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<strong>Glossen</strong><br />

MIR SCHWIRRT DER KOPF<br />

vor Frauenbewegung, Frauenausstellung und so Sachen in Haus und<br />

Beruf. Überall jü<strong>de</strong>lt es von Problemen, Sexualproblem, Erziehungsproblem,<br />

höheren Moralbegriffen und Veredlung <strong>de</strong>r Geschlechtsbeziehungen. Alles<br />

soll in Bahnen gelenkt wer<strong>de</strong>n, die Wi<strong>de</strong>rstandskraft soll gestählt wer<strong>de</strong>n, das<br />

Verantwortlichkeitsgefühl soll gehoben wer<strong>de</strong>n und eine Wandlung in <strong>de</strong>r gegenseitigen<br />

inneren Wertschätzung <strong>de</strong>r Geschlechter soll vorbereitet wer<strong>de</strong>n<br />

und lebhaft begrüßt betritt hierauf die bekannte Vorkämpferin die Pappritz<br />

das Podium, um das schwierige Thema »Die öffentliche Sittlichkeit« in vornehmer<br />

Weise von hoher Warte aus zu behan<strong>de</strong>ln. Die Prostitution aber ist<br />

kein Korrelat, son<strong>de</strong>rn ein Überbleibsel (hier schon gelüstet's mich, mit <strong>de</strong>r<br />

Pappritz eine dunkle Gasse aufzusuchen und ihr ein Überbleibsel vorzuführen).<br />

Prinzipiell, ethisch, Reglementierung, Freibrief, Hauptbollwerk, Repressionsmaßregeln<br />

(hier schon fühle ich, daß, wenn Rednerin schöner wäre, solche<br />

Worte einem intelligenten Hörer einheizen müßten). Wir Frauen, ruft sie,<br />

machen uns zu Mitschuldigen, wenn wir nicht mit Hand anlegen; Frauen und<br />

Männer müssen gemeinsam arbeiten an <strong>de</strong>r Höherentwicklung <strong>de</strong>r Sittlichkeit,<br />

uni mit reinen Hän<strong>de</strong>n ... (ja, gemeinsam, möchte ihnen so passen, diesen<br />

Frauen, die keine sind, und diesen Männern, die auch keine sind. Aber<br />

solche Sachen wer<strong>de</strong>n nicht gedul<strong>de</strong>t.) Mir schwirrt <strong>de</strong>r Kopf. Da höre ich ein<br />

Kreischen. Die vom Frauenkongreß haben die vom Mutterschutz ausgeschlossen,<br />

weil die Prinzipien, von <strong>de</strong>nen die vom Mutterschutz ausgehen, »für die<br />

För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s weiblichen Geschlechtes und für die Hebung <strong>de</strong>s Gemeinwohles<br />

nicht dienlich sind« und weil die vom Mutterschutz einen Mann, sage<br />

einen Mann als Vorsitzen<strong>de</strong>n haben. Es wird schon keiner sein. Aber sie wollten<br />

doch gemeinsam arbeiten? Und welche Prinzipien sind <strong>de</strong>nn für die För<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>s weiblichen Geschlechtes und für die Hebung <strong>de</strong>s Gemeinwohls<br />

dienlich? Schauen wir uns in <strong>de</strong>r Berliner Frauenausstellung um, da fin<strong>de</strong>n<br />

wir alles. Vor allem ein<br />

Redaktionszimmer ... Der Raum dient, entsprechend <strong>de</strong>n Wünschen<br />

<strong>de</strong>r Pressekommission, zur Benutzung für dieselbe und<br />

stellt <strong>de</strong>n Arbeitsraum einer vornehmen Chefredaktion dar.<br />

Was ist da los?<br />

Außer <strong>de</strong>n notwendigen Arbeitsmöbeln ist ein behaglicher Leseplatz<br />

zur Durchsicht übersandter Literatur bestimmt.<br />

1


Und was noch?<br />

Im Hinblick auf <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r Ausstellung insgesamt bestand die<br />

Aufgabe, daß eine große Anzahl Porträts von Journalistinnen so<br />

untergebracht wur<strong>de</strong>, daß das Publikum diese Bil<strong>de</strong>r gut betrachten<br />

kann, wobei die Zweckbestimmung <strong>de</strong>s Raumes nicht beeinträchtigt<br />

wer<strong>de</strong>n durfte.<br />

Weg! Pfui! Weiter:<br />

Bibliothek ... Enthält die Ausstellung <strong>de</strong>r Gruppe: Die Frau in <strong>de</strong>r<br />

Literatur.<br />

Weg! Pfui! Weiter:<br />

Musikzimmer ... Enthält die Ausstellung <strong>de</strong>r Gruppe: Die Frau in<br />

