat nur dann als Zuchtmeister<br />

anerkannt habe, wenn die tiefe Kniebeuge nicht ihm gilt, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n<br />

Weg für die erwartete Persönlichkeit frei macht. Ich bekenne mich jedoch fanatisch<br />

je<strong>de</strong>s scheinbaren Wi<strong>de</strong>rspruchs schuldig, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m sichtbaren Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

gegen die Natur folgt, in <strong>de</strong>n sich die Autorität am 1. August 1914<br />

begeben hat. An diesem Tage habe ich, wenn man's so verstehen will, weil<br />

man die tiefere Konsequenz nicht begreift, umgelernt — doch wahrlich nicht<br />

für diesen Tag und niemals seit diesem Tage! In einer Welt, die ich von<br />

dunklen Gewalten an <strong>de</strong>n Abgrund geführt sah, konnte, ehe sie hineinstürzte,<br />

<strong>de</strong>r Wunsch, daß »<strong>de</strong>r Säbel recht habe vor <strong>de</strong>r Fe<strong>de</strong>r, die sich sträubt«, Geltung<br />

bewahren. Als aber <strong>de</strong>r Säbel <strong>de</strong>r Fe<strong>de</strong>r gehorchte, war er verruchter als<br />

sie selbst! Der Kopfsturz <strong>de</strong>s konservativen Gedankens in ein Chaos, in <strong>de</strong>m<br />

er nur als <strong>de</strong>r grausige Büttel einer ihm todfeindlichen Weltansicht walten<br />

konnte, ist mein beispielloses Erlebnis an dieser Zeit. Zur Rettung <strong>de</strong>s innern<br />

Gutes, das sein Wächter nie gehütet und nun so schmählich verraten hat,<br />

bleibt nichts übrig, als die völlige Vernichtung aller autoritären Hülle, die<br />

längst nichts an<strong>de</strong>res war und in <strong>de</strong>r Betriebszeit nichts an<strong>de</strong>res sein kann als<br />

<strong>de</strong>r Unterschlupf aller Sün<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n heiligen Geist. Die Gleichzeitigkeit<br />

von Thronen und Telephonen hat zu Gelbkreuzgranaten geführt, um die Throne<br />

zu erhalten. Sie müssen weg, um das technische Leben wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Leben<br />

dienstbar zu machen. Die Alternative: Republik o<strong>de</strong>r Monarchie wird nicht<br />

mehr vom politischen Geschmack, son<strong>de</strong>rn vom unbeirrbaren Zeitwillen zugunsten<br />

jener entschie<strong>de</strong>n und hat längst aufgehört, ein Problem zu sein. In<br />

Epochen, <strong>de</strong>ren ungeistiger Drang auf die Unterstellung <strong>de</strong>s Lebenszwecks<br />

unter das Lebensmittel gerichtet ist, zehrt die Monarchie innen und außen<br />

vom Leben, sie streckt alle Symbole einer übermateriellen Welt <strong>de</strong>m Geschäft<br />

13


vor und wir verarmen eben darum am Notwendigen, noch ehe Kriege als die<br />

ultima ratio <strong>de</strong>s zeitverirrten Scheins es zu Ran<strong>de</strong> bringen. Da durch die Monarchie,<br />

die <strong>de</strong>n Geist irgendwo bejahen muß und also am falschen Punkte<br />

setzt, das Selbstverständliche zum Problem wird, so kann ihre Möglichkeit<br />

kein Problem mehr und muß ihre Unmöglichkeit selbstverständlich sein. Ihr<br />

Geist war zu Ornamenten abgezogen, die das Geschäft beleben sollten und<br />

Blut gekostet haben, mehr Blut, als er selbst in Zeiten wert war, da er einen<br />

Inhalt be<strong>de</strong>utet hat. Was fange ich mit einem Monarchen an? Er ist mir nur,<br />

ich spür's in meinem Schreibzimmer, <strong>de</strong>r höchste Vorgesetzte meines Kohlenmanns,<br />

aber er setzt mir ihn nicht in Gang. Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Republik kann meinetwegen<br />

dieser selbst sein — wer immer: 's wird eher Kohle geben. In <strong>de</strong>r<br />

Republik, die <strong>de</strong>n Staat als <strong>de</strong>n Konsumverein bejaht, wo sich das Essen von<br />

selbst versteht und nicht jene Gna<strong>de</strong> be<strong>de</strong>utet, für die man mit Ehrfurcht<br />

dankt, also mit einem Gegenwert, <strong>de</strong>n man nur Gott und <strong>de</strong>m Geist schul<strong>de</strong>t,<br />

in <strong>de</strong>r Republik sind die Menschen zunächst so schlecht und so dumm, wie sie<br />

sind, aber von keiner Schranke gehin<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>n Zustand zu heben. Die monarchische<br />

Macht muß, um zu bestehen, die Menschen dümmer und schlechter<br />

machen, als sie sind. Sie zehrt <strong>de</strong>n inneren Vorrat auf, um uns <strong>de</strong>n äußern zu<br />

geben, nimmt <strong>de</strong>n äußern, und anstatt daß wir durch die Bestellung <strong>de</strong>s Lebens<br />

leichter zu uns selbst gelangten, fin<strong>de</strong>n wir zuletzt in uns nichts vor und<br />

nichts mehr außerhalb. Und daß, wo nichts ist, auch <strong>de</strong>r Kaiser das Recht verloren<br />

hat, diese Erkenntnis ist schließlich <strong>de</strong>r wahre Gewinn aus <strong>de</strong>m Zustand,<br />

und <strong>de</strong>r heißt dann Republik. Vor allem Denken stand das hin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />

Bewußtsein, daß es Kaiser gibt, aber die leere Seele und <strong>de</strong>r leere Herd zeugten<br />

für das angestammte Übel. Mangel ist <strong>de</strong>r Ehrfurcht hin<strong>de</strong>rlich, die <strong>de</strong>n<br />

Überfluß nicht zuließ. Wir müssen wie<strong>de</strong>r Gott, wir dürfen nicht mehr <strong>de</strong>m<br />

Staat für die Dinge danken, zu <strong>de</strong>ren Beschaffung er da ist und von uns bezahlt<br />

wird. Die Gotteslästerung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, daß <strong>de</strong>r Mensch für <strong>de</strong>n Staat da sei,<br />

hat ein En<strong>de</strong> mit Schrecken gefun<strong>de</strong>n. Wehe <strong>de</strong>m Bäcker, <strong>de</strong>r für unser tägliches<br />

Brot, das wohl Gottes Gna<strong>de</strong>, aber seine Pflicht ist, als Majestät verehrt<br />

sein will! An <strong>de</strong>r Überschätzung dieser Dinge sind sie uns ausgegangen. Ein<br />

zu großer Teil <strong>de</strong>r Menschheit hat sich als <strong>de</strong>n Vorgesetzten <strong>de</strong>s Rests aufgespielt<br />

und davon gelebt, sich zwischen uns und unsere Notdurft zu stellen, anstatt<br />

sie uns zu verrichten. Wenn wir in diesem Punkt klar zu sehen beginnen,<br />

wer<strong>de</strong>n wir uns nach <strong>de</strong>n fleischlosen Töpfen <strong>de</strong>r Monarchie nicht zurücksehnen<br />

und uns dadurch allein eine bessere Zukunft sichern, daß wir uns die<br />

meisten Beamten und alle Offiziere ersparen. Das unheimliche Symbol <strong>de</strong>s<br />

Zauberlehrlings, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Besen zum Herrn über sich selbst gesetzt hat und einer<br />

Sintflut nicht mehr wehren kann, ist als Warnung vor einem Leben gestan<strong>de</strong>n,<br />

welchem die Behelfe <strong>de</strong>n Zweck verdorben haben; im Erlebnis büßt<br />

es die Sün<strong>de</strong> einer Zeit, aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r alte Meister sich doch einmal wegbegeben<br />

hat. Dies gilt von <strong>de</strong>m Fluch, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zauberbesen <strong>de</strong>r Technik über uns<br />

gebracht hat, es gilt aber auch für das System, das die animalischen Instrumente,<br />

die Mittler und Händler, in die Weihe einer Lebensverfügung eingesetzt<br />

hat. Herr, die Not ist groß! Die wir riefen, die Geister, müssen wir radikal<br />

und ein für allemal loswer<strong>de</strong>n, wenn an<strong>de</strong>rs die Katastrophe dieses Kriegs<br />

nicht auch die Zukunft uns ersäufen soll. Das Lehrgeld <strong>de</strong>s Zauberlehrlings<br />

müssen wir bezahlen. Und das Wesen unseres beson<strong>de</strong>rn Chaos ist, daß wir<br />

er und <strong>de</strong>r Stock zugleich waren und je<strong>de</strong>r von uns in bei<strong>de</strong>n Gestalten, als<br />

Verwirrer und Verwirrter, das Unheil mehrten. Was die Beamten anlangt, die<br />

in diesem glücklich ersoffenen Haus Österreich <strong>de</strong>n Anspruch erhoben, daß<br />

die Eigenschaft <strong>de</strong>r Dummheit allein schon gottähnlich mache, und die sich<br />

14


als die unmittelbaren Stellvertreter jener Macht fühlten, durch welche die<br />

Welt tatsächlich erst da war, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Schöpfungsakt erledigt war, was<br />

diese perfekten Hüter einer naturwidrigen Ordnung betrifft, so wird es gewiß<br />

schwer genug fallen, sie — in die Ecke, Besen! Besen! Seid's gewesen — zu<br />

Dienern unserer Notdurft zurückzubil<strong>de</strong>n. Den Offizieren, die <strong>de</strong>r bunte Vorwand<br />

waren, um uns diese abzugewöhnen, bleibt nichts übrig, als zu <strong>de</strong>r Verlustliste<br />

<strong>de</strong>r Menschheit mit <strong>de</strong>m Opfer ihres Berufs beizusteuern, <strong>de</strong>ssen eigentliche<br />

Tragödie es ist, überflüssig zu wer<strong>de</strong>n, anstatt es längst gewesen zu<br />

sein. Der Katzenjammer beim Anblick von Farben, die einen so peinlichen<br />

Kontrast zur gräulichen Erinnerung und zur düstern Gegenwart bil<strong>de</strong>n, hat<br />

keine Ten<strong>de</strong>nz gegen solche, die aus <strong>de</strong>m redlich mitgetragenen Sklavenelend<br />

dieser Jahre heil zurückgekehrt sind. Wenn sie sich jetzt von ihm betroffen<br />

fühlen, so mögen sie eine Schwäche büßen, die sie <strong>de</strong>n Konflikt zwischen einem<br />

vorzeitlichen Begriff von militärischer Ehre und <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen eines<br />

durch und durch ehrlosen Handwerks neuzeitlicher Kriegführung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

willenlosen Duldung täglich durchschauter Schmach nicht eher austragen<br />

ließ. Nieman<strong>de</strong>m fällt es ein, <strong>de</strong>n Sklaven einer verfluchten Pflicht und Teilhabern<br />

einer sinnlosen Gefahr zu grollen, wenn die Zeit, die das nackte Leben<br />

retten möchte, gegen die Reize einer Uniform glücklich abgestumpft ist. Die<br />

ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Albernheit <strong>de</strong>s Einspruchs, man dürfe »nicht generalisieren«, die<br />

zudringlichen Proteste von hohen militärischen Seiten, die es nicht mehr gibt,<br />

wiewohl sie wahrhaftig keines Hel<strong>de</strong>ntods verblichen sind, die tägliche Mobilmachung<br />

einer so gründlich abgerüsteten Berufsehre beruht auf <strong>de</strong>m Anspruch,<br />

<strong>de</strong>m Hinterland noch heute imponieren und es über die Verteilung<br />

von Lorbeer und Lasten dieses Kriegs betrügen zu dürfen. Wenn »generalisieren«<br />

— dieses einzige Fremdwort, das <strong>de</strong>n Weltkrieg nicht zu überleben verdient<br />

hat und das im Mun<strong>de</strong> aller Minister für Lan<strong>de</strong>sverteidigung und Lan<strong>de</strong>spreisgebung<br />

noch nicht zu To<strong>de</strong> malträtiert wor<strong>de</strong>n ist etwa so viel wie<br />

stehlen heißt, sich auf Staatskosten Villen einrichten, mehr Wäsche beziehen<br />

als im Frie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Krieg auch im Hinterland als eine Gelegenheit für Beute<br />

auffassen, o<strong>de</strong>r für Umsetzung <strong>de</strong>r Macht in sonstige Werte, das Alphabet <strong>de</strong>r<br />

Menschheit nach A—, B— und C—Befun<strong>de</strong>n buchstabieren, zwischen <strong>de</strong>nen<br />

Spielraum für Gefälligkeit o<strong>de</strong>r Grausamkeit bleibt je nach<strong>de</strong>m, frontentfernte<br />

Blutsverwandte haben, für ein Kilo Filz dann und wann auch einen Frem<strong>de</strong>n<br />

vom Hel<strong>de</strong>ntod entheben, Nierenkranke verhöhnen und zur Kur ins Stahlbad<br />

schicken, mit Sterben<strong>de</strong>n Salutierübungen vornehmen lassen, Fasane fressen<br />

wenn <strong>de</strong>r gemeine Mann heut Salvator'sches Dörrgemüse mit Würmern hat,<br />

Champagner trinken, wenn er Abspülwasser bekommt, Soldaten anbin<strong>de</strong>n<br />

und Berichterstattern die Ehrenbezeigung leisten, für <strong>de</strong>n Ganghofer ein Gefecht<br />

veranstalten, bei <strong>de</strong>m sechzehn von <strong>de</strong>n Eigenen durch zurückfliegen<strong>de</strong><br />

Geschützbö<strong>de</strong>n getroffen wer<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>r Schalek sich über das Ausputzen<br />

von Schützengräben informieren lassen, Advokaturskonzipienten mit To<strong>de</strong>surteilen<br />

beauftragen, angeblich erst Vierzehnjährige durch eine Untersuchung<br />

<strong>de</strong>r Zähne galgenreif machen, von allen Menschenrechten nur noch das auf<br />

Entlausung anerkennen, die Schöpfung in Menschenmaterial und sonstiges<br />

Material einteilen, aus Sibirien heimkehren<strong>de</strong> Wracks monatelang hinter Stacheldraht<br />

beobachten, um sie dann erst einrückend zu machen, beim Bridgespiel<br />

Vorstöße anordnen, auf <strong>de</strong>r Flucht einen fehlen<strong>de</strong>n Uniformknopf beanstan<strong>de</strong>n<br />

und <strong>de</strong>r Ordnung halber einem Kranken ein Zeltblatt von <strong>de</strong>r Tragbahre<br />

wegnehmen, weil's ins eigene Auto regnet, statt <strong>de</strong>r Mannschaft sein<br />

Klavier in Sicherheit bringen, und hinterdrein das alles ableugnen — wenn<br />

etwa dies und das und noch etwas generalisieren heißt, so bin ich allerdings<br />

15


auch <strong>de</strong>r Ansicht, daß man nicht generalisieren darf. Aber es sind ja nur Einzelfälle<br />

und man darf nicht generalisieren. Überdies haben wir von zuständiger<br />

Stelle, nämlich vom gewesenen Armeeoberkommando gehört, daß das Generalisieren<br />

auch unfehlbar alle jene trifft, »die ihre Pflichterfüllung mit <strong>de</strong>m<br />

To<strong>de</strong> besiegelt haben o<strong>de</strong>r als Krüppel weiter durchs Leben wan<strong>de</strong>rn<br />

müssen«, ein Los, das bekanntlich <strong>de</strong>n Angehörigen <strong>de</strong>s gewesenen Armeeoberkommandos<br />

und seiner Filialen erspart geblieben ist. Es war aber, da ja<br />

die Ressorts eben getrennt und Kompetenzstreitigkeiten tunlichst zu vermei<strong>de</strong>n<br />

sind, immer die Lebensaufgabe jener, die in <strong>de</strong>n letzten Jahren in Ba<strong>de</strong>n<br />

zur Nachkur geweilt haben —. die wohltätigen schwefelhaltigen Quellen sind<br />

für Rheumatiker so indiziert wie die Teschener Milchkur —, auf das beispielgeben<strong>de</strong><br />

Verhalten jener hinzuweisen, die in <strong>de</strong>r gleichen Zeit gesund genug<br />

waren, sich an Sturmangriffen zu beteiligen. Wenn sie dabei zufällig gestorben<br />

sind o<strong>de</strong>r schon bei <strong>de</strong>r Generalprobe von <strong>de</strong>r eigenen Handgranate —<br />

die eben nur aus Kriegsmaterial hergestellt war — zerrissen wur<strong>de</strong>n, so darf<br />

man nicht vergessen, daß Krieg Krieg ist und daß man nicht generalisieren<br />

darf. O<strong>de</strong>r eben nur, um in Bausch und Bogen auf die vorbildliche Or<strong>de</strong>nswürdigkeit<br />

<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Stabsmenage Hinterbliebenen hinzuweisen. Auch ist zu be<strong>de</strong>nken,<br />

daß zwar die Lebensmittel, die im Krieg ausgehen, jenen, die ihn führen,<br />

nur dort erreichbar sind, wo sie nicht so leicht in Fein<strong>de</strong>shand geraten<br />

können, wo es aber oft strapaziöse Telephongespräche kostet, um die Aufopferung<br />

<strong>de</strong>r eigenen Regimenter durchzusetzen. Die Toten, die mit ihren Scha<strong>de</strong>nersatzansprüchen<br />

von einem Vaterland, das auch nicht mehr lebt, auf die<br />

Fibel verwiesen wer<strong>de</strong>n, haben es besser. Fraglich bleibt nur, ob beim Generalisieren<br />

sich die Krüppel mit größerer Genugtuung an die Generale erinnern<br />

wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r an jene, die <strong>de</strong>ren Tätigkeit wenigstens zu einer Zeit charakterisiert<br />

haben, als <strong>de</strong>r Säbel, aus <strong>de</strong>m Dienst <strong>de</strong>r schlechten Fe<strong>de</strong>r entlassen,<br />

<strong>de</strong>r guten nichts mehr zu verbieten hatte. Die Voranschickung <strong>de</strong>r Toten und<br />

Krüppel in <strong>de</strong>n Kampf um die Ehre, das einzige, was bekanntlich <strong>de</strong>m Berufsoffizier<br />

geblieben ist, entspricht einer alten militärischen Tradition jener Kreise,<br />

bei <strong>de</strong>nen selbst diese Gabe nur in verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mengen vorkommen<br />

dürfte, so daß eine Requisition, etwa für <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>raufrichtung<br />

<strong>de</strong>s Berufs, nur ein schwaches Ergebnis zeitigen wür<strong>de</strong>. Wenn wir vollends<br />

hören, daß die Verteidigung »<strong>de</strong>nselben liebenswürdigen, beschei<strong>de</strong>nen,<br />

dienstesfrohen und anspruchslosen Offizieren« gilt, »auf die wir Österreicher<br />

immer so stolz gewesen waren«, weil sie »Blut von unserem Blute, Geist von<br />

unserem Geiste« sind, so müssen wir gera<strong>de</strong>zu die Bitte aussprechen, nicht zu<br />

generalisieren. Beson<strong>de</strong>rs, was das Blut, und auch was <strong>de</strong>n Geist anbelangt.<br />

Denn in solchen Momenten, wo wir uns vom Geist <strong>de</strong>r Sirk—Ecke umwittert<br />

fühlen, stellt sich unfehlbar das tödliche Wort »Mullatschak« ein, welches<br />

<strong>de</strong>nn auch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch—österreichische General, dieser von einem neuen<br />

Geist berufene Boog, pünktlich zur Entschuldigung jener harmlosen Spielart<br />

ins Treffen führt, die halt aus Feschaks besteht, die Fülle <strong>de</strong>r österreichischen<br />

Dialekte um <strong>de</strong>n liebenswürdigsten Jargon bereichert hat, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n Satz mit<br />

»Weißt« beginnt, und, man kann's ihr nicht verübeln, Krieg ist Krieg, manchmal<br />

über die Stränge geschlagen hat, die halt in zwölftausend Fällen Galgenstränge<br />

waren. Weißt, daß ich in einer Sphäre, in <strong>de</strong>r diese Klasse zwar nicht<br />

mehr über unser Blut gebietet, aber noch Miene zu machen scheint, unsern<br />

Geist von ihrem sein zu lassen, nicht allzulange aushalten wer<strong>de</strong>. Aber ich<br />

muß, da ich ja nicht in <strong>de</strong>r Lage bin, auf meinem Rückzug mich durch Preisgebung<br />

meines Menschenmaterials und unter Mitnahme von an<strong>de</strong>rm beweglichen<br />

Gut in Sicherheit zu bringen, bis zur Heimkehr in eine lichtere Heimat<br />

16


auf meinem Posten bleiben und versuchen, einer wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>n Gegenwart<br />

die Grundbegriffe verlorener Menschenwür<strong>de</strong> beizubringen und nebstbei die<br />

Grundregeln verlorenen logischen Denkens. In dieser Diskussion ist es dann<br />

wohl unvermeidlich, zu erraten, daß Generalisieren nicht so sehr Schlechtigkeiten<br />

begehn als jene Tätigkeit be<strong>de</strong>uten dürfte, die in <strong>de</strong>r Verallgemeinerung<br />

<strong>de</strong>r darauf abzielen<strong>de</strong>n Vorwürfe besteht, Und da ist <strong>de</strong>nn zu sagen, daß<br />

<strong>de</strong>r Protest <strong>de</strong>r Getroffenen, <strong>de</strong>r in seiner eintönigen Schwin<strong>de</strong>lmanier sowohl<br />

<strong>de</strong>r Verallgemeinerung wie <strong>de</strong>r Anführung konkreter Tatsachen entgegnet,<br />

selbst jener Metho<strong>de</strong> gegenüber vergebens mit <strong>de</strong>m Tonfall <strong>de</strong>r Entrüstung<br />

spekuliert. Zur Rechtfertigung <strong>de</strong>rer, die da generalisieren., sage ich gera<strong>de</strong>zu,<br />

daß sie die Wirkung ihrer Anklage durch die Beschränkung auf konkrete<br />

Tatsachen eher abschwächen wür<strong>de</strong>n, weil just diese es <strong>de</strong>n unehrlichen Verteidigern<br />

möglich macht, darauf hinzuweisen, daß es in je<strong>de</strong>r großen Organisation<br />

sogenannte Elemente gibt. Zum Glück bleibt die Vorführung von Tatsachen,<br />

wie sie von <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Publizistik geübt wird, nie ohne<br />

verallgemeinern<strong>de</strong> Perspektive, und eben dieser ist mit <strong>de</strong>r Berufung auf die<br />

Elemente, die es überall gibt, <strong>de</strong>nn Menschen Menschen san mr alle, in diesem<br />

Falle nicht beizukommen, Denn es kommt gar sehr auf die Lebensbedingungen<br />

<strong>de</strong>s Berufskreises an und auf die Atmosphäre, in <strong>de</strong>r sich die Elemente<br />

ausleben können, und es gibt eben Offizien, die es erheischen, ja zur höchsten<br />

Ehre machen, daß wir alle Unmenschen sind. Die Atmosphäre, in <strong>de</strong>r man<br />

für Medaillen »eingegeben« wird, ist ja nicht immer die Luft eines Büros, son<strong>de</strong>rn<br />

manchmal wirklich <strong>de</strong>r Blutdunstkreis und je mechanischer just hier das<br />

Verdienst ge<strong>de</strong>iht, umso besser wächst es <strong>de</strong>r Seele, die keine Hemmungen<br />

kennt. »Verbrechernaturen«, räumt jener Boog ein, können wohl im Fel<strong>de</strong> ihr<br />

Unwesen getrieben haben, aber man dürfe nicht generalisieren. Ist <strong>de</strong>m so, so<br />

muß man. Denn es ist wohl für das Feld charakteristischer, als für je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn<br />

Betätigungskreis, daß es das Feld <strong>de</strong>r Verbrechernaturen ist, und wenn<br />

wir lesen, daß ein General vor <strong>de</strong>r Piave—Offensive <strong>de</strong>n Befehl erteilt hat:<br />

»Wenn eine Patrone fehlt, kannibalisch strafen!«, »Mit kräftigem Hurra! ungestüm<br />

auf Gegner stürzen; ihm noch auf kurze Distanz eines unter die Nase<br />

brennen, dann sofort mit <strong>de</strong>m Bajonett in die Rippen!«, »Ungetreue rücksichtslos<br />

nie<strong>de</strong>rbrennen!«, »Gewehr bleibt trotz Handgranate und MG. stets<br />

bester Freund <strong>de</strong>r Infanterie«, »Offiziere müssen da hart sein. und letzte Kräfte<br />

herausfor<strong>de</strong>rn!« — so ist es wohl klar, daß sich hier <strong>de</strong>n Verbrechernaturen<br />

eine bessere Aussicht auf Erfolge eröffnet als etwa <strong>de</strong>n Künstlernaturen, und<br />

man wür<strong>de</strong> die Intentionen dieses Generals sehr durchkreuzen, wenn man Be<strong>de</strong>nken<br />

tragen wollte, bezüglich ihrer Wirkung zu generalisieren. Wir haben<br />

von fachmännischer Seite <strong>de</strong>n Aufschluß erhalten, daß das österreichische Offizierskorps<br />

»erstklassig« gewesen sei, ein Lob, das sonst nur <strong>de</strong>m ihnen anvertrauten<br />

Menschenmaterial o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m ihnen vertrauten Ensemble <strong>de</strong>s »Gartenbau«—Varietés<br />

gespen<strong>de</strong>t wird. An<strong>de</strong>re Berufskreise wählen an<strong>de</strong>re Ornamente<br />

ihrer Leistungsfähigkeit. Aber sie unterschei<strong>de</strong>n sich von <strong>de</strong>m Offiziersberuf<br />

auch darin, daß man ihnen durch ein Generalisieren <strong>de</strong>r<br />

Verfehlungen einzelner Angehöriger tatsächlich unrecht täte. Selbst <strong>de</strong>n<br />

Bankbeamten, <strong>de</strong>ren Tätigkeit doch gewiß <strong>de</strong>r Versuchung von Requirierungen<br />

frem<strong>de</strong>n Eigentums ausgesetzt ist, wür<strong>de</strong> man nahetreten, wollte man ihren<br />

Beruf nach <strong>de</strong>n Verbrechernaturen beurteilen, die unter ihnen nicht nur<br />

wie überall vorkommen, son<strong>de</strong>rn die auch die Gelegenheit auf ihre Rechnung<br />

kommen läßt. Denn <strong>de</strong>r Dieb fin<strong>de</strong>t sich zwar zum Geld, aber es besteht zwischen<br />

bei<strong>de</strong>n Kräften nicht <strong>de</strong>r kausale Zusammenhang, <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>m<br />

Blut und <strong>de</strong>m Mör<strong>de</strong>r waltet, und die Anziehung, dort nur von <strong>de</strong>r Gelegen-<br />

17


heit, wird hier vom Wesen bewirkt. Auch hat man wohl noch von keinem Generaldirektor<br />

gehört, <strong>de</strong>r seinen Angestellten knapp vor <strong>de</strong>r Generalversammlung<br />

in einem Merkzettel zum Stehlen Mut gemacht hätte, auch wenn er sich<br />

selbst in <strong>de</strong>m Fach gut auskennen sollte. In <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn Beruf jedoch, <strong>de</strong>ssen<br />

Angehörige vor einer Offensive wehrlos auch noch <strong>de</strong>r Ermunterung zum<br />

Mor<strong>de</strong>n ausgesetzt sind, soll es vorgekommen sein, daß Triebe, <strong>de</strong>ren ausgiebige<br />

Befriedigung ja sogar Ehre, Ruhm und Auszeichnung verheißt, vor <strong>de</strong>r<br />

Gelegenheit, die die eigene Umgebung bot, nicht Halt gemacht und zu Taten<br />

geführt haben, die zwar kein Verdienstkreuz, aber doch auch nicht die Unzufrie<strong>de</strong>nheit<br />

<strong>de</strong>s Vorgesetzten geerntet haben mögen. Es müssen nicht einmal<br />

Verbrechernaturen, also Elemente gewesen sein, son<strong>de</strong>rn ganz harmlose Feschaks,<br />

die an <strong>de</strong>r Sirk—Ecke keiner Prostituierten ein Haar krümmen können:<br />

welche <strong>de</strong>n Umstand, daß ein alter serbischer Bauer von <strong>de</strong>r Drina Wasser<br />

holte, Krieg ist Krieg, nicht vorübergehen lassen konnten, ohne die Gefechtspause<br />

auszufüllen, o<strong>de</strong>r welche einen Zugsführer, <strong>de</strong>r zurückging, um<br />

Munition zu holen, in <strong>de</strong>r immer gerechtfertigten Vermutung, es handle sich<br />

um einen »p. u.« o<strong>de</strong>r gar einen »p. v.« — fällt kein Meteor vom angewi<strong>de</strong>rten<br />

Himmel, um diese Abkürzer <strong>de</strong>r Sprache und <strong>de</strong>s Lebens zu strafen ? — alstern<br />

kurzerhand »abgeschossen« haben. Zur Ehre <strong>de</strong>r Berufsoffiziere sei aber<br />

gesagt, daß einrückend gemachte Spießbürger, <strong>de</strong>ren Harmlosigkeit im Frie<strong>de</strong>n<br />

höchstens die Greuel einer Faschingsnacht <strong>de</strong>s Wiener Männergesangvereins<br />

zuzutrauen waren, sich plötzlich in keiner an<strong>de</strong>rn Gemütsverfassung<br />

befun<strong>de</strong>n haben. Also: wenn eine Wirksamkeit jene, die sie von Grund aus verabscheuen,<br />

zum Generalisieren berechtigt, so war es die <strong>de</strong>r Individuen, die<br />

sich aus ihrer subalternen Lage ohne Übergang zu einer Machtfülle gelangt<br />

sahen, vor <strong>de</strong>r ein Dschingis Khan Lampenfieber gehabt hätte o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>in<br />

verantwortlicher Gewalthaber vorzeitlicher Kriege doch etwas Herzklopfen.<br />

Die völlige Unverantwortlichkeit <strong>de</strong>s heutigen Kriegsteilnehmers, <strong>de</strong>r vom Gefühl<br />

<strong>de</strong>r mobilisierten Quantität nicht zermalmt, son<strong>de</strong>rn entfesselt ist, erklärt<br />

diese anonyme Grausamkeit, welcher die Hemmung <strong>de</strong>r Phantasie längst von<br />

<strong>de</strong>r Mechanik aus <strong>de</strong>m Weg geräumt war, ehe sie zur Waffe griff, und von <strong>de</strong>r<br />

sich das Gewissen <strong>de</strong>r Heimgekehrten wie<strong>de</strong>r so schnell zu Schlaf und Tagwerk<br />

erholt, wie es sich aus <strong>de</strong>r Banalität ihrer Vergangenheit in <strong>de</strong>n Weltkrieg<br />

gefun<strong>de</strong>n hat. Wäre ich Offizier, ich wür<strong>de</strong> mich, wenn ich meinen Seelenfrie<strong>de</strong>n<br />

heimgerettet hätte, keineswegs auf die Ehre dieser Abenteuer versteifen,<br />

son<strong>de</strong>rn schweigend ihren Opfern an die Seite treten. Nie wür<strong>de</strong> ich<br />

durch einen Vergleich mit an<strong>de</strong>ren Berufen, die auch ihre Schädlinge haben,<br />

die Problematik <strong>de</strong>s Berufs und die Zwei<strong>de</strong>utigkeit einer Denkweise entblößen,<br />

die nach <strong>de</strong>n Exzessen dieser Schandzeit überhaupt noch die Geltung eines<br />

Berufs, wenn nicht gar die unverän<strong>de</strong>rte Vorzugsstellung im Staatsleben<br />

beansprucht. Da muß <strong>de</strong>nn ein für allemal klargestellt wer<strong>de</strong>n, daß zwar je<strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>r da mitgetan hat, ob er nun von Berufswegen o<strong>de</strong>r durch »Tauglichkeit«<br />

dazu verpflichtet war, zwar das Mitgefühl als Objekt <strong>de</strong>r Gefahr, aber<br />

nicht die Bewun<strong>de</strong>rung als Subjekt <strong>de</strong>r Tat, zwar <strong>de</strong>n mil<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Umstand<br />

<strong>de</strong>s Zwangs, aber keinesfalls eine Erhöhung <strong>de</strong>r Ehre ansprechen kann. Dagegen<br />

kommt wie<strong>de</strong>r bei jenem, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Krieg nicht als eine Unterbrechung,<br />

son<strong>de</strong>rn als eine Probe seines Berufs durchlebt hat (die häufig genug bloß<br />

eine Etappe auf seinem Lebensweg war), das professionelle Moment als erschwerend<br />

in Betracht. Daß selbst bei gleich verteilten Kriegslasten eher <strong>de</strong>m<br />

Zivilisten als <strong>de</strong>m Berufsmilitär eine bevorzugte Stellung im friedlichen Leben<br />

gebührt, hätte sich schon vor <strong>de</strong>m Krieg von selbst verstehen sollen. Wenn es<br />

überhaupt noch Professionskrieger geben sollte, müßte solches nach <strong>de</strong>m<br />

18


Krieg noch evi<strong>de</strong>nter sein. Und nicht etwa <strong>de</strong>shalb, weil nach übereinstimmen<strong>de</strong>n<br />

Aussagen die Männer <strong>de</strong>r Tat <strong>de</strong>n Löwenanteil an <strong>de</strong>n militärischen<br />

Erfolgen in Bahnhofkomman<strong>de</strong>n, Maschinenhallen, Hühnerzuchtanstalten und<br />

Nu<strong>de</strong>lfabriken erringen durften, während die Fabrikanten, Ingenieure, Landwirte<br />

und Lehrer sich in aussichtsloseren, wenn auch besser eingesehenen<br />

Stellungen beschei<strong>de</strong>n mußten. Es hat keinen Sinn, über <strong>de</strong>n Verteilungsmodus<br />

<strong>de</strong>r Gefahren nachträglich zu richten, weil man sich plötzlich einer unkontrollierbaren<br />

Statistik von überleben<strong>de</strong>r militärischer Seite gegenüberbefin<strong>de</strong>t<br />

und weil ja <strong>de</strong>r Selbsterhaltungstrieb vor einem Vaterland, <strong>de</strong>ssen Bestand<br />

keinen Schuß Pulver wert war, gewiß nicht zu verdammen ist. Es wird<br />

mehr Drückeberger ohne diese Erkenntnis, patriotische Feiglinge, gegeben<br />

haben, die sich und <strong>de</strong>m Staat ein langes Leben wünschten; aber gewiß noch<br />

mehr solche, die sich für <strong>de</strong>n Glauben an eine schlechte Sache geopfert haben<br />

und <strong>de</strong>nen keine geringere Ehre gebührt als <strong>de</strong>n Blutzeugen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e. Auch<br />

<strong>de</strong>r Märtyrertod eines einzigen Menschen — und im ersten Rausch dieser Orgie<br />

haben gewiß auch zahllose Berufsoffiziere daran glauben müssen — ist<br />

eine so ehrfurchtgebieten<strong>de</strong> Tatsache, daß je<strong>de</strong> Kritik dieser Verhältnisse fast<br />

zum Standpunkt jenes hohen Militärs führt, <strong>de</strong>r bei einer Inspizierung recht<br />

zufrie<strong>de</strong>n war und nur bemängeln mußte, daß »zu wenig Herren gefallen« seien,<br />

o<strong>de</strong>r gar zur i<strong>de</strong>alen For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s rigoroseren Pflanzer—Baltin: »Ich<br />

wer<strong>de</strong> schon meinen Leuten das Sterben lehren«. Also nicht die schlampige<br />

Verteilung von Glorie und Gefahr auf militärische und zivile Kämpfer ist es,<br />

was zu einer Revision sozialer Vorrechte führen müßte. Vielmehr war schon<br />

vor <strong>de</strong>m Krieg und in Erwartung einer gerechtern Rationierung <strong>de</strong>r Kriegslast<br />

die gesellschaftliche Bevorzugung <strong>de</strong>s Offiziers eine plane Dummheit, gleichsam<br />

eine stehengebliebene Schildwache <strong>de</strong>r Ehre aus <strong>de</strong>r Zeit, die noch nicht<br />

die Wohltat <strong>de</strong>r allgemeinen Wehrpflicht gekannt hat und darum <strong>de</strong>n Mann,<br />

<strong>de</strong>r einmal fürs Vaterland in <strong>de</strong>n Tod gehen sollte, bei Lebzeiten zu entschädigen<br />

bestrebt war. Nicht weil er jetzt fürs Vaterland in die Kanzlei gegangen<br />

ist, son<strong>de</strong>rn weil doch die Vermutung besteht, daß alle in <strong>de</strong>n Tod gehen müssen,<br />

hätten eher jene einen Anspruch auf Begünstigung, die mit geringerer<br />

handwerklicher Ausbildung und ohne Zweifel auch mit geringerem Interesse<br />

an diese Aufgabe herantreten. Die Zeit jedoch, die nur fortschreitet wie eine<br />

Paralyse, hat das Überbleibsel aus <strong>de</strong>r Vorzeit <strong>de</strong>r Berufskriege so weit ausgebaut,<br />

daß sie auf Kriegsdauer allen um ein Stück Ehre mehr verlieh, angesichts<br />

<strong>de</strong>r allgemeinen Uniformierung alle Menschen einan<strong>de</strong>r zu grüßen<br />

zwang und ein Schauspiel aufführte, das zur Verstärkung <strong>de</strong>s klinischen Bil<strong>de</strong>s<br />

wesentlich beitrug. Zur Erholung ist es dringend angezeigt, daß in Hinkunft<br />

überhaupt nicht mehr salutiert wird. Wir wollen diese von einer imbezillen<br />

Geistesverfassung und einer niedrigen Erotik genährte Autorität mit allen<br />

Wurzeln ausgerottet haben; sie mag Köchinnen faszinieren, aber die Staatsmänner<br />

seien vor ihr bewahrt; sie soll uns nicht mehr die Plätze im Leben und<br />

auf <strong>de</strong>r Eisenbahn annektieren und dafür Tod und Plage überlassen. Sie ist<br />

selbst jenen, die sie noch nicht erkannt hatten und in diesen Kriegszeiten nur<br />

psychisch erfahren haben, durch ihre überhebliche Unerheblichkeit schwer<br />

auf die Nerven gefallen, in <strong>de</strong>n vielen Gelegenheiten, wo sie diese Qualität<br />

nicht in <strong>de</strong>r Kampfleitung zu bewähren hatte. Gibt es <strong>de</strong>nn einen Wirkungskreis,<br />

<strong>de</strong>r nicht schmutziger gewor<strong>de</strong>n wäre in diesen vier Jahren, da <strong>de</strong>r Militarismus<br />

seinen Rüssel darin stecken hatte, ein Volksgut, das nicht ärmer gewor<strong>de</strong>n<br />

wäre seit <strong>de</strong>m Tag, da er seine Pranke darauf gelegt hat? Gibt es ein<br />

österreichisches Wirrsal, das nicht bunter wäre durch die unberufene Einmengung<br />

<strong>de</strong>r Montur? Und wenn wir <strong>de</strong>m Unvermeidlichen nur auf <strong>de</strong>n wah-<br />

19


en Passionswegen begegnet sind, die zur Beschaffung eines Passes führten,<br />

um seiner Kompetenz zu entfliehn, etwa als einem jener grauslichen Kriegsüberwacher,<br />

die doch gar nicht wußten, wie das aussah, was sie zu überwachen<br />

hatten, und die uns mit ihm gestohlen wer<strong>de</strong>n konnten, o<strong>de</strong>r dann als einem<br />

jener größenwahnsinnigen Grenzschutzoffiziere, die die Spione durch die<br />

blö<strong>de</strong>sten Fragen langweilten und um <strong>de</strong>rentwillen allein diese Grenzen es<br />

verdient hätten preisgegeben zu wer<strong>de</strong>n wir, die so glücklich waren, nicht<br />

<strong>de</strong>m Krieg ins Gesicht sehen zu müssen, wußten doch genug von ihm, da wir<br />

diesen Oberleutnants ins Gesicht sehen mußten! Die Berufung auf <strong>de</strong>n liebenswürdigen<br />

und beschei<strong>de</strong>nen Stan<strong>de</strong>sgenossen, <strong>de</strong>ssen Eigenschaften<br />

auch vom feindlichen Ausland anerkannt wor<strong>de</strong>n seien, »im Gegensatz zu <strong>de</strong>n<br />

Offizierskorps an<strong>de</strong>rer Län<strong>de</strong>r« — also mit <strong>de</strong>utlicher Abrückung <strong>de</strong>r einen<br />

Schulter von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn — dürfte wenig zur Korrektur <strong>de</strong>r im Krieg gewonnenen<br />

Eindrücke, <strong>de</strong>s einzigen was für uns im Krieg gewonnen wur<strong>de</strong>, beitragen.<br />

Der preußische Offizier mag von <strong>de</strong>r Außenwelt mit Fug als ein Monstrum<br />

bestaunt wor<strong>de</strong>n sein und von dieser Verblüffung <strong>de</strong>r beweglichere österreichische<br />

Kamerad profitiert haben, schon <strong>de</strong>shalb weil ihn <strong>de</strong>r Feind<br />

nicht so häufig zu Gesicht bekam. Im Lan<strong>de</strong> selbst hat jener nur die Schnauze<br />

seiner Volksart, die schon militärtauglich geboren ist, während dieser durch<br />

eine <strong>de</strong>m allgemeinen Charakter ungemäße Löwenhaut Aufsehen und Ärgernis<br />

erregt, so daß er in seiner Umgebung weit preußischer wirkt als <strong>de</strong>r Preuße.<br />

Darum hat er sich jetzt auch über die Äußerungen einer Antipathie zu beklagen,<br />

die <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn in solchem Maße erspart bleibe, und über einen Mangel<br />

an heimatlicher Wärme, die <strong>de</strong>m nördlichen Kamera<strong>de</strong>n vielleicht zuteil<br />

wird. Darum muß er sich gegen das Generalisieren zur Wehr setzen. Mir san<br />

ja eh die reinen Lamperln, das ist jetzt die tägliche Tonart <strong>de</strong>r Wölfe, die damit<br />

freilich auf die heimische Gemütsverfassung Eindruck machen könnten.<br />

Wer<strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>r anonymen Grausamkeit beschuldigt, so berufen sie sich auf<br />

die Gefallenen; wer<strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>s anonymen Griffs in das vom Vaterland beschlagnahmte<br />

Gut beschuldigt, so wollen sie nur Wohltätigkeitsaktionen geleitet<br />

und höchstens noch <strong>de</strong>m »isolierten Gagisten«, <strong>de</strong>r sich nicht an<strong>de</strong>rs zu<br />

helfen wußte, mit etwas Wäsche ausgeholfen haben, da die an<strong>de</strong>rn ja eh an<br />

<strong>de</strong>r Front bedient wur<strong>de</strong>n. Wie sie an <strong>de</strong>r Front bedient wur<strong>de</strong>n, davon könnte<br />

viel Ungeziefer berichten, wenn es nicht Be<strong>de</strong>nken trüge, mit <strong>de</strong>r Presse in<br />

Verbindung zu treten; und <strong>de</strong>r isolierte Gagist ist offenbar <strong>de</strong>r Erzherzog<br />

Max, <strong>de</strong>ssen Wäschekammer von unserem Mangel komplettiert wur<strong>de</strong>. Die<br />

Technik dieser Rechtfertigungen besteht im Alibi eines überführten Diebs, <strong>de</strong>r<br />

beweisen kann, daß er ein an<strong>de</strong>res Mal nicht gestohlen hat, und in <strong>de</strong>r Beteuerung,<br />

daß man nicht generalisieren darf. Kein an<strong>de</strong>rer Beruf war je in die<br />

Zwangslage versetzt, durch solche Argumente und durch solche Fürbitte sich<br />

ein Ehrenzeugnis verschaffen zu müssen. Wenn die Berufsoffiziere Postbeamte<br />

o<strong>de</strong>r Versicherungsagenten sein wer<strong>de</strong>n, so wird man ihrem Stan<strong>de</strong> bitteres<br />

Unrecht tun, in<strong>de</strong>m man ihm die Verfehlungen einzelner anrechnet. Auch<br />

fünfzig verbrecherische Postler unter hun<strong>de</strong>rt wür<strong>de</strong>n nichts gegen die Institution<br />

beweisen. Aber zehn Soldatenschin<strong>de</strong>r unter hun<strong>de</strong>rt Offizieren beweisen<br />

sehr viel gegen die Institution, <strong>de</strong>ren Wesen die unwi<strong>de</strong>rrufliche Macht ist<br />

und das Verhängnis <strong>de</strong>s Zufalls, <strong>de</strong>r uns gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ausnahme untertan<br />

macht und also einen Professor zwingt, sich von seinem Schulbuben ohrfeigen<br />

zu lassen. Die inappellable Möglichkeit, daß ein Kulturmensch unter einem<br />

von jenen zehn dienen muß, macht <strong>de</strong>n Militarismus zur Infamie, selbst wenn<br />

er nicht eo ipso eher <strong>de</strong>r Nährbo<strong>de</strong>n für die Existenz solcher wäre als <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn;<br />

macht einen Beruf verhaßt, <strong>de</strong>m sich die rechtschaffensten Leute ver-<br />

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schrieben haben können. Sie leben gewiß in <strong>de</strong>r Sklaverei und nicht in <strong>de</strong>r Position<br />

<strong>de</strong>r Sklavenhalter. Welche Tätigkeit zwänge unter <strong>de</strong>n Einwirkungen eines<br />

<strong>de</strong>moralisieren<strong>de</strong>n Ehrbegriffs so <strong>de</strong>n Menschen in die Wahl, Hammer<br />

o<strong>de</strong>r Amboß, Knecht o<strong>de</strong>r Kanaille zu sein? Von allen Brandmalen <strong>de</strong>r Zeit<br />

wohl das <strong>de</strong>utlichste ist die Verzerrung <strong>de</strong>r militärischen Ehre, <strong>de</strong>ren fortwirken<strong>de</strong>s<br />

Dekorum in einer verän<strong>de</strong>rten Kriegshandlung, welche statt Söldner<br />

Sklaven <strong>de</strong>r Wehrpflicht, statt Hel<strong>de</strong>n Märtyrer beschäftigt, selbst das Blutgeschäft<br />

korrumpiert hat.<br />

Aber zweifellos auch das intellektuelle Niveau seiner Verteidiger herabgesetzt.<br />

Denn die Entrüstung, die diese Debatte täglich fortspinnt und mit<br />

gräßlicher Monotonie die aus <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>r Armee gerettete<br />

Ehre, <strong>de</strong>n einzigen Besitz <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s, zum Stan<strong>de</strong>smonopol macht, erkennt<br />

nicht einmal, wie sie <strong>de</strong>n verallgemeinern<strong>de</strong>n Ta<strong>de</strong>l mit gewiß geringerem<br />

Recht durch ein verallgemeinern<strong>de</strong>s Lob ersetzt. Hat ein Stabsoffizier zufällig<br />

recht, von sich zu behaupten, daß er sich um das Wohl seiner Leute gekümmert<br />

habe, so ruft er »die Mannschaft« zum Zeugen dafür auf, daß sich »die<br />

Stabsoffiziere« um ihr Wohl, das Wohl <strong>de</strong>r Mannschaft, gekümmert hätten.<br />

Die Mannschaft war aber offenbar auch schon während <strong>de</strong>s Krieges Zeuge für<br />

<strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>nmut, mit <strong>de</strong>m »das Offizierskorps einen vierjährigen beispiellosen<br />

Kampf gegen die Übermacht einer Welt«, also gegen die Mannschaft aller Ententestaaten,<br />

»bestan<strong>de</strong>n hat«. Und solch ein ehrlich erregter und für seine<br />

eigene Schuldlosigkeit glaubwürdiger Verteidiger <strong>de</strong>r Stan<strong>de</strong>sehre merkt<br />

nicht, daß sie, selbst preisgegeben, besser dastän<strong>de</strong> als unter <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>r<br />

verächtlichsten Zeitung Deutsch—Österreichs, jener, <strong>de</strong>ren Wesensart <strong>de</strong>r ursprüngliche<br />

Sinn militärischer Tapferkeit ferner liegt als einem Erzengel das<br />

Börsenspiel. Ist es ein Zufall, daß heute gera<strong>de</strong> so etwas hinterher ist, die Offiziersehre<br />

zu apportieren? Die armen Kriegshun<strong>de</strong>, diese gütigsten Opfer <strong>de</strong>s<br />

Militarismus, für die kein Kläger auftritt, hätten, weiß Gott, keinen Grund<br />

dazu! Da es aber doch eine Zeitung ist, die sich <strong>de</strong>r Pflicht, amtliche Feststellungen<br />

über die Militärjustiz zu veröffentlichen, auch durch <strong>de</strong>n kleinsten<br />

Druck nicht ganz entziehen kann, so erfahren wir auf <strong>de</strong>r zweiten Seite: daß<br />

die Stabsoffiziere sich »für das Wohl und die möglichste Schonung <strong>de</strong>r Mannschaft«,<br />

für die »Pflege eines innigeren, herzlicheren Kontaktes mit <strong>de</strong>rselben«,<br />

für die »tunlichste Herabmin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r persönlichen Gefahr« — <strong>de</strong>r<br />

Untergebenen — aufgeopfert haben, und auf <strong>de</strong>r siebenten Seite: daß ein Generalstabshauptmann<br />

zwölf Unschuldige, davon zehn in zehn Tagen, sechs an<br />

einem Tag, hat erschießen o<strong>de</strong>r aufhängen lassen. Dieser mag so wenig ein<br />

Typus sein wie jener; aber jener sollte diesen zum Schweigen bringen. Hier<br />

entschei<strong>de</strong>t die Zahl nicht; ein Mör<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mannschaft wiegt hun<strong>de</strong>rt, ihrer<br />

Freun<strong>de</strong> auf und zehn machen einen Beruf zuschan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n die Menschheit<br />

nicht vermissen wird, wenn seine anständigen Vertreter auf ihn verzichten,<br />

weil sie seine Pflicht und ihre Ehre wenigstens hinterdrein als inkompatibel<br />

empfin<strong>de</strong>n müssen. Mein Ta<strong>de</strong>l generalisiert nicht, <strong>de</strong>nn ich lasse Ausnahmen<br />

zu, <strong>de</strong>ren ich manche zu genau kenne, um von ihrer unzerstörbaren Vornehmheit<br />

nicht <strong>de</strong>n Entschluß zu erwarten, nach <strong>de</strong>n Offenbarungen dieses Kriegs<br />

über ihren Beruf <strong>de</strong>n Flammenwerfer als Waffe so sehr zu verabscheuen wie<br />

<strong>de</strong>n Säbel als Ornament. Sie wissen, daß die Anklagen nicht sie treffen können<br />

und daß erst jene Verteidiger generalisierend wirken, die unter <strong>de</strong>m Vorwand<br />

o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r naiven Meinung, es gehe gegen alle, sich schützend vor die<br />

Schuldigen stellen. Sie wissen aber auch jetzt, daß diese weit mehr geeignet<br />

sind, <strong>de</strong>n beruflichen Anfor<strong>de</strong>rungen im neuen Krieg, <strong>de</strong>r beruflichen Ehre gerecht<br />

zu wer<strong>de</strong>n als sie selbst, die Tüchtigen und Ehrenhaften. Sollten sie<br />

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nicht wissen, daß eine Spezialehre, die solches Geklapper einer Verteidigung<br />

nötig hat, nicht für sie, son<strong>de</strong>rn für jene restauriert wird, die da spüren, daß<br />

es ihnen an <strong>de</strong>n Goldkragen geht? Man unterlasse <strong>de</strong>n Versuch, einen Offiziersehrenrat<br />

als Instanz über <strong>de</strong>m Weltgericht zu etablieren. Man verzichte<br />

auf das Bemühen, einen Korpsgeist, <strong>de</strong>n wir in unserm Jammer auch noch entbehren<br />

möchten, gegen <strong>de</strong>n aus keinem Bewußtsein verlierbaren Kontrast<br />

aufzuwiegeln: zwischen <strong>de</strong>m Leben in <strong>de</strong>r Offiziersmenage, wo es als Abendmenu<br />

einen »Sautanz« gibt o<strong>de</strong>r ein Festmahl mit achtzehn Gängen, darunter:<br />

»Handgranaten«, und <strong>de</strong>m brotlosen Beruf <strong>de</strong>r Mannschaft, die darüber beruhigt<br />

wird, daß Insektenma<strong>de</strong>n »die Bekömmlichkeit von Dörrgemüse nur insoweit<br />

beeinträchtigen, als sie ekelerregend sind«, und daß man ja an ganz an<strong>de</strong>ren<br />

Dingen stirbt. Und zwischen <strong>de</strong>m Soldaten, <strong>de</strong>r erschossen wird, weil<br />

er getrunken hat, und <strong>de</strong>m Leutnant, <strong>de</strong>r Zimmerarrest bekommt, weil er eine<br />

Kellnerin, die keinen Wein bringt, erschossen hat. Wir haben genug von diesen<br />

Räuschen und lehnen die Nüchternen ab, die nicht von <strong>de</strong>r Kameradschaft<br />

angewi<strong>de</strong>rt in einem weniger ehrenträchtigen Beruf Vergessen suchen,<br />

son<strong>de</strong>rn uns weiter mit seinen Zierraten kö<strong>de</strong>rn, die uns auch ohne solche<br />

Mahnung unvergeßlich sind. Der Rhythmus dieser Empörung, <strong>de</strong>r, wenn ich<br />

ihn auch zehnmal in all seiner Dürftigkeit nachgebil<strong>de</strong>t habe, <strong>de</strong>m Schreiben<strong>de</strong>n<br />

nacheilt und täglich noch, wie alle unbesiegbare Banalität, <strong>de</strong>m satirischen<br />

Echo seine drei Motive versetzt: »generalisieren«, »Blut von Eurem<br />

Blute, Geist von Eurem Geiste« und »das Einzige, was sie besitzen, die Ehre«<br />

— er möchte unsere Wehrlosigkeit verewigen, und so bleibt nichts als die<br />

Hoffnung, daß solchen, die sich am frem<strong>de</strong>n Opfer befriedigt und bereichert,<br />

sich selbst für die Auszeichnung und uns für die Verelendung eingegeben haben,<br />

in einem staatlichen Gerichtsverfahren nachgewiesen wird, daß das einzige,<br />

was sie nach diesem Krieg nicht besitzen, die Ehre ist. Und nicht nur<br />

vermöge ihrer persönlich bewährten Defekte, son<strong>de</strong>rn weil dieser unermeßliche<br />

Blutverlust seinen letzten Sinn verloren hätte, wenn die Menschheit nicht<br />

endlich ad notam nähme: Eine Debatte über Ehre kann es überhaupt nicht geben,<br />

wo es sich um Erfüllung o<strong>de</strong>r Nichterfüllung <strong>de</strong>r Pflichten innerhalb einer<br />

Tätigkeit han<strong>de</strong>lt, welche von Natur, vor Gott und allem Zweck <strong>de</strong>r<br />

Menschheit die ehrloseste ist! Jene aber, die es nicht nötig haben, von <strong>de</strong>n<br />

Schuldigen verteidigt zu wer<strong>de</strong>n, müssen erkennen, daß keine Stan<strong>de</strong>sfrage,<br />

son<strong>de</strong>rn das Problem <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s zur Erörterung steht. Sie erkennen die Verwandtschaft<br />

mit <strong>de</strong>m einzigen Beruf, <strong>de</strong>r außer <strong>de</strong>m militärischen mit Recht<br />

generalisieren<strong>de</strong>n Vorwürfen ausgesetzt ist, gleich diesem wesentlich dazu inkliniert,<br />

weil er gleich ihm aus <strong>de</strong>n Quellen <strong>de</strong>r Unverantwortlichkeit und <strong>de</strong>r<br />

Anonymität seine entsetzliche Befähigung schöpft: mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Journalisten<br />

— mit ihm auch in solcher Anlage verknüpft zu <strong>de</strong>m furchtbaren Bun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen<br />

Walten die Welt zwischen Blut und Tinte so verwechseln gelehrt hat, daß<br />

bei<strong>de</strong> Kräfte als Ursache und Wirkung zugleich erschienen. Wahrlich, es ist<br />

so, als ob die Phrase von bei<strong>de</strong>n Substanzen flüssig wäre und nicht min<strong>de</strong>r<br />

das Verbrechen, und als wäre, könnten wir uns da und dort noch entziehen,<br />

die Verschlingung doch das Übel, das Macht hat über uns. Das sind so die Lebensbedingungen<br />

im Totenreich. Es mußte jenem General, <strong>de</strong>r das Armeeoberkommando<br />

nach <strong>de</strong>r Auflösung <strong>de</strong>r Armee übernommen hat, jenem gespenstischen<br />

Köveß, ein seltsames Abenteuer zustoßen: er brach durch eine<br />

Zeitungsspalte vor und rief: »In<strong>de</strong>ssen« — nämlich bis <strong>de</strong>r Beweis <strong>de</strong>r Unrichtigkeit<br />

aller Anklagen erbracht sei, was gewiß sehr viel Zeit erfor<strong>de</strong>rt —<br />

»wirkt <strong>de</strong>r Giftstoff, <strong>de</strong>n die Ehrabschnei<strong>de</strong>r ausspritzen«. Er hatte aber trotz<br />

dieser Häufung artilleristischer Metho<strong>de</strong>n schon vergessen, daß Krieg Krieg<br />

22


war, bis er in <strong>de</strong>r benachbarten Spalte von <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung eines Sprengstofflagers<br />

in <strong>de</strong>r Leopoldstadt überrascht wur<strong>de</strong>, in welchem zweihun<strong>de</strong>rt intakte<br />

Gasbomben gefun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, ein Vorrat, <strong>de</strong>n man in diesen notigen Zeiten in<br />

solcher Fülle nicht mehr vermutet hätte. Dort habe sich nämlich eine »Gasschule«<br />

— <strong>de</strong>nn so etwas gab's wirklich — befun<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Offiziere und<br />

Mannschaften im Gasangriff und in <strong>de</strong>r Gasabwehr unterrichtet wur<strong>de</strong>n, also<br />

die heranwachsen<strong>de</strong> Generation, die berufen war, <strong>de</strong>reinst im Zeichen <strong>de</strong>s<br />

Grünkreuzes und <strong>de</strong>s Gelbkreuzes, zu siegen. Das Bildungsbedürfnis <strong>de</strong>r Jugend<br />

habe jedoch nur bis zum Waffenstillstand vorgehalten, dann aber hätten<br />

Offiziere und Mannschaften die Gasschule geschwänzt und die dort eingelagerten<br />

Lehrmittel sich selbst und <strong>de</strong>r Bevölkerung <strong>de</strong>s Bezirkes überlassen,<br />

die nun durch die geringste Berührung, wenn etwa Kettenhändler ein Lebensmittel<strong>de</strong>pot<br />

vermutet hätten, in die Lage versetzt wor<strong>de</strong>n wäre, die Vorbedingung<br />

einer siegreichen Offensive mitzumachen, und dies ohne je<strong>de</strong> fachliche<br />

Ausbildung. Ja, nach sachverständiger Schätzung wäre sogar auch <strong>de</strong>r Hel<strong>de</strong>ntod<br />

<strong>de</strong>r angrenzen<strong>de</strong>n Stadtteile verbürgt gewesen. Da kann man wirklich<br />

nur sagen, daß in<strong>de</strong>ssen, nämlich bis <strong>de</strong>r Beweis <strong>de</strong>r Unrichtigkeit aller Anklagen<br />

gegen <strong>de</strong>n Militarismus erbracht ist, <strong>de</strong>r Giftstoff fortwirkt, <strong>de</strong>n die<br />

Gekränkten ausspritzen, und fragen, ob es berechtigter sei, nach Abschluß<br />

<strong>de</strong>s Waffenstillstan<strong>de</strong>s die bisher verschonte Festung Wien mit Gasbomben zu<br />

belegen o<strong>de</strong>r ein Gewerbe zu hassen, <strong>de</strong>ssen Inhaber Wert darauf legen, an<br />

<strong>de</strong>r anonymen Mitwirkung bei solcher Glorie und an <strong>de</strong>ren Fortwirkung beteiligt<br />

zu sein. Der Oberkommandant dieser Möglichkeit, die eine Stadtbevölkerung<br />

mit <strong>de</strong>m Grauen überfällt, das sie bis dahin nur in Zeitungstiteln zur Not<br />

erlebt hatte, <strong>de</strong>r Unterrichtsminister einer im Stich gelassenen Gasschule<br />

wagt sich ans Tageslicht und spricht vom Giftstoffe <strong>de</strong>r Ehrenbeleidigung. An<br />

<strong>de</strong>n Kontrasten, nicht an <strong>de</strong>n Dingen sollten wir zugrun<strong>de</strong>gehen. Die Invali<strong>de</strong>n<br />

dieses Kriegs brauchen sich nicht gegen die Anschuldigung zur Wehr zu<br />

setzen, daß sie mehr als sechs Kreuzer täglich vom Vaterland genommen haben;<br />

aber <strong>de</strong>n Leuten, die dafür, daß sie ihren Namen unter <strong>de</strong>m Generalstabsbericht<br />

lesen konnten, eine Felddienstzulage bezogen hatten, ist nichts<br />

geblieben als ein empfindliches Ehrgefühl. Die Polizei verbietet, daß man im<br />

Theaterfoyer eine Zigarette anzün<strong>de</strong>, und läßt die Stifter <strong>de</strong>r hun<strong>de</strong>rtfachen<br />

Ringtheaterbrän<strong>de</strong> laufen. Doch zur Ehrenrettung rückt selbst hier das<br />

Kriegsministerium aus. Auch wenn alle zweihun<strong>de</strong>rt Gasgeschosse explodierten,<br />

sei »die Gaswirkung nur lokal«, also mit <strong>de</strong>m Erfolg bei Tolmein nicht zu<br />

vergleichen; »unversperrt« seien »nur <strong>de</strong>sadjustierte und unbrauchbare Reizhandgranaten«<br />

gelegen, also jene, <strong>de</strong>ren Reiz sich sonst kaum ein leben<strong>de</strong>s<br />

Wesen, mit Ausnahme etwa <strong>de</strong>r Generalstäbler, entziehen kann. Auch hätten<br />

die Lehrkräfte die Anstalt nicht verlassen, son<strong>de</strong>rn »<strong>de</strong>n Befehl gehabt«, auf<br />

ihren Posten zu verbleiben, »was auch tatsächlich durchgeführt erscheint«,<br />

da sie »bei <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> Wien am 12. d. stattgefun<strong>de</strong>nen Kommission<br />

anwesend waren«. Ob sie auch bei <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung und bis dahin anwesend<br />

waren, läßt die vom Kriegsministerium stattgefun<strong>de</strong>ne Untersuchung dahingestellt.<br />

Es war aber immer die Weihe dieser munter fortfließen<strong>de</strong>n Blutarbeit,<br />

daß gute Re<strong>de</strong>n in einem Deutsch, das nur sich selbst gefiel, sie begleiteten,<br />

und so wer<strong>de</strong>n die Angriffe <strong>de</strong>s Gegners noch heute mühelos abgewiesen.<br />

Die Kanzlei <strong>de</strong>s Mor<strong>de</strong>s arbeitet weiter und ist jetzt mit Alibis für Täter, Komplizen<br />

und Mitwisser überhäuft. Die unbegrabenen Leichen, die auf je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

vielen Stützpunkte ihrer Ehrsucht liegen, stören ihren Schlaf nicht; die To<strong>de</strong>sopfer<br />

<strong>de</strong>r Heimfahrt, die von <strong>de</strong>r Menschenfracht in <strong>de</strong>n Tunnels abfielen,<br />

machen sie nicht verstummen. So komme wenigstens das Blut <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

23


über sie, die in einer Stadt, welche Kin<strong>de</strong>r und Handgranaten unbeaufsichtigt<br />

läßt, vom mitgebrachten Spielzeug zerfetzt wer<strong>de</strong>n! Wäre ich General und<br />

läse diese verspäteten Kriegsberichte, ich ginge an die nachgelassene Front<br />

<strong>de</strong>r Soldatenspiele und stürbe <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>ntod von eigener Hand. Wäre ich General,<br />

ich wollte <strong>de</strong>n Schafhirten nicht überleben, <strong>de</strong>n aus einem vorüberfahren<strong>de</strong>n<br />

Heimkehrerzug die letzte Kugel dieses Krieges traf. Gibt es nicht<br />

mehr genug Phantasie, Strafen zu erfin<strong>de</strong>n, wenn Taten aller Kombinationskraft<br />

<strong>de</strong>r Träume gespottet haben? So exzentrisch in allen Einfällen ist dieses<br />

gigantische Schicksal, und seine Autoren und Parasiten sollten in die bürgerliche<br />

Norm einkehren dürfen, und wenn wir eben eine Speise zum Mund führen<br />

mögen, dürfte <strong>de</strong>r Kellner uns zuflüstern: »Wissen S' wer <strong>de</strong>r Herr daneben<br />

war? Das war <strong>de</strong>r Theisinger!« Nein, ich will ihnen allen in einem Musterungslokal<br />

begegnen, nackt müßten diese Satane ihrem Höllenobersten vorgeführt<br />

wer<strong>de</strong>n und wenn ein zweifeln<strong>de</strong>r Regimentsarzt, einen<br />

nierenkranken Heerführer pardonnieren wollte, müßte jener mit einem Witz,<br />

<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Oberteufel nur im Kriegsministerium gehört haben kann, rufen: Tauglich!<br />

Und hätten sie selbst nicht Millionen wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>r Seelen, hätten sie<br />

einen, nur einen hinfälligen Körper in diese Qual verdammt, hätte ihre Jurispru<strong>de</strong>nz<br />

nicht zehntausend, nein nur einen Galgen beschäftigt, hätte ihre<br />

Medizin nur einen Verwun<strong>de</strong>ten zurechtgeflickt für neue Wun<strong>de</strong>n, und wäre<br />

in diesem Krieg kein an<strong>de</strong>res Wort gesprochen wor<strong>de</strong>n als das jenes Generalarztes,<br />

<strong>de</strong>r zucken<strong>de</strong>n Soldaten das Trommelfeuer empfohlen hat — sie alle,<br />

<strong>de</strong>r fürchterliche Wasenmeister frontverdächtiger Menschen, vor <strong>de</strong>ssen Namen<br />

alle Leibeigenschaft dieses Hinterlands erbebte, und hinter ihm <strong>de</strong>r ganze<br />

Troß von Menschenschlächtern und Markthelfern aller Fächer und Gra<strong>de</strong><br />

müßten antreten, und hätten nichts weiter zu gewärtigen als die Herzensangst<br />

<strong>de</strong>r einen Stun<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r eine nackte Seele o<strong>de</strong>r ein zittern<strong>de</strong>r Leib ihre<br />

schäbige Grausamkeit befriedigt hat und dann einrückend gemacht wer<strong>de</strong>n in<br />

die Hölle!<br />

Weil aber selbst dort auf Zimmerreinheit gesehen wird und <strong>de</strong>mnach<br />

schon die Anwesenheit von Männern <strong>de</strong>r Wissenschaft auf Be<strong>de</strong>nken stieße,<br />

in<strong>de</strong>m eigentlich nur fachlich befugte Massenmör<strong>de</strong>r hingehören und nicht Individuen,<br />

die sich aus Selbsterhaltungstrieb zur Mitwirkung gedrängt haben,<br />

so könnte vollends <strong>de</strong>n Zeitungsherausgebern, die von <strong>de</strong>r Schlachtbank Pauschalien<br />

bezogen, höchstens <strong>de</strong>r Abort <strong>de</strong>r Hölle aufgetan sein. Desgleichen<br />

natürlich <strong>de</strong>n Kriegslyrikern, die nach <strong>de</strong>n Flügelschlägen <strong>de</strong>s Doppelaars<br />

skandierten und sich vom Motiv eines Minenvolltreffers, eines russischen<br />

Sumpfto<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r auch nur eines Gurgelbisses anregen ließen und nun in <strong>de</strong>rselben<br />

Anstalt, in <strong>de</strong>r sie eben noch an Habsburgs Herrlichkeit geschafft haben,<br />

mit <strong>de</strong>rselben Bereitwilligkeit schon die Dokumente <strong>de</strong>r österreichischen<br />

Galgenjustiz bearbeiten. Auch <strong>de</strong>n Jugendbildnern, die durch einen <strong>de</strong>n außeror<strong>de</strong>ntlichen<br />

Verhältnissen angepaßten Unterricht die Kin<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Tod<br />

durch herumliegen<strong>de</strong> Handgranaten vorbereitet hatten, wür<strong>de</strong> lei<strong>de</strong>r keine<br />

an<strong>de</strong>re Gelegenheit zum Nach<strong>de</strong>nken über <strong>de</strong>r Zeiten Wan<strong>de</strong>l offen stehen,<br />

und sie ist hoffentlich geräumig genug, um sie alle zu fassen, die <strong>de</strong>m Gedanken<br />

gelebt haben, daß es schön ist, an<strong>de</strong>re fürs Vaterland sterben zu sehen.<br />

Dieser allseits rekommandierte Hel<strong>de</strong>ntod, <strong>de</strong>r nur manchmal in sonst unverständlichen<br />

amtlichen Kundmachungen als die höchst zulässige Strafe für<br />

Hinterlandsvergehungen <strong>de</strong>klariert wur<strong>de</strong>, während die Kriegsanleihe nie als<br />

schlechtes Geschäft eingestan<strong>de</strong>n erschien, hat nach <strong>de</strong>m Hingang eines Vaterlands,<br />

<strong>de</strong>m wir nicht nachtrauern, an Tragik gewonnen, und so belebend<br />

<strong>de</strong>r Verlust dieses Staats eintrat, er hat <strong>de</strong>n Schmerz unserer Erinnerung zur<br />

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Qual gesteigert. Denn <strong>de</strong>r Hel<strong>de</strong>ntod war ein Betrug jener, die ihn gefor<strong>de</strong>rt,<br />

vorbereitet, herbeigeführt o<strong>de</strong>r gepriesen haben. In <strong>de</strong>n Tod betrogen wer<strong>de</strong>n<br />

— das war das ausgesuchte Schicksal solcher, die an Österreich geglaubt<br />

o<strong>de</strong>r sich gegen Österreich nicht gewehrt hatten. Kann ein Staat ein grauenvolleres<br />

An<strong>de</strong>nken hinterlassen als das Gefühl <strong>de</strong>rer, die heute wissen, für<br />

welchen Haufen von Unrat sie ihre Liebsten verloren haben? Kein Mittel gibt<br />

es, diese Verzweiflung zu beschwichtigen, und es hilft weniger von ihr zu<br />

schweigen als von ihr zu sprechen. Sie und nicht die Not allein wirkt an <strong>de</strong>r<br />

Unruhe dieses Übergangs. Ein Massenselbstmord <strong>de</strong>r Schuldigen könnte ihn<br />

erleichtern. Daß sie mit jenen, die sie beraubt und beschmutzt haben, über<br />

die reine Schwelle wollen, schafft dies Gedränge, das die neue Macht allein<br />

nicht bändigen kann. Nicht die Autorität <strong>de</strong>r Scham und keine an<strong>de</strong>re weist<br />

sie aus <strong>de</strong>m Leben. Denn die Charakterluft dieser Bevölkerung, <strong>de</strong>ren vertreten<strong>de</strong><br />

Typen mit Recht sich gegen Generalisierung wehren, weil hier alles auf<br />

Vereinzelung hinausläuft und selbst die tragische Quantität nur als die Häufung<br />

einzelner Trauerfälle empfun<strong>de</strong>n wird, läßt keinen Zusammenschluß zu,<br />

nach jenem, <strong>de</strong>n die Befehlsgewalt zum Mord vermocht hatte. Dem durchdringendsten<br />

Wehruf wird es nicht gelingen, das Ensemble <strong>de</strong>r Sühne aufzustellen.<br />

Die Unfähigkeit zur Konsequenz, die völlige Negation auch jener letzten<br />

Menschlichkeit, die eine Untat verantworten könnte, ein Bewußtsein, das<br />

höchstens zu <strong>de</strong>m Geständnis reicht, daß es ein an<strong>de</strong>rer getan hat — wenn<br />

nicht die Zeit ein Wun<strong>de</strong>r vermag, in dieser Wüste <strong>de</strong>s Empfin<strong>de</strong>ns grünt keine<br />

Hoffnung! Ist es nicht ein Sinnbild dieses Exitus, daß in einer Zeitungsspalte<br />

— unter <strong>de</strong>m Titel »Eine berechtigte Klage« und nicht als Bitte an <strong>de</strong>n Kosmos<br />

um ein Erdbeben — mitgeteilt wird, daß hierzulan<strong>de</strong> die Kriegsblin<strong>de</strong>n<br />

gefrozzelt wer<strong>de</strong>n, und daneben von <strong>de</strong>r Großmut <strong>de</strong>r Kohlennot berichtet<br />

wird, die gestattet hat, die Operettentheater zu eröffnen, damit die Konsortien<br />

zur Verwertung Schubert'scher Unsterblichkeit nicht im Geschäft behin<strong>de</strong>rt<br />

seien. Die Schan<strong>de</strong> geht am Tage bloß und drängt sich nach Kaffeehausschluß<br />

an jener Ecke <strong>de</strong>r Kärntnerstraße zu einem sinnlosen Ru<strong>de</strong>l von Böcken,<br />

die nichts hienie<strong>de</strong>n zu tun haben, als sich durch gegenseitiges Anstarren<br />

zu vergewissern, daß sie alle da sind. Das Schulter an Schulter<br />

unseligsten An<strong>de</strong>nkens hat sich in <strong>de</strong>r Sitte verewigt, Arm in Arm zu sechsen<br />

das Trottoir abzusperren und durch eine Fröhlichkeit, die <strong>de</strong>r siegreichen<br />

Welt zur Revanche eine Haxen ausreißen will, über die wahren Sachverhalte<br />

hinwegzutäuschen. Das jubelt nicht, weil es Österreich nicht mehr gibt, son<strong>de</strong>rn<br />

wiewohl es Österreich nicht mehr gibt, und ist eben darum verächtlich.<br />

Das Straßenbild dieser Menschheit ist nicht <strong>de</strong>r Eindruck, <strong>de</strong>r zur Versöhnung<br />

mit <strong>de</strong>r Vergangenheit beitragen könnte: <strong>de</strong>r Reue, in diesem Staat und<br />

in dieser Zeit geboren zu sein. Vielmehr setzt es bloß die Serie <strong>de</strong>r Kriegsbil<strong>de</strong>r<br />

fort und bietet noch immer <strong>de</strong>n Anblick <strong>de</strong>s gruseligen Hinterlands, das<br />

<strong>de</strong>n Tod an <strong>de</strong>r Front vom Hörensagen kennt und nur als die Gelegenheit erlebt,<br />

daß sich alle untereinan<strong>de</strong>r auswuchern können und alle zugleich bettelarm<br />

und steinreich wären, wenn es nicht doch schließlich einem Haufen von<br />

bessern Schiebern gelänge, stolz und mit <strong>de</strong>m Zahnstocher im Maul durch ein<br />

Krückenspalier von Bettlern und Hel<strong>de</strong>n hindurchzuschreiten. Unverän<strong>de</strong>rt<br />

bleibt sie<br />

die Stadt <strong>de</strong>r Individualitäten, die durch nichts als durch die Taten ihres<br />

Selbsterhaltungstriebes <strong>de</strong>n Anspruch auf ihr Dasein, ihr Dabeisein und ihr<br />

Bemerktwer<strong>de</strong>n erbringen. Diese wesenlose Konsistenz ist <strong>de</strong>r Nährbo<strong>de</strong>n einer<br />

Gerüchthaftigkeit, <strong>de</strong>ren Bazillen mit Hän<strong>de</strong>n zu greifen sind und die hier<br />

<strong>de</strong>n eigentlichen Ersatz für die Verantwortung bil<strong>de</strong>t. Die Anonymität alles<br />

25


Geschehens hat hier die Kraft einer Beglaubigung, die <strong>de</strong>r Persönlichkeit unerreichbar<br />

wäre. Die Verbindung mit <strong>de</strong>n Kriegsgreueln, die <strong>de</strong>n Krieg übertroffen<br />

haben, wird durch diese Lebensart leicht hergestellt. Das sonst unfaßbare<br />

Maß <strong>de</strong>r militärischen Willkür wur<strong>de</strong> von einem Triebe aufgefüllt, <strong>de</strong>r<br />

die eigene Freiheit nur darin erlebt, daß er die Freiheit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn zum Spielball<br />

seiner Scha<strong>de</strong>nslust, seiner Ranküne, seines Betätigungsdranges macht.<br />

Wie die reichs<strong>de</strong>utsche Bevölkerung aus Pflicht zum Belogenwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m<br />

Krieg nachgeholfen hat, so die unsrige aus Hetz. Was sich einer nur dann vorstellen<br />

kann, wenn es ihm selbst geschieht, und was er nicht will daß ihm geschehe,<br />

das fügte er <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn zu. Alle Mächte gefahrloser Anonymität waren<br />

in einer Zeit aufgeboten, <strong>de</strong>ren Element die Gefahr war. Anonym war alles<br />

an dieser vierjährigen Schand— und Standjustiz, <strong>de</strong>ren Deliriumswitz <strong>de</strong>n<br />

Hel<strong>de</strong>ntod zugleich als Glorie und Strafe genehmigt, anonym wie die Waffe,<br />

die nichts ist als <strong>de</strong>r maschinelle Ersatz für Mut und die maschinelle Vermehrung<br />

<strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>n, war das, Mittel, um auch <strong>de</strong>n Untauglichen in die Gelegenheit<br />

zu einem Bauchschuß, zu einer Erblindung, zum Tod für dieses unnennbare<br />

Vaterland zu bringen. Es brauchte bloß einer sich hinzusetzen und über<br />

einen, <strong>de</strong>r seinen Gruß nicht erwi<strong>de</strong>rt, seine Bitte um Geld nicht erfüllt o<strong>de</strong>r<br />

tatsächlich seine Ansicht über die sogenannten Katzelmacher o<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n U<br />

—Bootkrieg nicht geteilt hatte, im Namen <strong>de</strong>s Vaterlands, nicht im eigenen<br />

Namen, eine Zuschrift an die Kriegsüberwacher zu richten. Frauen, die die<br />

Machtbüberei nicht in die Front verdammen konnte, gab sie gern einen Reisepaß,<br />

um ihnen <strong>de</strong>n blödsinnigen Tort <strong>de</strong>r »Kontumaz« anzutun, und in <strong>de</strong>r<br />

Schweiz unterhielt sie ein Elitekorps von Kellnern und Konsuln, die für die<br />

Mitteilung über verdächtige Bewegungen österreichischer Staatsangehöriger,<br />

wie etwa Englischsprechen, nach <strong>de</strong>m Einlauf entlohnt wur<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r<br />

nicht im Krieg war, war ein Kriegsüberwacher, ob er dazu in einem Amt saß<br />

o<strong>de</strong>r bloß eine Meinung hatte, die er anonym zu Papier brachte. Das Schwelgen<br />

in <strong>de</strong>r Kriegsmaterie war so echt, daß <strong>de</strong>r heutige Überdruß nicht das<br />