<strong>de</strong>r Musik.<br />

Auch überflüssig. Weiter:<br />

Eßzimmer.<br />

Meinetwegen.<br />

Schlafzimmer ...<br />

Halt! Hier lasset uns, ermü<strong>de</strong>t von dieser Wan<strong>de</strong>rung durch eine Welt<br />

von Unebenheiten, verweilen. Hier hängen keine Journalistinnen an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n.<br />

Hier wollen wir Rückständigen bleiben, wenn in <strong>de</strong>r Bibliothek geschmust<br />

und die Frau in <strong>de</strong>r Musik besucht wird. Seit<strong>de</strong>m das üblich ist, ist<br />

die Musik in <strong>de</strong>r Frau flöten gegangen. Wenn wirs nun länger nicht mit ansehen<br />

können, wie sich die Weiber am Fortschritt erhitzen, so rufen wir sie in<br />

Gottes Namen herein in die gute Stube. ich spaße nicht. Alles in dieser Welt<br />

<strong>de</strong>s zerfallen<strong>de</strong>n Intellekts ruft nach barbarischer Knechtung. Nur ein Wun<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Diktatur könnte die Freiheit vor sich selbst retten. ich wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Anfang<br />

damit machen, daß ich einen Frauenkongreß von St. Marxer Viehtreibern einfangen<br />

und so behan<strong>de</strong>ln ließe, wie das Geschlecht es meint, wenn <strong>de</strong>r Mund:<br />

Fortschritt sagt. Wenn sie die Augen zu verdrehen beginnen, rufe man mich.<br />

Ob es meinem erotischen Geschmack entspricht, dabei zu sein, ist meine Privatangelegenheit.<br />

Meiner geistigen Lei<strong>de</strong>nschaft entspricht es, die Rache <strong>de</strong>r<br />

boykottierten Natur zu erleben, und meinem Wahn entspricht es, zu glauben,<br />

daß ich zur Welt sie einzurichten kam, und darum kann meine Privatangelegenheit<br />

<strong>de</strong>r Zeugenschaft solchen Triumphes nicht mehr entbehren. So, meine<br />

Herren Damen, geht es nicht weiter. ich will nichts mehr von euch, aber<br />

kann ich dafür, daß, wenn eine von euch »Sombart« o<strong>de</strong>r »Mereschkowski«<br />

sagt o<strong>de</strong>r vom sphärischen Polygon spricht o<strong>de</strong>r Sanskrit plappert, mir <strong>de</strong>r<br />

Wunsch ersteht, sie wenigstens mit einem Aushilfsdiener einer Leihbibliothek<br />

gepaart zu sehen, kann ich dafür? ich bin pervers, ich hörte, wie eine nur einmal<br />

<strong>de</strong>n Ausdruck »pars pro toto« gebrauchte, und sofort stellte ich mir vor,<br />

daß sie es fünfundzwanzigmal auf ihrem pars pro toto zu spüren bekäme. So<br />

geht es nicht weiter. Die Frauenbewegung ist eine Aufregung, aber eine Aufregung<br />

braucht einen Abschluß. Stallknechte gönne ich euch nicht; die gehören<br />

für die Vornehmen, die auf <strong>de</strong>n Höhen <strong>de</strong>s Lebens durch Zucht <strong>de</strong>n Abstand<br />

von <strong>de</strong>r Natur markieren. Ihr, die es mit <strong>de</strong>r Bildung besorgt, brauchet<br />

Schuldiener. So geht es nicht. Diese intellektuellen Gelage verletzen das<br />

Schamgefühl. Wenn Herren und Damen beisammen sitzen und über Themen<br />

re<strong>de</strong>n, so sind sie oben uniform und lenken darum <strong>de</strong>n Blick <strong>de</strong>s Betrachters<br />

auf jene Partie, wo sie verschie<strong>de</strong>n sind. Es ist eine Schweinerei. Vor Weibern,<br />

die es sind, kann man geistige Dinge erörtern, ohne sich ewig bei <strong>de</strong>r<br />

Nebenabsicht zu ertappen. Läßt man sie allein, so zün<strong>de</strong>n sie Postämter an,<br />

wie jetzt in England, und sind dann selig, wenn die Constabler kommen und<br />

sie unter <strong>de</strong>n Arm fassen. Die Frau als Bürger, Politiker, Gelehrter? Wohl, sie<br />

2


läßt sich zum Beruf dressieren. Oberhalb <strong>de</strong>r Taille wird sie das Glück haben,<br />

an allen Scheußlichkeiten <strong>de</strong>s Männerdaseins gleichberechtigt teilzunehmen.<br />

Sogar mit größerem Recht. Denn die Männer, die die Weiber auch im Beruf<br />

neben sich haben, verlieren <strong>de</strong>n Verstand, und kein Wun<strong>de</strong>r, daß die Berufsträgerinnen<br />