Format <strong>de</strong>r reuigen Erkenntnis, son<strong>de</strong>rn nur die Gebär<strong>de</strong> jenes Abwechslungsbedürfnisses<br />

hat, <strong>de</strong>m es zu fad gewor<strong>de</strong>n ist. Was fängt man mit <strong>de</strong>m<br />

angebrochenen Krieg an? Revolution. Auf <strong>de</strong>r Szene dieser tragischen Operette<br />

stand ein Reigen, <strong>de</strong>r im Vollbewußtsein seiner Unverantwortlichkeit die<br />

Russen, und die Serben, zu Scherben hauend o<strong>de</strong>r schon in Venedig einziehend,<br />

»wo die Gipsstatuen und Bil<strong>de</strong>r sein«, sich vom höchsten Unwür<strong>de</strong>nträger<br />

zum letzten Extraausgabenrufer schlingt, vom Zeitungsbesitzer zur Soubrette,<br />

die <strong>de</strong>m Publikum mitteilt, daß soeben 40.000 Fein<strong>de</strong> am Drahtverhau<br />

verblutet sind. Es schlingt sich weiter. Larven und Lemuren einstiger Mehlspeisgesichter<br />

erkennen sich und markieren ein Leben, <strong>de</strong>m die Plakate, die<br />

keine Spielver<strong>de</strong>rber sind, durch einen Veitstanz aufhelfen. Und <strong>de</strong>nnoch hat<br />

er nicht die überre<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Macht dieses einen sinnen<strong>de</strong>n Antlitzes, das mit <strong>de</strong>r<br />

Frage »Bist du's, lachen<strong>de</strong>s Glück?« alle Pforten einer Welt aufriegelt, in <strong>de</strong>r<br />

Hunger, Grippe und Geld keine Rolle spielen; es ist Meister Lehars … Antinikotin<br />

siegt noch immer, und es ist gut so, weil es darin hors concours ist.<br />

Ganz wie's <strong>de</strong>nn auch eintraf, fliegen in <strong>de</strong>r Luft Russenlebern und Serbenohren<br />

herum und sonstige Bestandteile <strong>de</strong>r Entente, während sich einer von <strong>de</strong>n<br />

Unsrigen, von <strong>de</strong>n Eigenen, von <strong>de</strong>n Braven, hopsdo<strong>de</strong>roh, freut, weil ihm so<br />

etwas, dös is gscheit, erspart geblieben ist. Was da scheinbar an die Wand gedrückt<br />

ist, freut sich seines und unseres Daseins und ist springlebendig wie<br />

eh und je. Aber auch die schweigen<strong>de</strong>n Gestalten haben eine Eindringlichkeit,<br />

<strong>de</strong>r man sich nicht so leicht entzieht. Jenseits allen merkantilen Zwecks leben<br />

sie um ihrer selbst willen und locken <strong>de</strong>n Passanten nicht an die Ware, son-<br />

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<strong>de</strong>rn zu sich selbst. Es behielt sie nicht; wer durchhielt, hat sie nicht verloren<br />

und <strong>de</strong>r Heimkehrer fin<strong>de</strong>t sie wie<strong>de</strong>r. In <strong>de</strong>n Alpen sind Leichenberge entstan<strong>de</strong>n,<br />

aber das Ponem jenes Elementargeists, <strong>de</strong>r sich »Homunculus«<br />

nennt, ist noch da und überschattet mit nach<strong>de</strong>nklichen Wimpern die Melancholie<br />

<strong>de</strong>r Zeit. Und zu <strong>de</strong>nken, daß man, von <strong>de</strong>r Außenwelt abgesperrt, unter<br />

<strong>de</strong>m Blick <strong>de</strong>s Lysoformjüngels leben und sterben wird! Es entschädigt.<br />

Kaiser und Könige haben ihre Zugkraft eingebüßt, aber jener, gigantischer<br />

<strong>de</strong>nn je, schmunzelt heute im Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit. Konträr,<br />

jetzt präsentiert er sich erst wie das letzte Reichskleinod. Hat das nicht alles,<br />

in seiner unqualifizierbaren Mo<strong>de</strong>rnität, irgendwie zu Habsburg gehört?<br />

Nichts <strong>de</strong>rlei ist verschwun<strong>de</strong>n. Nyari Jozsi geigt es einer leibhaftigen Gräfin<br />

ins Ohr und Macho — haben Sie schon Macho gehört? — steht in riesenhafter<br />

Einsamkeit, umgeben von Szegediner Hieroglyphen und neu<strong>de</strong>utschen Farbenwun<strong>de</strong>rn<br />

und sagt nichts als: »Waren Sie schon im K. W. K.?« Aber das be<strong>de</strong>utet<br />

nicht mehr das; <strong>de</strong>nn das gibts nicht mehr. Das A. O. K. gibts auch<br />

nicht mehr; es be<strong>de</strong>utet aber auch nichts an<strong>de</strong>res. Die Schrecken, die unendlich<br />

schienen und in <strong>de</strong>n abgekürzten Namen dieser Blut— und Wucherzentralen<br />

noch allen Ekel <strong>de</strong>r Zeit draufgaben, sind nicht mehr. Abgekürzt bis zur<br />

Anonymität waren uns das Leben und <strong>de</strong>r Tod, und <strong>de</strong>r letzte Mann, bis auf<br />

<strong>de</strong>n gekämpft wur<strong>de</strong>, sitzt im KM. und nennt es jetzt StAFHW. Anonym war<br />

alles und selbst die führen<strong>de</strong>n Persönlichkeiten waren anonym. Der Generalstabschef<br />

war nur sein Stellvertreter, <strong>de</strong>r Stellvertreter <strong>de</strong>s Generalstabs, <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Bericht signierte, las am Abend in <strong>de</strong>r Zeitung, daß an <strong>de</strong>r Front nix Neues<br />

sei, und unbeteiligt wie nur Gott an diesem Grauen waren die Heerführer,<br />

die durch vier Jahre, Mann für Mann, ihr Konterfei in einem Theaterrevolverblatt<br />

an <strong>de</strong>r Stelle vorführen ließen, wo im Frie<strong>de</strong>n die Fritzi—Spritzi anläßlich<br />

ihres Sprungs vom Brettl auf die Bretter von Ö<strong>de</strong>nburg abgebil<strong>de</strong>t war.<br />

Anonym ist dieser Höchstkommandieren<strong>de</strong> durch die Blutzeit gestapft, mit<br />

<strong>de</strong>ssen Namen <strong>de</strong>r Schau<strong>de</strong>r einer organisierten Lynchjustiz verknüpft bleibt<br />

und die Vorstellung einer Unersättlichkeit <strong>de</strong>r Gewalt, neben welcher <strong>de</strong>r<br />

Nero als <strong>de</strong>r erste Missionar <strong>de</strong>s Christentums erscheint. Und doch blickt uns<br />

und bleckt uns ein Lulatsch an, <strong>de</strong>r bei einem Hoch auf <strong>de</strong>n obersten Kriegsherrn<br />

nicht bis drei zählen konnte und wenn ihm das Malheur geschah, daß<br />

das dritte Hoch auf <strong>de</strong>r nächsten Seite <strong>de</strong>s vorgelesenen Toastes stand, umblättern<br />

mußte, um es darzubringen. Wie sollte er bis zu jenen 11.400 Galgen<br />

zählen können, die in seinem Namen errichtet waren? Wie ein zum Greis gepäppelter<br />

Säugling, <strong>de</strong>r zu Taten gekommen ist und weiß nicht wie, lächelt er<br />

und weiß nur von Milch, nicht von Blut. Wird die Stille seiner Mordzentrale<br />

von vollbusigen Skandalen unterbrochen, die einen in <strong>de</strong>r Weltgeschichte einzigen<br />

Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>r pragmatischen Sanktion und <strong>de</strong>n Pschüttkarikaturen<br />

offenbaren, so stutzt man, führt auch dies auf einen infantilen<br />

Gusto zurück und <strong>de</strong>nkt, daß für diese Komplikation zwischen <strong>de</strong>m Sterben<br />

<strong>de</strong>r Menschheit und <strong>de</strong>m öffentlichen Privatleben ihres Befehlshabers wie<strong>de</strong>r<br />

nur eine Umgebung verantwortlich ist, die nicht rechtzeitig die Erinnerung<br />

verhin<strong>de</strong>rte, wie viel Grazie die Guillotine beseitigt hat und daß einmal ein<br />

König war, <strong>de</strong>r wegen einer Lola Montez unmöglich wur<strong>de</strong>. In unserer Monarchie<br />

war die Weltgeschichte nicht einmal ein Exekutionsgericht, <strong>de</strong>nn ein solches<br />

hat sich an die von dicker Freundschaft behüteten, an <strong>de</strong>r strafgesetzlichen<br />

Ehrfurcht beteiligten Monstren nicht gewagt, Statthaltereiräte unterhan<strong>de</strong>lten<br />

über die Abfindungssummen und erwirkten nur durch <strong>de</strong>n Hinweis<br />

auf Polizeischub eine Ermäßigung, und Revolution be<strong>de</strong>utet hier, daß im Gerichtssaal<br />

unappetitliche Briefe erörtert wer<strong>de</strong>n können und <strong>de</strong>ren benei<strong>de</strong>te<br />

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Besitzerin das Wertobjekt in journalistischer Obhut gesichert weiß. Und im<br />

Hintergrund <strong>de</strong>r Aktion diese kriegerische Erscheinung, vor <strong>de</strong>ren Tatenruhm<br />

Napoleon als <strong>de</strong>r erste Defätist erscheint. Darin wahlverwandt und verbün<strong>de</strong>t<br />

mit jenem Barbarenkaiser, <strong>de</strong>m wahren Imperator <strong>de</strong>r geistigen Knö<strong>de</strong>lzeit,<br />

<strong>de</strong>r keine Quantität unberührt lassen konnte und dazu seinen eigenen Schenkel<br />

klatschend schlug und sein grölen<strong>de</strong>s Wolfslachen ertönen ließ — so lachte<br />

<strong>de</strong>r Fenriswolf, als die Welt in Flammen aufging. Zwischen assyrischen<br />

Backsteinen und Generalstabskarten, zwischen aller Halbwissenschaft, die<br />

das stun<strong>de</strong>nlang stehen<strong>de</strong> Gefolge peinigte, immer wie<strong>de</strong>r mit obszönen<br />

Scherzen um Formen kreisend. Sich wei<strong>de</strong>nd an <strong>de</strong>r Verlegenheit, wenn er,<br />

auf <strong>de</strong>r Jagd o<strong>de</strong>r beim offiziellsten Anlaß, durch einen Schlag auf <strong>de</strong>n<br />

Rücken, durch einen Tritt ins Bein, durch eine Frage nach seinem Sexualgeschmack<br />

<strong>de</strong>n Partner überrascht hatte. Mit Ferdinand, von Bulgarien entzweit,<br />

<strong>de</strong>m es in die Nase gestiegen war, daß er ihn einst ganz wo an<strong>de</strong>rshin<br />

gekneipt hatte. Das waren die Blutgebieter. Der eine im Format <strong>de</strong>m ö<strong>de</strong>n<br />

Sinn dieses Weltmords gewachsen, verantwortlich für die Tat; <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re mit<br />

ahnungslosem Behagen in <strong>de</strong>r Wanne eines Blutmeers plätschernd. So verschie<strong>de</strong>n<br />

bei<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nnoch Busenfreun<strong>de</strong>, sich begegnend in einer Kennerschaft,<br />

zum Austausch feinschmeckerischer Wahrnehmungen, wenn's die Formen<br />

<strong>de</strong>r Germania und <strong>de</strong>r Austria betraf, in einem Seufzer über <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l<br />

<strong>de</strong>r Zeiten. Wohl, nie dürfte man an <strong>de</strong>m lebendigen Leib, und wenn ihn ein<br />

Königskleid umschließt, Wünsche und Irrungen <strong>de</strong>r Nerven darstellen. Sie<br />

sind Privatmenschlichkeit, solange das beteiligte Bewußtsein nicht erloschen<br />

ist, und gehören nur <strong>de</strong>n Memoiren, um <strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>r Persönlichkeit zu<br />

zeigen, wie Napoleons Zeitvertreib, <strong>de</strong>r sie nicht entwertet und nicht die Zeit.<br />

Hier aber tritt es, wie es leibt und lebt, aus <strong>de</strong>r Kriegsgar<strong>de</strong>robe gleich in die<br />

kulturhistorische Erscheinung, weist auf die Quantität <strong>de</strong>r Zeit, in Freu<strong>de</strong>n<br />

und Lei<strong>de</strong>n; und hier war das Miterlebnis <strong>de</strong>r selbstherrliche Mangel an Hemmung<br />

und Wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r das Übel protokolliert, <strong>de</strong>r das Bewußtsein von solchem<br />

Minus regiert zu sein, zur stündlich empfun<strong>de</strong>nen Qual macht und das Wissen<br />

um die niedrigste Lebensart, die an höchster Stelle sich auslebend <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Menschheit spottet, zur Mitschuld. Mätressen und Hausmeisterinnen<br />

konnten sich über <strong>de</strong>n intimsten Einfluß unterhalten, wenn die wehrlose<br />

Mannheit sich ans En<strong>de</strong> aller Lebenslust zerren ließ, geweihte Bündnisse reiner<br />

Herzen blutig zerrissen wur<strong>de</strong>n und Unschuldige in <strong>de</strong>r letzten Stun<strong>de</strong><br />

vor <strong>de</strong>m Galgen nach einem Gna<strong>de</strong>nblick bangten. Das alles haben wir gewußt.<br />

Es war anonym, <strong>de</strong>r Täter unschuldig wie die Opfer. »Sehn S'«, sagt<br />

dieser Schlachtenlenker einmal, »jetzt is in Serbien gut gangen. Wissen S', ich<br />

hab halt <strong>de</strong>m Kövesch g'sagt, Sie Kövesch, hab ich ihm g'sagt, <strong>de</strong>s dürfen S'<br />

net so machen wie <strong>de</strong>r Potiorek. Schön langsam, schön langsam, nix überstürzen.<br />

Sehn S', er hat meine Pläne befolgt — und nacher is' gangen.« Einem ist<br />

ein Angehöriger im Feld gestorben; jener fletscht die Zähne und fragt: »Ihr<br />

Bru<strong>de</strong>r is g'fallen?« »Jawohl, kaiserliche Hoheit.« »Das is a Pech.« Oh, er hat<br />

selbst einmal Soldaten fallen gesehn, einen nach <strong>de</strong>m än<strong>de</strong>rn, im Kino <strong>de</strong>s<br />

Hauptquartiers, neben Ferdinand von Bulgarien. Kein Laut im Saal. Nur eine<br />

Stimme in <strong>de</strong>r ersten Reihe, nach je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r zwanzig Bil<strong>de</strong>r, die Mörserwirkungen<br />

vorführen: » — Bumsti!« Bald darauf erschienen Rektor, Dekan und<br />

Pro<strong>de</strong>kan aus Wien und machten ihn zum Ehrendoktor <strong>de</strong>r Philosophie. Bumsti!<br />

So animalisch empfin<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Krieg selten. »Sacrebleu!«aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong><br />

eines romanischen Strategen wür<strong>de</strong> doch <strong>de</strong>r Bravour <strong>de</strong>s Apparats gelten.<br />

Menschenleiber fallen: Bumsti! Der da spürt das Ergebnis. So nehmen wir an<strong>de</strong>rn<br />

das kinodramatische En<strong>de</strong> Österreichs entgegen. Bumsti! ... Sollte es<br />

28


nicht nach <strong>de</strong>r Quantität dieser Kriegshandlung, im dimensionalen Geschmack<br />

ihres führen<strong>de</strong>n Geistes, im Sinne dieser ganzen Gefühlsmechanik<br />

unseres Lebens und Sterbens, <strong>de</strong>r Titel <strong>de</strong>s großen tragischen Karnevals sein?<br />

Dieser schwarzen Messe, die ein gedunsenes Gespenst zelebriert hat? Bumsti!<br />

— das war <strong>de</strong>r einzige Lebenslaut aus einem Mun<strong>de</strong>, welchem Dokumente <strong>de</strong>s<br />

Generalstabs <strong>de</strong>n Wunsch zusprechen, daß bald auch das ganze Hinterland in<br />

Blut ersaufe. Man hatte ihm erzählt, daß die Tschechen Hochverräter seien,<br />

und nun schrieb eine fleischige Geisterhand an <strong>de</strong>n Kaiser. Es floß Blut in Katarakten<br />

und es sollte noch mehr Blut fließen, weil diese Menschen gar nicht<br />

lebten. »Was sagen S', Österreich is hin?« »Jawohl, kaiserliche Hoheit.« »Das<br />

is a Pech.« Dann zwinkert er freundlich durch <strong>de</strong>n Zwicker und weiß nicht,<br />

wie ihm geschieht; erwartet ein Zwickerl, dort wo die Mör<strong>de</strong>rgrübchen sind.<br />

Zeig ihm die Uhr <strong>de</strong>r Ewigkeit — es hilft nicht, er wird sie in <strong>de</strong>n Mund nehmen.<br />

Schöne Gschichte diese Weltgeschichte. Zwischen einem Blutsäugling<br />

und einem Lemur bestand eine unterirdische Verbindung und anonym war alles.<br />

Es gelang nicht immer, <strong>de</strong>nn es gibt Tage, wo auch die Lemuren a Ruah<br />

haben wollen, es war ja auch so sehr schön und hat uns sehr gefreut. Wo ohnedies<br />

kein Leben ist, da kann man halt nix machen. Es war doch alles unwirklich,<br />

Österreich das Weiland seiner kaiserlichen Hoheit.<br />

— — 1 — —<br />

Lebt <strong>de</strong>nn die Gestalt dieses Schwiegersohnes, <strong>de</strong>r, schnurstracks vom<br />

Roten Kreuz, am Abend <strong>de</strong>s Tages, an <strong>de</strong>m die Russen Czernowitz zum dritten<br />

Mal genommen haben, sich samt Anhang vom Wolf in Gersthof das Lied ins<br />

Ohr singen läßt: »Draußen im Schönbrunner Park sitzt ein guater alter Herr,<br />

hat das Herz von Sorgen schwer«? Der Schwiegersohn! Und lebt dieser jugendliche<br />

Feschak, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Kärntnerstraße <strong>de</strong>n Hofwagen halten läßt, weil<br />

er — Serwas Fritzl! — einen Operettentenor gesehn hat, <strong>de</strong>r wie's Kind im<br />

Erzhaus ist? Der einzige von ihnen allen, <strong>de</strong>r im Feld eine Wun<strong>de</strong> empfing, in<strong>de</strong>m<br />

er im Siegesrausch sich eine Beule schlug. Der in <strong>de</strong>n Kriegswintern<br />

»mullattierend« — furchtbarstes Zeitwort von jenem militärischen Hauptwort<br />

»Mullatschak« —, im Ausseer Sommer in Ju<strong>de</strong>nfrozzeleien die Frohnatur auslebt.<br />

Ist es nicht nur eine Fortsetzung <strong>de</strong>r Tradition jener doch bessern Tage,<br />

da die Vindobona noch beim Ballett und nicht beim Kabarett war, da man mit<br />

Fiakern Bru<strong>de</strong>rschaft trank und über Leichen nicht schritt, nur galoppierte?<br />

Und, Hand aufs Herz, konnte aus <strong>de</strong>m mit Muskete—Bil<strong>de</strong>rn tapezierten Arbeitszimmer<br />

eines Thronfolgers, und wäre er noch so gutartig veranlagt, ein<br />

Licht in unser Dunkel dringen? Der einzige unter ihnen, <strong>de</strong>n ein Herrenmaß<br />

vom Niveau <strong>de</strong>r Grüßer, Drahrer und Walzertraum<strong>de</strong>uter schied, <strong>de</strong>m die<br />

Wartezeit neben <strong>de</strong>r unsterblichen Nullität das jähe Blut ins Stocken brachte<br />

und <strong>de</strong>ssen schwarzgelbe Drohung nur die <strong>de</strong>r Galle war vor diesem Unwesen<br />

von Wurschtigkeit und Hamur, ist gestorben, nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Weltkrieg, <strong>de</strong>r<br />

um seinetwillen ausbrach, verhin<strong>de</strong>rt hatte. Dem Wilhelm abgeschlagen hatte.<br />

Das <strong>de</strong>utsch—ungarische Pathos wußte genau, was es an ihm verlor; und <strong>de</strong>r<br />

Wiener Schmerz nicht min<strong>de</strong>r. So stark war diese Ohnmacht im Wünschen,<br />

daß ihr alles glückte, <strong>de</strong>r Krieg und sein Grund; und nie größer im Lügen als<br />

nun, da ein Reich die Stirn <strong>de</strong>s Grames hatte, sich in sie zu falten und mit einem<br />

heitern, einem nassen Auge <strong>de</strong>n Hingang <strong>de</strong>s Mannes zu beklagen, <strong>de</strong>r<br />

wohl darnach geartet schien, uns mit <strong>de</strong>r Lebenslust auch ihren Aussatz zu<br />

nehmen. Da aber die Wartezeit einer verspäteten Herrschernatur nicht Jahrzehnte,<br />

son<strong>de</strong>rn Jahrhun<strong>de</strong>rte zurückreicht, so gibt die Stärke <strong>de</strong>r Härte nach,<br />

1 an dieser Stelle erfolgte später eine Einfügung, <strong>de</strong>ren Text in Heft 508 auf S. 37 dieser<br />

Ausgabe zu fin<strong>de</strong>n ist.<br />

29


<strong>de</strong>r Abstand erlebt sich in Geiz und Grausamkeit und solchen Zügen, die <strong>de</strong>m<br />

leutseligen Klatsch eines dauernd herabgelassenen Hofes greifbar sind. Er<br />

war das verhaßte Hin<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>s Stillstands und mußte sich einer Gesellschaft,<br />

die nur frei war, weil sie nicht mehr wert war, geführt zu wer<strong>de</strong>n, als Unhold<br />

alles Rückschritts offenbaren, <strong>de</strong>m hinterdrein auch die Brandtat mediokrer<br />

Spieler zu Gesichte stand. In Wahrheit hat es <strong>de</strong>r Gemütlichkeit nicht genügt,<br />

erlöst zu sein. Zur Erhaltung <strong>de</strong>r Gemütlichkeit hat's Krieg gegeben. Aber daß<br />

sie auch <strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Völkern nicht ausgehen wollte, war das Wun<strong>de</strong>r. Es<br />

überstieg nicht die Maße aller uns zugemuteten Kriegsgeduld, daß eine dieser<br />

unsere Ehrfurcht herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Individualitäten, die das Subjekt eines<br />

Strafparagraphen waren und nie das Objekt eines solchen sein konnten, daß<br />

<strong>de</strong>r Generalinspektor <strong>de</strong>r Artillerie im Treubund mit einem Champagneragenten<br />

ein Millionen—Liefergeschäft entriert hatte, welches zur Aushungerung<br />

<strong>de</strong>r Front wesentlich beitrug und, solange die Volkshymne keinen an<strong>de</strong>rn Text<br />

bekommt, zu einer Verwechslung von Lorbeerreisern und Dörrgemüse führen<br />

wird. Gott erhalte, Gott beschütze vor <strong>de</strong>r Sippe unser Land! Nein, Eure Lieb<strong>de</strong>n<br />

waren die unsern nicht. Wie, es gibt Menschen, <strong>de</strong>ren Herz nichts Schöneres<br />

zu tun hat, als nach ihrer Wie<strong>de</strong>rkehr zu schlagen? Aber wenngleich<br />

solche die Monarchie für eine praktische Einrichtung halten und die majestätsbeleidigen<strong>de</strong>n<br />

Eigenschaften einer regieren<strong>de</strong>n Familie für nebensächlich<br />

und für ein Erbteil aller Dynastien, so wer<strong>de</strong>n sie doch nicht leugnen, daß<br />

die Evi<strong>de</strong>nz und Aufdringlichkeit dieser Eigenschaften, die Entartung in <strong>de</strong>n<br />

Erlaubnissen einer gelockerten Zeit, die Skandal—, ja Kriminalreife höchster<br />

Vorbil<strong>de</strong>r, und wür<strong>de</strong> dies alles noch nicht die Absetzung empfehlen, doch keineswegs<br />

die Berufung dringlich macht. Man kann ein Preistreiber in Konserven<br />

sein, wie dieser Artillerieinspektor, man kann an Holz dick verdienen wie<br />

jener Marschall Bumsti, aber man muß bei Abwicklung <strong>de</strong>r Geschäfte nicht<br />

gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Wucherparagraphen entzogen und vom Ehrfurchtsparagraphen<br />

unterstützt sein, und wenn solche Privilegien, die zum Neid <strong>de</strong>r Branchen bestan<strong>de</strong>n<br />

hatten, einmal abgeschafft sind, so ist es ganz gewiß nicht nötig, sie<br />

wie<strong>de</strong>rherzustellen. Nein, die Hoffnung auf diese Revenants wollen wir in das<br />

Reich <strong>de</strong>s Aberglaubens verweisen. Eine »Restauration« <strong>de</strong>r Monarchie — die<br />

Vorstellungen, die sich für <strong>de</strong>n Wiener an dieses Fremdwort knüpfen, wür<strong>de</strong><br />

sie keineswegs erfüllen, wiewohl die Monarchie hierzulan<strong>de</strong>, in allen ihren<br />

kulturellen Auslagen und Nie<strong>de</strong>rlagen, nie etwas an<strong>de</strong>res war als das größte<br />

Etablissement <strong>de</strong>r Monarchie und die I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>r Kaiser und Kaffeesie<strong>de</strong>r<br />

bis auf die Manifeste eines Jubiläums, einer Erweiterung und einer Abdankung<br />

zu <strong>de</strong>n Herzen sprach. Aber die offenbar zeitgebotene Verbindung von<br />

Kapuzinergruft und Nachtkaffee, die Melange von spanischem Zeremoniell<br />

und Budapester Orpheum müßte gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>n grundsätzlichen Monarchisten<br />

unerwünscht sein, und so wird ihnen nichts übrig bleiben, als einem I<strong>de</strong>al,<br />

<strong>de</strong>n Royalisten <strong>de</strong>r Bars und Salonkapellen jedoch, einem An<strong>de</strong>nken nachzutrauern.<br />

Wer hätte sich nicht ein Ekelgefühl vor <strong>de</strong>r spezifischen Kaisertreue<br />

bewahrt, die unlösbar mit <strong>de</strong>r dunstigen Vorstellung eines Animierlokals verknüpft<br />

bleibt, wo es plötzlich allerhöchst hergeht, zwischen <strong>de</strong>n Gassenhauern<br />

<strong>de</strong>r Liebe das Vaterland in seine Rechte tritt und die nur hier <strong>de</strong>nkbare<br />

Schmach ehrfürchtig gestimmter Defraudanten, Büfettdamen, Lebemänner<br />

und Wurzen aller Gra<strong>de</strong> sich von <strong>de</strong>n Sitzen erhebt unter Assistenz flaschenfertiger<br />

Kellner, <strong>de</strong>s Gar<strong>de</strong>robepersonals und last not least <strong>de</strong>r Toilettefrau.<br />

Diese tiefen Zusammenhänge mögen unausrottbar sein und <strong>de</strong>r nervenstarken<br />

Republik zum Trotz noch über eine Silvesterstimmung hinaus <strong>de</strong>monstriert<br />

wer<strong>de</strong>n. Sie können nur <strong>de</strong>n Rückschluß för<strong>de</strong>rn, daß es im Erzhaus wie<br />

30


im »Tabarin« zugegangen sei, und die Hoffnung, daß auch diesem Nachtleben<br />

die Sperrstun<strong>de</strong> geschlagen habe.<br />

Sie alle wußten es, von <strong>de</strong>n Dächern pfiffen es die Praterspatzen, d'Geigerbuam<br />

im siebenten Himmel tönten es: daß ein Kretin <strong>de</strong>r Marschall unseres<br />

Verhängnisses war; Minister trugen es in Anekdoten von <strong>de</strong>r Tafel ins Kaffeehaus<br />

und <strong>de</strong>r Hof— und Staatswitz übte sich an <strong>de</strong>r Erkenntnis, wie es<br />

<strong>de</strong>nn überhaupt die Note dieses Österreich war — das einzige nebst <strong>de</strong>r angestammten<br />

Dynastie einigen<strong>de</strong> Band <strong>de</strong>s Staatsbewußtseins die allerhöchsten<br />

geistigen und sittlichen Defekte spaßhaft zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Staat für zerfallsreif<br />

zu erklären, alle Beamten vom Nebenzimmer angefangen für Trottel und<br />

Schurken, und in <strong>de</strong>r jeweiligen Camera caritatis eben das auszusprechen,<br />

wofür sie die an<strong>de</strong>rn aufgehängt haben. Die entgegenkommen<strong>de</strong>n Funktionäre<br />

Österreichs kamen mit dieser Ansicht uns und <strong>de</strong>r historischen Entwicklung<br />

entgegen. Ein Wür<strong>de</strong>nträger <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Zentralstaates fragte mich<br />

einmal: »No was glauben S', wern uns die Tschechen herausreißen?« Es war<br />

an <strong>de</strong>m Tag, an <strong>de</strong>m im Generalstabsbericht die Meldung, daß die in italienischen<br />

Gräben vorgefun<strong>de</strong>nen tschecho—slowakischen Legionäre »ihrem verdienten<br />

Schicksal zugeführt wur<strong>de</strong>n«, mit <strong>de</strong>m schuftigen Rufzeichen versehen<br />

war, das wie ein Galgen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ehre aus diesem Blut— und Preßquartier<br />

aufragte. Jene Frage und dieser Ruf und die Gleichzeitigkeit bei<strong>de</strong>r<br />

Gemütslagen: in all <strong>de</strong>m war das österreichische Antlitz, das wie geschaffen<br />

war, Sonntagsfeuilletonisten freundlich anzumuten. Denn das österreichische<br />

Antlitz ist kein an<strong>de</strong>res als das <strong>de</strong>s Wiener Henkers, <strong>de</strong>r auf einer Ansichtskarte,<br />

die <strong>de</strong>n toten Battisti zeigt, seine Tatzen über <strong>de</strong>m Haupt <strong>de</strong>s Hingerichteten<br />

hält, ein triumphieren<strong>de</strong>r Ölgötze <strong>de</strong>r befriedigten Gemütlichkeit,<br />

während sich grinsen<strong>de</strong> Gesichter von Zivilisten und solchen, <strong>de</strong>ren einziger<br />

Besitz die Ehre ist, dicht um <strong>de</strong>n Leichnam drängen, damit sie nur ja alle auf<br />

die Ansichtskarte kommen. Sie wur<strong>de</strong> wirklich und wahrhaftig, von amtswegen,<br />

hergestellt, am Tatort wur<strong>de</strong> sie verbreitet, im Hinterland zeigten sie<br />

»Vertraute« Intimen, und jetzt ist sie als ein Gruppenbild <strong>de</strong>s k. k. Menschentums<br />

in <strong>de</strong>n Schaufenstern aller feindlichen Städte, umgewertet zum Skalp<br />

<strong>de</strong>r Wiener Kultur, ein Denkmal <strong>de</strong>s Galgenhumors unserer Henker. Es war<br />

vielleicht seit Erschaffung <strong>de</strong>r Welt zum erstenmal <strong>de</strong>r Fall, daß <strong>de</strong>r Teufel<br />

Pfui Teufel! rief. Es bil<strong>de</strong>ten sich Gruppen, um nicht nur bei einer <strong>de</strong>r viehischesten<br />

Hinrichtungen dabei zu sein, son<strong>de</strong>rn auch zu bleiben, und alle<br />

machten ein freundliches Gesicht. Dieses, das österreichische, ist auch auf einer<br />

an<strong>de</strong>rn Ansichtskarte, <strong>de</strong>r unter vielen ähnlichen eine nicht geringere kulturhistorische<br />

Be<strong>de</strong>utung zukommt, vertreten, in zahlreichen Soldatentypen,<br />

die zwischen einer hängen<strong>de</strong>n polnischen Gräfin und ihrer hängen<strong>de</strong>n Kammerzofe<br />

Schulter an Schulter die Halse recken, um nur ja ins Dokument aufgenommen<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Gott weiß, für welche satanische Blähung eines Generals,<br />

<strong>de</strong>n vielleicht ein Zwischenfall beim Sautanz zu einer furiosen Aufarbeitung<br />

von »Wird vollzogen« gestimmt hatte, die bei<strong>de</strong>n unglücklichen Frauen<br />

gestorben sein mögen. Das österreichische Antlitz lächelte und greinte je<br />

nach Wetter; aber Medusa be<strong>de</strong>utet sowohl eine mythologische Schönheit wie<br />

eine Qualle, und dieser Gorgonenblick hatte wohl nicht die Kraft, was er ansah<br />

in Stein zu verwan<strong>de</strong>ln, wohl aber in Blut o<strong>de</strong>r in Dreck. Das österreichische<br />

Antlitz, mit <strong>de</strong>m zugekniffenen linken Auge, hat man in <strong>de</strong>n letzten Jahren<br />

Schulter an Schulter neben einem mehr martialischen Gesicht so oft in<br />

<strong>de</strong>n Schaufenstern gesehen, daß es wohl vierzig Frie<strong>de</strong>nsjahre brauchen<br />

wird,um die Erinnerung loszuwer<strong>de</strong>n. Was mich anlangt, ich konnte <strong>de</strong>n Photographen<br />

umso leichter entbehren, als ich die fatale Fähigkeit besaß, das ös-<br />

31


terreichische Antlitz auf Schritt und Tritt, in je<strong>de</strong>r halbschlächtigen Handlung,<br />

in je<strong>de</strong>r mißratenen Lebensäußerung in je<strong>de</strong>r luschen An<strong>de</strong>utung zu erkennen,<br />

und wenn ich Gesichter brauchte, so waren sie mir zum Hineingreifen<br />

nah. Einmal, auf einem Bahnhofe bei Wien, habe ich das österreichische<br />

Antlitz an einem Kassenschalter gesehen. Der war vorher zwei Stun<strong>de</strong>n lang<br />

herabgelassen, eine fünfhun<strong>de</strong>rtköpfige Schafsher<strong>de</strong> von Wienern stand geduldig,<br />

es waren nur noch zehn Minuten bis zum Eintreffen <strong>de</strong>s Zuges, <strong>de</strong>r die<br />

einstündige Verspätung wahrscheinlich hoffentlich hereingebracht haben<br />

dürfte. Nichts rührte sich, bis ich, mit meinem Stock eine Anregung gab. Da<br />

ging <strong>de</strong>r Schalter in die Höhe und ein Gesicht von außeror<strong>de</strong>ntlicher Unterernährtheit<br />

zeigte sich, wie ich es in <strong>de</strong>r Sättigung eines teuflischen Behagens<br />

noch, nie geschaut habe, und ein dürrer Finger, <strong>de</strong>r hin— und herfahrend<br />

<strong>de</strong>m Leben alle Hoffnung vor diesem Höllentor nahm, ward sichtbar, und ich<br />

weiß nicht mehr, war es Finger o<strong>de</strong>r Blick o<strong>de</strong>r wirklich eine Stimme, die da<br />

rief — ich hörte die Worte: »Wird kane Koaten ausgeben! Wird kane Koaten<br />

ausgeben!« Es war <strong>de</strong>r Auftakt zur österreichischen Revolution: die Wiener<br />

begannen zu toben, es bil<strong>de</strong>ten sich Gruppen, ein Eingeweihter gab seine Bereitwilligkeit<br />

kund, alle durch ein Hintertürl auf <strong>de</strong>n Perron zu fahren. Das geschah,<br />

<strong>de</strong>r Zug kam, war so übervoll, daß es auf die Fünfhun<strong>de</strong>rt auch nicht<br />

mehr ankam, sie fuhren ohne Koaten, und aus <strong>de</strong>m Gemenge ächzen<strong>de</strong>r Menschenleiber<br />

unterschied ich nur die Stimmen zweier Revolutionäre: »Vurn is<br />

leer, und mir hat <strong>de</strong>r Kondukteur befohlen, hinten einizusteigen« und: »Mir<br />

hat er befohlen, vurn einizusteigen, so hab ich halt <strong>de</strong>nkt, hinten wirds leer<br />

sein.« Ich sah kein Antlitz, aber es war das österreichische. Und immer wer<strong>de</strong><br />

ich <strong>de</strong>n Finger sehn, vor allem was im Leben unerreichbar ist und dann<br />

schließlich doch geht. Das österreichische Antlitz aber wirkt gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r<br />

Unsichtbarkeit. Seh' ich es nicht im Raufhan<strong>de</strong>l eines Wiener Telephongesprächs,<br />

wenn sie, die ich nicht sehe, mir sagt: »Ja, mir haben Sie die Nummer<br />

nicht gesagt«? Ist es nicht in <strong>de</strong>n Automaten, <strong>de</strong>ren Funktion damit erschöpft<br />

ist, ganz von selbst Geldstücke einzunehmen? In diesen Taxametern,<br />

<strong>de</strong>nen schon alles wurscht ist, weil <strong>de</strong>r Kutscher, wenn er, nämlich <strong>de</strong>r Taxameter,<br />

einmal funktioniert, ihn eh zu<strong>de</strong>ckt? War es nicht in <strong>de</strong>r ganzen Gangart,<br />

<strong>de</strong>m physischen und seelischen Trott und Getorkel eines von solchem<br />

Staat erzogenen Volkes, in <strong>de</strong>m Anspruch, durch die eigene Wegfreiheit sie<br />

<strong>de</strong>m nächsten zu nehmen; in <strong>de</strong>r Habeas—corpus—Akte <strong>de</strong>r leiblichen Selbstbehauptung<br />

und Belästigung <strong>de</strong>s Nachbarn, in <strong>de</strong>r Verabredung, sich selbst<br />

das Leben so leicht als möglich, und <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn so schwer als nur <strong>de</strong>nkbar<br />

zu machen? In einem Verkehr, <strong>de</strong>r nichts an<strong>de</strong>res war als sein Hin<strong>de</strong>rnis. In<br />

einem Verhältnis zum Recht, das in <strong>de</strong>r Erwartung <strong>de</strong>r Ausnahme, in einer Beziehung<br />

zur Amtlichkeit, die in <strong>de</strong>r Furcht vor »Scherereien« bekun<strong>de</strong>t war.<br />

In einer Geschäftsmoral zwischen Han<strong>de</strong>ln und Wurzen. In <strong>de</strong>n vereinfachten<br />

Formen einer durch artilleristische Überlegenheit geschwächten Nationalökonomie:<br />

einem Notenumlauf, bewirkt durch <strong>de</strong>n Hochdruck einer Staatsraison,<br />

<strong>de</strong>r für je<strong>de</strong> Maßnahme die ethische Be<strong>de</strong>ckung fehlte, und einem Warenaustausch,<br />

<strong>de</strong>r immer mehr durch Diebstahl bewerkstelligt wur<strong>de</strong> und schließlich<br />

<strong>de</strong>m Aufgeben eines Pakets am Postschalter <strong>de</strong>n Charakter eines Verzichts<br />

gab. Nur <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Not war es zu danken, daß es am En<strong>de</strong> nicht mehr<br />

so viele Dinge gab, als gestohlen wur<strong>de</strong>n; gleichwohl wäre auch die raffinierteste<br />

Phantasie nicht imstan<strong>de</strong> gewesen, sich alles das vorzustellen, was einem<br />

in diesem Reich, von ihm selbst abgesehen, gestohlen wer<strong>de</strong>n konnte.<br />

Gesandten wur<strong>de</strong>n die Pässe nach <strong>de</strong>r Kriegserklärung nicht zurückgegeben,<br />

son<strong>de</strong>rn gestohlen, und dann erst nicht zurückgegeben. Im Krieg wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />

32


Invali<strong>de</strong>n die Prothesen gestohlen. Einer Sängerin wur<strong>de</strong> im enthusiastischen<br />

Gewühle nach Schluß <strong>de</strong>r Oper — <strong>de</strong>r Ruf »Hoch Elizza!« durchdrang Kriegsgeschrei<br />

und Revolutionslärm — die Pelzboa gestohlen. Und als die Not am<br />

höchsten war, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kadaver eines wutkranken Hun<strong>de</strong>s gestohlen. Das<br />

einzige, was nicht gestohlen wur<strong>de</strong>, vielleicht eben weil es uns das konnte,<br />

war Kriegsanleihe; <strong>de</strong>r Dieb einer Reisetasche — Reisetaschen wur<strong>de</strong>n mit<br />

Vorliebe gestohlen und wenn einer eine Reise tat, so konnte er was erzählen<br />

— einer Reisetasche mit 300.000 Kronen in ungarischer Kriegsanleihe, <strong>de</strong>r<br />

vorsichtige Dieb behielt also die Reisetasche, <strong>de</strong>n Inhalt jedoch fand man auf<br />

<strong>de</strong>m Abort <strong>de</strong>s Bahnhofs, wo sich <strong>de</strong>r Diebstahl ereignet hatte. Und wer h at<br />

hierzulan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> mehr zu schaffen gegeben: <strong>de</strong>r Dieb o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bestohlene?<br />

Hat das österreichische Antlitz nicht ein Auge <strong>de</strong>s Gesetzes und<br />

eins, das es zudrückt, woraus dieser merkwürdig schwanken<strong>de</strong> Ausdruck von<br />

Wissenschaft und Ehschowissen entsteht? Ist es nicht das <strong>de</strong>s Konfi<strong>de</strong>nten mit<br />

<strong>de</strong>m »schoarfen Blick« o<strong>de</strong>r das <strong>de</strong>s unbeirrbaren Wachmanns, <strong>de</strong>r sich<br />

höchstens <strong>de</strong>s Mißgriffs schuldig macht, eine Bürgerin geprügelt zu haben,<br />

weil er im guten Glauben war, sie treibe Prostitution? O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m eine interessierte<br />

Menge durch die Kärntnerstraße folgt, weil er aus diesem Haufen von<br />

Sün<strong>de</strong> ein dreijähriges Bettelkind hervorgezerrt hat? Und das seines rauheren<br />

Bru<strong>de</strong>rs von <strong>de</strong>r »Mülidärpolizei«, <strong>de</strong>r eine kranke Frau aus <strong>de</strong>m Bett auf die<br />

Straße prügelt, weil sie mit <strong>de</strong>r Verhaftung ihres Jungen, <strong>de</strong>r ein Stück Brot<br />

genommen hat, nicht einverstan<strong>de</strong>n war? Ist es nicht in <strong>de</strong>r Grausamkeit, <strong>de</strong>r<br />

die Not nur ein erschweren<strong>de</strong>r Umstand ist, und in <strong>de</strong>r Scherzhaftigkeit, die<br />

sie zum Witzblatthema macht und ihr noch die Sexualehre zum Fraß hinwirft?<br />

Und dann wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Stimme dieses Hexenhammers: »Wer Schanddirnen<br />

beherberget — «. Und in dieser schwärzesten Kriminalität, die eine Mutter<br />

straft, die <strong>de</strong>m von <strong>de</strong>n Furien <strong>de</strong>s Vaterlands gejagten Sohne »Obdach« gewährt<br />

hat statt ihn <strong>de</strong>m Galgen auszuliefern. In <strong>de</strong>r Finsternis eines Wiener<br />

Abends, wenn das bekannte Weichbild durch diese nur hier mögliche Abart<br />

von Regen, <strong>de</strong>r von unten kommt, so recht fühlbar wird, kann ich das österreichische<br />

Antlitz nicht wahrnehmen; aber ich höre ein Menschengebell, das in<br />

stoßartiger Zurechtweisung, als wür<strong>de</strong>n Gewehrgriffe geübt, einem armen<br />

Soldaten gilt, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Finsternis es auch nicht bemerkt, und darum nicht<br />

salutiert hat; an einem Abend, da es am Piave noch feuchter und dunkler war.<br />

Wie das alles noch funktionierte, wo es nicht mehr weiter konnte! Es war bis<br />

zu <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong>, da <strong>de</strong>r Wiener doch unterging, mir immer das unheimliche<br />

Wun<strong>de</strong>r unserer Existenz, daß dieses ganze Zubehör von Menschen und Maschinenbestandteilen<br />

nicht plötzlich mit einem »Ah woos« sich hinlegte und<br />

seine Selbstauflösung <strong>de</strong>n mühevollen Gesten eines unmöglichen Betriebs einfach<br />

vorzog. Denn wer, <strong>de</strong>r Österreich etwa auf einem Wiener Bahnhofperron<br />

in <strong>de</strong>r Kriegszeit ins Antlitz geschaut hat, wäre imstan<strong>de</strong>, das Schlachtfeld zu<br />

beschreiben — »Ist dies das verheißne En<strong>de</strong>? Sinds Bil<strong>de</strong>r jenes Grauns?« —<br />

mit umherliegen<strong>de</strong>n Soldaten, zwischen <strong>de</strong>nen ein keuchen<strong>de</strong>s Chaos von<br />

Rucksäcken, Menschen, Rollwagen, Koffern und sonstigen Bün<strong>de</strong>ln Elends<br />

sich vor Waggons mit reservierten Offizierscoupés und eingeschlagenen Zivilfenstern<br />

staut. Wer hätte sich durch diese Qual aller Sinne, durch einen<br />

Schauplatz, gegen <strong>de</strong>n Wallensteins Lager eine Londoner Hotelhall ist, nicht<br />

mit <strong>de</strong>m Staunen durchgeschlagen: Und so etwas führt Krieg gegen England!<br />

Gott strafe es! Gegen Völker, <strong>de</strong>nen, wenn schon nichts an<strong>de</strong>res, Seife <strong>de</strong>n<br />

Sieg sichert. Und wenn das Antlitz in allem, was Dreck und Pallawatsch verhieß,<br />

aufglänzte: sich selbst zum Sprechen ähnlich war es erst in <strong>de</strong>r Wildnis<br />

dieser Heimkehrerzeiten — getäuschte Hoffnung, daß sie dieses Heim kehren<br />

33


wer<strong>de</strong>n! — wenn ein Teil <strong>de</strong>r Wiener Bevölkerung, vom ersten Schrecken erholt,<br />

selbst zur Bahn drängte, um <strong>de</strong>n Demobilisierten ihre Konservenbüchsen<br />

abzuschwin<strong>de</strong>ln. Und gar in <strong>de</strong>r Entscheidungsschlacht einer Fahrt auf <strong>de</strong>r<br />

Elektrischen, wo doppelt so viel Menschen je<strong>de</strong>r einer doppelten Raum beanspruchen,<br />

weil doch alle Berechnungen <strong>de</strong>r unterernähren<strong>de</strong>n Obrigkeit<br />

durch eine Vertiefung <strong>de</strong>r Körper im Krieg zunichte wur<strong>de</strong>n. Ich hatte einmal<br />

gera<strong>de</strong> die Ansprache <strong>de</strong>s Erzherzogs Friedrich an <strong>de</strong>n Kaiser memoriert,<br />

worin <strong>de</strong>r gewiß selbstverfaßte Satz stand, daß <strong>de</strong>r Marschallstab »<strong>de</strong>r oberste<br />

Traum eines je<strong>de</strong>n Soldaten« sei, und war zu neugierig, ob er in einem dieser<br />

Erdäpfeltornister Platz hätte, an die angebun<strong>de</strong>n solch ein armes, verschmutztes,<br />

verquältes Stück Mensch die große Zeit durchkeucht. Und war es<br />

nicht Österreichs Antlitz mit <strong>de</strong>m offenen Mund und <strong>de</strong>n ins Leere starren<strong>de</strong>n<br />

Pupillen, in <strong>de</strong>r rühren<strong>de</strong>n Ausdauer, wie diese Jammergestalt von Staat, dieser<br />

Lebensmittelkartenabmel<strong>de</strong>schein von einem Nichts, <strong>de</strong>n lachen<strong>de</strong>n Nachbarn<br />

und <strong>de</strong>n dumpf verzweifelten Angehörigen von <strong>de</strong>r Erfüllung seiner Blütenträume<br />

sprach, von <strong>de</strong>r bereits erfolgten o<strong>de</strong>r im Zuge befindlichen »Erneuerung<br />

Österreichs«, darin bestärkt von einer alten Wahrsagerin, einer gewissen<br />

Hermann Bahr, die ihm gesagt hatte: Sie wer<strong>de</strong>n ein großes Glück<br />

machen und ein karolingisches Zeitalter ist im Anzug. Nämlich mit beson<strong>de</strong>rer<br />

Berücksichtigung <strong>de</strong>s Umstands, daß <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Kaiser also Karl<br />

hieß, was auf viele Durchhalter ungemein suggestiv wirkte. Jene Wahrsagerin,<br />

die in Salzburg ihr Unwesen trieb und die katholischen Bauern durch<br />

einen »Kriegssegen« fing, die Wiener Ju<strong>de</strong>n aber durch ein freimütiges Tagebuch,<br />

mußte sich jetzt, vom Lauf <strong>de</strong>r Ereignisse um ihren Kredit geprellt, angesichts<br />

<strong>de</strong>r nicht mehr abzuleugnen<strong>de</strong>n Tatsache, daß das karolingische<br />

Zeitalter infolge Auflassung <strong>de</strong>s Geschäfts nicht durchführbar ist und selbst<br />

eine Erneuerung Österreichs nicht mehr stattfin<strong>de</strong>n könnte, zu <strong>de</strong>m Geständnisse<br />

bequemen, es sei eigentlich das Österreich Masaryks gemeint gewesen;<br />

dann aber wur<strong>de</strong> sie frech: » ... Und ich glaube noch heute an mein Österreich,<br />

ja heute mehr als je ... Mein Irrtum war nur, daß ich mir dieses Österreich<br />

von unseren Deutschen versprach ... Aber im Grun<strong>de</strong> kommt es, weltgeschichtlich<br />

betrachtet, auch gar nicht so sehr darauf an, durch wen und wie<br />

mein Österreich geschieht, wenn es nur geschieht.« Angesichts <strong>de</strong>r Verwandlung<br />

eines Lebensmittelkartenabmel<strong>de</strong>scheins in einen Totenschein scheint<br />

hier etwas wie ein Glaube an Seelenwan<strong>de</strong>rung die Konjunktur benützen zu<br />

wollen und die Erneuerung Österreichs in Prag anzustreben sowie die Errichtung<br />

eines karolingischen Zeitalters durch Masaryk, zu <strong>de</strong>m bereits tatsächlich<br />

eine Verbindung <strong>de</strong>s Cola di Rienzo mit Karl IV. besteht. Aber schließlich,<br />

wenn wir schon im Umgruppieren sind, wird es sich herausstellen, daß wir<br />

auch nicht das Österreich Masaryks wünschen, son<strong>de</strong>rn daß uns mehr das Österreich<br />

Marischkas am Herzen liegt. Nun, auch die Fähigkeit, am eigenen<br />

Grab noch eine Hoffnung aufzupflanzen, diese Zudringlichkeit <strong>de</strong>m Schicksal<br />

gegenüber, wenn hienie<strong>de</strong>n noch ein Geschäft zu machen ist, diese ewige<br />

Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>s Hausierers, <strong>de</strong>r eigentlich Böhmen gemeint, wenn er Österreich<br />

angeboten hat, diese Beharrlichkeit eines Phönix—Agenten, <strong>de</strong>r die Auferstehung<br />

in je<strong>de</strong>r Form garantiert — auch dies ist einer <strong>de</strong>r letzten Züge <strong>de</strong>s<br />

österreichischen Antlitzes. Aber es weiß, wozu es auf <strong>de</strong>r Welt ist. Es gehört<br />

ja <strong>de</strong>m Wiener, und darum zweifelt es nicht an seinem Davonkommen. Es bewährt<br />

sich todsicher in dieser Fähigkeit, sich, in guten und schlimmen Zeiten,<br />

als Protektionskind <strong>de</strong>r Schöpfung zu erleben und <strong>de</strong>n Wiener als <strong>de</strong>n Wiener<br />

zu reklamieren, worunter eben ein Wesen zu verstehen ist, das sich mit Recht<br />

um seine Eigenart benei<strong>de</strong>t, in<strong>de</strong>m es nämlich ein beson<strong>de</strong>res Blut hat, das<br />

34


sogenannte Wiener Blut, sich durch Schick, aber auch durch »Schan« von <strong>de</strong>r<br />

Umwelt erfolgreich abhebt und, wie es an<strong>de</strong>rs zu essen gewohnt war, nun<br />

auch apart durchzuhalten versteht. Die Beson<strong>de</strong>rheit seiner Sprache sind die<br />

vielfachen Spuren eines Gedankenlebens, das ausschließlich, in <strong>de</strong>n Tagen<br />

<strong>de</strong>r Erfüllung wie <strong>de</strong>r Enttäuschung, vom Problem <strong>de</strong>r Viktualien beherrscht<br />

ist, und es ist gewiß ein ethnologisches Wahrzeichen, daß <strong>de</strong>r Wiener durch<br />

drei Gemütslagen mit <strong>de</strong>r Erinnerung an eine und dieselbe Speise hindurchkommt:<br />

aus jenem Gleichmut, <strong>de</strong>m alles Wurst ist, durch die Zuversicht, daß<br />

es für ihn eine Extrawurst geben wird, in die Resignation, daß jetzt Krieg ist<br />

und daß es da keine Würschtel gibt. Und war <strong>de</strong>nn das österreichische Antlitz<br />

nicht eigentlich die Hoteliervisage, <strong>de</strong>ren Optimismus selbst <strong>de</strong>m Untergang<br />

noch einen Gusto gab, das Chaos beliebt machte und vom jüngsten Gericht<br />

überzeugt war, daß sich die Herren das loben? Deren Blick durch alle Finsternis<br />

mit jener letzten Hoffnung geleuchtet hat, die einem Trümmerfeld <strong>de</strong>n<br />

Reiz <strong>de</strong>r Spezialität abgewinnt, <strong>de</strong>r Hoffnung auf Hebung <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>nverkehrs,<br />

und wäre es selbst, um ihnen Hel<strong>de</strong>ngräber als Sehenswürdigkeiten<br />

vorzuführen und die Konkurrenz <strong>de</strong>r Hyänen zu schlagen. Wo suche ich das<br />

österreichische Antlitz noch? Wo kommt es uns nicht schöngefärbt entgegen<br />

und wo hat es nicht wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mut, sich zu seiner Häßlichkeit mit <strong>de</strong>m letzten<br />

Gruß aus großer Zeit zu bekennen: »Gut schaun mr aus!« So o<strong>de</strong>r so, immer<br />

wußte sich die lustige Person zu behaupten, in<strong>de</strong>m sie die Gebär<strong>de</strong> jenes<br />

kühnen Luftspringers Schulter an Schulter parodierte o<strong>de</strong>r das eigene heroische<br />

Mißlingen mit einem Purzelbaum abschloß. Der Knockabout ist <strong>de</strong>r humoristische<br />

Träger jenes Lebensprinzips, das Mittel und Zweck zu ewiger<br />

Verwechslung verwen<strong>de</strong>t und bei<strong>de</strong> aneinan<strong>de</strong>r verliert. Welch ein Symbol österreichischen<br />

Daseins: In Feldkirch war es die letzte Pein <strong>de</strong>rer, die entfliehen<br />

wollten, ihre Namen ausgebrüllt und <strong>de</strong>n Mitreisen<strong>de</strong>n preisgegeben zu<br />

hören, so peinlich wie <strong>de</strong>r Zwang, die Nomenklatur dieser phantastischen Einkäufergestalten<br />

zu erfahren. Die <strong>de</strong>utsche Sitte <strong>de</strong>s Nummernaufrufs — ist<br />

<strong>de</strong>r Mensch schon eine Nummer, so sei er es auch — wäre <strong>de</strong>r Pikanterie unseres<br />

Grenzverfahrens abträglich gewesen. Endlich wird sie eingeführt. Vor<br />

Feldkirch erfolgt die Verteilung <strong>de</strong>r Nummern. Je<strong>de</strong>r hält die seine in <strong>de</strong>r<br />

Hand und wartet auf <strong>de</strong>n Ruf. Damit ist <strong>de</strong>m organisatorischen Vorbild<br />

Deutschlands Genüge geschehn; <strong>de</strong>nn es wird nun je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r die Nummer in<br />

<strong>de</strong>r Hand hält, mit Namen aufgerufen. Auf die Frage, wozu <strong>de</strong>nn die Nummer<br />

sei, weiß kein Funktionär eine Antwort. Meiner Ansicht, es sei wohl nach<br />

<strong>de</strong>utschem Muster eingeführt, wird beigepflichtet. Vermutlich ist später, da<br />

<strong>de</strong>r Mißgriff bemerkt wur<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>m Namen die Nummer ausgerufen wor<strong>de</strong>n.<br />

Die <strong>de</strong>utsche Organisation war das Irrlicht, das einen Unzurechnungsfähigen<br />

vollends ins Elend geführt hat. Der Treubund konnte nicht an<strong>de</strong>rs ausgehn,<br />

als daß Wien von <strong>de</strong>r Mechanik die Roheit annahm und Berlin dafür die<br />

Schlamperei lernte. Wir aber hätten das österreichische Antlitz vor Seelenlosigkeit<br />

nicht wie<strong>de</strong>rerkannt, wenn nicht auch mehr Schmutz sie ver<strong>de</strong>ckt hätte.<br />

Wo stand es nicht vor <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r hilfesuchend in ein Amt kam und Unrat<br />

fand? Muß ich es in <strong>de</strong>n Aborten <strong>de</strong>r Kriminalität suchen, in <strong>de</strong>n Wanzen—<br />

und Bazillenräumen <strong>de</strong>r Wiener Garnisonsarreste, an <strong>de</strong>n verwahrlosten Spitalsbetten,<br />

wo dafür graduierte Profosen und Assistenten von Scharfrichtern<br />

nervenkranke Soldaten mit Starkstrom elektrisierten, um <strong>de</strong>n Verdacht, sich<br />

von <strong>de</strong>r Front zu drücken, auf sie abzuwälzen? War es <strong>de</strong>nn nicht in je<strong>de</strong>r<br />

Schmach und Unappetitlichkeit je<strong>de</strong>r Amtshandlung und vor allem in <strong>de</strong>r Gerechtsame<br />

jener Feldgerichte, <strong>de</strong>ren eines die noch über <strong>de</strong>n Justizmord unsittliche<br />

For<strong>de</strong>rung aufgestellt hat, daß <strong>de</strong>r österreichische Staatsbürger sei-<br />

35


nen Behör<strong>de</strong>n, diesen Behör<strong>de</strong>n, »mit Ehrfurcht und Liebe zu begegnen<br />

habe«? Allen, selbst in <strong>de</strong>n Gestalten <strong>de</strong>r Zagorski, Preminger, König und Peutelschmied<br />

1 ! Und solche Härte, verschärft durch die Sicherheit, daß hier<br />

nicht Naivität, son<strong>de</strong>rn ein Vollbewußtsein <strong>de</strong>r eigenen Schurkerei am Werke<br />

war und die diabolische Lust einer letzten Belastungsprobe auf unsere Geduld.<br />

Das von einer feindlichen Regierung längst verbotene Experiment <strong>de</strong>r<br />

Hundsgrotte 2 ist von <strong>de</strong>r österreichischen tagtäglich <strong>de</strong>n vierzig Millionen<br />

Menschen zugemutet wor<strong>de</strong>n, und das Antlitz zwinkerte bei <strong>de</strong>m gelungenen<br />

Gspaß, um nach eingetretener Erstickung in voller Heiligkeit 3 zu erglänzen.<br />

Da kann es <strong>de</strong>nn, wenn hun<strong>de</strong>rttausend serbische Leichen am Kriegsbeginn<br />

von einem Walten österreichischer Degenerale und progressiver Eroberer<br />

zeugen, <strong>de</strong>nen das Anführen <strong>de</strong>r dritten reiten<strong>de</strong>n Artilleriebriga<strong>de</strong> geringere<br />

Schwierigkeiten gemacht hat als das Aussprechen <strong>de</strong>rselben und die<br />

nachgewiesenermaßen eine bloßfüßige Infanterie in <strong>de</strong>n Tod gejagt haben —<br />

da kann es <strong>de</strong>nn passieren, daß sich ein Jockeyklubpräsi<strong>de</strong>nt fin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r das<br />

An<strong>de</strong>nken Österreichs gegen <strong>de</strong>n gelin<strong>de</strong>n Vorwurf »Austrian Brutalities« verteidigt.<br />

Ein aus jener Zeit jetzt in London produzierter Armeebefehl sei<br />

»höchstwahrscheinlich apokryph«, aber selbst, wenn er authentisch wäre,<br />

»ein unerläßliches Gebot einer rationellen Kriegführung«. Diese rationelle<br />

Kriegführung, <strong>de</strong>ren strategisches Ziel jenes Geburtstagsgeschenk für Franz<br />

Josef war, <strong>de</strong>ssen Freu<strong>de</strong> kaum <strong>de</strong>n Geburtstag überlebt hat, war unter an<strong>de</strong>rm<br />

durch <strong>de</strong>n Gebrauch ausgezeichnet, Greisen, die im Verdacht stan<strong>de</strong>n,<br />

ein Gefühl für ihre Nation zu, haben, eine To<strong>de</strong>stagsfreu<strong>de</strong> zu bereiten, in<strong>de</strong>m<br />

man sie, nach <strong>de</strong>utschem Vorbild, einlud, ihr eigenes Grab zu schaufeln —<br />

also eben das zu tun, was damals Österreich getan hat, ohne lei<strong>de</strong>r mit sehen<strong>de</strong>n<br />

Augen dazu verurteilt zu sein. Diese Sitte und die Einteilung, daß in <strong>de</strong>n<br />

ungarischen Serbenlagern täglich etliche Hun<strong>de</strong>rt an Epi<strong>de</strong>mien, Hunger und<br />

Nachhilfe durch Kolbenschläge starben — man kann sie aus <strong>de</strong>r Gruft <strong>de</strong>r<br />

Reichsratsprotokolle die rationelle Kriegführung <strong>de</strong>r Honveds berufen hören<br />

—, läßt ein an<strong>de</strong>res Faktum geringfügig erscheinen, das jetzt eben in London<br />

beklagt wur<strong>de</strong>, einen gemütlichen Brauch, durch <strong>de</strong>n die österreichische Autorität<br />

ihren Familiensinn bekun<strong>de</strong>t hat, in<strong>de</strong>m sie nämlich die Angehörigen<br />

<strong>de</strong>r Verurteilten einlud, bei <strong>de</strong>ren Hinrichtung anwesend zu sein. Der Jockeyklubpräsi<strong>de</strong>nt<br />

— es ist jener Botschafter a. D. Heinrich Graf Lützow, <strong>de</strong>m die<br />

Verwechslung mit <strong>de</strong>m verstorbenen böhmischen Historiker gleichen Namens<br />

fast so unangenehm war wie diesem — nennt die Erwähnung jenes Brauchs<br />

eine »alte Legen<strong>de</strong>«, von <strong>de</strong>ren Unwahrheit er aus <strong>de</strong>m einfachen Grun<strong>de</strong> tief<br />

durchdrungen ist, weil sie »ungezählte Male von <strong>de</strong>r kompetentesten Stelle<br />

<strong>de</strong>mentiert« wur<strong>de</strong>. Was ganz richtig und ebenso bekannt ist wie die Dementia<br />

<strong>de</strong>r kompetentesten Stelle. Zum Glück stellt sich <strong>de</strong>m Mann, <strong>de</strong>r die Aufgabe<br />

übernommen hat, das letzte was uns geblieben ist, nämlich die Ehre <strong>de</strong>s<br />

Generals Potiorek zu verteidigen, ein treffen<strong>de</strong>s Zitat ein, durch das <strong>de</strong>r Sachverhalt<br />

einfach klargestellt wird. Ausdrücklich sei also jene Legen<strong>de</strong> <strong>de</strong>mentiert<br />

wor<strong>de</strong>n, »aber <strong>de</strong>r alte Spruch ist ewig wahr: Calumniare audacter, semper<br />

aliquid haeret!« Wie wahr <strong>de</strong>r alte Spruch ist, zeigt sich überhaupt erst<br />

im Falle Österreichs: die Fein<strong>de</strong> haben es tapfer verleum<strong>de</strong>t, es ließ sich aber<br />

in seiner rationellen Kriegführung nicht stören und, siehe da, immer blieb etwas<br />

hängen. Ob aliquid o<strong>de</strong>r aliquis, war ihm ganz wurst, da bekanntlich ein<br />

alter Spruch lautet : Caesar supra grammaticam. Noch ein an<strong>de</strong>res Zitat fällt.<br />

1 Militärrichter<br />

2 s. Heft 275<br />

3 Karl I. wur<strong>de</strong> 2004 seliggesprochen<br />

36


<strong>de</strong>m Grafen Lützow zum Glück ein, »Tout est perdu hors l'honneur«, nämlich.<br />

was ich aber nicht etwa übersetzen wür<strong>de</strong>: »Das Einzige, was wir besitzen, ist<br />

die Ehre«, son<strong>de</strong>rn schlicht: »Wir haben alles verloren«. Dagegen haben wir<br />

zweifellos die Eigenschaft <strong>de</strong>r Gerechtigkeit uns erhalten können, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />

Graf Lützow stellt die Frage: »Können <strong>de</strong>nn im heutigen England die eigenen<br />

und die frem<strong>de</strong>n Handlungen niemals mit <strong>de</strong>m gleichen Maße gemessen wer<strong>de</strong>n?«<br />

Das ist aber gar keine Frage, son<strong>de</strong>rn einfach eine Antwort, die unter<br />

<strong>de</strong>r Aufschrift gedruckt wer<strong>de</strong>n müßte: »Ungerechtigkeit in England«, was<br />

noch heute so erfreulich wäre wie »Hungersnot in Frankreich«. Denn: »Wir«<br />

— <strong>de</strong>r Graf Lützow setzt das Wort in Sperrdruck — »stehen auf <strong>de</strong>m Standpunkte,<br />

daß <strong>de</strong>r wehrlose Feind aufhört ein Feind zu sein«. Wir ja, die an<strong>de</strong>rn<br />

natürlich nicht; noch heute stehn wir auf dm Standpunkt, wo wir keinen wehrlosen<br />

Feind mehr haben, wohl aber die Möglichkeit, von <strong>de</strong>m Millionengeschenk<br />

<strong>de</strong>r italienischen Gefangenen an uns weiter kein Aufhebens zu machen.<br />

»Den Schimpf einer unmenschlichen Haltung während <strong>de</strong>s Krieges weisen<br />

wir mit Verachtung zurück«, ruft Lützow und ahnt gar nicht, wie recht er<br />

hat, und umsomehr, als ja die Verprügelung italienischer Soldaten auf <strong>de</strong>n<br />

Bahnhöfen von Wörgl und Linz erst nach Abschluß <strong>de</strong>s Waffenstillstan<strong>de</strong>s erfolgt<br />

ist.<br />

— — 1 — —<br />

Aber er hofft, daß die 'Times' — er hat, wiewohl er ein Botschafter a. D.<br />

ist, »kein Mittel, um mit <strong>de</strong>r Redaktion direkt zu korrespondieren« — seine<br />

Richtigstellung veröffentlichen wer<strong>de</strong>n, sobald sie davon Kenntnis erhalten.<br />

»Skeptiker«, setzt er hinzu, »wer<strong>de</strong>n über meine Naivität lächeln.« Aber er<br />

kennt sein England und hat die Überzeugung, »daß die alte englische Tradition<br />

<strong>de</strong>s Fair play auch jetzt nicht ausgestorben ist«. Ob er das als Jockeyklubpräsi<strong>de</strong>nt<br />

o<strong>de</strong>r nur als Diplomat hofft, läßt er unerwähnt. Ich nun bin so sehr<br />

Skeptiker, daß ich die Erwartung <strong>de</strong>s Grafen Lützow nicht einmal für seine<br />

stärkste Naivität halte. Der Gesinnung, die sich in <strong>de</strong>m vornehmen Bekenntnis<br />

<strong>de</strong>s Chefs <strong>de</strong>r englischen Militärmission in Wien ausgesprochen hat, »daß wir<br />

jetzt alle wünschen, die Greuel <strong>de</strong>s Krieges zu vergessen und nicht an sie erinnert<br />

zu wer<strong>de</strong>n«, wäre auch zuzutrauen, daß sie, <strong>de</strong>m humanen Zweck zuliebe<br />

noch die Wahrheit berichtigt. Und selbst dies ist wünschenswert, da <strong>de</strong>r<br />

Menschheit augenblicklich nicht an<strong>de</strong>rs zu hellen ist als daß die Völker so<br />

schnell als möglich vergessen, was sie einan<strong>de</strong>r angetan haben. Aber sie wür<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>n Fortschritt, <strong>de</strong>n sie durch die Gna<strong>de</strong> erzielt, reichlich wettmachen,<br />

wenn sie es an Reue fehlen ließe, in<strong>de</strong>m die Völker so schnell als möglich vergessen,<br />

was sie <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn, und ganz beson<strong>de</strong>rs, was sie sich selbst angetan<br />

haben. Wehe uns, wenn wir Gna<strong>de</strong> üben wollten an uns selbst! Der Feind mag<br />

gegenüber einer Wiener Lügenzeitung, die ihm eine Anklage <strong>de</strong>utscher Grausamkeiten<br />

in <strong>de</strong>n Mund gelegt hat, sich zum Wunsch bekennen, sie aus <strong>de</strong>m<br />

Gedächtnis zu tilgen. Aber wir dürfen es von ihm nicht verlangen, selbst wenn<br />

wir so naiv wären, sie zu bestreiten. Denn auf keiner Seite dürfte sich die<br />

Überschreitung <strong>de</strong>r legitimen Ungebühr <strong>de</strong>s Kriegslebens die Verletzung völkerrechtlicher<br />

Normen, die selbst <strong>de</strong>m menschheitswidrigen Han<strong>de</strong>l gesetzt<br />

sind, leichter nachweisen lassen, als auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen, weil hier ein ganzes<br />

Heer von journalistischen, literarischen und aka<strong>de</strong>mischen Tröpfen und Spitzbuben<br />

aufgeboten war, Söldner frem<strong>de</strong>n Blutes, die mit <strong>de</strong>rselben Fe<strong>de</strong>r, mit<br />

<strong>de</strong>r sie <strong>de</strong>n Vorwurf unmenschlicher Kriegführung auf die Fein<strong>de</strong> abzuwälzen<br />

hatten, ja auf <strong>de</strong>mselben Papier, die Bombardierung von Krankenhäusern, Kir-<br />

1 an dieser Stelle erfolgte später eine Einfügung, <strong>de</strong>ren Text in Heft 508 auf S. 34 dieser<br />

Ausgabe zu fin<strong>de</strong>n ist.<br />

37


chen und Schulzimmern, die Torpedierung von Spitalschiffen, die Ehrung und<br />

Verklärung von Menschenjägern nicht nur beschrieben, son<strong>de</strong>rn auch bejubelt<br />

haben. Die ständige Berufung auf das unschuldige Volk eines kriegsschuldigen<br />

Staates mag <strong>de</strong>n Untertanen staatsmännischer Willkür, <strong>de</strong>n Leibeigenen<br />

eines ruchlosen Generalstabs, ja selbst jenen helfen, die im Bann einer<br />

elen<strong>de</strong>n Machti<strong>de</strong>ologie Aufträge o<strong>de</strong>r Fleißaufgaben <strong>de</strong>s Mor<strong>de</strong>s ausgeführt<br />

haben. Keineswegs hat die <strong>de</strong>utsche Intelligenz, welche wie die keines an<strong>de</strong>rn<br />

Lan<strong>de</strong>s, vom ersten Dichter bis zum letzten Reporter, vom ersten Völkerrechtsprofessor<br />

bis zum letzten Pastor, in <strong>de</strong>r feldgrauen Materie gesielt, im<br />

frem<strong>de</strong>n Bluterlebnis geschwelgt, ja vielfach von dieser Haltung ihre Existenz<br />

gefristet und durch <strong>de</strong>n Claqueurdienst für Hau<strong>de</strong>gen die eigene Unversehrtheit<br />

errungen hat, keineswegs hat die Barbarei <strong>de</strong>r Bildung auch nur <strong>de</strong>n geringsten<br />

Anspruch auf Mitleid, wenn sie die Strafe mitzuzahlen hat, und käme<br />

selbst ein Säkulum solchen Geisteslebens in wirtschaftliche Bedrängnis. Der<br />

Graf Lützow wür<strong>de</strong> aber kein Glück haben, wenn er hier etwa die bei<strong>de</strong>n<br />

Schultern voneinan<strong>de</strong>r trennen und die Anerkennung speziell unserer<br />

Menschlichkeit auf die Dokumente <strong>de</strong>r österreichischen Kriegsbelletristik<br />

stützen wollte. Der Beweis wür<strong>de</strong> auch da eher durch eine Verbrennung ganzer<br />

Zeitungsbibliotheken und Buchverlage zu erbringen sein. Der Schimpf,<br />

<strong>de</strong>n seinesgleichen mit Verachtung zurückweist, ist nicht <strong>de</strong>r unserer unmenschlichen<br />

Haltung während <strong>de</strong>s Kriegs, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Vorwurfs, <strong>de</strong>n<br />

man uns daraus macht. Wie sollten wir ihn verdient haben, da wir während<br />

<strong>de</strong>s Kriegs doch eine Haltung angenommen haben, von <strong>de</strong>r man die Gesetze<br />

<strong>de</strong>r Menschlichkeit in künftigen Jahrhun<strong>de</strong>rten erst ableiten wird. Daß wir<br />

<strong>de</strong>m Feind, <strong>de</strong>r in unsere Gewalt geriet, in je<strong>de</strong>r nur möglichen Weise entgegengekommen<br />

sind, versteht sich schon aus <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s österreichischen<br />

Funktionärs. Wenn zum Beispiel die Okkupationsbehör<strong>de</strong>, in Betätigung ihres<br />

oft bewiesenen Familiensinnes, einmal in Montenegro Vater und Bru<strong>de</strong>r eines<br />

obstinaten Menschen, <strong>de</strong>r die Waffen nicht abliefern wollte und auf und davongegangen<br />

war, mit <strong>de</strong>r Hinrichtung bedrohte, falls sich <strong>de</strong>r Angehörige<br />

nicht binnen vierundzwanzig Stun<strong>de</strong>n stelle, und <strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r tatsächlich kaltgemacht<br />

hat, so ist dies durch eine rationelle Kriegführung, gegen <strong>de</strong>ren Exekutoren<br />

<strong>de</strong>r Geßler eben ein blutiger Dilettant war, hinreichend erklärt. Die<br />

Mil<strong>de</strong> gegen <strong>de</strong>n Vater ist ohnedies für eine Gemütsart, die mit sich re<strong>de</strong>n<br />

läßt, bezeichnend. Die Rücksicht <strong>de</strong>m Feind gegenüber war aber auch immer<br />

gepaart mit einer Sorge für das Wohl und auch das Wehe <strong>de</strong>r eigenen Mannschaft,<br />

die ja ein Ehrenkapitel im gol<strong>de</strong>nen Buch unserer Komman<strong>de</strong>n bil<strong>de</strong>t.<br />

Es ist außeror<strong>de</strong>ntlich lehrreich zu betrachten, wie nur in <strong>de</strong>n äußersten Notfällen<br />

eine etwas strengere Tonart eingehalten wur<strong>de</strong>, wofür man gleich am<br />

Tag nach <strong>de</strong>m Auftreten <strong>de</strong>s Grafen Lützow ein Beispiel erfahren hat. In Kragujevac<br />

— bekannt in <strong>de</strong>r Weltgeschichte durch <strong>de</strong>n Ruf »Krakujefaz<br />

eropaat!« — hatten 44 nach vierjähriger Kriegsgefangenschaft einrückend gemachte<br />

Heimkehrer am Abend ihrer Ankunft eine elen<strong>de</strong> Menage — vermutlich<br />

aus <strong>de</strong>r Küche <strong>de</strong>s Leopold Salvator — vorgefun<strong>de</strong>n und sich aus Wut darüber<br />

einen Rausch angetrunken, <strong>de</strong>r sich zu einem wüsten Exzeß, ja sogar zu<br />

Beschimpfungen <strong>de</strong>r Offiziere steigerte. Die Justifizierung beschreibt nun <strong>de</strong>r<br />

folgen<strong>de</strong> Bericht, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Aussage <strong>de</strong>s dazu kommandierten Arztes beruht:<br />

» ... In zwei parallelen Reihen waren je 22 Gräber aufgeworfen, die Erschießung<br />

wur<strong>de</strong> in zwei Partien vorgenommen. Zur Durchführung dieser Exekution<br />

waren Bosniaken kommandiert, die auf zwei Schritt Entfernung zu schießen<br />

hatten. Den Bosniaken jedoch zitterten die Hän<strong>de</strong>, als sie ihren Kamera<strong>de</strong>n<br />

ins Gesicht schießen mußten, und sie schossen schlecht. Die erste Partie<br />

38


wälzte sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, es war beinahe kein einziger tot. Da wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Befehl gegeben, <strong>de</strong>n Opfern die Gewehrläufe an <strong>de</strong>n Kopf zu setzen. Als alle<br />

Gehirne zu Brei zerschossen waren, kam die zweite Partie daran, und die gleiche<br />

Szene wie<strong>de</strong>rholte sich noch einmal. Der damalige Stellvertreter <strong>de</strong>s Generalstabschefs,<br />

<strong>de</strong>r Oberstleutnant Suhay, <strong>de</strong>r sich auch sonst damit brüstete,<br />

daß er vielen Serben die Lampe ausgelöscht habe, sagte nach <strong>de</strong>r Hinrichtung<br />

beim Aben<strong>de</strong>ssen, als manche schüchterne Be<strong>de</strong>nken gegen <strong>de</strong>n Prozeß<br />

geäußert wur<strong>de</strong>n: er hätte auch 300, nicht nur 44 hinrichten lassen. Die Opfer<br />

waren beinahe alle Familienväter, und alle waren vielfach mit allen Gra<strong>de</strong>n<br />

von Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet. Sie sahen auch diesem letzten To<strong>de</strong><br />

ohne Scheu in die Augen, lautlos, ohne eine Miene zu verziehen, ohne eine<br />

Abwehrbewegung.« Selbst <strong>de</strong>m Armeeoberkommando, das bei Verfehlungen<br />

von Soldaten wohl Stockhiebe, aber nicht Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Menschenmaterials<br />

guthieß, soll dieses Beispiel einer Pflege innigeren Kontaktes mit <strong>de</strong>r<br />

Mannschaft — zwei Schritte Distanz und noch weniger — zu stark vorgekommen<br />

sein und es soll sich zu <strong>de</strong>r Auffassung entschlossen haben, daß jene Offiziere,<br />

die sich so weit einließen, offenbar zu <strong>de</strong>n sogenannten Elementen gehörten,<br />

gegen die eine Untersuchung, wenngleich nicht abgeschlossen, so<br />

doch eingeleitet wur<strong>de</strong>. Allein <strong>de</strong>n Schimpf einer unmenschlichen Haltung<br />

während <strong>de</strong>s Kriegs weisen wir mit jener Verachtung zurück, die nicht <strong>de</strong>n<br />