<strong>de</strong>n Berufsträgern überlegen sind. Geht die Frau politisch los, so<br />

agitiert <strong>de</strong>r Mann erotisch. Ihre Lust hätte seinen Geist entzün<strong>de</strong>t; ihr Geist<br />

wird seine Gier nicht löschen. Sie versengt die Welt und schafft keine neue<br />

mehr. Und wenn man es verhüten will, daß die Männer im Talar vom Ernst<br />

<strong>de</strong>s Lebens abgelenkt wer<strong>de</strong>n und nur mehr darauf sinnen, wie sie <strong>de</strong>n Weibern<br />

<strong>de</strong>n Talar abnehmen könnten so emanzipiere man unten und nicht oben!<br />

Oben sieht sich die Entwicklung noch hoffnungsvoll an; da unten aber ist's<br />

fürchterlich. Denket an das, was ich euch in dieser ernsten Stun<strong>de</strong> sage: eure<br />

Nachwelt wird es bitter bereuen, daß auf euer Leben eine große Anzahl Porträts<br />

von Journalistinnen heruntergesehen haben. Euer Leben war nur eine<br />

Frauenausstellung. Die Zweckbestimmung dieses Zeitraums wur<strong>de</strong> im Hinblick<br />

auf <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r Ausstellung beeinträchtigt.<br />

* * *<br />

JUDEX ERGO CUM SEDEBIT<br />

Einer hat eine verführt, <strong>de</strong>ren Reife ihm mehr erlaubte als ihre Jugend<br />

verbot.<br />

Vors. : Sie wollen <strong>de</strong>n Angeklagten jetzt nicht mehr heiraten?<br />

Zeugin: Ich mag ihn nicht mehr.<br />

Vors.: Warum?<br />

Zeugin: Ich habe meine Jugend noch nicht genossen, bin noch<br />

nicht fünfzehn Jahre alt und soll schon heiraten?<br />

Ein Geschworner: Fühlen Sie nicht, daß Sie etwas getan haben,<br />

was Sie durch die Ehe sühnen sollten?<br />

Zeugin: Ja, aber ich mag ihn nicht.<br />

Geschworner: Und wenn Sie durch Ihre Weigerung seine ganze<br />

Zukunft zertrümmern, wür<strong>de</strong>n Sie ihn auch dann nicht heiraten?<br />

Zeugin: Nein, ich mag nicht. (Bewegung.)<br />

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —<br />

Wär' ich hier weg!<br />

Mir ist als ob die Orgel mir<br />

Den Atem versetzte —<br />

* * *<br />

DER STERBENDE FÜRST<br />

» … Arterienverkalkung im Fortschreiten … größte Gefahr, daß<br />

das Leben <strong>de</strong>s Fürsten durch eine Trombose bedroht wird ... kann<br />

noch mehrere Jahre dauern, ohne daß man in die Lage kommen<br />

wird, gegen ihn zu verhan<strong>de</strong>ln.«<br />

Akt beim jüngsten Gericht ... Abtretung an Landgericht, beschlossen ...<br />

hurra!<br />

* * *<br />

3


SEHR RICHTIG,<br />

»man kennt die originelle Entwicklung <strong>de</strong>s trefflichen, auf <strong>de</strong>m<br />

Gebiete <strong>de</strong>r Popularisierung <strong>de</strong>r Kunst unausgesetzt tätigen Mannes«<br />

nämlich <strong>de</strong>s fünfzigjährigen Hofrats Strzygowski.<br />

»Vier Jahre später konnte er sich ... bald wen<strong>de</strong>te er sich jedoch ...<br />

und es gelang ihm ... hierauf gab er ...«<br />

Und unvergessen wird es ihm bleiben, daß er Berufungen nach Breslau<br />

und Halle abgelehnt hat. Von <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Kunst aber hat er gesagt:<br />

»ich vermisse viel, bewun<strong>de</strong>re ebensoviel. Und vor allem, ich gehe<br />

und ringe mit <strong>de</strong>n Künstlern, hoffe mit Ihnen«<br />

nämlich, daß sie die Wän<strong>de</strong> eines Bor<strong>de</strong>lls, hat er gesagt, zum Ausmalen<br />

bekommen wer<strong>de</strong>n. Hat er gesagt. Er hält es mit <strong>de</strong>r Zukunft.<br />

»Auf <strong>de</strong>r nächsten Osterfahrt wird er Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wiener Urania<br />

durch das Land <strong>de</strong>r Pyrami<strong>de</strong>n begleiten. Man kann sich wohl<br />

keinen besseren Cicerone ... «<br />

Er wird mit ihnen gehen, als wären es Künstler, er wird ihnen die Pyrami<strong>de</strong>n<br />

zeigen und nicht die Bor<strong>de</strong>lle, und er wird nicht mit ihnen ringen.<br />