Mör<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Anklägern gebührt. Denn wir sind nun einmal die Sorte<br />

von Österreichertum, die, wenn im Hause <strong>de</strong>s Gehenkten vom Strick gere<strong>de</strong>t<br />

wird, je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Version als daß es ein Perlenkollier war, schon mit Rücksicht<br />

auf <strong>de</strong>n guten Ton und auf die erwiesene Tatsache, daß sie keinem Huhn<br />

<strong>de</strong>n Hals umdrehn könnten, in Abre<strong>de</strong> stellt. Wenn man uns sagt, daß wir uns<br />

wenigstens eine Zeitlang und nicht einmal aus Grausamkeit, son<strong>de</strong>rn nur aus<br />

Feigheit, aus Phantasiearmut, aus Unverantwortlichkeit, aus <strong>de</strong>r Abhängigkeit<br />

von Phrase und Mechanik, aus Reklamesucht und Wichtigmacherei, kurz<br />

aus allen möglichen Mittellagen <strong>de</strong>s Charakters, nicht wie Menschen aufgeführt<br />

haben, so geben wir die Möglichkeit bloß »im Hinblick« auf <strong>de</strong>n Umstand<br />

zu, daß wir ja eben die reinen Lamperln sind, o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m resoluten<br />

Geständnis <strong>de</strong>s Grafen Czernin: »Es hat sich gezeigt, daß vieles bei uns nicht<br />

so war, wie es hätte sein sollen«, womit er aber gewiß nicht auf unsere auswärtige<br />

Politik anspielen wollte. Und daß so etwas noch immer o<strong>de</strong>r schon<br />

wie<strong>de</strong>r laut wer<strong>de</strong>n kann, zeigt, wie unverbun<strong>de</strong>n die neue Staatsform neben<br />

<strong>de</strong>r alten Lebensform zu bestehen sich anschickt. Der Stolz auf das kurze Gedächtnis<br />

pflanzt sich gleichmütig vor <strong>de</strong>r Vergangenheit auf, mit <strong>de</strong>mselben<br />

Achselzucken, mit <strong>de</strong>m man <strong>de</strong>n Krieg hindurch über die drohen<strong>de</strong> Realität<br />

hinwegsah, geht man jetzt an <strong>de</strong>r mahnen<strong>de</strong>n Schuld vorbei, und ist die angenommene<br />

Unwissenheit ein guter Vorspann für ein leichtes Gewissen, so wird<br />

kein distinguierter Frem<strong>de</strong>r mehr <strong>de</strong>r Einladung »Fahr' mr Euer Gna<strong>de</strong>n« wi<strong>de</strong>rstehn<br />

können und es versteht sich ganz von selbst, daß wir keinen Richter<br />

nicht brauchen wer<strong>de</strong>n. Der Verständigungsfrie<strong>de</strong> — alstern, san mr wie<strong>de</strong>r<br />

gut — wird von <strong>de</strong>r besiegten Frechheit, die ihn bis zum letzten Hauch von<br />

Mann und Roß verschmäht hatte, als ein Minimum <strong>de</strong>ssen beansprucht, was<br />

ihrer Vorzugsstellung, nämlich ihrer Zuständigkeit nach <strong>de</strong>m ehemaligen Österreich<br />

gebührt. Bis zum letzten Augenblick hat sie sich an <strong>de</strong>r größten<br />

Schlechtigkeit in <strong>de</strong>r Liste dieser Kapitalverbrechen mitschuldig gemacht und<br />

parasitär mitschuldig gezeigt, in<strong>de</strong>m sie noch gschwind ihre versenkte Tonne<br />

neben <strong>de</strong>n vierzigtausend <strong>de</strong>s großen Bru<strong>de</strong>rs unter <strong>de</strong>m Titel »Unsere und<br />

<strong>de</strong>utsche U—Booterfolge« ausschrie — vielleicht, wie es <strong>de</strong>m halbschlächtigen<br />

Sieger ziemte, zugleich auf <strong>de</strong>n Anteil von Ruhm und auf die Geringfügigkeit<br />

39


<strong>de</strong>r Untat verweisend. Kein Schuft, nur ein Schufterle, nehmt alles nur in allem.<br />

Frech bis zur Harmlosigkeit, immer wie<strong>de</strong>r das andre Antlitz, eh sie geschehn,<br />

das an<strong>de</strong>re nach <strong>de</strong>r vollbrachten Tat und bei<strong>de</strong>s zugleich — das war<br />

das österreichische.<br />

Und das muß man ja sagen: wenn je in <strong>de</strong>r Tragödie mißleiteter Völker<br />

ein weltgeschichtlicher Humor mitgespielt hat, so wur<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>m Anblick<br />

dieses in die Kriegsmaschine geratenen Charakterbreis bestritten, <strong>de</strong>r, angekettet<br />

an eine Kapazität <strong>de</strong>r Dressur die frem<strong>de</strong> Tonlage durchhalten mußte,<br />

in seiner angebornen Stimmung zwischen »Wer' mr scho machen« und »Kann<br />

man halt nix machen« an <strong>de</strong>r Seite eines machen<strong>de</strong>n und schaffen<strong>de</strong>n Ungeheuers<br />

kläglich verzappelt ist und wirklich eher <strong>de</strong>n feindlichen Angriffen in<br />

die Front als <strong>de</strong>n fortwähren<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>sstößen in die Weichteile gewachsen<br />

war. Shakespeares ungleiches Gespann eines Junker Tobias von Rülp und eines<br />

Junker Christoph von Bleichenwang ist wohl ein Sinnbild dieser Liaison<br />

von A<strong>de</strong>lsmächten, die zusammen diesen Trunkenheitsexzeß genannt Mitteleuropa<br />

ergaben 1 .<br />

»O Junker, du hast ein Fläschchen Sekt nötig! Hab' ich dich jemals<br />

schon so herunter gesehn?«<br />

»In eurem Leben nicht, Junker, glaub' ich, außer wenn mich <strong>de</strong>r<br />

Sekt heruntergebracht hat ... Aber ich bin ein großer Rindfleischesser,<br />

und ich glaube, das tut meinem Witz Scha<strong>de</strong>n ... Ich bin<br />

ein Kerl von <strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rlichsten Gemütsart in <strong>de</strong>r Welt; manchmal<br />

weiß ich mir gar keinen bessern Spaß als Maskera<strong>de</strong>n und Fastnachtspiele.«<br />

»Taugst du zu <strong>de</strong>rgleichen Fratzen, Junker? ... Weswegen verbergen<br />

sich diese Künste? Weswegen hängt ein Vorhang vor diesen<br />

Gaben? Bist du bange, sie möchten staubig wer<strong>de</strong>n? Warum gehst<br />

du nicht in einer Gaillar<strong>de</strong> zur Kirche, und kommst in einer Courante<br />

nach Hause? … «<br />

» ... Wollen wir nicht ein Gelag anstellen?«<br />

»Was sollen wir sonst tun? Sind wir nicht unter <strong>de</strong>m Steinbock geboren?«<br />

»Unter <strong>de</strong>m Steinbock? Das be<strong>de</strong>utet Stoßen und Schlagen.«<br />

»Nein, Freund, es be<strong>de</strong>utet Springen und Tanzen. Laß mich <strong>de</strong>ine<br />

Kapriolen sehn. Hopsa! Höher! Sa! sa! — Prächtig!«<br />

— —<br />

»Besteht unser Leben nicht aus <strong>de</strong>n vier Elementen?«<br />

»Ja wahrhaftig, so sagen sie; aber ich glaube eher, daß es aus Essen<br />

und Trinken besteht.«<br />

— —<br />

Tobias: » ... ich will dir eine Ausfor<strong>de</strong>rung schreiben, o<strong>de</strong>r ich will<br />

ihm <strong>de</strong>ine Entrüstung mündlich kund tun.« ...<br />

Christoph: »O, wenn ich das wüßte, so wollte ich ihn hun<strong>de</strong>mäßig<br />

prügeln.«<br />

Tobias: » ... Deine wohlerwognen Grün<strong>de</strong>, Herzensjunker?«<br />

Christoph: »Wohl erwogen sind meine Grün<strong>de</strong> eben nicht, aber sie<br />

sind doch gut genug … O, es wird prächtig sein!«<br />

Maria: »Ein königlicher Spaß, verlaßt euch drauf ... «<br />

— —<br />

1 Szenenfolge aus »Was Ihr wollt« von Shakespeare in <strong>de</strong>r Übersetzung von August Wilhelm<br />

Schlegel, Text auf http://www.athanor.<strong>de</strong>/dateien/Shakespeare-WasIhrWollt.pdf verfügbar<br />

40


Tobias: »O <strong>de</strong>r Schuft!«<br />

Christoph: »Schießt ihn tot! Schießt ihn tot!«<br />

Tobias: »Still, still! … Bis zu <strong>de</strong>n Pforten <strong>de</strong>r Hölle … !«<br />

Christoph: »Ich bin auch dabei.«<br />

— —<br />

Fabio: » ... Da hättet ihr euch herbeimachen sollen ... Dies wur<strong>de</strong><br />

von eurer Seite erwartet und dies wur<strong>de</strong> vereitelt. Ihr habt die<br />

doppelte Vergoldung dieser Gelegenheit von <strong>de</strong>r Zeit abwaschen<br />

lassen … «<br />

Christoph: »Solls auf irgen<strong>de</strong>ine Art sein, so muß es durch Tapferkeit<br />

geschehn; <strong>de</strong>nn Politik hasse ich … «<br />

Tobias: »Wohlan <strong>de</strong>nn, baun wir <strong>de</strong>in Glück auf <strong>de</strong>n Grund <strong>de</strong>r<br />

Tapferkeit. Fordre mir <strong>de</strong>n Burschen auf <strong>de</strong>n Degen heraus; verwun<strong>de</strong><br />

ihn an eilf Stellen … «<br />

Fabio: »Es ist kein andres Mittel übrig, Junker Christoph.«<br />

Christoph: »Will einer von euch eine Ausfor<strong>de</strong>rung zu ihm<br />

tragen ?«<br />

Tobias: »Geh, schreib mit einer martialischen Hand; sei verwegen<br />

und kurz ... und so viel Lügen als auf <strong>de</strong>m Papier Platz haben,<br />

schreib sie auf! Geh, mach dich dran! … «<br />

Tobias über Christoph: » ... Was <strong>de</strong>n Junker betrifft, wenn <strong>de</strong>r geöffnet<br />

wür<strong>de</strong>, und ihr fän<strong>de</strong>t so viel Blut in seiner Leber, als eine<br />

Mücke auf <strong>de</strong>m Schwanze davon tragen kann, so wollt' ich das übrige<br />

Gerippe aufzehren.«<br />

— —<br />

Fabio: »Hier ist wie<strong>de</strong>r etwas für einen Fastnachtsabend.«<br />

Christoph: »Da habt ihr die Ausfor<strong>de</strong>rung; lest sie; ich steh' dafür,<br />

es ist Salz und Pfeffer darin.«<br />

»lst sie so verwegen?«<br />

»Ei ja doch! ich stehe ihm dafür. Lest nur.« …<br />

Tobias: »Geh, Junker, laure ihm an <strong>de</strong>r Gartenpforte auf wie ein<br />

Häscher; sobald du ihn erblickst, zieh und fluche fürchterlich dabei:<br />

<strong>de</strong>nn es geschieht oft, daß ein entsetzlicher Fluch, in einem<br />

rechten Bramarbaston herausgewettert, einen mehr in <strong>de</strong>n Ruf<br />

<strong>de</strong>r Tapferkeit setzt, als eine wirkliche Probe davon jemals getan<br />

hätte. Fort!«<br />

Christoph: »Nun, wenns Fluchen gilt, so laßt mich nur machen.«<br />

Tobias über Christoph: » ... also wird dieser Brief wegen seiner<br />

außeror<strong>de</strong>ntlichen Abgeschmacktheit ihm keinen Schrecken erregen;<br />

er wird merken, daß er von einem Pinsel herrührt … «<br />

Derselbe: » ... und sein Grimm in diesem Augenblick ist so unversöhnlich,<br />

daß er keine andre Genugtuung kennt als To<strong>de</strong>sangst<br />

und Begräbnis. Drauf und dran! ist sein Wort; mir nichts, dir<br />

nichts!«<br />

Der Feind: » ... Ich bin kein Raufer. Ich habe wohl von einer Art<br />

Leute gehört, die mit Fleiß Hän<strong>de</strong>l mit an<strong>de</strong>rn anzetteln, um ihren<br />

Mut zu zeigen; vielleicht ist er einer von diesem Schlage.«<br />

»Nein, Herr; seine Entrüstung rührt von einer sehr wesentlichen<br />

Beleidigung her; also vorwärts, und tut ihm seinen Willen … «<br />

» ... Ich für mein Teil habe lieber mit <strong>de</strong>m Lehrstan<strong>de</strong> als <strong>de</strong>m<br />

Wehrstan<strong>de</strong> zu tun; ich frage nicht darnach, ob man mir viel Herz<br />

zutraut.«<br />

41


— —<br />

Christoph: »Hol's <strong>de</strong>r Kuckuck! Hätte ich gewußt, daß er herzhaft<br />

und ein so großer Fechter wäre, so hätte ihn <strong>de</strong>r Teufel holen mögen,<br />

eh' ich ihn herausgefor<strong>de</strong>rt hätte. Macht nur, daß er die Sache<br />

beruhn läßt, und ich will ihm meinen Hans, <strong>de</strong>n Apfelschimmel,<br />

geben.« Tobias: »Ich will ihm <strong>de</strong>n Vorschlag tun; bleibt hier<br />

stehn, und stellt euch nur herzhaft an ... er hat mir auf sein ritterliches<br />

Wort versprochen, er will euch kein Leid zufügen. Nun<br />

frisch daran!«<br />

Christoph: »Gott gebe, daß er sein Wort hält.«<br />

— —<br />

Tobias: » ... und wegen seiner Feigheit, fragt nur <strong>de</strong>n Fabio.«<br />

Fabio: »Eine Memme, eine fromme Memme, recht gewissenhaft in<br />

<strong>de</strong>r Feigheit.«<br />

Christoph: »Wetter! ich will ihm nach und ihn prügeln.«<br />

Tobias: »Tu's, puff ihn tüchtig ... «<br />

— —<br />

(Junker Christoph kommt mit einem blutigen Kopfe.)<br />

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, einen Feldscherer! Und<br />

schickt gleich einen zum Junker Tobias!«<br />

»Was gibts?«<br />

Christoph: »Er hat mir ein Loch in <strong>de</strong>n Kopf geschlagen, und Junker<br />

Tobias hat auch eine blutige 'Krone weg. Um Gottes Barmherzigkeit<br />

willen, helft! Ich wollte hun<strong>de</strong>rt Taler drum geben, daß ich<br />

zuhause wäre ... Wir glaubten, er wäre 'ne Memme, aber er ist <strong>de</strong>r<br />

eingefleischte Teufel selbst ... Ihr habt mir um nichts und wie<strong>de</strong>r<br />

nichts ein Loch in <strong>de</strong>n Kopf geschlagen, und was ich getan habe,<br />

dazu hat mich Junker Tobias angestiftet.«<br />

Der Feind: »Was wollt ihr mir? Ich tat euch nichts zu Leid. Ihr<br />

zogt ohn' Ursach gegen mich <strong>de</strong>n Degen. Ich gab euch gute Wort'<br />

und tat euch nichts.«<br />

»Wenn eine blutige Krone was lei<strong>de</strong>s ist, so habt ihr mir was zu<br />

Lei<strong>de</strong> getan. Ich <strong>de</strong>nke, es kommt nichts einer blutigen Krone bei.<br />

Da kommt Junker Tobias angehinkt, ihr sollt noch mehr zu hören<br />

kriegen. Wenn er nicht was im Kopfe gehabt hätte, so sollte er<br />

euch wohl auf 'ne an<strong>de</strong>re Manier haben tanzen lassen.«<br />

»Nun, Junker, wie stehts mit euch?«<br />

Tobias: »Es ist all eins. Er hat mich verwun<strong>de</strong>t und damit gut<br />

…« ...<br />

»Fort mit ihm! Wer hat sie so übel zugerichtet?«<br />

Christoph: »Ich will euch helfen, Junker Tobias, wir wollen uns zusammen<br />

verbin<strong>de</strong>n lassen.«<br />

Tobias: »Wollt ihr helfen? Ein Eselskopf, ein Hasenfuß und ein<br />

Schuft! ein le<strong>de</strong>rner Schuft! ein Pinsel!«<br />

»Bringt ihn zu Bett und sorgt für seine Wun<strong>de</strong>!« —<br />

Ist dieses nicht <strong>de</strong>r Treubund vom Ultimatum bis zum Ultimo? Und je<br />

bleicher Christophs Wange ward, umso lauter rülpste Tobias und das Verhältnis<br />

ward ausgebaut und vertieft. Durch alle Trübsal unseres Daseins hopsen<br />

müssend, von dieser unerbittlichen Melodie <strong>de</strong>r Treue gequält, spürten wir<br />

<strong>de</strong>n Druck einer führen<strong>de</strong>n Hand, die es allerdings, im Gegensatz zum Shakespeareschen<br />

Spaßmacher furchtbar ernst mit sich und uns meinte. Der ver-<br />

42


spätete Wa<strong>de</strong>nbiß, als zwei auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> lagen, war nur die natürliche Rettung<br />

aus einer falschen in eine schiefe Position.<br />

Was hatte sich ein Staat zugemutet, <strong>de</strong>ssen Entschluß zum Krieg, von<br />

jenem russischen Außenminister eine Keckheit genannt, doch nur die Vermessenheit<br />

anschaulich machen konnte, die sein Dasein selbst be<strong>de</strong>utet hatte!<br />

Man mag darüber verschie<strong>de</strong>ner Meinung sein, ob das Vaterland und selbst<br />

eines, das nicht gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Kotter seiner Nationen vorstellt, <strong>de</strong>r Güter höchstes<br />

ist; <strong>de</strong>r Übel größtes aber ist die Schuld am Weltkrieg, nebst <strong>de</strong>m Plan,<br />

die Mehrzahl seiner Nationen durch Maschinengewehre für die ihnen verhaßteste<br />

Sache zu begeistern. Die Hölle ward hell von <strong>de</strong>m Genieblitz <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e,<br />

für ein von <strong>de</strong>r Welt angezweifeltes Staatswesen, für die durch Großmachtwahn,<br />

falsche Politik und unfähige Verwaltung verschütteten menschlichen<br />

und landschaftlichen Werte eines Lan<strong>de</strong>s durch einen Weltkrieg Propaganda<br />

zu machen. Anstatt daß die Leute, die hier <strong>de</strong>n Ton <strong>de</strong>r Kultur angaben, einmal<br />

aus <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß sie <strong>de</strong>r Auswurf <strong>de</strong>r Menschheit seien, <strong>de</strong>n Mut<br />

zu einem Verzicht geschöpft hätten, entschlossen sie sich lieber, da es so<br />

nicht mehr weiter ging, an<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>n Krieg zu treiben, zu <strong>de</strong>m sie ja mit <strong>de</strong>n<br />

Machtmitteln <strong>de</strong>r Lüge hinlänglich gerüstet waren. Unter <strong>de</strong>r Führung jener<br />

unfaßbarsten Machthaber, <strong>de</strong>ren einen Herr Maximilian Har<strong>de</strong>n, ehe er sich<br />

zu einer Gesinnung gegen <strong>de</strong>n Krieg entschloß, <strong>de</strong>n »Generalstabschef <strong>de</strong>s<br />

Geistes« genannt hat, damals, als die Schlacht bei Lemberg im Hintergrund<br />

<strong>de</strong>s fünfzigjährigen Jubiläums <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse gefeiert wur<strong>de</strong>. Was<br />

wir seit damals im Maultrommelfeuer von vier Jahren erlei<strong>de</strong>n mußten, das<br />

und nur das sollte auf <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nskonferenz uns die Barmherzigkeit <strong>de</strong>r<br />

Fein<strong>de</strong> gewinnen und was noch heißer ersehnt wer<strong>de</strong>n muß, die Unerbittlichkeit<br />

gegen eine Autokratie <strong>de</strong>s Worts, die, solange sie lebt, uns nie <strong>de</strong>s Verlustes<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn wert sein lassen wird. Sollten wirklich Königreiche zerstoben<br />

sein und über <strong>de</strong>m größten Umsatz <strong>de</strong>s blutigen Schicksals, <strong>de</strong>n je die Welt<br />

erlebt hat, ein Schlachtbankier unerschüttert in seiner erhabenen Nie<strong>de</strong>rtracht<br />

thronen, bleiben<strong>de</strong>s Hin<strong>de</strong>rnis aller Erhöhung und Befreiung, wirken<strong>de</strong>r<br />

Vorschub allem Faulen in Welt und Staat? Als <strong>de</strong>r schmutzigste Triumph<br />

<strong>de</strong>r Materie über <strong>de</strong>n Geist: <strong>de</strong>nn wahrlich, was sind die Vernichter sichtbaren<br />

Menschheitsgutes, <strong>de</strong>ren Unumschränktheit doch an <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen<br />

Quantität sich ersättigen mußte, gegen eine Pest, die fortwirkt in die Generationen!<br />

Es wäre wenig an <strong>de</strong>r Welt geän<strong>de</strong>rt, wenn die Dämonen geblieben<br />

und nur die Prokura gewechselt wäre; sie wür<strong>de</strong>n die Tyrannei <strong>de</strong>r Formen,<br />

durch die unser Inhalt so ins Ver<strong>de</strong>rben kam und <strong>de</strong>ren Zertrümmerung all<br />

unsern Kriegsgewinn be<strong>de</strong>utet, immer aus sich selbst erzeugen, und die Kolumnen,<br />

die ein Benedikt aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> stampft, sind irgen<strong>de</strong>inmal Formationen,<br />

um für die schwärzeste Hausmacht die Atempause <strong>de</strong>r Welt zu kürzen.<br />

Man müßte an <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Geistes verzweifeln, wenn er wohl stark genug<br />

war, die Materie <strong>de</strong>r Waffe zu bezwingen, aber an <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s schlechten Worts<br />

versagte und was er über das Blut vermocht hat, gegen die Druckerschwärze<br />

nicht behaupten könnte. Ach, wenn <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse und allem Gelichter<br />

unserer Nacht nichts an<strong>de</strong>res wi<strong>de</strong>rfährt, als daß es das Opfer <strong>de</strong>s Putsches<br />

von Feuilletonisten wird, die selbst diesen Beruf verfehlt haben und auf<br />

<strong>de</strong>m Umweg über die Rote Gar<strong>de</strong> in eine Redaktion kommen möchten; wenn<br />

Zeitungsleute die Märtyrer eines Vorstoßes wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r weniger Überzeugungskraft<br />

hat als ein landläufiger Grubenhund; wenn es <strong>de</strong>n Zerstörern aller<br />

Frie<strong>de</strong>nswelten gelingt, sich in <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>r republikanischen Ordnung zu<br />

flüchten, anstatt daß es <strong>de</strong>m neuen Weltwillen gelänge, die Bestie mit einem<br />

Axthieb nie<strong>de</strong>rzustrecken — dann wäre min<strong>de</strong>stens <strong>de</strong>r Beweis geliefert, daß<br />

43


er unserem Umschwung mißtraut, daß er uns nicht für reif hält, ohne Aufsicht<br />

unserer Vampyre fortzuleben. Es scheint ja alles dafür zu sprechen, daß wir<br />

<strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>r Trägheit, <strong>de</strong>m einzigen, welches keine österreichische Regierung,<br />

je gebrochen hat, noch über das Grab <strong>de</strong>r Monarchie Treue bewahren<br />

und, weil es sehr schön war und uns sehr gefreut hat, <strong>de</strong>n ganzen Geistesdreck<br />

und Gemütströ<strong>de</strong>l ihres Hausrats übernehmen wollen. Es scheint, daß<br />

die Revolutionierung <strong>de</strong>r Herzen, die hier allzukühn mit einer Entfernung <strong>de</strong>r<br />

Hoflieferantenwappen eingesetzt hat, es bei dieser bewen<strong>de</strong>n lassen will und<br />

daß wir dazu verdammt sind, das österreichische Antlitz, welches so lange das<br />

Gegenteil <strong>de</strong>r Welt war, auch fernerhin und auf <strong>de</strong>r sich selbst überlassenen<br />

Schulter zu tragen. Der Portier <strong>de</strong>s Auswärtigen Amtes, heißt es bereits, sei<br />

mit <strong>de</strong>r Republik nicht einverstan<strong>de</strong>n, und das will, zumal wenn sich die <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>rn Staatsämter anschließen, mehr be<strong>de</strong>uten als es auf <strong>de</strong>n ersten Blick<br />

<strong>de</strong>n Anschein hat. Man kann das nicht genug überschätzen; die Welt hat Krieg<br />

führen müssen, weil sie unsere lokalen Verhältnisse zu wenig gekannt hat.<br />

Aber die Hausmeister allein könnten's nicht richten, wenn sie nicht <strong>de</strong>r Unterstützung<br />

<strong>de</strong>r Parteien gewiß wären und wenn sich nicht diese ganze unausrottbare<br />

Art von Menschen, die einan<strong>de</strong>r alle hinter sich haben, schon verständigt<br />

und in einer passiven Resistenz, die viel mehr als alle Aktivität an<strong>de</strong>rer<br />

Volkstemperamente Entwicklungen beeinflußt, sich zu Gruppenbildungen<br />

und Verkehrshin<strong>de</strong>rnissen gefun<strong>de</strong>n hätte. Die falsche Besorgnis <strong>de</strong>r einen,<br />

daß hier republikanische Zustän<strong>de</strong> platzgreifen, und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn, daß hier<br />

monarchistische Überraschungen eintreten könnten, beruht auf einer Überschätzung<br />

<strong>de</strong>r Wiener Möglichkeiten, nein, es bleibt alles beim Neuen, nur<br />

daß ein konstanter Wi<strong>de</strong>rstand aus <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rungen, in <strong>de</strong>nen die Hof— und<br />

Personalnachrichten um ihr Dasein ringen, auf Schritt und Tritt die Anwendung<br />

neuer Normen verhin<strong>de</strong>rn wird. Gewiß, sie schreien nach Habsburg wie<br />

<strong>de</strong>r Hirsch in <strong>de</strong>r Jagdausstellung nach <strong>de</strong>r Quelle, und sie wür<strong>de</strong>n das Wie<strong>de</strong>rauftreten<br />

Karls so begeistert wie nur eines Marischka begrüßen, aber aus<br />

keinem an<strong>de</strong>rn Grund, als weil es ein Wie<strong>de</strong>rauftreten ist. Nicht wer beim<br />

Bühnentürl herauskommt, son<strong>de</strong>rn daß einer herauskommt, erzeugt die Wärme,<br />

und die Beliebtheit kommt hier ebenso von <strong>de</strong>r Popularität wie die Armut<br />

von <strong>de</strong>r Powerteh. Sie <strong>de</strong>nken sich ja nichts dabei, höchstens daß nichts dabei<br />

ist und daß man dabei sein kann, was eben in <strong>de</strong>r Republik, wo je<strong>de</strong>r dabei<br />

sein kann, viel schwieriger ist. Weil dieselben Leute, die eine Zeitlang »p. u.«<br />

waren, es nicht mehr erwarten können, wie<strong>de</strong>r u. a. registriert zu wer<strong>de</strong>n und<br />

weil die Klio hier in <strong>de</strong>r Kärntnerstraße spazieren geht, kann es passieren,<br />

daß zweitausend Republikaner in einem Konzertsaal einer Brettlsängerin zujauchzen,<br />

die durch die Erinnerung an <strong>de</strong>n guaten alten Herrn in Schönbrunn,<br />

<strong>de</strong>ssen Auge auf seinen Wiener E<strong>de</strong>lknaben wohlgefällig ruht, justament <strong>de</strong>r<br />

Weltgeschichte beweisen wollte, daß mir mir san. Dabei übersehe man ja<br />

nicht die tiefe Unechtheit dieser Nostalgie, die, ohne Verbindung mit <strong>de</strong>n Kulturreizen<br />

einer bessern Wiener Zeit, sich bloß von einem Farbendruck <strong>de</strong>r Gemütlichkeit<br />

nicht trennen will. Es ist beiweitem nicht jene Nobelfäulnis, die<br />

bis um 1890 <strong>de</strong>r lokalen Kultur einen gewissen Weltwert verliehen hat und<br />

<strong>de</strong>ren letzte Spuren im blutigen Chaos genau so vertilgt wur<strong>de</strong>n wie die nord<strong>de</strong>utsche<br />

Spezialität <strong>de</strong>r Ordnung. Es ist vielmehr eine Geschmackigkeit, die<br />

durch die Barbarei <strong>de</strong>s Kriegs nur gewonnen hat: das neuwienerisch—jüdische<br />

Element, ein eben angelangter und sofort rabiater Provinzcharakter, jenes<br />

fast naive Wi<strong>de</strong>rspiel von Scham und Schönheit, jene picksüße Lebensfrische,<br />

die nicht überwintern kann ohne die Aussicht auf ein fettes Ischl mit seiner<br />

vollkommenen Pervertierung <strong>de</strong>r Kaiserpracht zu einer Orgie <strong>de</strong>r unwahr-<br />

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scheinlichsten Mißformen, seiner phantastischen Nachbarschaft von Kabinettskanzlei<br />

und Theatercafé und <strong>de</strong>n betäuben<strong>de</strong>n Tonfällen einer Esplana<strong>de</strong>,<br />

die als ein sommerlicher Franz—Josefs—Kai die Huldigung komplett<br />

macht. Es ist jenes Österreich, das sich wirklich mit Recht nach sich zurücksehnt,<br />

weil es, wenngleich abgeschlossen von <strong>de</strong>r Welt, nie mehr so unter sich<br />

sein wird. Es ist das Österreich <strong>de</strong>r kaiserlichen Räte. Sie waren nur das Spalier,<br />

durch das am 18. August die Majestät fuhr; aber die Staatsweisheit kam<br />

ans Ziel, als hätte sie wirklich von all <strong>de</strong>m Rat mitgenommen. Dieser echt österreichische<br />

Einfall war vielleicht mit ein Grund allen Mißverständnisses<br />

über uns: daß die letzte Menschenkategorie anstatt eines gelben Flecks einen<br />

Titel bekam, welcher <strong>de</strong>r schlecht informierten Umwelt nach <strong>de</strong>r höchsten<br />

Wür<strong>de</strong> klingen mußte, jenen maßlos erstaunten Europäern, die solche Exemplare<br />

von Conseiller imperial die Sauce mit <strong>de</strong>m Messer essen sahen und sich<br />

nun vom Niveau <strong>de</strong>r niedriger gestellten Bevölkerung eine Vorstellung, machten.<br />

Und wie soll die durch solche Vertreter <strong>de</strong>r Monarchie verwirkte Achtung<br />

einer Republik zurückgewonnen wer<strong>de</strong>n, die sich durch die Pflicht politischer<br />

Toleranz von <strong>de</strong>r tiefern Pflicht entbun<strong>de</strong>n glaubt, <strong>de</strong>n Parasiten <strong>de</strong>r alten<br />

Macht <strong>de</strong>n Übertritt zur neuen zu verwehren, und die es erträgt, daß <strong>de</strong>m<br />

Wechsel <strong>de</strong>r Systeme das feierliche Sinnbild eines im gekauften Hofwagen<br />

sich <strong>de</strong>hnen<strong>de</strong>n Eskompteimperators entsteht. Die Möglichkeit solch apokalyptischer<br />

Vision und die Sehnsucht <strong>de</strong>rselben Grabenpassanten, die <strong>de</strong>n<br />

Scheuel nicht mit Pflastersteinen erlegen, nach <strong>de</strong>m frühern Insassen <strong>de</strong>r<br />

Equipage, sie gehören in ein und dasselbe Bild einer spezifischen Kultur, die<br />

auf <strong>de</strong>m Erdkreis ihresgleichen nicht hat. Denn ihre wesentliche Einheit ist<br />

<strong>de</strong>r Schlamm, <strong>de</strong>r die Verschie<strong>de</strong>nheit aller möglichen Empfindungswelten<br />

un<strong>de</strong>utlich macht und schon einen Tiefseeforscher braucht, um die Geheimnisse<br />

einer am Tag ihrer Gründung versunkenen Stadt zu offenbaren. Für<br />

einen Marsbewohner wäre es je<strong>de</strong>nfalls unfaßbar, daß hier eine Republik etabliert<br />

wur<strong>de</strong> und die ganze Mischung von Getto und Bierstüberl, nicht nur als<br />

Naturfarbe, nein auch als <strong>de</strong>r unmittelbare politische Ausdruck unserer Neigungen<br />

uns erhalten blieb; daß jene un<strong>de</strong>finierbare Spezies, die sich<br />

»<strong>de</strong>utschnational« nennt und die wohl unter allen lebendigen Formen die rätselhafteste<br />

ist, nicht nur nicht am ersten Tag weggeblasen war, son<strong>de</strong>rn obenauf<br />

ist, nach<strong>de</strong>m sie bis zum letzten Generalstabsbericht <strong>de</strong>n ganzen Bieratem<br />

ihrer Lei<strong>de</strong>nschaft an einen Siegfrie<strong>de</strong>n gewen<strong>de</strong>t hat. Jene Sorte, neben <strong>de</strong>r<br />

das feindliche Ausland, wenn es sich noch einen Funken Gerechtigkeitsgefühl<br />

bewahrt hat, <strong>de</strong>n Preußen als einen Kulturträger hinnehmen müßte und für<br />

die mir auf <strong>de</strong>r Suche nach einem Personennamen in meinem tragischen Karneval<br />

<strong>de</strong>r Zufall einer Lokalnotiz ein Zauberwort, das alles Wirrsal bändigt, in<br />

<strong>de</strong>n Schoß geworfen hat: Kasma<strong>de</strong>r! In welchem Namen könnte sich diese<br />

Partie von Deutsch—Österreich, und eigentlich das ganze, glücklicher darstellen<br />

? Man spürt sofort, daß alles Eau <strong>de</strong> Lubin, über das die Entente verfügt<br />

und das sie allein schon befähigt hat, <strong>de</strong>m all<strong>de</strong>utschen Gedanken die Spitze<br />

zu bieten, nicht ausreichen wür<strong>de</strong>, um Kasma<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Welt unbe<strong>de</strong>nklich zu<br />

machen, und es wäre wahrlich nicht unbillig, wenn sie sich zur dauern<strong>de</strong>n<br />

Einrichtung eines Konzentrationslagers entschließen wollte, worin das Wesen,<br />

von Nahrungssorgen natürlich befreit, seine Tage hinzubringen hätte, mit <strong>de</strong>r<br />

Erlaubnis, über die Lage <strong>de</strong>r Deutschen in Österreich weiterhin nachzu<strong>de</strong>nken,<br />

auch seinen sonstigen Belangen hingegeben, aber <strong>de</strong>s Anspruchs verlustig,<br />

die bare Unmöglichkeit, an die Welt Kultur abzugeben, und die Unfähigkeit,<br />

sie von ihr zu nehmen, in gefährlichen Experimenten auszuleben. Das<br />

Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Befreiung von <strong>de</strong>r alten Macht, <strong>de</strong>ssen wir uns bei je<strong>de</strong>m neuen<br />

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Erwachen versichern müssen, berührt umso wun<strong>de</strong>rbarer, als uns ihre Stützen<br />

vollzählig erhalten geblieben sind, so daß wir eigentlich nur <strong>de</strong>m Divertissement<br />

von Verwandlungskünstlern beiwohnen, die uns noch dazu die Metho<strong>de</strong><br />

verraten, in<strong>de</strong>m sie uns zuzwinkern, sie wären eigentlich die Alten. Die Komik<br />

<strong>de</strong>r Shakespeareschen Gelegenheitskomödianten, die <strong>de</strong>m Herzog und<br />

seiner Familie eine »höchst klägliche Komödie« vorführen, ist erst in <strong>de</strong>r Zumutung,<br />

sich die Herren Wolf, Hummer und Teufel als Republikaner vorzustellen,<br />

übertrieben.<br />

»Ist unsre ganze Kompagnie beisammen?« ... 1<br />

» ... Wenn ich's mache, laßt die Zuhörer nach ihren Augen sehn!<br />

Ich will Sturm erregen, ich will einigermaßen lamentieren … eigentlich<br />

habe ich doch das beste Genie zu einem Tyrannen; ich<br />

könnte einen Herakles kostbarlich spielen, o<strong>de</strong>r eine Rolle, wo<br />

man alles kurz und klein schlagen muß.« ...<br />

»Habt ihr <strong>de</strong>s Löwen Rolle aufgeschrieben? Bitt' euch, wenn ihr<br />

sie habt, so gebt sie mir; <strong>de</strong>nn ich habe einen schwachen Kopf<br />

zum Lernen.« ...<br />

»Laßt mich <strong>de</strong>n Löwen auch spielen! Ich will brüllen, daß es einem<br />

Menschen im Leibe wohl tun soll, mich zu hören. Ich will<br />

brüllen, daß <strong>de</strong>r Herzog sagen soll: Noch 'mal brüllen! Noch 'mal<br />

brüllen!«<br />

»Wenn ihr es gar zu fürchterlich machtet, so wür<strong>de</strong>t ihr die Herzogin<br />

und die Damen erschrecken, daß sie schrien, und das brächte<br />

euch alle an <strong>de</strong>n Galgen.«<br />

»Ja, das brächte uns an <strong>de</strong>n Galgen, wie wir da sind.«<br />

»Zugegeben, Freun<strong>de</strong>! wenn ihr die Damen erst so erschreckt,<br />

daß sie uni ihre fünf Sinne kommen, so wer<strong>de</strong>n sie unvernünftig<br />

genug sein, uns aufzuhängen. Aber ich will meine Stimme forcieren,<br />

ich will euch so sanft brüllen wie ein saugen<strong>de</strong>s Täubchen: —<br />

ich will euch brüllen, als wär' es 'ne Nachtigall.«<br />

— —<br />

»Es kommen Dinge vor in dieser Komödie von Pyramus und Thisbe,<br />

die nimmermehr gefallen wer<strong>de</strong>n. Erstens : Pyramus muß ein<br />

Schwert ziehen, um sich selbst umzubringen, und das können die<br />

Damen nicht vertragen … «<br />

»Ich <strong>de</strong>nke, wir müssen das Totmachen auslassen, bis alles vorüber<br />

ist.«<br />

»Nicht ein Tüttelchen; ich habe einen Einfall, <strong>de</strong>r alles gut macht.<br />

Schreibt mir einen Prolog, und laßt <strong>de</strong>n Prolog verblümt zu verstehn<br />

geben, daß wir mit unsern Schwertern keinen Scha<strong>de</strong>n tun<br />

wollen; und daß Pyramus nicht wirklich tot gemacht wird; und zu<br />

mehr besserer Sicherheit sagt ihnen, daß ich Pyramus nicht Pyramus<br />

bin, son<strong>de</strong>rn Zettel <strong>de</strong>r Weber. Das wird ihnen schon die<br />

Furcht benehmen.« ...<br />

»Wer<strong>de</strong>n die Damen nicht auch vor <strong>de</strong>m Löwen erschrecken?«<br />

»Ich fürcht' es, dafür steh' ich euch.«<br />

»Meisters, ihr solltet dies bei euch selbst überlegen. Einen Löwen<br />

— Gott behüt' uns! — unter Damen zu bringen, ist eine greuliche<br />

1 Text auf http://www.william-shakespeare.<strong>de</strong>/ein_sommernachtstraum/sommer.htm o<strong>de</strong>r<br />

http://www.zeno.org/Literatur/M/Shakespeare,<br />

+William/Komödien/Ein+Sommernachtstraum .<br />

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Geschichte—; es gibt kein grausameres Wildpret als so'n Löwe,<br />

wenn er lebendig ist; und wir sollten uns vorsehn.«<br />

»Deshalb muß ein an<strong>de</strong>rer Prologus sagen, daß es kein Löwe ist.«<br />