* * *<br />

DER GERONT<br />

Herr Oskar Blumenthal ist sechzig Jahre alt gewor<strong>de</strong>n. Das war nicht zu<br />

verhin<strong>de</strong>rn. Natürlich versteht sich wer wür<strong>de</strong> zweifeln selbstverständlich<br />

hatte er sichs verbeten und wollte absolut nicht, daß man dieses Tages ge<strong>de</strong>nke.<br />

Die Folge ist, daß man ge<strong>de</strong>nkt; daß das Schäkerspiel aufgeführt wird, wie<br />

einer »die Flucht ergreift«, um eingeholt zu wer<strong>de</strong>n; daß es im Blätterwald<br />

vom Kitschmotiv <strong>de</strong>s Jungseins, wenn man alt wird, wi<strong>de</strong>rhallt und daß allerorten<br />

<strong>de</strong>r Lindau, <strong>de</strong>r noch jünger, nämlich noch älter ist, auftaucht und sich<br />

erinnert, wie <strong>de</strong>r Blumenthal noch jünger war und was damals Vielversprechen<strong>de</strong>s<br />

an ihm beobachtet wur<strong>de</strong>, und <strong>de</strong>rgleichen Süßigkeiten mehr. Konditoreimädchen<br />

überessen sich am ersten Tag und rühren dann durch dreißig<br />

Jahre die Ware nicht an. Die süßen Herren vom Bau <strong>de</strong>lektieren sich nie zu<br />

En<strong>de</strong>. Man möchte glauben, daß Herrn Lindau endlich einmal vom Herrn Blumenthal<br />

übel wird und vice versa, nein, es wird fortgenascht. Und da necken<br />

sie sich coram populo, und <strong>de</strong>r Herr Schlenther plau<strong>de</strong>rt aus, wie das war, damals,<br />

als <strong>de</strong>m Blumenthal »um Wangen und Kinn noch ein Vollbart wucherte«<br />

und er — nun, was noch hatte? Einen »krausen Haarkranz«. Damals verhielt<br />

er sich zu Rudolf Gottschall »wie Thersites zu Aias <strong>de</strong>m Telamonier«. Was,<br />

glaubt man, wird aus <strong>de</strong>m Thersites — nun, was? Ein Nestor! Damals hielt<br />

man Oskar Blumenthal für ein Pseudonym <strong>de</strong>s Herrn Paul Lindau; man <strong>de</strong>nke.<br />

Es wäre natürlich ein großes Unglück für die Literaturgeschichte gewesen,<br />

wenn sich das Mißverständnis nicht bald aufgeklärt hätte und Herr Oskar Blumenthal<br />

nicht »als ein Lebewesen eigenster Art« erkannt wor<strong>de</strong>n wäre, ich<br />

glaube, daß man später einmal <strong>de</strong>r Vereinfachung halber wie<strong>de</strong>r, und zwar<br />

vielleicht Herrn Lindau für ein Pseudonym <strong>de</strong>s Herrn Blumenthal halten und<br />

endlich auch diese Chiffre streichen wird. Herr Schlenther schil<strong>de</strong>rt die Karriere,<br />

die Herrn Blumenthal vom Kritiker zum Autor, von diesem zum Direktor<br />

führte, und nun sei er zur »vierten Stufe« emporgestiegen, zum Villenbesit-<br />

4


zer, <strong>de</strong>r, nicht weit vom Hotel zum Weißen Rössel, »über das Weltganze und<br />

seine Teile« sinnen könne. »Der Dichter neigt nun zum Denker.« Gottseidank<br />

fällt er nicht. Plötzlich aber lese ich das Wort »Bank <strong>de</strong>r Spötter«. Nämlich,<br />

wenn er auch noch immer, so tritt er doch schon, nämlich »in <strong>de</strong>n Rat warnen<strong>de</strong>r,<br />

mahnen<strong>de</strong>r, bedachtsamer und betrachtsamer Geronten. Thersites<br />

will sich in Nestor verwan<strong>de</strong>ln«. Habe ich's nicht gesagt? Natürlich verzichtet<br />

Blumenthal »ungern auf die leichtsinnigen Vorrechte <strong>de</strong>r Jugend«. Er will um<br />

keinen Preis jemals »Altmeister« genannt wer<strong>de</strong>n. Trotz<strong>de</strong>m ist er es. Wie<strong>de</strong>r<br />

ein altes Schönbartspiel. Herr Salus will nicht mehr liebenswürdig sein — alle<br />

beruhigen ihn und sagen ihm, es gebe überhaupt keinen Menschen, <strong>de</strong>r so liebenswürdig<br />

ist wie Salus. Blutnenthal will nicht Altmeister sein, nicht Jubilar,<br />

nicht Nestor. Son<strong>de</strong>rn er will Falter sein, Biene mit schwarzem Schnurrbart,<br />

Schwerenöter, an Kelchen nippend, nämlich an Frauenlippen, kosend,<br />

schmecketig. Schlenther aber »kann sich nicht helfen, er fin<strong>de</strong>t viel Nestorianisches:<br />

weise Sprüche in munterer Fassung, allerdings kurz angebun<strong>de</strong>n;<br />

ernste Mahnungen an jüngste 'Neutöner' und Herbert Eulenberg, Gedanken<br />

über Natur und Geschichte und — ganz Nestor — Ansätze zu Erinnerungen.«<br />

Überhaupt »ein sanft zum Verzeihen geneigtes Verstehen und ein stilles Augurenlächeln<br />

über die Rauflust früherer Tage«. Lindau hat es längst geahnt,<br />

Schon als er das erste Manuskript Blumenthals zu Gesicht bekam, dachte er,<br />

wie er versichert, »an <strong>de</strong>n Most, <strong>de</strong>r sich absurd gebär<strong>de</strong>t und doch guten<br />

Wein gibt«. Lindau zitiert ziemlich vollständig <strong>de</strong>n Gedanken, an <strong>de</strong>n er schon<br />

damals dachte. Er schreibt das Hauptverdienst <strong>de</strong>r Gattin zu, die auf <strong>de</strong>n »jugendlichen<br />

Draufgänger in Sturm und Drang« eingewirkt und »ohne die<br />

scharfe Eigenart <strong>de</strong>s Satirikers irgendwie zu beeinträchtigen«, in sein Leben<br />

Gleichgewicht ... gemütliches Heim, und was man halt so braucht für Parnaß<br />

und Familie. (Brautwerbung im <strong>de</strong>utschen Lustspiel: »Wirste aber auch die<br />

scharfe Eigenart <strong>de</strong>s Satirikers nicht irgendwie beeinträchtigen, Mariechen?«<br />

— »I, wo werd' ik <strong>de</strong>nn, du blutiger Oskar, du!« Beiseite: »ich will, ohne daß<br />

er es merkt, in sein Leben Gleichgewicht bringen und ihm zu froher und freudiger<br />

Arbeit in einem reizend gemütlichen Heim seelische Ruhe und behagliche<br />

Stimmung gewähren«. Vorhang.) Abgesehen vom Most zitiert aber Lindau<br />

nicht immer vollständig, so sagt er zum Beispiel : »Blumenthal lachte zuletzt,<br />

und wer zuletzt lacht ...« Da hörts auf. Offenbar hat er es auch mit <strong>de</strong>r Wendung:<br />

»Aber Octavio war mit <strong>de</strong>m Erreichten noch nicht zufrie<strong>de</strong>n« auf ein Zitat<br />

abgesehen. Er hätte wohl auch sagen können: Max aber blieb nicht bei<br />

ihm, son<strong>de</strong>rn ging von ihm. Mit <strong>de</strong>m »Probepfeil« aber habe Herr Blumenthal<br />

<strong>de</strong>n Vogel abgeschossen. Und die Gelegenheit, die ihm Blumenthal zu einer so<br />

schlagfertigen Bemerkung bot, erklärt schließlich die Sympathien <strong>de</strong>s Herrn<br />

Lindau, <strong>de</strong>r seinen Artikel mit <strong>de</strong>n Worten schließt: »Ergo bibamus«. Herr<br />

Schlenther ließe sich das nicht zweimal sagen. Wer schon hat, will schon. Der<br />

Mann hat lbsen gefeiert und Blumenthal aufgeführt. Er erklärt das. Sie haben<br />

sich abends vor einem »von uns bei<strong>de</strong>n gleich treu verehrten goldgelben<br />

Trunk aus Böhmerland« — Herr Schlenther dürfte sich an Ort und Stelle kürzer<br />

fassen — gefun<strong>de</strong>n. Und er verzieh ihm, daß er Blumenthal war und nicht<br />

lbsen. Es dürfte ihn aber interessieren, daß er in seiner lbsen—Ausgabe <strong>de</strong>n<br />

geistigen Horizont <strong>de</strong>s Herrn Blumenthal durch ein Zitat historisch festgestellt<br />

hat: »Die 'Kronpräten<strong>de</strong>nten' ist eine verfehlte und unreife Arbeit, die<br />

aber in Einzelheiten das rege Hineinwirken eines dichterischen Könnens verrät«.<br />

Schrieb Herr Blumenthal, als er noch einen krausen Haarkranz trug.<br />

Nun ist aber Herrn Schlenther zu sagen, daß man ein Spei<strong>de</strong>l sein muß, um<br />

kritische Gegnerschaften ex trinken zu dürfen; sonst schwimmt <strong>de</strong>r Charakter<br />