»Ja, ihr müßt seinen Namen nennen, und sein Gesicht muß durch<br />

<strong>de</strong>s Löwen Hals gesehen wer<strong>de</strong>n; und er selbst muß' durchsprechen,<br />

und sich so, o<strong>de</strong>r ungefähr so applizieren: Gnädige Frauen,<br />

o<strong>de</strong>r schöne gnädige Frauen, ich wollte wünschen, o<strong>de</strong>r ich wollte<br />

ersuchen, o<strong>de</strong>r ich wollte gebeten haben, fürchten Sie nichts, zittern<br />

Sie nicht so; mein Leben für das Ihrige! Wenn Sie dächten,<br />

ich käme hieher als' Löwe, so dauerte mich nur meine Haut. Nein,<br />

ich bin nichts <strong>de</strong>rgleichen; ich bin ein Mensch wie andre auch: —<br />

und dann laßt ihn nur seinen Namen nennen, und ihnen rund heraus<br />

sagen, daß er Schnock <strong>de</strong>r Schreiner ist.« —<br />

Der Hof: »Gut gebrüllt, Löwe!« —<br />

Doch hätte wohl keine Phantasie, die je <strong>de</strong>m Humor menschlicher Maskera<strong>de</strong>n<br />

nachging, an die Wirkung <strong>de</strong>r Jammergestalten herangereicht, die<br />

die Rollen unserer Revolution verteilen und <strong>de</strong>nen es zwar zeitgemäß erscheint,<br />

in die Verkleidung zu schliefen, aber auch ratsam, sie nicht ganz auszufüllen.<br />

Nur daß unser Galeriepublikum dickfelliger ist als selbst ein Löwe<br />

und die Produktion sich gefallen läßt, und wenn ihm rund heraus gesagt wird,<br />

daß es <strong>de</strong>r Teufel ist, nicht im Gefühl <strong>de</strong>r Beruhigung in helles Gelächter ausbricht.<br />

Und wäre <strong>de</strong>nn sonst auch das Wie<strong>de</strong>rauftreten dieses Czernin auf einer<br />

Szene <strong>de</strong>nkbar, wo sein erstes Engagement mit einem Theaterskandal geen<strong>de</strong>t<br />

hatte, <strong>de</strong>m gewiß nur die Not an faulen Äpfeln <strong>de</strong>n sichtbaren Ausdruck<br />

erspart hat? Eine politische Karriere jedoch, die sich nach Abschluß einer politischen<br />

Karriere gera<strong>de</strong>zu auf die Erfahrung grün<strong>de</strong>n will, daß in Wien alles<br />

möglich ist und nichts unmöglich macht, dürfte selbst in Wien eine Kuriosität<br />

sein und eben darum auf <strong>de</strong>n Zuspruch <strong>de</strong>s hiesigen Bürgertums rechnen können.<br />

O<strong>de</strong>r wie <strong>de</strong>r gräßliche Vorbeter unserer Teufelsdienste es ausdrückt:<br />

»Wenn Graf Czernin das Wort ergreift, horcht die europäische Öffentlichkeit<br />

auf.« Die europäische Öffentlichkeit, das ist jene von Revolutionsstürmen unversehrte<br />

Gesellschaft, die im Saal <strong>de</strong>s Gewerbevereins Platz hat, die irgen<strong>de</strong>twas<br />

»vertritt«, sei es die Industrie, die Politik o<strong>de</strong>r die Wissenschaft, und<br />

<strong>de</strong>ren Zwielicht auch ohne Übertretung <strong>de</strong>r Beleuchtungsvorschriften das Bemerktwer<strong>de</strong>n<br />

ermöglicht. Kurzum, »eine gleichsam politisch und geistig geschlossene<br />

Gesellschaft, ein Auditorium von besonnenen und ernsten Menschen,<br />

<strong>de</strong>nen es ein Bedürfnis ist, mitten in <strong>de</strong>r überreizten und überlauten<br />

Wirrnis dieser Tage, einen Rückblick über Vergangenes zu hören«. Redner<br />

befriedigt dieses Bedürfnis restlos, wobei sich »an markanten Stellen die<br />

Hand zur Faust ballt«, nämlich die Hand <strong>de</strong>s Redners. »Aus <strong>de</strong>m herzlichen<br />

Beifall, <strong>de</strong>r ihn begrüßt, sind die lebhaften Sympathien herauszuhören.« Die<br />

Sympathien schlechtweg, die Sympathien in ihrer Reinkultur, da sie aus solchen<br />

Herzen stammen. »Wann immer er das Wort ergreift und worüber immer<br />

er spricht« ob über die Notwendigkeit eines Völkerbunds o<strong>de</strong>r über die<br />

Unzerreißbarkeit <strong>de</strong>r Nibelungentreue, über Abrüsten o<strong>de</strong>r Durchhalten, über<br />

<strong>de</strong>n ewigen Frie<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Dach o<strong>de</strong>r ein belgisches Pfand in <strong>de</strong>r Faust <strong>de</strong>s<br />

Redners, über die Getrei<strong>de</strong>schätze in <strong>de</strong>r Ukraine o<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n elen<strong>de</strong>n, erbärmlichen<br />

Masaryk — »immer hat <strong>de</strong>r Zuhöer das Gefühl: hier spricht eine<br />

starke Persönlichkeit«, eine, <strong>de</strong>ren Engagement bei <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse<br />

nur eine Frage <strong>de</strong>r großen Zeit ist und nach Aberkennung <strong>de</strong>s innern A<strong>de</strong>ls<br />

47


perfekt sein dürfte. Er spricht »in zwangloser Haltung, die eine Hand in <strong>de</strong>r<br />

Hosentasche«, wo sich wahrscheinlich <strong>de</strong>rzeit das Faustpfand befin<strong>de</strong>t, alles<br />

blickt gespannt in die Richtung, »<strong>de</strong>n vorgestreckten Köpfen, <strong>de</strong>n aufhorchen<strong>de</strong>n<br />

Mienen merkt man es an, daß alle begierig sind, einen Kronzeugen aus<br />

<strong>de</strong>m großen Prozeß <strong>de</strong>s Weltkriegs zu hören«, <strong>de</strong>r, wie das bei Monstreprozessen<br />

zu geschehen pflegt, sich plötzlich in einen Angeklagten verwan<strong>de</strong>ln<br />

könnte. Man kann alle diese Vorgänge zum Glück genau sehen, wiewohl <strong>de</strong>r<br />

Saal <strong>de</strong>s Gewerbevereins »nur schwach beleuchtet ist«. Aber <strong>de</strong>n Redner ficht<br />

das nicht an, er läßt auch »seine Gedanken klar und <strong>de</strong>utlich erkennen«, wozu<br />

ihm allerdings seine Sprache hilft, die er nämlich meisterhaft beherrscht und<br />

die ihm kein Mittel ist, jene zu verbergen. Was in meinen Augen ein Nachteil<br />

ist, <strong>de</strong>n er vor <strong>de</strong>n Diplomaten <strong>de</strong>r alten Schule entschie<strong>de</strong>n voraus hat. Aber<br />

was will man machen, <strong>de</strong>r Kontakt ist sofort da, die Zuhörer sind im Banne,<br />

und »als Graf Czernin von <strong>de</strong>m Blutsbündnis mit Deutschland spricht, wird<br />

zum erstenmal laute beifällige Zustimmung vernehmlich«, wobei es unklar<br />

bleibt, ob zum Bündnis, das Blut gekostet hat, o<strong>de</strong>r zum Lob eines solchen<br />

Bündnisses o<strong>de</strong>r zum Bedauern über ein solches Bündnis. Immerhin, er hat<br />

heute »zum erstenmal als einfacher Privatmann, als Bürger <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschösterreichischen<br />

Staates das Wort ergriffen« — die Zuständigkeit dürfte geklärt<br />

sein, da kein Hund in Böhmen vom Czernin einen Bissen aus <strong>de</strong>r Ukraine<br />

nimmt — und die Zuhörer »verlassen <strong>de</strong>n Saal mit einem starken Eindruck<br />

und mit <strong>de</strong>m Wunsche, <strong>de</strong>n Grafen Czernin noch oft zu hören«. Gesagt, getan;<br />

schon reift <strong>de</strong>r Wunsch zur Erfüllung, da <strong>de</strong>r schlichte Republikaner von einer<br />

dankbaren Bevölkerung, <strong>de</strong>r er <strong>de</strong>n Brotfrie<strong>de</strong>n gebracht hat, in die Nationalversammlung<br />

gewählt wer<strong>de</strong>n dürfte. Und was hat er ihr, was hatte er jenem<br />

Auditorium, das in <strong>de</strong>r theaterlosen Zeit <strong>de</strong>m Gewerbevereinssaal zuströmte,<br />

zu sagen? Was könnte uns ein Mann zu sagen haben, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Weltkrieg nicht<br />

begonnen, nein, verlängert hat? Was gibt ihm das Recht, die europäische Öffentlichkeit,<br />

die sich vor <strong>de</strong>n Alibijägern <strong>de</strong>r Kriegsschuld die Ohren zuhält,<br />

aufhorchen zu machen, anstatt sich vor ihr in jenes Mauseloch zu verkriechen,<br />

das eine starke Persönlichkeit unstreitig noch besser zur Geltung bringen<br />

wür<strong>de</strong> als ein nur schwach beleuchteter Saal? Tritt er uns als ein Reuiger<br />

an, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n mil<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Umstand rechnen könnte, daß er nicht gleich jenem<br />

Berchtold durch eine Flucht in die Schweiz, son<strong>de</strong>rn an Ort und Stelle<br />

seine Schuld bekennt? Will er, in<strong>de</strong>m er sich als ein Opfer <strong>de</strong>r allgemeinen<br />

Dummheit vorstellt, die Schuld auf jene schieben, die ihn in solcher Zeit zum<br />

Staatsmann gemacht haben? Das könnte, wenn er zur Stelle wäre, jener<br />

Schwachkopf, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Krieg eröffnet hat und <strong>de</strong>r am Tag <strong>de</strong>s Ultimatums mit<br />

leuchten<strong>de</strong>n Augen zu einem an<strong>de</strong>rn Wür<strong>de</strong>nträger sagte: »Jetzt hat die Armee<br />

ihren Willen!« Das könnte <strong>de</strong>r einfältige Berchtold; <strong>de</strong>r vielfältige Czernin<br />

kann das nicht. Der kann an<strong>de</strong>rs. Wie kann er? Was kann er einer gleichsam<br />

geistig und politisch geschlossenen Gesellschaft, einem Auditorium von<br />

besonnenen und ernsten Menschen sagen, das diesen das Auftreten eines<br />

Mannes erträglich machte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Krieg verlängert hat? Er habe es getan,<br />

um gleichsam im Geiste Berchtolds <strong>de</strong>r Armee ihren Willen zu lassen? Nein,<br />

im Gegenteil! Er hat <strong>de</strong>n Krieg nur verlängert, weil das so sein mußte und<br />

weil er das eben gewußt hat. Aber es ist so originell, so verblüffend, so nie<strong>de</strong>rwerfend,<br />

daß man es nur durch das Medium <strong>de</strong>s Leitartiklers auf sich wirken<br />

lassen kann, also durch eine Vermittlung, <strong>de</strong>ren man sich sonst nicht<br />

ohne Abscheu bedient. Da gelingt es <strong>de</strong>nn, über <strong>de</strong>n Grafen Czernin, also<br />

über einen von <strong>de</strong>n Staatsmännern, die in leiten<strong>de</strong>r Stellung »an <strong>de</strong>n blutwarmen<br />

Ereignissen mitwirkten« — was schon eine kräftige Charakterisierung ist<br />

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—, unter <strong>de</strong>m packen<strong>de</strong>n Titel »Die Kämpfe <strong>de</strong>s Grafen Czernin mit <strong>de</strong>m General<br />

Lu<strong>de</strong>ndorff über <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n« das Folgen<strong>de</strong> zu erfahren: »Er hat gewußt,<br />

daß je<strong>de</strong>r Sieg eine Tragödie sei, weil er <strong>de</strong>n Krieg verlängere, ohne<br />

das Ergebnis än<strong>de</strong>rn zu können.« Er, nämlich <strong>de</strong>r Sieg, nicht <strong>de</strong>r Czernin hat<br />

<strong>de</strong>n Krieg verlängert! Er, nämlich <strong>de</strong>r Czernin, hat es gewußt! Er, nicht ich.<br />

Wenn ich nicht sicher wäre, daß diese Anerkennung an dieser Stelle nicht mir<br />

gelten kann, weil solche Umstürze im Kosmos eben un<strong>de</strong>nkbar sind, ich hätte<br />

es einen Augenblick lang geglaubt. Daß es <strong>de</strong>r Nachfolger Berchtolds sei, <strong>de</strong>r<br />

solche Erkenntnis, <strong>de</strong>r so wenig Neigung hatte, <strong>de</strong>r Armee ihren Willen zu lassen,<br />

jener Mann, <strong>de</strong>r's doch so ausgiebig getan hat, <strong>de</strong>r Graf Czernin, merkte<br />

ich, als ich mit wachsen<strong>de</strong>m Staunen über die unbegrenzten Möglichkeiten<br />

<strong>de</strong>r Natur weiterlas. Er war also kaum drei Monate im Amt, da erkannte er<br />

schon die Gefahren für die Mittelmächte, sah die schwere Nie<strong>de</strong>rlage voraus,<br />

die Erschütterung <strong>de</strong>r Habsburger und <strong>de</strong>r Hohenzollern, die Revolution, und<br />

alles, was er fürchtete, sei »buchstäblich eingetroffen«. Er hat gewußt, daß<br />

Österreich nach je<strong>de</strong>r Rettung durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Generalstab »erst recht<br />

verloren sei«. »Graf Czernin hatte <strong>de</strong>n Kummer«, <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n anzustreben<br />

und ihn nicht erreichen zu können, weil <strong>de</strong>r Lu<strong>de</strong>ndorff ihn nicht wollte. Er<br />

hatte »die Fähigkeit, die Zeit, worin er lebt, zu erkennen«. Er warnte vor optimistischen<br />

Täuschungen; er »hörte ein dumpfes Grollen«, es rieselte im Gemäuer,<br />

aber nicht etwa in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Entente, son<strong>de</strong>rn im unsrigen; die Siege<br />

<strong>de</strong>r Feldherren waren »die Irrlichter <strong>de</strong>s Ruhms, die in <strong>de</strong>n Sumpf lockten«,<br />

also ganz nach jenem Beispiel, wo sie immer geschrien haben nach <strong>de</strong>r amerikanischen<br />

Unterstützung, »nach diesem Irrlicht <strong>de</strong>r Entente, <strong>de</strong>m sie nacheilt<br />

und das sie immer tiefer hineinführt in <strong>de</strong>n Sumpf, in Nie<strong>de</strong>rlage und Ver<strong>de</strong>rbnis«.<br />

Der Graf Czernin hat das alles nämlich das an<strong>de</strong>re, gewußt. Er war<br />

ein Talent. Wir haben gar nicht geahnt, was wir an ihm haben. Wir haben immer<br />

geglaubt, die Siege wer<strong>de</strong>n es machen. Wir haben immer <strong>de</strong>n Versicherungen<br />

<strong>de</strong>s Grafen Czernin geglaubt, und daß wir nur weiter siegen müssen,<br />

um zu siegen, und daß es jetzt durchzuhalten gelte. Wir sind <strong>de</strong>m Grafen<br />

Czernin, wie er sprach, hereingefallen, anstatt <strong>de</strong>n Grafen Czernin, wie er<br />

war, zu erkennen. Mit einem Wort: »Wir sind Tür an Tür mit einem Manne gewesen,<br />

<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Witterung eines Diplomaten gefühlt hat, daß <strong>de</strong>r Krieg,<br />

wenn er immer wie<strong>de</strong>r verlängert wer<strong>de</strong>n sollte, nach <strong>de</strong>m Hinterlan<strong>de</strong> umschlagen<br />

und dort in Revolution sich entla<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.« Und darum hat er ihn<br />

verlängert. Und das haben wir nicht gewußt; we<strong>de</strong>r daß es so ist, noch daß es<br />

einen Mann gegeben hat, <strong>de</strong>r es wußte. Denn wir haben immer nur auf die Erklärung<br />

<strong>de</strong>s Grafen Czernin gehört, daß es nicht so sei, und auf die Anerkennung,<br />

die ihm die Neue Freie Presse dafür gespen<strong>de</strong>t hat, und unser Vertrauen<br />

zu bei<strong>de</strong>n ward in <strong>de</strong>m Maß ausgebaut und vertieft, als sie selbst es mit einem<br />

Blutsbündnis taten. Wenn sich jedoch noch nach tausend Jahren ein Bedarf<br />

herausstellen sollte, <strong>de</strong>r heranwachsen<strong>de</strong>n Jugend, wie es<br />

Personifikationen <strong>de</strong>r unzertrennlichen Treue gibt (Österreich—Ungarn und<br />

Deutschland, Kastor und Pollux, Hin<strong>de</strong>nburg und Lu<strong>de</strong>ndorff), auch ein Beispiel<br />

für unzertrennliche Falschheit darzubieten o<strong>de</strong>r für einen Seelenbund<br />

<strong>de</strong>r Unehrlichkeit, die so dumm ist, sich von <strong>de</strong>r Verlogenheit entlarven zu<br />

lassen, und <strong>de</strong>r Verlogenheit, die so frech ist, die Unehrlichkeit zu übertölpeln,<br />

so wird man die Namen Czernin und Benedikt, jenem zur verdienten<br />

Ehre, zusammenstellen, und wenn es darüber hinaus noch nötig sein wird,<br />

das Vorbild einer Schafsgeduld zu fin<strong>de</strong>n, die sich solches Spiel <strong>de</strong>r bis zur<br />

Ehrlichkeit verlogenen Gestalten gefallen ließ und noch immer nicht wußte,<br />

mit wem sie Tür an Tür war, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Paar noch Beifall spen<strong>de</strong>te, und<br />

49


nicht mit nassen Zeitungsfetzen <strong>de</strong>n wittern<strong>de</strong>n Diplomaten hinausjagte, son<strong>de</strong>rn<br />

ihn kandidieren ließ und sich gegen <strong>de</strong>n Heilsboten <strong>de</strong>r Siegestragödien<br />

nicht in einer Revolution entlud, son<strong>de</strong>rn im Abonnement — wenn's dafür eines<br />

Vorbilds bedürfen sollte, so wird man unfehlbar auf das Wiener Auditorium<br />

von besonnenen und ernsten Menschen zurückgreifen, auf die gleichsam<br />

geistig und politisch geschlossene Gesellschaft <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch—österreichischen<br />

Republik. Die nicht nur einen Menschen täglich liest, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache,<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit, <strong>de</strong>m Takt, <strong>de</strong>m Gehör, <strong>de</strong>m Geschmack, <strong>de</strong>m Geruch, je<strong>de</strong>m<br />

Nerv, <strong>de</strong>m Magen, <strong>de</strong>m Sack und überhaupt allem was schutzbedürftig<br />

ist, Schmach und Gewalt antut, son<strong>de</strong>rn die auch einen Menschen anhört, <strong>de</strong>r<br />

ihr zum Beweise seiner Kriegsunschuld erzählt, er habe gewußt, daß <strong>de</strong>r<br />

Krieg das infamste Verbrechen sei und <strong>de</strong>r Sieg das größte Unglück, und welche<br />

mit keinem Zwischenruf die von jenem an<strong>de</strong>rn so geschätzte »Laienfrage«<br />

stellt, warum er <strong>de</strong>nn nicht aus seinem Wissen die Konsequenz gezogen 1 und<br />

nicht lieber <strong>de</strong>n dunkelsten Abtritt <strong>de</strong>m Verbleiben im Licht <strong>de</strong>r verantwortlichsten<br />

Stellung vorgezogen habe, warum er Wilson gemeint und Lu<strong>de</strong>ndorff<br />

getan, Kant gesagt und Krupp gemeint, <strong>de</strong>n Weltfrie<strong>de</strong>n gesagt und Brest—Litowsk<br />

getan, zum Zwiespalt von Wort und Tat sich auch <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs<br />

zwischen Wort und Wort schuldig gemacht habe, nie aber <strong>de</strong>r Verleugnung<br />

seiner Tat. Warum er, an<strong>de</strong>rs als Fiesko, nur malte, was an<strong>de</strong>re taten, und an<strong>de</strong>rs<br />

als Czernin, nur meinte, was an<strong>de</strong>re malten, und jene beschimpfte, diese<br />

konfiszieren ließ, so daß sein Mund jenen die Tat absprach und seine Hand<br />

diesen sein eigenes Wort aus <strong>de</strong>m Mund nahm; wenn er aber selbst nicht zu<br />

sprechen wagte, weil Lu<strong>de</strong>ndorff in <strong>de</strong>r Nähe war, sich auf Hertling berief,<br />

<strong>de</strong>r ihm »das Wort aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> nahm«. Aber dies hätte er seinerseits <strong>de</strong>m<br />

Frager besorgt; <strong>de</strong>nn die ganze Haltung <strong>de</strong>r schwanken<strong>de</strong>n Gestalt, die sich<br />

uns wie<strong>de</strong>r naht und zudrängt, nach<strong>de</strong>m sie sich einst <strong>de</strong>m trüben Blick gezeigt,<br />

erklärt er einfach damit, daß er nicht nur von <strong>de</strong>r Katastrophe <strong>de</strong>s<br />

Blutsbündnisses überzeugt war, son<strong>de</strong>rn — und das »kann er ohne Überhebung<br />

sagen« — »dieses Bündnis verteidigt habe, wie sein eigenes Kind«. Bis<br />

zum letzten Blutstropfen, nämlich <strong>de</strong>r seiner Tatkraft sowie Beredsamkeit anvertrauten<br />

Völker. Und das kann er wirklich ohne Überhebung sagen; aber<br />

daß er es auch ohne Reue sagen kann, ist erschreckend. Und warum tat er<br />

so? Warum hat er uns <strong>de</strong>n Glauben an die <strong>de</strong>utschen Siege, <strong>de</strong>n er als Irrwahn<br />

erkannt hatte, ausgebaut und vertieft und solches durch seinen Kumpan<br />

als das Leitmotiv einer unendlichen Melodie uns bis zur Verzweiflung eingeben<br />

lassen? Einfach aus <strong>de</strong>m zweifachen Grun<strong>de</strong>: weil »Deutschland, wenn<br />

wir austraten, <strong>de</strong>n Krieg nicht weiterführen konnte« — scheinbar ein Ziel aufs<br />

innigste zu wünschen, zumal für einen Staatsmann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n herbeiführen<br />

will; aber mit <strong>de</strong>m Wesen eines Blutsbündnisses offenbar nicht zu vereinen<br />

— und dann, weil »bei dieser Situation«, also wenn Deutschland keinen<br />

Krieg mehr führen konnte, »es gar kein Zweifel ist, daß die <strong>de</strong>utsche Heeresleitung<br />

einige Divisionen nach Böhmen und nach Tirol geworfen hätte, um uns<br />

dasselbe Schicksal zu bereiten, wie seinerzeit Rumänien«. Und keiner <strong>de</strong>r besonnenen<br />

und ernsten, geistig und politisch doch geschlossenen Menschen,<br />

die in einem und <strong>de</strong>mselben Satz Deutschlands Waffenstreckung und<br />

Deutschlands Offensive gegen Österreich verknüpft fin<strong>de</strong>n, fragt <strong>de</strong>n Plau<strong>de</strong>rer,<br />

ob er, wenn er vielleicht sagen wolle, daß das besiegte und darum unbeschäftigte<br />

Deutschland zu einer Unternehmung gegen Österreich fähig gewe-<br />

1 Genau wie 1989 die SED-Bonzen erklärten, schon 1982 vom Bankrott <strong>de</strong>r DDR gewußt zu<br />

haben. Die kleinen Genossen beriefen sich darauf, daß auch sie mit Lügen betrogen wor<strong>de</strong>n<br />

seien. Die 15 Millionen zählen<strong>de</strong> Bevölkerung spaltete sich in 15 Millionen Betrogene<br />

und 15 Millionen Wi<strong>de</strong>rstandskämpfer auf.<br />

50


sen wäre, nicht auch <strong>de</strong>r Meinung sei, daß die siegreiche und darum unbeschäftigte<br />

Entente noch fähiger gewesen wäre, Österreich vor <strong>de</strong>m provisorischen<br />

Schicksal zu behüten (ja es vielleicht gar abzuwen<strong>de</strong>n), das ein siegreiches<br />

Deutschland Rumänien bereitet hat, nach <strong>de</strong>ssen Eintritt in <strong>de</strong>n Weltkrieg<br />

— nicht Austritt aus <strong>de</strong>m Weltkrieg — es ja nicht nur gegen Rumänien,<br />

son<strong>de</strong>rn auch gegen die Entente gekämpft hat, während es jetzt »<strong>de</strong>n Krieg<br />

nicht weiterführen könnte« und wenn doch gegen Österreich, so doch nicht<br />

gegen eines, <strong>de</strong>m die Entente zu Hilfe kommt. Und in <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>s Mannes,<br />

<strong>de</strong>ssen seichte Bravour nur eine gegen <strong>de</strong>n Tonfall wehrlose Intelligenz von<br />

Wiener Zeitungslesern über <strong>de</strong>n Mangel je<strong>de</strong>r sittlichen und geistigen Haltbarkeit,<br />

je<strong>de</strong>r Führung und Hemmung, je<strong>de</strong>r Stütze von Wahrhaftigkeit o<strong>de</strong>r<br />

Logik betrügen kann, war das Schicksal dieser Millionen, das Schicksal <strong>de</strong>r<br />

Menschheit verwahrt. Kein hohnvolles Echo wirft ihm <strong>de</strong>n Appell an eine<br />

»bessere Welt« ins Gesicht zurück, die er aus <strong>de</strong>m Blutmeer aufsteigen sieht<br />

und <strong>de</strong>ren Ankunft er um genauso viel Zeit verzögert hat als er Minister war.<br />

Kein Zornruf eines <strong>de</strong>r zuhören<strong>de</strong>n Hinterbliebenen verschmäht die Kondolenz<br />

<strong>de</strong>s Blutschuldners, daß »dann jene nicht umsonst gestorben sind, alle<br />

unsere Lieben, die da draußen liegen in <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n kalten Er<strong>de</strong>«, jene, die<br />

sterben mußten, weil wir Tür an Tür mit einem Manne gewesen sind, <strong>de</strong>r gewußt<br />

hat, daß je<strong>de</strong>r Sieg eine Tragödie sei, da er <strong>de</strong>n Krieg verlängere, ohne<br />

das Ergebnis än<strong>de</strong>rn zu können, und <strong>de</strong>r nicht die Fähigkeit hatte, diese Erkenntnis<br />

in die Tat umzusetzen, aber auch nicht <strong>de</strong>n Anstand, die Tür zu öffnen<br />

und die Stätte einer so aussichtslosen Untätigkeit zu verlassen. Der gewußt<br />

hat, daß <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>n Krieg verlängere, und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>sgleichen tat! Wir<br />

aber, die vielleicht gewußt haben, was er wußte, aber nicht, daß er es wußte<br />

und seine und unsere Zeit mit schwermütigen Gedanken hinbrachte, hatten<br />

darum keinen Grund ihm jene Tür zu weisen, wohl aber heute Grund genug,<br />

die »männlich freimütigen und prophetischen Worte seiner Denkschrift an<br />

<strong>de</strong>n Kaiser Karl« zu bewun<strong>de</strong>rn, die auf die politisch und geistig Geschlossenen<br />

einen nicht min<strong>de</strong>r tiefen Eindruck machten wie das Wort vom Blutsbündnis.<br />

Und eine Erkenntnis, die die anständigen Menschen schon vor diesem<br />

elen<strong>de</strong>n und erbärmlichen Czernin im Herzen getragen und nur mit scheuem<br />

Seitenblick nach irgen<strong>de</strong>inem seiner Spitzel einan<strong>de</strong>r zu versichern wagten;<br />

eine Erkenntnis, für die er hochgestellte und dabei reinliche Gegner seines<br />

Wirkens überwachen ließ, und vor <strong>de</strong>r er <strong>de</strong>n Kaiser absperrte, wenn die Gefahr<br />

bestand, daß sie zur Ehre eines Entschlusses reifen könnte; eine Erkenntnis,<br />

für die noch in <strong>de</strong>r Ära Czernin <strong>de</strong>r Generalstab manchen gehängt hat, ich<br />

aber, <strong>de</strong>r sie hinausrief, unbehelligt blieb und erst als sie mir auch in einem<br />

anonymen Brief nachgerühmt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Kriegsminister die Staatspolizei zu<br />

mobilisieren suchte und ein Geheimakt entstand, worin ich, <strong>de</strong>r nie eine Ehrenstellung<br />

angestrebt hat, zum »Haupt <strong>de</strong>s Defätismus in Österreich« ernannt<br />

wur<strong>de</strong> — eine solche Erkenntnis kann heute als <strong>de</strong>r Beweis staatsmännischer<br />

Erleuchtung berufen wer<strong>de</strong>n und eines Staatsmannes, <strong>de</strong>r von ihr<br />

nicht nur keinen Gebrauch gemacht, son<strong>de</strong>rn die gegenteilige Überzeugung<br />

ausgebaut und vertieft hat. Gewiß, ich war ein Hochverräter; und konnte <strong>de</strong>n<br />

Hochverrat, <strong>de</strong>n ich dachte und lauter als an<strong>de</strong>re, lauter als <strong>de</strong>r Graf Czernin<br />

aussprach, lei<strong>de</strong>r nicht begehen. Aber welch ein Hochverräter war dieser<br />

Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hochverrats fähig war, ihn nicht zu begehen! Wien, diese vollständige<br />

Schatzkammer aller menschlichen Fühllosigkeit und politischen Ehrlosigkeit,<br />

wird ihn dafür nicht zum Schandbürger ernennen, son<strong>de</strong>rn in die<br />

Nationalversammlung berufen.<br />

51


So, in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n papierdünnen Charakter, <strong>de</strong>r so leicht wiegt, daß er<br />

nicht fallen, nur steigen kann, zum Mann ihres Vertrauens machen; in<strong>de</strong>m sie<br />

<strong>de</strong>n umsichtigen Lenker ihres Mißgeschicks, <strong>de</strong>n Eitelkeit verhin<strong>de</strong>rt hat,<br />

rechtzeitig als einfacher Privatmann statt als vielfacher Staatsmann über die<br />

Unabän<strong>de</strong>rlichkeit <strong>de</strong>s Ausgangs nachzu<strong>de</strong>nken, als Propheten <strong>de</strong>s von ihm<br />

zerstörten Vaterlands anerkennen; in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Schützer <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />

Blutsbündnisses, <strong>de</strong>r die <strong>de</strong>utschen Siege gefürchtet hat, <strong>de</strong>n Minister, <strong>de</strong>r es<br />

für seine und für unsere Pflicht hielt, bis zur <strong>de</strong>utschen Nie<strong>de</strong>rlage auf <strong>de</strong>m<br />

Posten auszuharren und bis unser Abfall schäbig war, <strong>de</strong>n Politiker, <strong>de</strong>r heute,<br />

wo die <strong>de</strong>utschen Siege nicht mehr zu fürchten sind, die Überzeugung ausbaut<br />

und vertieft, daß unser Anschluß an Deutschland vom Übel wäre — in<strong>de</strong>m<br />

sie diesen Doppelgänger seiner politischen Karriere in die neue Welt geleiten:<br />

tritt am sinnfälligsten unser Verhältnis zu ihr hervor, das kein an<strong>de</strong>res<br />

ist als das <strong>de</strong>r gaffen<strong>de</strong>n Neugier<strong>de</strong>, welche gestern <strong>de</strong>r Hoheit und heute <strong>de</strong>r<br />

Freiheit das Wagentürl öffnet. Und wenn es wahr ist, daß jene dort, <strong>de</strong>nen wir<br />

<strong>de</strong>n Anblick verdanken, nun <strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>s Rechts als Sieg genießen, weil —<br />

das eben ist <strong>de</strong>r Fluch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Tat — die Waffe stärker ist als <strong>de</strong>r Mann<br />

und als die Sache, für die er sie verwandt hat; und wenn diese hier, von <strong>de</strong>r<br />

sittlichen Macht <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage nicht aufzurichten, verurteilt sind, zu bleiben<br />

was sie sind: dann wäre wohl die Menschheit besiegt und <strong>de</strong>r Sieg nur die<br />

Entscheidung, daß ihr nicht zu helfen ist. Jene entarten im Gewinn; unser ist<br />

<strong>de</strong>r Verlust und vergeblich. Setzten die dort, wie uns, auch sich selbst das<br />

Maß, sie wür<strong>de</strong>n die Giftquelle erkennen, aus <strong>de</strong>r unsere Welt vergast wur<strong>de</strong>,<br />

bevor wir es <strong>de</strong>r Welt getan. Ihr Sieg hat uns geholfen; nun sollte er sie nicht<br />

um die Kraft bringen, nachzuhelfen. Sie haben uns von <strong>de</strong>n Tyrannen befreit;<br />

sie sollten uns auch von <strong>de</strong>m Fluch befreien, Untertanen zu sein. Die Beseitigung<br />

<strong>de</strong>s heimlichen Vorgesetzten, <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r hier zwischen sich und <strong>de</strong>m Leben<br />

hat und <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r hier je<strong>de</strong>m vorstellt, und die Erledigung <strong>de</strong>r Gefahr, die<br />

solcher Botmäßigkeit von einer gebieten<strong>de</strong>n Geistesfeindschaft droht — welche<br />

bessere Hilfe, welch edleren Sinn <strong>de</strong>r Selbstbestimmung, könnten wir uns<br />

nach <strong>de</strong>m Ausgang eines Kriegs, in <strong>de</strong>n diese Macht uns verstrickt hat, von<br />

<strong>de</strong>r siegreichen Weltanschauung erhoffen?<br />

Freilich wür<strong>de</strong> die Machtlosigkeit <strong>de</strong>rer, die uns besiegt haben, gegen<br />

jene, die uns vorher besiegt hatten, <strong>de</strong>n status quo <strong>de</strong>s allgemeinen Geisteselends<br />

wie<strong>de</strong>rherstellen. Denn das gehört ja zum Verbrechen dieser mitteleuropäischen<br />

Wahnmächte, die sich <strong>de</strong>n äußern Feind erschufen anstatt <strong>de</strong>n innern<br />

zu erkennen: daß sie <strong>de</strong>n extremsten Zweifler an <strong>de</strong>r weißen Kulturmenschheit<br />

— jener christlichen Couleur, die nicht weiß ist von Unschuld,<br />

son<strong>de</strong>rn vor Lebensfurcht — in einen Optimisten verwan<strong>de</strong>lt haben. In einen,<br />

<strong>de</strong>r durch all ihre Weltvernichtung hindurch bejahen, trotz allem Verhängnis<br />

<strong>de</strong>utscher Siege an eine Entwicklung glauben und die Zurückstellung jeglicher<br />

Rassenfeindschaft, die aller diplomatischen Grundregeln spotten<strong>de</strong> Einigung<br />

<strong>de</strong>r Menschheit im Haß gegen das Zentrum <strong>de</strong>r Hölle achten mußte als<br />

die letzte Regung eines christlichen Bewußtseins, als die letzte elementare<br />

Tatsache, <strong>de</strong>ren dieses Europa fähig war, als <strong>de</strong>n Verzweiflungsakt einer Zivilisation,<br />

die sich noch auf <strong>de</strong>m Abweg zeitlicher Richtung spüren konnte und<br />

in To<strong>de</strong>sangst verging, <strong>de</strong>utsch zu wer<strong>de</strong>n wie ein Deutschland, <strong>de</strong>ssen Leben<br />

seit seiner Mißgeburt am Sedanstag 1 eine fünfzigjährige Sün<strong>de</strong> war und das<br />

seinen guten Geistern Krieg erklärt hat mit <strong>de</strong>m Entschluß, die ungünstige<br />

1 2. September, Feiertag im Deutschen Reich zur Erinnerung an <strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>r vereinigten<br />

preußische, bayerische, württembergische und sächsische Truppen bei Sedan 1870; die<br />

französische Armee kapitulierte und <strong>de</strong>r französische Kaiser wur<strong>de</strong> gefangengenommen.<br />

52


geographische Lage zu einer Einkreisung <strong>de</strong>r Welt durch die materialistische<br />

I<strong>de</strong>ologie zu benützen. Der einzig mögliche Optimismus, dieser Trübnis wür<strong>de</strong><br />

selbst von <strong>de</strong>r Verzerrung einer Rechtsi<strong>de</strong>e nicht beschämt, die, nicht durch<br />

Predigt, son<strong>de</strong>rn nur durch Anwendung analoger Machtmittel an ihr Ziel gebracht,<br />

nicht sofort auch <strong>de</strong>r eigenen Rüstung entsagt. Wenn die abendländische<br />

Geistigkeit nach <strong>de</strong>r Beseitigung eines Übels, das selbst ein technisch<br />

entehrtes Jahrhun<strong>de</strong>rt noch geschän<strong>de</strong>t hätte, in ihre zeitgemäße Nie<strong>de</strong>rung<br />

hinabsinkt und diese Partie <strong>de</strong>r Menschheit eben das ist, was sie ist, aber nur<br />

nicht das, was sie gewor<strong>de</strong>n wäre, so hat sie trotz allem genug getan, und ihr<br />

bliebe selbst in <strong>de</strong>r imperialistischen Ausartung ihrer Lebensform noch eine<br />

Sicherheit, jene, die allüberall außerhalb Neu<strong>de</strong>utschlands, von <strong>de</strong>n Feuerlän<strong>de</strong>rn<br />

bis zu <strong>de</strong>n Samoje<strong>de</strong>n, Kultur bewirkt und die eben das Gemeinsame ist,<br />

das sie zur Abwehr geeint und befähigt hat: die Sicherheit, die die Geistesdinge<br />

und die Lebensdinge nicht zur Mixtur bringt und wie wenig auch für jene<br />

übrig bleibe, doch die Kraft <strong>de</strong>s Auseinan<strong>de</strong>rhaltens und schon dadurch die<br />

geistige Möglichkeit behauptet. Es war ein Sieg <strong>de</strong>r einfachen Buchhaltung<br />

über die doppelte, und es war ein Sieg <strong>de</strong>s Geistes: daß er sich durch die vollkommenste<br />

Investierung in das Lebensgeschäft auch <strong>de</strong>s Kampfes, durch die<br />

Beschlagnahme aller Seelengüter bis zu Gott, nicht erringen ließ. Das Wun<strong>de</strong>r<br />

am <strong>de</strong>utschen Sinn, ihn die Trennung <strong>de</strong>r Realitäten von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen erleben<br />

zu lassen, vermag nur die Nie<strong>de</strong>rlage. Berührt es nicht in dieser Zeit, die je<strong>de</strong>m<br />