5


als Bierhansel obenauf, die Persönlichkeit wird auf einen Zug geleert und<br />

selbst ein Doppelliter bleibt ohne tiefere Be<strong>de</strong>utung. Jawohl, das muß ich <strong>de</strong>m<br />

Herrn Schlenther sagen. Und man kann als Theaterdirektor <strong>de</strong>s Lebens Notdurft<br />

Opfer bringen — <strong>de</strong>nn das Theater gehört <strong>de</strong>m Publikum und die Werke<br />

<strong>de</strong>s Herrn Blumenthal sind genau so unentbehrlich wie ein Wirkwarenmagazin<br />

—, aber als Literat zur freien Hand, <strong>de</strong>r Ibsenforschung zurückgegeben,<br />

hat man nicht das Recht, zum 60. Geburtstag Blumenthals Homer zu zitieren.<br />

Was Blumenthal anlangt und sein Liebsgetän<strong>de</strong>l, so ist gar nichts dagegen<br />

einzuwen<strong>de</strong>n, wenn allerorten behauptet wird, er sei »entschlossen, nicht zu<br />

altern«. Die Geistlosigkeit, die in Deutschland sofort Respekt einhebt, wenn<br />

sie sich <strong>de</strong>s Reimes und <strong>de</strong>r Allongscheperücke bedient, bedarf nur <strong>de</strong>r Routine<br />

und nicht <strong>de</strong>r Jahre, und die »nach<strong>de</strong>nklichen, hochgestimmten Betrachtungen«,<br />

die Herr Blumenthal über Frauenliebe und —leben angestimmt hat<br />

und die jetzt in allen Feuilletons zitiert wer<strong>de</strong>n, sind vermöge ihrer stofflichen<br />

Appetitlichkeit <strong>de</strong>r allgemeinen Zustimmung sicher. Hol mich <strong>de</strong>r Teufel, dieser<br />

Nestor ist ein Paris. Wie sagt er doch so treffend:<br />

Eine Frau besiegt uns im Wortgefecht selten durch überzeugen<strong>de</strong><br />

Grün<strong>de</strong>, aber bisweilen durch unwi<strong>de</strong>rlegbare Küsse.<br />

Vor solchem Gedankenblitz geht ein Schmunzeln durch ganz Deutschland,<br />

bei solch moussieren<strong>de</strong>m Kupferberg Gold — köstliches Naß — stupft<br />

selbst manche »Hausehre« ihr Alterchen, und ein Voyeur, <strong>de</strong>r von drüben<br />

durch das Loch <strong>de</strong>r Vogesen zuschaute, müßte sich die Haut voll lachen. Dabei<br />

wird von allen Gratulanten »Mariechens« und <strong>de</strong>s gezähmten »blutigen<br />

Oskar« Familienglück etwa so geschil<strong>de</strong>rt, als ob ausgerechnet Parthenia <strong>de</strong>n<br />

Philemon am Schnürl hätte und das Haupt Ingomars im Schoße <strong>de</strong>r Baucis<br />

ruhte. Nur manchmal erhebt er sich, wird nach<strong>de</strong>nklich und schreibt <strong>de</strong>n<br />

Aphorismus hin:<br />

ich halte es für die größte Bosheit <strong>de</strong>r Moralprediger, daß sie uns<br />

immer nur auffor<strong>de</strong>rn, in unsern eigenen Busen zu greifen.<br />

in solchen Fällen spricht <strong>de</strong>r Feuilletonredakteur <strong>de</strong>r 'Frankfurter Zeitung'<br />

die Meinung aus, Blumenthal sei »entschlossen, sein erfolgreiches Studium<br />

<strong>de</strong>r Frauen eifrig fortzusetzen.« Mir wird übel, aber ich kann nicht leugnen,<br />

ich glaube, mich dünkt, es hat <strong>de</strong>n Anschein: dieser Geront ist ein Vocativus!<br />

* * *<br />

NICHT GEWITZIGT<br />

durch die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Nordpols hat es sich die Menschheit nicht<br />

nehmen lassen, jetzt auch <strong>de</strong>n Südpol zu ent<strong>de</strong>cken. Wie<strong>de</strong>r zwei, wie<strong>de</strong>r<br />

weiß man nicht sicher, ob es einem, aber sicher, daß es bei<strong>de</strong>n gelungen ist.<br />

Um Gotteswillen, Vorsicht! Die Duplizität <strong>de</strong>r Duplizität <strong>de</strong>r Fälle muß doch<br />

auch das journalgelähmte Weltgehirn stutzig machen. Spritzt es nicht endlich<br />

aus vor <strong>de</strong>m Klischee: »Noch fehlen Nachrichten von unbedingter Zuverlässigkeit,<br />

aber —«? Verdorrt es nicht vor <strong>de</strong>m Jubel <strong>de</strong>s fortschrittlichen Leit-<br />

Arktikers, <strong>de</strong>r da — mir sennen objektiv — wie ehe<strong>de</strong>m für <strong>de</strong>n Nordpol, so<br />

jetzt für <strong>de</strong>n Südpol eintritt, weil es sich um Bollwerke han<strong>de</strong>lt, und meint, »...<br />

wo je<strong>de</strong>r Schritt von allem Grauen <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sgefahr umgeben ist, da muß eine<br />

Seligkeit in das Herz einziehen, die wohl zu <strong>de</strong>n höchsten Genüssen gehört«?<br />

Und läßt sich <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Südpol überhaupt noch ent<strong>de</strong>cken, wenn solcher Menschendreck<br />

auf die Nachricht wartet und in <strong>de</strong>r Erwartung <strong>de</strong>n Satz schreibt:<br />

6


»Beson<strong>de</strong>rs hübsch ist <strong>de</strong>r Gedanke, daß Amundsen auf <strong>de</strong>r 'Fram' zurückkehrt<br />

... Wir kennen das Schiff …, wir sehen es unter <strong>de</strong>n Eispressungen einer<br />

polaren Winternacht; wir hören das Ächzen <strong>de</strong>r Schiffswän<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>m<br />

Druck, während drinnen, im hellerleuchteten, gemütlich erwärmten Schiffssalon<br />

die Polarfahrer bei Grog und Punsch und vor geschmückten Tannenbäumchen<br />

das Weihnachtsfest feiern«, Gott wie lieb. Und <strong>de</strong>r große Moriz fürchtet<br />

nicht, daß man ihn beim Wort nimmt und daß es noch Heiliges geben könnte,<br />

wenn die Schiffswän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit unter <strong>de</strong>m Druck ächzen. Und daß ich Polarfahrer<br />

unter unbeschreiblichem Jubel zurückkehren könnte ... Wie<strong>de</strong>r glauben<br />

die Skeptiker und zweifeln die I<strong>de</strong>alisten, wie<strong>de</strong>r äußern sich die Gattinnen,<br />

wie<strong>de</strong>r ist an Bord alles wohl und die Frage noch nicht geklärt, wie<strong>de</strong>r durchziehen<br />

zahlreiche Menschenmassen freudig erregt die Straßen, wie<strong>de</strong>r sind<br />

die Gletscherspalten die größte Gefahr und wie<strong>de</strong>r spitzt sich die Situation so<br />

zu, daß außer <strong>de</strong>n Schlittenhun<strong>de</strong>n die Neue Freie Presse hineinfällt. Sie hat<br />

auch schon in <strong>de</strong>r Geschwindigkeit, um nicht hinter <strong>de</strong>n arktischen Ehren zurückzubleiben,<br />

<strong>de</strong>n kürzesten Seeweg von Australien nach Kopenhagen ent<strong>de</strong>ckt.<br />

Denn Amundsen ist zwar <strong>de</strong>r Held <strong>de</strong>s Tages, aber<br />

er wird einen Monat hindurch in Australien Vorträge halten, worauf<br />

er in Buenos Aires wie<strong>de</strong>r an Bord <strong>de</strong>r »Fram« gehen wird, um<br />

sich über die Beringsee durch das nördliche Eismeer nach Kopenhagen<br />

zu begeben.<br />

Er dürfte einem Hotelportier am Südpol zum Opfer gefallen sein.<br />

* * *<br />

WENN SO ETWAS NOCH EINMAL VORKOMMT<br />

daß man uns aufsitzen läßt, rufen wir die Polizei! hat sie gesagt, und<br />

Herr Benedikt hat sich bereits mit Herrn Stukart in Verbindung gesetzt. (Die<br />

Verbindung anzubahnen, soll nicht schwer gewesen sein.) Man glaubt natürlich,<br />

das sei ein Witz. Es ist einer, und von <strong>de</strong>r ältesten Art. Die Wiener Wirklichkeit<br />

macht so trottelhafte Gspaß, und man schämt sich, mitzustenographieren,<br />

weil immer, was hierzulan<strong>de</strong> gut berichtet ist, schlecht erfun<strong>de</strong>n<br />

scheint. Herr Stukart stellte die Hilfe <strong>de</strong>r Polizei in Aussicht und je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r es<br />

künftig wagt, die Neue Freie Presse mit <strong>de</strong>r Wissenschaft hineinzulegen, habe<br />

eine kriminelle Verfolgung zu gewärtigen. Ob bloß Betrug vorliegt o<strong>de</strong>r gar<br />

Irreführung <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse — etwa als einer <strong>de</strong>r Polizei vorgesetzten<br />