Begebnis die Deutlichkeit eines Zeichens gibt, als ein Moment tragischer<br />

Läuterung, daß die <strong>de</strong>utsche Waffenstillstandskommission sich gezwungen<br />

sieht, das Herz <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s durch die Mahnung an das bevorstehen<strong>de</strong> Weihnachten<br />

zu erweichen, uneinge<strong>de</strong>nk einer Vergangenheit, in <strong>de</strong>r ihm Bomben<br />

als »<strong>de</strong>utsche Weihnachtsgrüße« übersandt wur<strong>de</strong>n! Es war das stärkste Beispiel<br />

von Verbindung seelischer und materieller Betätigung, und das stärkste<br />

Beispiel ihrer Trennung hat das Schicksal bewirkt. Man soll in Ehrerbietung<br />

vor solcher Macht nicht forschen, wie sie als Sieger gehan<strong>de</strong>lt hätten, umso<br />

weniger als man ja weiß, wie sie als Sieger — nicht als Befreier ihres Lan<strong>de</strong>s,<br />

son<strong>de</strong>rn als Eroberer — gehan<strong>de</strong>lt haben und daß alle feindlichen Verfügungen<br />

nur Kopien sind, mit Ausnahme jener von höchster Wür<strong>de</strong> diktierten Mahnung<br />

an die amerikanischen Besatzungstruppen, die kein Vorbild in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Tagen Belgiens hat, und die man wohl nicht, wie ehe<strong>de</strong>m die Drohung<br />

einer von <strong>de</strong>r höchsten Sittlichkeit mobilisierten Macht, als »Bluff« verlachen<br />

wird. Wären wir die Sieger, es wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn schlechter gehen als uns,<br />

die die Nie<strong>de</strong>rlage in einem Krieg erlei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n wir begonnen haben. Der<br />

Menschenfreund auf besiegter Seite fin<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>m glimpflichern Ausgang<br />

ab und begrenzt die Nächstenliebe nicht auf ein Vaterland, das in Wahrheit<br />

nur <strong>de</strong>r eigene Magen o<strong>de</strong>r die eigene Börse ist. Denn <strong>de</strong>r Selbsterhaltungstrieb,<br />

<strong>de</strong>r sich lange genug von <strong>de</strong>n Nöten <strong>de</strong>s Gegners genährt hat, befähigt<br />

kaum zu einer gerechten Betrachtung <strong>de</strong>r Welt. Der will nicht Buße tun<br />

in Armut; er ruft das sittliche Gewissen an, um die Selbstbestimmung <strong>de</strong>s<br />

Zinsfußes zu retten. Die Entente verlangt die Unterbringung <strong>de</strong>s Goldbestan<strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>r Reichsbank außerhalb <strong>de</strong>s gefähr<strong>de</strong>ten Berlin; ob Vorwand o<strong>de</strong>r Vorsicht:<br />

»Diese Bosheit konnte nur in <strong>de</strong>r Hölle ausgesonnen wer<strong>de</strong>n«. Welcher<br />

Region aber mag »Gelbkreuz« entstammt sein, die <strong>de</strong>utsche »Handgasbombe<br />

B, <strong>de</strong>ren Giftmasse sich verspritzt und starke eitern<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>n,erzeugt, die<br />

eine ähnliche Flüssigkeit wie bei Tripper abson<strong>de</strong>rn und noch innerhalb eines<br />

Tages unter qualvollen Schmerzen <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Betroffenen herbeiführen«?<br />

Wie bitter <strong>de</strong>r feindliche Sieg in einem Kriege, <strong>de</strong>n Deutschland bis zur Nie<strong>de</strong>rlage<br />

nur militärisch entschie<strong>de</strong>n haben wollte, auf unserm äußern Leben<br />

53


lasten, wie hart er jene Unschuldigen treffen wird, die doch nie so unschuldig<br />

hätten sein dürfen, die Ruchlosigkeiten <strong>de</strong>r Kriegführung und jene <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns<br />

von Brest—Litowsk ihren Ver<strong>de</strong>rbern und sich selbst als Triumph anzurechnen<br />

— <strong>de</strong>r Gegenfaust, und wäre ihr Druck durch keinen Handschuh gelin<strong>de</strong>rt,<br />

gebührt <strong>de</strong>r Dank aller, die sie von <strong>de</strong>n härtern Bedrückern befreit<br />

hat, und vor <strong>de</strong>m härtesten, sich selbst, befreien möge! Wenn <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>n<br />

Siegern Unheil bringt — <strong>de</strong>n Besiegten hat er geholfen. Der besorgte Republikaner,<br />

<strong>de</strong>r schon vom Konkurs eines Staates, <strong>de</strong>r ihm die Lebensgüter schuldig<br />

geblieben ist, ihre Rückerstattung erwartet, ist kein an<strong>de</strong>rer als <strong>de</strong>r unsaubere<br />

Patriot, <strong>de</strong>r noch für sein späteres Wohlergehen frem<strong>de</strong> Lei<strong>de</strong>n ertragen<br />

hat. Aber es ist ein Glück, daß die Jahrtausenddinge trotz <strong>de</strong>r Enttäuschung<br />

jener geschehen, die sie aus <strong>de</strong>r Perspektive ihrer Kaisersemmel<br />

betrachten, aus jener Perspektive, aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Krieg vor seinem Beginn zu betrachten<br />

und zu vermei<strong>de</strong>n war. Notwendiger als das Notwendige ist, daß wir<br />

ein Leben zu führen lernen, in <strong>de</strong>m wir geschützt sind vor <strong>de</strong>r Möglichkeit,<br />

das Notwendige dadurch zu verlieren, daß wir uns daran verlieren.<br />

Könnten sie uns <strong>de</strong>n Lebenszweck wie<strong>de</strong>r ins Land bringen, um <strong>de</strong>n alle<br />

Regenten unserer Armseligkeit uns betrogen haben, wir lernten an einen Gott<br />

glauben, <strong>de</strong>r die Nie<strong>de</strong>rlagen spen<strong>de</strong>t. Denn mit <strong>de</strong>n Lebensmitteln, <strong>de</strong>ren<br />

Knappheit zwar auch <strong>de</strong>r Mißerfolg jener ist, die durch eine Fülle an To<strong>de</strong>smitteln<br />

<strong>de</strong>r Welt zu imponieren glaubten — aber lei<strong>de</strong>r nicht ihre, son<strong>de</strong>rn ihrer<br />

Sklaven Strafe — , ist es beiweitem nicht getan. Das primum vivere <strong>de</strong>in<strong>de</strong><br />

philosophari ist eine platte physikalische Erkenntnis. Aber wenn primum philosophari<br />

wäre, käme es nie so weit, sie beherzigen zu müssen. Jetzt ist sie<br />

<strong>de</strong>r Notausgang eines falschen Lebens, das gera<strong>de</strong> anstatt alles Leben auf das<br />

Denken, alles Denken auf das Leben eingestellt hatte und darum an diesem<br />

und jenem verarmen mußte. Wenn philosophari primum ist, ergibt sich alles<br />

vivere »<strong>de</strong>in<strong>de</strong>« und viel reicher, es wird wie<strong>de</strong>r zur selbstverständlichen Voraussetzung<br />

alles Denkens, so daß dann <strong>de</strong>r Satz als die Anleitung zu einem<br />

geordneten Lebenshaushalt wie<strong>de</strong>r zu Ehren kommt. Wir brauchen das Leben<br />

als Zweck, damit uns künftig das Leben als Mittel nicht fehle. Die Zubuße ist<br />

Wohltat für Bettler, aber solange nicht jene zu büßen haben, <strong>de</strong>ren Wille es<br />

war, daß wir zu Bettlern wur<strong>de</strong>n, ist uns schon gar nicht geholfen. Eben an<br />

<strong>de</strong>m Schauspiel, wie eine am Krieg unbeteiligte, nur ihn führen<strong>de</strong> Gesellschaft<br />

noch immer die Waggons zählt, die ihren Schleichhan<strong>de</strong>l besorgen, und<br />

schon die Waggons, die sie von feindlicher Großmut und neutraler Barmherzigkeit<br />

erwartet, sollten Englän<strong>de</strong>r und Franzosen, aber nicht die, die sie als<br />

»weiße« von <strong>de</strong>n »farbigen« unterschied, son<strong>de</strong>rn eben diese erkennen, welche<br />

Menschenart, keiner Farbe <strong>de</strong>r Scham und <strong>de</strong>r Demütigung fähig, am<br />

Fuße <strong>de</strong>s Kahlenbergs haust. Die Schweizer, verkün<strong>de</strong>n sie, sparen sich's vom<br />

Mund ab; je<strong>de</strong> Stadt dort will die erste sein, Hilfe zu bringen; die Leute in Zürich<br />

sagen, daß sie »unter <strong>de</strong>n Hiobsnachrichten aus Wien seelisch lei<strong>de</strong>n, als<br />

ginge das Gespenst <strong>de</strong>s Hungers durch ihre eigene Stadt«. Und nun stelle<br />

man, wenn man genug Phantasie hat, Tatsachen zu bemerken, <strong>de</strong>m mitlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Ausland jene Wiener Wirklichkeit gegenüber, die nicht hungert und friert,<br />

nicht um ein Deka Fleisch die Nächte im Dreck steht, nicht barfüßig durch<br />

finstere Tage schleicht und nicht, eh' <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong> kommt, von <strong>de</strong>r Tuberkulose<br />

erwürgt wird. Ja, gibts <strong>de</strong>nn solche Ausnahme? Geschieht's <strong>de</strong>nn nicht allen?<br />

Wenn Krieg ist, also wenn <strong>de</strong>r Feind o<strong>de</strong>r die Behör<strong>de</strong> für Hunger und Kohlenmangel<br />

gesorgt haben, so müssen doch alle frieren und hungern? Reich<br />

o<strong>de</strong>r Arm kann doch nur in <strong>de</strong>r Unbill <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns, wenn just keine Hungersnot<br />

herrscht, aber doch die einen es gut und die an<strong>de</strong>rn es schlecht haben, ein<br />

54


Unterschied sein; dann hungern, wie sich's gehört, die Armen. Aber wenn<br />

Krieg ist und Krieg Krieg ist, wenn also Hungersnot herrscht, so herrscht sie<br />

doch über alle? Nein, da wird <strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rten Sachlage höchstens die Konzession<br />

gemacht, daß auch <strong>de</strong>r »Mittelstand« arm wird und <strong>de</strong>shalb hungert.<br />

Aber die Reichen hungern noch immer nicht. In keinem Notstandsausweis<br />

wird es behauptet. Und wenn sie nicht hungern, so wäre wohl <strong>de</strong>r Beweis erbracht,<br />

daß Speise vorhan<strong>de</strong>n ist, woraus sich mit zwingen<strong>de</strong>r, nur nicht die<br />

Reichen zwingen<strong>de</strong>r Notwendigkeit <strong>de</strong>r Schluß ergäbe, daß keine Hungersnot<br />

herrscht. Die Erkenntnisse, die sich hier aus Problem und Quantität schöpfen<br />

lassen, sind so primitiv, daß man sich ihrer fast so schämt wie <strong>de</strong>s Sachverhalts,<br />

und das Staunen <strong>de</strong>s Tolstoischen Bauern über die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zinsennehmens<br />

wird daneben zur nationalökonomischen Finte. Die zum Himmel eines<br />

Christenlands stinken<strong>de</strong> Infamie, daß die von Gott ganz gleichartig erschaffenen<br />

Magen nicht einmal nach <strong>de</strong>m Existenzwert <strong>de</strong>r ganzen Leiber,<br />

son<strong>de</strong>rn nach <strong>de</strong>m Inhalt ihrer Taschen unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, so daß nicht<br />

nur jene, die sie schon vor <strong>de</strong>m Krieg gefüllt hatten, son<strong>de</strong>rn auch solche, und<br />

zumeist solche, die sie erst durch <strong>de</strong>n Krieg gefüllt haben, auch <strong>de</strong>n Magen<br />

gefüllt kriegen, die an<strong>de</strong>rn aber auch damit leer ausgehen — raubt <strong>de</strong>n Räubern<br />

nicht nur nicht <strong>de</strong>n Schlaf, son<strong>de</strong>rn wird von ihnen selbst, <strong>de</strong>n aus irgen<strong>de</strong>inem<br />

geheimnisvollen kataphysischen Grund Bevorzugten, als <strong>de</strong>r natürlichste<br />

Zustand von <strong>de</strong>r Welt vom Morgen bis zum Abend dargeboten, zugegeben<br />

und erörtert. Es ist hier möglich, daß in Eßwarenhandlungen, die unser<br />

I<strong>de</strong>alismus zu Delikatessenhandlungen verklärt hat, wo also eo ipso<br />

Zartgefühl vorrätig sein müßte, Menschen ihre Einkäufe besorgen und während<br />

sie bedient wer<strong>de</strong>n, zuschauen, wie die von draußen hereinschauen und<br />

wie, die Nase an das Auslagefenster gedrückt, Hungergesichter die aufgeschichteten<br />

Würste als Schauspiel genießen; und in <strong>de</strong>n Zeitungen, die <strong>de</strong>r<br />

Verpackung <strong>de</strong>r Ware dienen, wer<strong>de</strong>n die täglichen Chancen <strong>de</strong>r Zufuhr aus<br />

<strong>de</strong>m Ausland erörtert für jene, die draußen stehn, Ich lasse mich zu einem Gelüb<strong>de</strong><br />

hinreißen: je<strong>de</strong>m dieser Wiener, die sich an <strong>de</strong>r Kriegswohltätigkeit zu<br />

schaffen gemacht haben und <strong>de</strong>n Weckrufen einer großen Zeit gehorsam<br />

selbst Gold für Eisen gaben, wenn's ihnen auf <strong>de</strong>m Wurstpapier bestätigt<br />

ward, je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r einmal dabei betreten wur<strong>de</strong>, wie er eines <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren<br />

hungerstarres Auge seinen Einkauf begleitet hat, in <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n rief und ihm<br />

zu essen gab — will ich das eiserne Wiener Herz zurückverwan<strong>de</strong>ln; doch<br />

fürcht' ich, daß das Scherflein, das mir da zu Lasten fällt, kaum ein Schwarzgelbes<br />

Kreuz wert sein wird. Denn diese Menschen regen sich selbst dann<br />

nicht, wenn vor <strong>de</strong>m Schaufenster <strong>de</strong>r Delikatessen sich schon das Ausland<br />

ansammelt und an die Parias die Gabe wen<strong>de</strong>t, welche man besitzt, in<strong>de</strong>m<br />

man sie gibt. Unaufmerksam bleiben die drin nicht; mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Schurkengewissen<br />

eigentümlichen Großmut wird <strong>de</strong>r Verteilungsmodus erörtert und eingeräumt,<br />

daß nicht in erster Linie sie selbst — wie selbstlos —, son<strong>de</strong>rn »zunächst<br />

die Ärmsten <strong>de</strong>r Armen« beschenkt wer<strong>de</strong>n sollen. Wür<strong>de</strong>n sie nicht<br />

drinnen schon bedient, so müßte man fragen: Ja warum <strong>de</strong>nn? Schafft Armut<br />

<strong>de</strong>nn ein Vorrecht auf Sättigung? Alle Magen sind gleichartig erschaffen und<br />

wenn Hungersnot im Reich ist, so haben doch die Reichsten <strong>de</strong>r Reichen die<br />

Speise ebenso nötig wie alle an<strong>de</strong>rn? Aber sie geben ja zu, auch wenn wir's<br />

nicht im Vorbeigehn feststellen könnten, daß sie versorgt sind, und darum<br />

überlassen sie <strong>de</strong>n Einlauf <strong>de</strong>r Schweizer Wohltätigkeit zunächst <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn.<br />

Und sind sie <strong>de</strong>nn nicht auch an ihr aktiv beteiligt, wie nur an <strong>de</strong>n Gelegenheiten,<br />

die die Charitas während <strong>de</strong>s Kriegs gemacht hat? Ihre »Aufmerksamkeit«<br />

gilt <strong>de</strong>r Ankunft <strong>de</strong>s Schweizer Hilfszugs, <strong>de</strong>r seinerseits <strong>de</strong>m genius loci<br />

55


das Zugeständnis macht, daß er an diesem mit Verspätung ankommt und<br />

nicht ohne eine Entgleisung in St. Pölten erlitten zu haben. Ist er aber einmal<br />

zur Stelle, so sind sie es auch, und ganz wie im Frie<strong>de</strong>n, ganz wie im Krieg,<br />

ganz wie beim Debüt <strong>de</strong>s Grafen Czernin sind sie unter jenen Anwesen<strong>de</strong>n,<br />

unter welchen man bemerkte, sie und immer sie, die Spitzen und die Stützen,<br />

die Vertreter, die wenigen die auserwählt sind, die Frühaufsteher, die ersten<br />

die die letzten sein wer<strong>de</strong>n, die last not least, die Lückenbüßer die Augendiener<br />

und die falschen Brü<strong>de</strong>r, die mit unserem Pfun<strong>de</strong> wuchern, mit frem<strong>de</strong>m<br />

Kalbe pflügen, die da ernten wo sie nicht gesäet haben, Stein statt Brot geben,<br />

zahlreiche Offiziere und viele Damen. Ein Ru<strong>de</strong>l von Immer<strong>de</strong>nselben,<br />

stets unter sich und <strong>de</strong>nnoch, wie einsam in ihrer Schamverlassenheit! Keiner<br />

errötet bei <strong>de</strong>r Vorstellung, daß <strong>de</strong>r Schweizer Delegierte ihn fragen könnte,<br />

wieso er so gut aussehe. Und sie können von Glück sagen, daß die Frage, ob<br />

nicht die Ringstraße, das Rathausviertel, das Cottage und Hietzing annähernd<br />

so viel abgeben könnten wie ganz Zürich, auch von Zürich unterdrückt wird,<br />

nicht weil sie dann verlegen wür<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn weil darin Favoriten, Fünfhaus,<br />

Brigittenau und Ottakring überhaupt nichts kriegten. Am wünschenswertesten<br />

freilich wäre jener moralische Ausgleich, durch <strong>de</strong>n die Schweizer <strong>de</strong>n<br />

einen ihr Mitleid bewahrten und für die an<strong>de</strong>rn ihre Verachtung übrig hätten,<br />

und bei<strong>de</strong> Gefühle für eine Autorität, die jegliche Macht gehabt hat, nur die<br />

eine nicht, mit <strong>de</strong>n Privilegien <strong>de</strong>r Verdauung aufzuräumen und eine Ordnung<br />

<strong>de</strong>r Not herzustellen, bei <strong>de</strong>r die bekannte Rolle <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s, »keine Rolle zu<br />

spielen«, einmal im redlichen Sinne zur Geltung kommt. Weil dann erst das<br />

Recht einer Hungergemein<strong>de</strong> feststün<strong>de</strong>, an die Mildtätigkeit <strong>de</strong>s Auslands zu<br />

appellieren, die weiß Gott nicht zugänglicher sein sollte als das Gewissen <strong>de</strong>s<br />

Inlands. Wer unterzöge sich <strong>de</strong>r Mühe, in <strong>de</strong>n gutsituierten Herzen Nachschau<br />

nach <strong>de</strong>m Vorrat an Erbarmen zu halten, an einer Nächstenliebe, die<br />

doch schon ein Raumbegriff wäre? Doch nicht einmal die Offiziere <strong>de</strong>r englischen<br />

Mission, die jetzt von <strong>de</strong>n Reichsten <strong>de</strong>r Reichen, <strong>de</strong>n Schamlosesten<br />

<strong>de</strong>r Schamlosen an ihre Tafeln gela<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ren Reservestellung<br />

von <strong>de</strong>n Besiegten im Sturm genommen wird. Wer untersuchte <strong>de</strong>nn, ob die<br />

Wiener gleich <strong>de</strong>n Zürchern unter <strong>de</strong>n Hiobsnachrichten aus Wien seelisch<br />

lei<strong>de</strong>n, als ginge das Gespenst <strong>de</strong>s Hungers durch ihre eigene Stadt? Sie haben's<br />

ja nicht nötig, weil sie das Gespenst doch eh bei <strong>de</strong>r Hand haben, also<br />

auf Erzählungen und Berichte nicht angewiesen sind; weil, wenn sie aus <strong>de</strong>m<br />

»Rostraum«, nicht etwa einer vom irdischen Jammer entlegenen Hölle, son<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>s Hotel Bristol heraustreten, sie <strong>de</strong>r Spazierweg durch eine Allee von<br />

Menschenstummeln aller Arten führt, von Fragmenten und Freaks, die einen<br />

Barnum faszinieren könnten und wie erst mit diesem ganzen Kontrast lustwan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r<br />

Beleibtheit! Dies alles haben sie doch alle Tage, vor und nach<br />

Tisch, und wenn's ihnen aufstößt, so steht es, liegt es, kriecht es vor ihren Füßen.<br />

Ein mü<strong>de</strong>r Sperling sitzt auf einem Schutthaufen, vor <strong>de</strong>m Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Kriegspressequartiers; nein, ein Umhängtuch ist es, nein, ein zaundürres,<br />

winziges Stückchen Greisenalter; sie ist vor Erschöpfung gera<strong>de</strong> dort eingesunken.<br />

Vor <strong>de</strong>m Kriegsministerium sitzt <strong>de</strong>r Ra<strong>de</strong>tzky; sie sitzt vor <strong>de</strong>m<br />

Kriegspressequartier. Nie sah ich Ärmeres. Es ist die Glorie. So habe ich ihr<br />

En<strong>de</strong> immer geschaut. Vom Mord zum Raub, vom Raub zum Fraß eilen die<br />

dort vorbei; das Kriegsglück hat sie über <strong>de</strong>n Mittelstand emporgehoben. Für<br />

das Gespenst <strong>de</strong>s Hungers, das da sitzt, wird schon die Schweiz sorgen. Sie<br />

machen sogar Propaganda. Wie einst, als es uns schlecht ging, für unsern<br />

Wohlstand, so jetzt, da sich nichts verän<strong>de</strong>rt hat, für unsere Not. Nichts ist ihnen<br />

erwünschter, als daß das neutrale Ausland und hoffentlich <strong>de</strong>r Feind er-<br />

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fährt, daß es uns schlecht geht. Daß die Ärmsten <strong>de</strong>r Armen verhungern und<br />

die an<strong>de</strong>rn — zur Not — versorgt sind. Sie genieren sich nicht, für die Bettler<br />

betteln zu gehn, auch wenn's keine Medaille mehr trägt und selbst wenn's keine<br />

Reklame mehr trüge, nur die Wohltat, nichts geben zu müssen; so selbstlos<br />

sind sie. Ihnen die Erbärmlichkeit, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn das Erbarmen. In ihren Zeitungen<br />

wird <strong>de</strong>r Hungertod von Stu<strong>de</strong>nten — die Fälle sind gesucht — zu Stimmungsbil<strong>de</strong>rn<br />

verarbeitet: »Wochenlang datierte dieses stumme Ringen, wochenlang<br />

saß <strong>de</strong>r Arme kraftlos zuhause, sah er unzählige Male auf die Tür ...<br />

Niemand kam, niemand half, nur <strong>de</strong>r Tod schlich herein und schlich langsam,<br />

langsam auf sein Opfer los«, und so starb jener, <strong>de</strong>r durch das Feuilletonhonorar,<br />

das dieser an seinem Hungertod verdient, zu retten gewesen wäre.<br />

Es muß das Klima sein; an<strong>de</strong>rs ist bei <strong>de</strong>n Menschen, die hier <strong>de</strong>n Kulturton<br />

geben und nehmen, dieser unbezähmbare Drang nach seelischer Entblößung<br />

nicht zu erklären und in keiner an<strong>de</strong>rn Zone beobachtet man diese<br />

völlige, ihrer selbst unbewußte, keiner Fliege ein Haar krümmen können<strong>de</strong><br />

Grausamkeit, die sich noch an <strong>de</strong>n Motiven <strong>de</strong>s Mitleids und <strong>de</strong>r Nächstenliebe<br />

vergreift. Sie fühlen vielleicht mehr, wenn sie Blin<strong>de</strong> frozzeln, als wenn sie<br />

Tote beklagen. Aber wenn sie beim Nachtmahl die Statistik <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rleichen<br />

ihrer Stadt lesen und daß sich da »die Kette zusammenschließt, die bei <strong>de</strong>r<br />

Unterernährung beginnt und beim großen Sterben durch Tuberkulose und<br />

Blutarmut en<strong>de</strong>t«, so fühlen sie nicht einmal, daß sie selbst die Kette sind mit<br />

ihrem Han<strong>de</strong>l und Wan<strong>de</strong>l, mit ihrer Presse, mit ihrer tödlichen Moral von Leben<br />

und Lebenlassen. Und während ein Schock ihrer Opfer verscharrt wird,<br />

wälzt sich eine Jauche von Frohsinn durch die Straßen, aus <strong>de</strong>r kein Menschenfischer<br />

einer Seele habhaft wer<strong>de</strong>n kann. Die hier entarten noch in <strong>de</strong>r<br />

Nie<strong>de</strong>rlage. Was hier lebt, wüßte keinen Grund hierfür anzugeben; aber sie<br />

sind von einem nie enttäuschten Wun<strong>de</strong>rglauben berechtigt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Selbsterhaltungstrieb<br />

eine Art Weihe gibt. Sie sind im Krieg nicht von Bomben, son<strong>de</strong>rn<br />

von Flugzetteln heimgesucht wor<strong>de</strong>n, sie überstehen die Revolution, weil<br />

sie überzeugt sind, daß die Bolschewiken — Plural von »<strong>de</strong>r Bolschewiki« —,<br />

<strong>de</strong>ren Problem <strong>de</strong>r Spießbürger aller Kapitalsverbän<strong>de</strong> doch wenigstens in<br />

Angstträumen erlebt, nichts für Wien sind. Sie haben auf Vulkanen getanzt;<br />

sie machen sich's in Kratern kommod. Wie sollte ihnen die Revolution was anhaben,<br />

da sie die österreichische Ordnung aushielten und vor <strong>de</strong>r Weltgeschichte<br />

mit <strong>de</strong>m Merkmal dastehn, »in diesem Wust von Raserei«, im Mittelpunkt<br />

<strong>de</strong>r nationalen Hexenküche es »gemütlich« gefun<strong>de</strong>n zu haben! Wenn<br />

ein Cafétier seinen Entschluß, abzudanken, feierlich wi<strong>de</strong>rruft, so nehmen<br />

sie's als Pfand für die Restauration <strong>de</strong>r Monarchie, und <strong>de</strong>r Untergang <strong>de</strong>s<br />

Wieners vollzieht sich nur wie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Hans Styx, <strong>de</strong>r endlos aus <strong>de</strong>r Versenkung<br />

auftaucht, um zu versichern, daß er einst Prinz war von Arkadien. Diese<br />

einzigartige, am höchsten Vorbild geschulte Überlebensfähigkeit erklärt sich<br />

als Gabe, zugleich nach oben und unten, nach <strong>de</strong>r Vergangenheit und nach<br />

<strong>de</strong>r Zukunft <strong>de</strong>n Anschluß nicht zu versäumen. Er kriecht überall hinein, wo<br />

es <strong>de</strong>m ungelenkern <strong>de</strong>utschen Bru<strong>de</strong>r »vorbeigelingt«, und wenn dieser noch<br />

untendurch ist, ist jener schon obenauf. Er hat einen »eisernen Vurrat« von<br />

monarchistischen Vorstellungen, an <strong>de</strong>n er nicht rühren läßt, aber kein<br />

Schlagwort <strong>de</strong>r Entwicklung gibt es, auf das er nicht anbeißt. Dieses Charakterbild<br />

einer in Bewegung geratenen Gallerte, <strong>de</strong>ren Farbenspiel das Entzücken<br />

aller Kulturspezialisten bil<strong>de</strong>t, kommt am <strong>de</strong>utlichsten in <strong>de</strong>r Schamlosigkeit<br />

eines Literatentums zur Erscheinung, das gestern vor <strong>de</strong>m elastischen<br />

Schritt einer Sekundogenitur im Staube lag und sich heute um einen Freiplatz<br />

auf <strong>de</strong>r Barrika<strong>de</strong> bewirbt, das seinen Männerstolz hinter Königsthronen nun<br />

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ohne Königsthrone erst zur Geltung bringt. Mangels jeglicher Haltung diese<br />

in allen Lebenslagen bewahren; auf alles gefaßt sein, weil man von nichts zu<br />

fassen ist; aus nichts die Konsequenz ziehen können und nicht einmal aus<br />

<strong>de</strong>m Nichts ihres Seins; nichts ernst nehmen und nicht einmal diese größte<br />

Tragödie: sich selbst — das ist die Struktur von Menschen, für die nur das<br />

eine charakteristisch ist, daß sich zu ihrer Wesensbestimmung nichts Definitives<br />

sagen läßt, es wäre <strong>de</strong>nn das tödliche Urteil, daß sie dazu geboren scheinen,<br />

die Wähler <strong>de</strong>s Grafen Czernin zu sein. Wohl entspricht es ihrer Erziehung,<br />

mit Fingern auf einen zu zeigen, aber es gilt mehr <strong>de</strong>n markanten Persönlichkeiten<br />

als <strong>de</strong>n anrüchigen und solchen nur dann, wenn im Morgenblatt<br />

etwas zu lesen war, was aber die Leser wie die Betroffenen bis zum Abendblatt<br />

bereits vergessen haben, so daß diese sich getrost noch am selben Tag<br />

wie<strong>de</strong>r am Graben zeigen können. Im Gegenteil, bliebe einer aus, so wür<strong>de</strong><br />

man allerlei munkeln und dann erst entstün<strong>de</strong> ein Gerücht, das beiweitem be<strong>de</strong>nklicher<br />

und verläßlicher ist als ein Beweis. Als Inbegriff einer Ehrenrettung<br />

aber dünkt sie jener Entschluß, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>r vollkommensten Negation<br />

aller Anfechtung ausdrückt: Gar net ignorieren!, und wenn einer tot ist, so<br />

scheint es sich ihnen endlich aufzuklären, warum man ihn jetzt so selten auf<br />

<strong>de</strong>r Ringstraße sieht. Sie haben es gar nicht nötig, Katastrophen umzulügen;<br />

sie nehmen sie einfach nicht zur Kenntnis. Jene Selbstbekömmlichkeit <strong>de</strong>s<br />

neu<strong>de</strong>utschen Wesens, <strong>de</strong>r bei je<strong>de</strong>m Verlust ein Nationalschatz herauskommt,<br />

je<strong>de</strong>r Rückzug als strategischer Triumph resultiert, je<strong>de</strong>r feindliche<br />

Vorstoß als <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s bitterste Enttäuschung, und die uns diese letzten Geduldproben<br />

von Heeresberichten auferlegt hat, in <strong>de</strong>nen noch die pure Wahrheit<br />

eine Lüge war, fin<strong>de</strong>t hier ihr Pendant in einer Gemütsverfassung, die<br />

sich gar nicht erst mit <strong>de</strong>m Umschalten abstrapaziert, son<strong>de</strong>rn einfach ausschaltet,<br />

fertig. Um aber auch <strong>de</strong>r Mitwelt tunlichst entgegenzukommen und<br />

damit sie die Mißbildung nicht merke, schließt man die Augen, und hält sich<br />

die Ohren zu, damit sich auch niemand über <strong>de</strong>n Lärm beschweren kann. In<strong>de</strong>m<br />

sich aber keiner die Nase zuhält, ist <strong>de</strong>r Beweis geliefert, daß es nicht<br />

stinkt. Was immer ihr Staatsamt auf<strong>de</strong>cken mag, Leute, <strong>de</strong>ren Element die<br />

Neugier<strong>de</strong> ist, berührt kein sachliches Verschul<strong>de</strong>n, wenn nicht etwa die Wäsche,<br />

die aus Montur<strong>de</strong>pots abhan<strong>de</strong>n kam, Bettwäsche war, und wer nur in<br />

<strong>de</strong>r Generalversammlung von Staatsverbrechern unter an<strong>de</strong>ren bemerkt wur<strong>de</strong>,<br />

bleibt ein Mitglied <strong>de</strong>r guten Gesellschaft. Auf Rehabilitierung wird kein<br />

Wert gelegt; gelingt sie, so gewahrt niemand, wie viel Schmutz für die an<strong>de</strong>rn<br />

abfällt. Da ein einziger Wür<strong>de</strong>nträger von <strong>de</strong>m Vorwurf, Armeegut für sein<br />

Bedürfnis erhalten zu haben, losgesprochen war, schien die alte Macht rehabilitiert.<br />

Denn ihr war das Glück wi<strong>de</strong>rfahren, daß jener die Wäsche für arme<br />

italienische Kriegsgefangene gebraucht hat, die das Hemd acht Monate nicht<br />

gewechselt hatten und von Ungeziefer starrten. Und niemand empfand die<br />

Schmach einer Wirtschaft, <strong>de</strong>r solche Anklage zur Verteidigung frommt. Niemand<br />

fühlt <strong>de</strong>n Wunsch, man hätte doch tausend Lagerinspizienten zu Unrecht<br />

beschuldigen sollen, Wäsche und Nahrung für sich empfangen zu haben,<br />

wenn auf diese Art nur festgestellt wur<strong>de</strong>, daß es <strong>de</strong>n armen Gefangenen<br />

zugute gekommen ist, und das Schauerbild aus <strong>de</strong>r Erinnerung verbannt war<br />

von <strong>de</strong>n zwei halbverhungerten Russen in <strong>de</strong>m seit Tagen nicht geöffneten<br />

Raum: sie waren schon so entkräftet, daß sie sich nicht erheben konnten, um<br />

<strong>de</strong>n zwischen ihnen verwesten Leichnam ihres Bettgenossen fortzuschaffen,<br />

bis ein Namensvetter jenes Czernin, <strong>de</strong>r damals seinen Frie<strong>de</strong>n mit Rußland<br />

machte, auf <strong>de</strong>n Übelstand aufmerksam ward und mit <strong>de</strong>r Entfernung <strong>de</strong>s<br />

Leichnams die <strong>de</strong>s lebendigen Lagerkommandanten veranlaßte. Und die Ver-<br />

58


weser all unserer Lebensgüter spürten nicht das satirische Grauen jenes »Erlasses«,<br />

durch welchen militärische Stellen beauftragt wur<strong>de</strong>n, »diesbezüglich<br />

das Weitere zu veranlassen«, damit durch die »Entfaltung einer <strong>de</strong>r russischen<br />

Volksseele angepaßten Propaganda« tunlichst auf die Gefühle eingewirkt<br />

wer<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>nen die russischen Kriegsgefangenen »an die in unserem<br />

Vaterlan<strong>de</strong> verbrachte Zeit zurück<strong>de</strong>nken«. Sie sollten <strong>de</strong>reinst sagen können:<br />

Schön war's doch! Zu diesem Behufe sollten sie aber, soweit sie nämlich mit<br />

<strong>de</strong>m Leben davonkamen und nicht bestimmt waren, noch auf <strong>de</strong>m Nordbahnhof<br />

erschossen zu wer<strong>de</strong>n, »erst knapp vor Abfahrt« dieser Propaganda ausgesetzt<br />

wer<strong>de</strong>n, damit »dieselben mit <strong>de</strong>m frischen unvermittelten Eindruck,<br />

<strong>de</strong>n sie hierbei empfangen, in ihre Heimat zurückgelangen«. In einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

urkomischen Fassungen, die mir vorliegen, wird die Hoffnung ausgesprochen,<br />

daß durch »eine im richtigen Augenblick zeitgerecht einsetzen<strong>de</strong> Einwirkung<br />

unsererseits« es gelingen wer<strong>de</strong>, »von <strong>de</strong>n zahllosen, in <strong>de</strong>r Gefangenschaft<br />

gewonnenen Eindrücken und Erfahrungen die ungünstigen abzuschwächen,<br />

die erfreulichen und angenehmen jedoch zu beleben und zu<br />

befestigen«. Unter <strong>de</strong>n Mitteln, mit <strong>de</strong>nen die Einwirkung auf die russische<br />

Volksseele erzielt wer<strong>de</strong>n sollte, fehlt nicht <strong>de</strong>r Hinweis darauf, daß wir eh die<br />

reinen Lamperln sind, wie speziell, was nicht zu vergessen ist, auf die »vielen<br />

früheren Kriege, wo Russen und Österreich—Ungarn tapfer zusammengekämpft<br />

haben«, und so, wenn in <strong>de</strong>n letzten Tagen auch noch a bißl die Menage<br />

aufgebessert wird, wer<strong>de</strong> es <strong>de</strong>nn nicht fehlen können, daß die in ihre Heimat<br />

zurückkehren<strong>de</strong>n Russen nicht nur »nicht mit stumpfer Gleichgültigkeit<br />

o<strong>de</strong>r gar feindseligem Haß an uns zurück<strong>de</strong>nken, son<strong>de</strong>rn wissentlich und aus<br />

voller Überzeugung als Sendboten öst.—ung. Kultur in ihrem eigenen Vaterlan<strong>de</strong><br />

tätig sein wer<strong>de</strong>n«. So daß also die Propaganda dann von ihnen selber<br />

gemacht wird. Mehr als das. Der auch <strong>de</strong>n Russen unvergeßliche Typus Nowotny<br />

von Eichensieg, <strong>de</strong>r jetzt seine humanen Abschiedskapriolen macht,<br />

hofft, daß sie ihn selbst zum Dank hierfür »stramm und gehorsam salutierend<br />

begrüßen« wer<strong>de</strong>n. Ich kann nur sagen, daß die russischen Kriegsgefangenen<br />

die Tränen, die sie hier vergossen haben, nun lachen müßten, wenn sie diesen<br />

Erlaß, in bei<strong>de</strong>n Gestalten, zu Gesicht bekämen, in welchem noch speziell auf<br />

die »rasche und rückhaltlose Anknüpfung von Han<strong>de</strong>lsbeziehungen« Wert gelegt<br />

wird, und daß ihre Geneigtheit, Sendboten <strong>de</strong>r öst.—ung. Kultur o<strong>de</strong>r sogar<br />

<strong>de</strong>ren Agenten zu wer<strong>de</strong>n, schier zu einem unbändigen Verlangen ausarten<br />

wür<strong>de</strong>. Eine solche »Umstimmung <strong>de</strong>r russischen Volksseele«, die das<br />

Kriegsministerium im vierten Jahr <strong>de</strong>r Verwahrlosung <strong>de</strong>r russischen Volkskörper<br />

angeordnet hat, um <strong>de</strong>n »Abbau <strong>de</strong>r von unseren Fein<strong>de</strong>n über die<br />

ganze Welt verbreiteten Lügenpropaganda« endlich herbeizuführen, ist infolge<br />

Demolierung <strong>de</strong>s Hauses Österreich lei<strong>de</strong>r nicht mehr erfolgt; sie ließe<br />

sich nur durch Verteilung <strong>de</strong>s Textes nachholen. Die Welt braucht eine Aufheiterung;<br />

ihr sollten die Schritte nicht vorenthalten wer<strong>de</strong>n, die Österreich<br />

diesbezüglich und tunlichst unternommen hat, »um eine günstige Einwirkung<br />

zu erzielen«, und die wie so vieles an<strong>de</strong>re die Bemühung <strong>de</strong>s tragischen Hanswurstes<br />

geblieben sind, um die letzten Zuckungen <strong>de</strong>r Menschheit zu parodieren.<br />

Und ein Da capo wür<strong>de</strong> am Schluß <strong>de</strong>m Saltomortale danken: »Mit einer<br />

aus tiefster Wahrhaftigkeit entspringen<strong>de</strong>n Überzeugung kann gera<strong>de</strong> in Österreich—Ungarn«<br />

(wo <strong>de</strong>nn nicht?) »<strong>de</strong>n heimkehren<strong>de</strong>n Russen die offenherzige<br />

Versicherung mitgegeben wer<strong>de</strong>n, wie wenig unser Vaterland <strong>de</strong>n<br />

Krieg gewollt hat.« Ja dieser Janus mit <strong>de</strong>n zwei Gesichtern, von <strong>de</strong>nen das<br />

eine vorwärts sieht, das <strong>de</strong>s Falloten, und das an<strong>de</strong>re rückwärts, das <strong>de</strong>s Idioten,<br />

konnte endlich <strong>de</strong>n Tempel »zuspirrn«. Aber die Gläubigen wer<strong>de</strong>n nicht<br />

59


alle, und die Priester auch nicht, und da sie allesamt in einer Luft leben, in<br />

<strong>de</strong>r sie Ehrlosigkeit einatmen, so ist es ihnen ein sittliches Bedürfnis, <strong>de</strong>n armen,<br />

verfolgten Kerkermeistern <strong>de</strong>r Menschheit gegen die grausamen Befreier<br />

beizustehn. Krieg ist Krieg <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn, Revolution <strong>de</strong>r eigene Krieg. Der<br />

Kriegsgewinn erweist sich <strong>de</strong>m Säbel erkenntlich, und im Burgfrie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

durchdringendsten Ju<strong>de</strong>ntums und <strong>de</strong>s stumpfsten Antisemitismus arbeitet<br />

die einzig authentische Geldrasse, die gemeinsame, gegen alle Entsündigung.<br />

Welt— und wahlverwandt, <strong>de</strong>r unverfälscht utilitarische Schlag geborner Parteigegner,<br />

die einan<strong>de</strong>r nur nicht riechen konnten, solang sie nicht wußten,<br />

daß sie bei<strong>de</strong> stinken. Moabitische Gestalten, die schon im Frie<strong>de</strong>n wie <strong>de</strong>r<br />

goldgelbe Götze Mammon aussahen und nun <strong>de</strong>n Bauch <strong>de</strong>s Moloch dazugewonnen<br />

haben, sind jene »Individualitäten«, für <strong>de</strong>ren Entfaltung Spielraum<br />

verlangt und in biographischen Porträts geworben wird, die so ähnlich sind,<br />

daß man durch Brechreiz eine optische Täuschung erlebt, und da die Kontakte<br />

dieser eiterigen Welt die unumstößliche Norm sind, <strong>de</strong>r auch alle Wür<strong>de</strong><br />

und selbst aller Umschwung erliegt, so hat <strong>de</strong>r Staatskanzler manchmal die<br />

Liebenswürdigkeit, einem unserer Mitarbeiter Gelegenheit zu geben. Männer<br />

aber, <strong>de</strong>ren Ehre, Mut und Verstand in <strong>de</strong>r hirnlosen Schmach dieser Soldatenjahre<br />

heil geblieben sind, wie Heinrich Lammasch, von einem selbstverräterischen<br />

Volk so lange vereinsamt, bis er ihm nicht mehr helfen konnte, o<strong>de</strong>r<br />

Friedrich Austerlitz, <strong>de</strong>r durch seine Strafakten über die Feldjustiz mehr zur<br />

Belehrung <strong>de</strong>r Überleben<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Nachleben<strong>de</strong>n getan hat, als hun<strong>de</strong>rt<br />

Kriegsschreiber zu ihrer Belügung imstan<strong>de</strong> waren, haben Österreichs Hinterbliebenen<br />

weniger zu sagen als die bezahlten Lobredner <strong>de</strong>s verblichenen<br />

Phantoms. Und das An<strong>de</strong>nken eines Viktor Adler, die in je<strong>de</strong>r Kulturgemeinschaft<br />

fortwirken<strong>de</strong> Macht eines sittlichen Vorbilds, das auch <strong>de</strong>m abgewandten<br />

Leben etwas von bleiben<strong>de</strong>r Ehrfurcht hinterläßt, versagt an <strong>de</strong>r vorsätzlichen<br />

Niedrigkeit <strong>de</strong>r Wiener Denkform, an <strong>de</strong>m unseligen Justament, das <strong>de</strong>r<br />

letzte Wille einer Empuse ihren Völkern vermacht hat. Nichts ist zu hoffen,<br />

<strong>de</strong>nn da kann man halt nichts machen. Gegen die Überraschungen <strong>de</strong>r Wahrheit<br />

sind sie durch Frechheit gefeit, gegen <strong>de</strong>n Zugriff <strong>de</strong>r Gewalt durch Höflichkeit,<br />

und sie wür<strong>de</strong>n nicht zögern, zum Schutz vor Enthüllungen die Pariser<br />

Polizei in Anspruch zu nehmen, da ihnen die hiesige nicht mehr helfen<br />

kann. Gegen sie selbst aber, gegen ihre Verleumdung, gegen ihre schmutzige<br />

Annäherung schützt keine Ehre und kein geistiges Verdienst. An solche Kreaturen<br />

habe ich die Nächte von zwanzig Jahren gewen<strong>de</strong>t. Keinen einzigen Beweis<br />

ihrer Unheiligkeit, ihrer Ungläubigkeit vor <strong>de</strong>m Geist, ihrer Abhängigkeit<br />

von <strong>de</strong>r Lüge, ihrer jovialen Bosheit, ihrer souveränen Niedrigkeit und <strong>de</strong>r<br />

stupi<strong>de</strong>n Qual ihrer Klischees haben sie mir bis zu diesem Tage zum Opfer gebracht.<br />

So sage ich <strong>de</strong>nn: Daß ich <strong>de</strong>m toten Russen zwischen <strong>de</strong>n Flügelmännern<br />

<strong>de</strong>s Hungers mehr nachtrauere als diesem Österreich, <strong>de</strong>ssen Verwesung<br />

noch die neue Zeitluft bedrängen möchte. Und daß ich nichts so sehr gehaßt<br />

habe als mein Vaterland, <strong>de</strong>ssen Lebzeiten mir keinen Augenblick das<br />

Gefühl, in <strong>de</strong>r freien Luft <strong>de</strong>r Gotteswelt zu atmen, gegönnt, die Sorge um<br />

sterben<strong>de</strong> Werte genommen haben. Wiewohl sein Ruf in meine glorienreine<br />

Abgeschie<strong>de</strong>nheit kaum je an<strong>de</strong>rs als durch die phantastischen Zumutungen<br />

<strong>de</strong>s vaterländischen Telephons gedrungen ist, in <strong>de</strong>nen mir das ganze Wirrsal<br />

dieses kreuz und queren Staatswesens halluziniert war, mit seiner vielstimmigen<br />

Konferenz aller Kobol<strong>de</strong> und Genien <strong>de</strong>s Lokus, mit seinem ganzen Inbegriff<br />

aller Störungsbüros; wiewohl ich mithin nur bestimmt war, diesem irreparablen<br />

Altar <strong>de</strong>s Vaterlands mein Nervenleben zu weihen, so kann ich doch<br />

60


<strong>de</strong>n beispiellosen Gewinn ermessen, <strong>de</strong>n sein Verlust be<strong>de</strong>utet, nebst <strong>de</strong>r Frivolität<br />

jener, die ihn betrauern. Denn wenn zum endlichen Beweise <strong>de</strong>r<br />

Menschheit allüberall die Stun<strong>de</strong> anbricht, wo Vaterland als Zeitverlust und<br />

als eine Einbuße an Lebensgütern empfun<strong>de</strong>n wird, so grenzt es an Affenschan<strong>de</strong>,<br />

<strong>de</strong>n abgelebten Fabel— und Fibelwert einem Verein reservieren zu<br />

wollen, <strong>de</strong>ssen Statuten gera<strong>de</strong>zu darauf abgezielt waren, ihn zum Scha<strong>de</strong>n<br />

seiner Mitglie<strong>de</strong>r auszuwirken. Es kann angesichts <strong>de</strong>s Hingangs dieses Toten,<br />

<strong>de</strong>r es lange genug war und uns von <strong>de</strong>r Pietät zu leben zwang, keine<br />

würdigere Empfindung geben als die <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>, gemin<strong>de</strong>rt durch das<br />

schmerzliche Bedauern, daß kein Teilchen von ihm übrig geblieben ist, um sie<br />

zur Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> zu vere<strong>de</strong>ln. Wenn Deutsch—Österreich sich vom Gemüt<br />

seiner Inwohner verführen lassen wollte, sich als ein Stück von ihm zu bekennen,<br />

so gäb's eine Mordshetz. Es sollte aber nicht. Nur <strong>de</strong>n einen Zusammenhang<br />

darf es geben: die dumpfe Erinnerung an einen überstan<strong>de</strong>nen Angsttraum.<br />

Wir hatten einmal eine Sage gehört von einem bösen Mißstaat, <strong>de</strong>n ein<br />

Dämon träumte, nun schliefen wir ein und träumten's auch. Erwachend aber<br />

greift Zettel <strong>de</strong>r Weber, <strong>de</strong>r nicht in die Arme einer Feenkönigin, son<strong>de</strong>rn einer<br />

Hexe eingerückt war, die ihn immer zu salutieren zwang, sich noch einmal<br />

an die Stirn und spricht:<br />

»Ich habe ein äußerst rares Gesicht gehabt.« Er hat das österreichische<br />

Antlitz gesehn. »Ich hatte 'nen Traum — 's geht über Menschenwitz,<br />

zu sagen, was es für ein Traum war. Der Mensch ist<br />

nur ein Esel, wenn er sich einfallen läßt, diesen Traum auszulegen.<br />

Mir war, als wär' ich — kein Menschenkind kann sagen, was.<br />

Mir war, als wär' ich, und mir war, als hätt' ich — aber <strong>de</strong>r<br />

Mensch ist nur ein lumpiger Hanswurst, wenn er sich unterfängt,<br />

zu sagen, was mir war, als hätt' ich's; <strong>de</strong>s Menschen Auge hat's<br />

nicht gehört, <strong>de</strong>s Menschen Ohr hat's nicht gesehen, <strong>de</strong>s Menschen<br />

Hand kann's nicht schmecken, seine Zunge kann's nicht begreifen,<br />

und sein Herz nicht wie<strong>de</strong>r sagen, was mein Traum war.<br />

Ich will <strong>de</strong>n Peter Squenz dazu kriegen, mir von diesem Traum<br />

eine Balla<strong>de</strong> zu schreiben; sie soll Zettels Traum heißen, weil sie<br />

so seltsam angezettelt ist, und ich will sie gegen das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Stücks vor <strong>de</strong>m Herzoge singen.«<br />

Es geht über Menschenwitz zu sagen, was es für ein Traum war. Er hatte<br />

geträumt, daß er die Montur eines Esels trug! Was für ein Esel war er, diese,<br />

Montur zu tragen! Und wie er sich schämt! Er war einrückend gemacht;<br />

nun rückt er von sich ab. Und die hier? Die bekennen sich zum Alpdruck dieser<br />

feldgrauen Nacht und träumen von ihrem Traum. Zeit—und Landsgenossen<br />

dieser Unsäglichkeiten gewesen zu sein, es erniedrigt sie nicht. Sie fühlen<br />

keinen Schau<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m guten Gewissen, das ihnen fernern Schlaf, Verdauung<br />

und Begattung erlaubt; nein, sie fühlen einen Zuwachs an Ehre: <strong>de</strong>n Anstiftern,<br />

Organisatoren und Helfern einer Tat, die eine Zukunftsbibel als das<br />

größte Erbrechen <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> in das Antlitz <strong>de</strong>r Schöpfung zeichnen wird, auf<br />

<strong>de</strong>r Straße zu begegnen und die blutige Hand zu drücken, <strong>de</strong>n Scharlatanen<br />

am Weltgericht, Diurnistenseelen, die <strong>de</strong>n jüngsten Tag dazunahmen, und die,<br />

wenn sie sonst nichts über uns verhängt hätten als die Posaunen ihrer blechernen<br />

Phraseologie, und wenn wir ihres Waltens keinen Hauch verspürt<br />

hätten als die Verwandlung eines österreichischen Eisenbahnklosetts, <strong>de</strong>s Inferno<br />

<strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nszeiten, in einen Protektionsplatz — ihr ganzes emeritiertes<br />

Leben dortselbst zu verbringen Anspruch hätten! Diese Eisenfresser, die nicht<br />

einmal ahnten, daß sie vom Wucher geschoben wur<strong>de</strong>n wie ein Waggon<br />

61


Speck, wenn sie nicht zufällig das Unternehmen in eigener Regie führten,<br />

sind wie Pfauen und Paradiesvögel durch unsere Hölle stolziert — und dieser<br />

Stolz war <strong>de</strong>r unsere und diese Dummheit war die unsere. 's geht über Menschenwitz,<br />

zu sagen, wie dumm wir waren! Und wie erbärmlich wir sind,<br />

wenn wir noch auf das Naturrecht <strong>de</strong>r Dummheit, sich vor ihren Betrügern zu<br />

schämen, verzichten wollen, wenn wir diese nicht verleugnen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />

schamlosen Dummheit fähig sind, jene zu verleugnen, die uns gerettet haben!<br />

Wollen wir aber das Beispiel Zettels <strong>de</strong>s Webers nicht, so sollten wir doch <strong>de</strong>n<br />

Schuster Voigt als Lehrmeister anerkennen. Und war's kein Traum, so war's<br />

eine gigantische Köpenickia<strong>de</strong>. Und wenn wir nicht die Uniform trugen, so<br />

sind wir ihr aufgesessen. Und sind einfach aus <strong>de</strong>m Grund, weil eine Hor<strong>de</strong><br />

von Plün<strong>de</strong>rern — man liest <strong>de</strong>rgleichen — in militärischer Verkleidung gegen<br />

uns angerückt kam, bereit gewesen, alles was wir am Leib und an <strong>de</strong>r Seele<br />

hatten und das Leben selbst auszuliefern, <strong>de</strong>nn wir waren im Glauben, es sei<br />

für's Vaterland. Aber wahrlich, die falschen Patrouillen, die so oft in die Wohnungen<br />

drangen und die Hausbewohner aufs Knie zwangen, waren um kein<br />

Jota weniger legitimiert als die echten, und <strong>de</strong>r Menschheitsbetrug, zu <strong>de</strong>ssen<br />

Opfern wir seit Generationen erzogen waren, bestand in <strong>de</strong>r frechen Irreführung,<br />

daß die echten die echten seien. Die vaterländische I<strong>de</strong>e war nichts an<strong>de</strong>res<br />

als <strong>de</strong>r Ruhmfusel zur Animierung für ein bei klarem Verstand zweifelhaftes<br />

Geschäft und unzweifelhaftes Verbrechen, als die verklären<strong>de</strong> Ausre<strong>de</strong><br />

für einen Diebsplan, und darum ein Betrug am Beutel und am I<strong>de</strong>al zugleich;<br />

ihre Exekutoren nichts als mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r bewußte Einbrecher, <strong>de</strong>ren<br />

Komplizen Seelsorger, Jugendbildner, Ärzte und sonstige Konsorten <strong>de</strong>r Humanität,<br />

ihre Opfer beklagenswert, ta<strong>de</strong>lnswert und nur entschuldigt durch<br />

eine angeborne, von <strong>de</strong>r vaterländischen Erziehung bestärkte Geistesschwäche.<br />

Einen größeren Scha<strong>de</strong>n, um klug zu wer<strong>de</strong>n, hat es nie zuvor gegeben,<br />

seit <strong>de</strong>m Tag, da die bewohnte Er<strong>de</strong> die satanische Lust bekam, sich mutwillig<br />

<strong>de</strong>r Vorteile einer Gottesschöpfung zu begeben. Nie ist mehr Licht in <strong>de</strong>r<br />

Finsternis aufgegangen, nie war <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>m Geistproblem<br />

und <strong>de</strong>r Wirtschaftsfrage so schonungslos klar bis zu <strong>de</strong>r Erkenntnis,<br />

daß gedrosseltes Gas vom gedrosselten Atem kommt. Jener Welt, die es besser<br />

hat, Amerika, haben wir mehr zu verdanken, als wir durch <strong>de</strong>n grausamsten<br />

Ausgang verlieren könnten, und auch durch alle Verluste, die alte blutberauschte<br />

Menschheit sich selbst noch vorbehält. Denn nicht von Feind zu<br />

Feind, zwischen Front und Stadt auch müssen diese Unstimmigkeiten beglichen<br />

wer<strong>de</strong>n; es gibt noch Panzerautomobile, einem Korso zu begegnen, und,<br />

zum Ungeheuren gewöhnt, warten wir, bis das Leben <strong>de</strong>r Quantität im Tod ersattet<br />

ist. Nur <strong>de</strong>m Phantasiebankrott, <strong>de</strong>r ihn ermöglicht hat, ge<strong>de</strong>iht die<br />

Vorstellung, daß dieser Krieg mit einem Frie<strong>de</strong>n en<strong>de</strong>t. So sachlich befriedigt<br />

sich eine durch Mechanik aufgerissene Natur nicht; und das Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />

wirkt nicht nach <strong>de</strong>r Uhr. Wilsons unsterbliche Tat — von <strong>de</strong>m unsterblichen<br />

Gedanken jenes Kant bezogen, <strong>de</strong>ssen kategorischen Imperativ die Deutschen<br />

als Reglementsvorschrift erfaßten, damit sie Nietzsches Willen zur Macht <strong>de</strong>sto<br />

besser verstehen konnten — ist die Befreiung unseres geistigen Schatzes<br />

von <strong>de</strong>m bösen Königsdrachen, <strong>de</strong>r ihn verarmt und verschmutzt hatte, von jenem<br />

Basilisken, <strong>de</strong>r in unserer Mythologie durch seinen Blick getötet hat,<br />

aber in <strong>de</strong>r Naturgeschichte Amerikas als eine unschädliche Ei<strong>de</strong>chse geführt<br />

wird. Nie mehr wird aus <strong>de</strong>n glücklich verhängten Schaufenstern, die noch<br />

keine neuen Mißgeburten bieten können, uns dieses Gesicht, vor <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r<br />

eigene Bart sträubte, bedrohen; nie mehr daneben das österreichische Antlitz<br />

zu unsern Herzen sprechen, als E<strong>de</strong>lgreis o<strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lknabe, im Gebet versun-<br />

62


ken o<strong>de</strong>r vom Arbeitstisch <strong>de</strong>s Hofsalonwagens ins blutige Leere schauend,<br />

bei<strong>de</strong>rseits ohne es gewollt zu haben. Nie mehr sehen wir jenen Königsdrachen,<br />

<strong>de</strong>n Leibesklumpen emporgereckt zu <strong>de</strong>r ersehnten Höhe, zu <strong>de</strong>r erträumten<br />

Geste <strong>de</strong>s Schwertstreichs, die wahrhaftig <strong>de</strong>n Krieg erklärt, unter<br />

Volksvertretern, die nicht mehr als Parteien, nur noch als Idioten gekannt<br />

sein wollen. Nie mehr die wi<strong>de</strong>rliche Szene, wie <strong>de</strong>m Basiliskenblick, gesenkten<br />

Hauptes, Tränen enttropfen; nie mehr die peinigen<strong>de</strong> Berufung <strong>de</strong>s Freiheitskriegers,<br />

<strong>de</strong>m es, noch im vierten Jahr, kein Kampf um die Güter <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong> ist; nie mehr das Schmählichste von allem, wie ein Haufe dieses ärmsten<br />

Menschenviehs, ganz mit <strong>de</strong>n verzerrten Mäulern und irren Augen, ganz wie's<br />

zwischen Gitterstäben eines Transports zur Schlachtbank sichtbar ist, vor<br />

<strong>de</strong>m Sturmangriff »Wir treten zu beten vor Gott <strong>de</strong>n Gerechten« anstimmt.<br />

Nie mehr wer<strong>de</strong>n wir's schauen, nie mehr wird es sein. Von <strong>de</strong>r Glorie entlaust,<br />

mit <strong>de</strong>m Menschenrecht, daß wie<strong>de</strong>r Geist wachse, wo Zierrat und Untat<br />

war, gehn wir in die Welt ein, und das verdanken wir <strong>de</strong>m nüchternen<br />

Prinzip jener Anstalt, die unsere Romantik nicht gescheut hat, um uns <strong>de</strong>n<br />

Kopf zurechtzusetzen. Denn es geschah das Wun<strong>de</strong>r, daß <strong>de</strong>r barste Lebenssinn<br />

an uns zur Ekstase entbrannte, um uns vom Mischmasch zu erlösen, und<br />

daß er sich freiwillig unter <strong>de</strong>n letzten Fluch eines falschen Lebens begab, unter<br />

<strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>nzwang, fanatisch entschlossen, uns von ihm zu befreien. Wilson<br />

hat <strong>de</strong>n Völkern Europas geholfen, ihre heiligsten Güter zu wahren! Der Gedanke<br />

<strong>de</strong>s Völkerbunds ist so stark, daß es seiner Durchführung nicht<br />

braucht, um die Welt mores zu lehren, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>r Bereitschaft eines<br />

Staates, lieber erobert als gerüstet zu sein. Die schlechte Einteilung, daß<br />

Menschen, die mit Lunge, Leber, Milz und an<strong>de</strong>rn Organen ausgestattet sind<br />

wie wir, nur <strong>de</strong>shalb weil sie kein Gehirn haben, dafür durch Ansehen vor uns<br />

entschädigt sein sollen, ist beseitigt. Daß solchen Individuen gar die Entscheidung<br />

über unser Leben anzuvertrauen wäre und daß es gut so sei, wird kein<br />

Fibelstück künftig mehr <strong>de</strong>n Kleinen erzählen, die schon dadurch, daß sie<br />

nicht mehr gelehrt wer<strong>de</strong>n sollen, Speere zu werfen, wie<strong>de</strong>r anfangen wer<strong>de</strong>n<br />

die Götter zu ehren. Eine Untersuchung darüber, ob irgendje an einer Feldherrntat<br />

<strong>de</strong>r Genius beteiligt war, wird für eine künftige Geistesbildung unerheblich<br />

sein, da die Schändung <strong>de</strong>s Handwerks durch die Inspirationen jener,<br />

die eine Metzgerarbeit um ihrer eigenen Existenz willen befehligt haben, die<br />

angeekelte Menschheit zu an<strong>de</strong>ren Interessen bekehren und an <strong>de</strong>r Erfindung<br />

<strong>de</strong>s Schießpulvers für alle Zukunft nichts weiter bemerkenswert sein wird als<br />

ihre Gleichzeitigkeit mit <strong>de</strong>r Erfindung <strong>de</strong>r Druckerschwärze. Überhaupt wird<br />

<strong>de</strong>r geschichtlichen Wissenschaft das Opfer nicht erspart bleiben, auf einen<br />

guten Teil ihrer positiven Ergebnisse für <strong>de</strong>n verneinen<strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>r Kulturgeschichte<br />

zu verzichten. Nicht jene, diese wird die Jahreszahlen <strong>de</strong>r Offensiven<br />

verzeichnen; diese wird, nebst Konterfei, <strong>de</strong>n Lebenslauf <strong>de</strong>r Generale<br />

aufbewahren, die, von <strong>de</strong>r technischen Durchbildung ihres Berufes abgesehen,<br />

auch alle Disziplinen <strong>de</strong>s Geistes <strong>de</strong>m Zwecke <strong>de</strong>r Menschenschlachtung<br />

unterzuordnen vermocht haben: die Theologie zur »Aufpulverung« einer<br />

Mannschaft, die durch Schlamm und Schnee stürmen und nicht vor <strong>de</strong>m Hel<strong>de</strong>ntod<br />

Hungers sterben soll, die Medizin zur Zusammenflickung ihrer Leiber,<br />

die Juristerei zu ihrer Hinrichtung, und die Philosophie zur Verleihung <strong>de</strong>s Ehrendoktorats<br />

auf Grund dieser Verdienste an die Generalität. Die Kulturgeschichte<br />

wird, wenn sie allen strategischen Sinn als die Aufgabe erfaßt, <strong>de</strong>n<br />

Völkern unter <strong>de</strong>m Vorwand <strong>de</strong>r Kriegführung das Vaterland zum Feind zu<br />

machen, <strong>de</strong>n eigentlichen Kriegsplan nicht übersehen dürfen: eine gerechte<br />

Einteilung <strong>de</strong>r Welt in Front und Hinterland, die eben <strong>de</strong>r Gelegenheit zum<br />

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Mord auch eine Entschädigung durch Raub anschließt. Dabei wird die Kulturgeschichte<br />

<strong>de</strong>s Anschauungsunterrichts in <strong>de</strong>n wenigsten Fällen entbehren<br />

können, da die meisten <strong>de</strong>s Versuchs, sie durch schriftliche Mitteilung glaubhaft<br />

zu machen, schon heute spotten. Wenn sie nicht versäumen wird, aus<br />

Weltspiegeln und Interessanten Blättern die Photographien zu übernehmen,<br />

welche die Feldkuraten beim letzten Liebesdienst an sterben<strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>n zeigen<br />

und die Scharfrichter post festum beim Fest; wenn sie die Altare aus<br />

Schrapnells, die Kruzifixe aus Granaten, die Kronprinzeninitialen aus Flammen,<br />

die Kin<strong>de</strong>r mit Gasmasken verewigen soll, so wird sie auch bestrebt<br />

sein, Genreszenen, die am Tatort nicht photographiert wor<strong>de</strong>n sind, nachzubil<strong>de</strong>n,<br />

wie etwa die Polinnen, die vor <strong>de</strong>utschen Offizieren einen Knix machen<br />

müssen; die <strong>de</strong>utschen Verwun<strong>de</strong>ten, die vor <strong>de</strong>m Oberstabsarzt habtachtliegen;<br />

die Austauschinvali<strong>de</strong>n, die am Ziel unter <strong>de</strong>n Klängen <strong>de</strong>s Ra<strong>de</strong>tzkymarsches<br />

zusammenbrechen; und <strong>de</strong>n Kaiser, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Kriegsschmock die Taschen<br />

mit Zwieback vollstopft; und <strong>de</strong>n Blutsverbün<strong>de</strong>ten, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Gassen<br />

<strong>de</strong>s Hauptquartiers mit <strong>de</strong>m Marschallsstab spaziert; <strong>de</strong>n Strategen, <strong>de</strong>r während<br />

<strong>de</strong>r Bluthochzeit auf Freiersfüßen geht, und wie er vom Photographen<br />

abwechselnd beim Kartenstudium sämtlicher Kriegsschauplätze betreten<br />

wird; und alle Großen, wie sie entwe<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r Offensive Skizzen für illustrierte<br />

Blätter entwerfen o<strong>de</strong>r durch Bildhauerinnen vom Gang <strong>de</strong>r Schlacht<br />

abgelenkt wer<strong>de</strong>n; und wie das übervolle Haus <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>n begeistert zujubelte,<br />

die stramm salutierend dankten; und überhaupt alles, was an Selbstenthüllung<br />

von Monumenten <strong>de</strong>r Nichtigkeit, an stolzer Unwür<strong>de</strong>, frecher Entwürdigung<br />

<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn, spaßhaftem Grauen, Regimentsmusik zu To<strong>de</strong>szuckungen<br />

und allem Diskant von Phrase und Qual in dieser Dreck— und Feuertaufe einer<br />

wehrlosen Waffenwelt zustan<strong>de</strong>gekommen ist, in <strong>de</strong>r Ordnung dieser Jahre,<br />

die die Menschheit in Gruppen teilte, um die einen mit Ehrenzeichen, die<br />

an<strong>de</strong>rn mit Narben, die einen mit Prozenten, die an<strong>de</strong>rn mit Läusen zu versehn.<br />

Die Kulturgeschichte versäume mir nichts. Die Völker sollen untereinan<strong>de</strong>r<br />

vergessen: die Menschheit vergesse und verzeihe nichts, was sie sich angetan<br />

hat! Sie erkenne ihr Hel<strong>de</strong>ntum in <strong>de</strong>n Exzessen <strong>de</strong>r gepanzerten Ohnmacht,<br />

in <strong>de</strong>n Räuschen <strong>de</strong>r Feigheit, <strong>de</strong>r Tücke und <strong>de</strong>r Hysterie. Sie schaue<br />

das österreichische Antlitz in allen Formen. Sie fasse die Unermeßlichkeit <strong>de</strong>r<br />

Tatsache, daß ein Renngigerl die Welt von anno dazumal in <strong>de</strong>n Tod geführt<br />

hat, und agnosziere sie in <strong>de</strong>n Zügen dieser feschen Harmlosigkeit, die sich<br />

im Leitartikel bestätigen ließ, daß sie in voller Verantwortung <strong>de</strong>r diplomatischen<br />

Urheberschaft entschlossen war, persönlich in eine Stabsmenage <strong>de</strong>r<br />

italienischen Front abzugehen, um <strong>de</strong>m Erbfeind Aug in Aug gegenüberzutreten.<br />

Die Kulturgeschichte unterlasse nicht, dieses »Schau mir ins Auge« <strong>de</strong>s<br />

nun gesicherten Endsiegs in <strong>de</strong>r schamlosen Darbietung für die 'Woche', diese<br />

beherzte Zugsführerattitü<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r nur statt <strong>de</strong>r Virginier ein gol<strong>de</strong>nes Vließ<br />

von einem reinen Lamperl eignet, diese Umgruppierung <strong>de</strong>s Plateaus von Doberdo<br />

zur Freu<strong>de</strong>nau, diese Umwertung <strong>de</strong>s Weltgerichts in einen Praterscherz<br />

bis zum jüngsten Tag festzuhalten. Und könnte sie doch Bil<strong>de</strong>r hinzunehmen<br />

von <strong>de</strong>r Geselligkeit dieser blutigen Orgie, in <strong>de</strong>r zum entehrten Mannestum<br />

die erniedrigte Lust in allen Varianten trat, in <strong>de</strong>n Entartungen <strong>de</strong>r<br />

Gewalt, in <strong>de</strong>n Verwandlungen <strong>de</strong>r Nächstenliebe, in <strong>de</strong>r venerischen Vergiftung<br />

<strong>de</strong>r Menschheit, die wie kein Kriegsplan ihren Befehlshabern gelingen<br />

sollte, in allen Totentänzen, durch die eine unerbittliche Natur ihr Menschenmaterial<br />

entschädigt und die dank Schwesterschaft und Heranziehung weiblicher<br />

Hilfskräfte zu jeglicher Dienstleistung noch ausschlagen wird zur Freu<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s kommen<strong>de</strong>n Jahrtausends, durch welches ein Landsturm ohne Waffe, aber<br />

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mit Hysterie und Lues dahinrast. Und wenn es dann ein Menschheitshirn gibt,<br />

noch zu fassen fähig, was ihm die Vorzeit angetan hat, so lasse es das österreichische<br />

Antlitz in dieser Vision erstehen: Es war einmal ein Oberstleutnant<br />

<strong>de</strong>s Generalstabs, <strong>de</strong>r bekam für je<strong>de</strong>n Waggon mit Schieberware fünftausend<br />

Kronen Provision, <strong>de</strong>nn er ließ ihn als Militärfrachtgut laufen. Er trieb auch<br />

selbst Kettenhan<strong>de</strong>l, welchen seine Geliebten für ihn besorgten. »Umarme<br />

dich im Geiste, mein einziges Lumpchen«, schrieb er, »ich kündige dir die Absendung<br />

von 600 Kilogramm Dörrgemüse an.« »Du, mein Liebchen«, schmeichelte<br />

er, »bist von uns zweien doch <strong>de</strong>r größere Gauner, <strong>de</strong>nn 100.000 Kronen<br />

per Waggon habe ich noch nicht verdient. Auch ich war nicht untätig,<br />

habe ein schönes Geschäft mit Speck gemacht.« »Ich bin riesig stolz«, rief er,<br />

»<strong>de</strong>nn ich habe mir ein Sparkassabuch angelegt. Ich kann nur sagen: Ich bin<br />

sehr zufrie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Krieg.« Um ein Ren<strong>de</strong>zvous einzuhalten, zu <strong>de</strong>m er<br />

120 Pfund Schweinernes bringen sollte, gab er telephonisch Befehl, <strong>de</strong>n<br />

Schnellzug warten zu lassen. Solches geschah. Er hat <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r großen<br />

Pflicht erfaßt. Er hat, für uns alle, die Konsequenz aus <strong>de</strong>r Erkenntnis gezogen,<br />

daß eh alles wurscht ist. Er hat Selbstmord verübt. Es war ein Einzelfall.<br />

Die Nachwelt generalisiere ihn! Denn ganz Österreich war darin, wie es leibte,<br />

lebte, tötete, starb. Es ist möglich, daß es auch <strong>de</strong>r Oberstleutnant war,<br />

<strong>de</strong>r die vierundvierzig Gräber aufwerfen ließ. Kann es nicht auch jener sein,<br />

<strong>de</strong>r die Gendarmen anwies, Verdächtige nie<strong>de</strong>rzuknallen, und <strong>de</strong>r die Anwendung<br />

<strong>de</strong>s Standrechts auf das Leben eine verbohrte juristische Klügelei genannt<br />

hat? Und <strong>de</strong>r dort ist es, welcher russische Kriegsgefangene am Ostersonntag<br />

nach einstündigem Gebet hat töten lassen, weil sie einen Fluchtversuch<br />

unternahmen (<strong>de</strong>n das Völkerrecht erlaubt), und an<strong>de</strong>re, weil sie sich<br />

weigerten, sich zu Rettungsarbeiten im feindlichen Feuer verwen<strong>de</strong>n zu lassen<br />

(die das Völkerrecht verbietet). Und sie alle sind es, die Grund haben, <strong>de</strong>n<br />

Schimpf einer unmenschlichen Haltung während <strong>de</strong>s Krieges mit Verachtung<br />

zurückzuweisen. Und auch jener, <strong>de</strong>r sein Regiment durchs Sperrfeuer ins<br />

Ver<strong>de</strong>rben jagte und die Reste zu wohltätigem Zweck zwischen Operettenlieblingen<br />

das überstan<strong>de</strong>ne To<strong>de</strong>sgrauen darstellen ließ. Der spielt, <strong>de</strong>r schießt,<br />

<strong>de</strong>r schiebt — <strong>de</strong>r Standort wechselt, nicht das Gesicht. Nur ehrlicher ist es<br />

im Raub als im Mord; appetitlicher im Fraß als in <strong>de</strong>r Glorie. Ist es nicht <strong>de</strong>r<br />

allem Fleische zugetane Humor, <strong>de</strong>r uns animiert, das Geschlecht als<br />

Tauschwert für Viktualien zu begrinsen? Ist es nicht eine <strong>de</strong>r strammen Masken<br />

an <strong>de</strong>r Ringstraßenfront jener Sün<strong>de</strong>nburg, nach <strong>de</strong>ren Betreten man gefragt<br />

ward: »Von welcher Firma?« Ist es, nicht das Antlitz, nicht Österreich,<br />

nicht <strong>de</strong>r Krieg? Ist es nicht jenes in Not und Tod und Tanz und Pflanz und<br />

Haß und Gspaß anspruchsvolle, gut— und blutgierige Gespenst, das uns in<br />

<strong>de</strong>r Nacht <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte aus seinem Grabe besucht hat? Ja, er ist es! Für<br />

ihn haben wir Schmach und Entbehrung erdul<strong>de</strong>t, an seiner Kette und an seinem<br />

Strang durchgehalten, für ihn sind wir verarmt, erkrankt, verlaust, verlu<strong>de</strong>rt,<br />

verhungert, veren<strong>de</strong>t, gefallen zur Hebung <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>nverkehrs! Er<br />

war Schin<strong>de</strong>r, Schieber, Drahrer, Scharfrichter <strong>de</strong>s Battisti, Hurentreiber,<br />

Erzherzog, Jud und Christ in einer Figur, wir haben ihm alles geopfert, und<br />

das letzte was uns geblieben ist, ist seine Ehre. Denn dieser, jener, einer, viele,<br />

alle, sie waren nur Mör<strong>de</strong>r aus Mangel an Phantasie, nicht weil's die Sache<br />

wollte. Und Herzen mußten zu schlagen aufhören, weil's ihnen bei <strong>de</strong>r Sorte<br />

an Protektion gefehlt hat. Nicht zum Zweck, nicht als Opfer <strong>de</strong>r Natur, nicht<br />

in <strong>de</strong>spotischer Verantwortung, die vor <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> seelisch sich behauptet,<br />

nein, durch vergnügte Spießbürger, die nicht wußten, ob's die Schweinsjagd<br />

war o<strong>de</strong>r nur die Menschenjagd, ist alles das vollbracht wor<strong>de</strong>n. Durch <strong>de</strong>n<br />

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grauenhaften Schlag, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r »Deckung« sein Dasein fristet, um es <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>rn zu zerstören: <strong>de</strong>r Deckung durch <strong>de</strong>n Akt, durch die Phrase, durch die<br />

Anonymität, durch <strong>de</strong>n Mangel an Beweisen, durch alle Behelfe <strong>de</strong>r Technik<br />

und <strong>de</strong>r Lüge, die einer niedrigen Natur Vorstellung und Hemmung ersparen<br />

und <strong>de</strong>n Mut zum Verbrechen ersetzen. Harmlose Mordskerle waren es, gemütliche<br />

Kanaillen, Folterknechte aus Hetz. Losgelassene Simandln, <strong>de</strong>r<br />

Hausfraunzucht entsprungene Sumper, bleiche Kujone, die in Reglement und<br />

Fibel Ersatz für die Potenz suchen, haben im Pallawatsch <strong>de</strong>r Quantitäten sich<br />

einen Weltmullatschak verstattet und die ungeheure Gelegenheit <strong>de</strong>s Kanonenrausches<br />

zur Rache an einer höher gearteten Mannheit benützt. Man reiße<br />

ihnen die Or<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Brust und weihe diese, in<strong>de</strong>m man sie <strong>de</strong>n Kriegshun<strong>de</strong>n<br />

verleiht, <strong>de</strong>n in Armut und Wür<strong>de</strong> beispielgeben<strong>de</strong>n Antipo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Generalstabs! Von feigen Philistern, die kein Blut sehen können, ist es in Strömen<br />

vergossen wor<strong>de</strong>n. Es stehe auf gegen sie, es erstarre zum Riesenfanal<br />

dieser Nacht und es erschlage sie im Schlaf, so sie wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Speckseite<br />

ihrer Hausehre, liegen! Wenn Menschen vergessen können, nie vergißt die<br />

Natur, was ihr in diesem Sklavenaufstand angetan ward, und bis zum jüngsten<br />

Tag töne, <strong>de</strong>m Gebot <strong>de</strong>s faustischen Generalissimus zur Antwort, <strong>de</strong>r Racheschrei<br />

<strong>de</strong>r Kraniche <strong>de</strong>s Ibykus für Reiher und Menschheit über Pygmäen:<br />

Mordgeschrei und Sterbeklagen!<br />

Ängstlich Flügelflatterschlagen!<br />

Welch' ein Ächzen, welch Gestöhn<br />

Dringt herauf zu unsern Höhn!<br />

Alle sind sie schon ertötet,<br />

See von ihrem Blut gerötet!<br />

Mißgestaltete Begier<strong>de</strong><br />

Raubt <strong>de</strong>s Reihers edle Zier<strong>de</strong>.<br />

Weht sie doch schon auf <strong>de</strong>m Helme<br />

Dieser Fettbauch—Krummbein—Schelme.<br />

Ihr Genossen unsres Heeres,<br />

Reihenwan<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>s Meeres,<br />

Euch berufen wir zur Rache<br />

In so nahverwandter Sache.<br />

Keiner spare Kraft und Blut,<br />

Ewige Feindschaft dieser Brut!<br />

Es war ein Traum. Wir waren auf Walpurgis zwischen Sautanz und Totentanz.<br />

Kinodramatisch mit viel Blut und Walzer ging es zu. Wir saßen in einem<br />

ungeheizten Saal. Wir wur<strong>de</strong>n durch das En<strong>de</strong> entschädigt. Und wie da,<br />

nach<strong>de</strong>m schon alles verpulvert war, ein gewaltiger Fall geschah, hörte man<br />

in atemloser Stille eine Stimme aus <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rsten Reihe nur ein Wort rufen,<br />

aber mit einem Ton, in <strong>de</strong>m alle Quantität <strong>de</strong>r Leere dumpf zu Bo<strong>de</strong>n schlug,<br />

das große Wort <strong>de</strong>s <strong>Nachruf</strong>s aller <strong>Nachruf</strong>e: Bumsti! ... Phorkyas aber richtet<br />

sich riesenhaft auf, tritt von <strong>de</strong>n Kothurnen herunter, lehnt Maske und Marschallsstab<br />

zurück und zeigt sich als Mephistopheles, um, insofern es nötig<br />

wäre, im Epilog das Stück zu kommentieren.<br />

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