Behör<strong>de</strong> —: ob Berdach 1 und Winkler 2 <strong>de</strong>shalb strafbar wären, weil sie<br />

sich eine Stellung angemaßt haben, die sie tatsächlich nicht besitzen; ob bloß<br />

ein Vergehen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung vorliegt o<strong>de</strong>r Aufruhr<br />

und Aufstand; ob Hochverrat o<strong>de</strong>r Majestätsbeleidigung angenommen wür<strong>de</strong>;<br />

ob es Verfälschung eines öffentlichen Kreditpapiers wäre o<strong>de</strong>r gar Münzverfälschung;<br />

Religionsstörung o<strong>de</strong>r Dynamitverbrechen; Weglegung eines Kin<strong>de</strong>s<br />

o<strong>de</strong>r Zutreibung einer Leibesfrucht (wi<strong>de</strong>r Wissen und Willen <strong>de</strong>r Mutter);<br />

ob nur listige Vorspiegelung falscher Tatsachen — Grubenhun<strong>de</strong> gibt es nicht<br />

— vorliegt o<strong>de</strong>r Ausnützung <strong>de</strong>r Wehrlosigkeit einer Prostituierten: darüber<br />

ist sich die Kriminalistik noch nicht im klaren. Sie ist nämlich auch eine Wissenschaft,<br />

<strong>de</strong>ren Tonfall zu täuschen<strong>de</strong>n Wirkungen verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Je<strong>de</strong>nfalls ist sie gesonnen, einzuschreiten. Die Neue Freie Presse kann beruhigt<br />

kommen<strong>de</strong>n Erdbeben entgegensehen und wenns in <strong>de</strong>r Glockengasse<br />

1 s. “Das Erdbeben“ in Heft 245<br />

2 s. “Nach <strong>de</strong>m Erdbeben“ in Heft 338<br />

7


drunter und drüber geht, kaltes Blut bewahren. So oft es <strong>de</strong>mnach <strong>de</strong>r Redaktion<br />

nicht gelingt, einem Anschlag auf ihre universelle Bildung zu entgehen,<br />

wird es <strong>de</strong>r Polizei gelingen, <strong>de</strong>s Täters habhaft zu wer<strong>de</strong>n. Zur äußersten<br />

Vorsicht dürfte je<strong>de</strong> wissenschaftliche Zuschrift vorher <strong>de</strong>m Sicherheitsbüro<br />

vorgelegt wer<strong>de</strong>n, so daß es noch im letzten Moment <strong>de</strong>r Polizei gelingen<br />

wird, das Äußerste zu verhüten. Vor <strong>de</strong>m Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse<br />

sind Detektivs aufgestellt, um im Ernstfall jenes Unholds, <strong>de</strong>r sich vor Redaktionen<br />

herumtreibt und <strong>de</strong>r Unschuld verführerische Dinge zeigt, in flagranti<br />

habhaft zu wer<strong>de</strong>n, und sollte wie<strong>de</strong>r einmal in <strong>de</strong>r Ostrauer Versuchsanstalt<br />

etwas Auffallen<strong>de</strong>s vorkommen o<strong>de</strong>r Berdachs Gattin sich jach hin und herwerfen,<br />

so wird <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse von Amtswegen be<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n,<br />

daß sie auf solche Symptome nichts geben müsse. Immerhin ist es bemerkenswert,<br />

daß die Neue Freie Presse das Material an Komik, das täglich über sie<br />

hereinbricht, nicht mehr allein bewältigen kann, und daher die Mitwirkung<br />

<strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> in Anspruch nimmt. Da könnte es <strong>de</strong>nn leicht geschehen, daß<br />

dieser <strong>de</strong>r Löwenanteil zufällt und daß in Europa noch mehr als über eine Zeitung,<br />

die in <strong>de</strong>r Geologie nicht sattelfest ist, über ein Sicherheitsbüro gelacht<br />

wird, das bei einem Erdbeben in Funktion tritt. Auch könnte es geschehen,<br />

daß die Neue Freie Presse eine Zuschrift abdruckt, die selbst <strong>de</strong>r Polizei nicht<br />

verdächtig vorkam, und daß diese dann gezwungen ist, gegen einen Satiriker<br />

einzuschreiten, <strong>de</strong>ssen geologischer Leumund ihr einwandfrei schien. Man<br />

wird sich <strong>de</strong>shalb wahrscheinlich darauf beschränken, erst dann einzuschreiten,<br />

wenn das Unglück bereits geschehen ist, wie die Behör<strong>de</strong> ja auch sonst<br />

Verbrechen gern ausreifen läßt und wie sie selbst bei <strong>de</strong>m bekannten Delikt<br />

<strong>de</strong>r Kuppelei erst Erhebungen pflegt, wenn schon die Spatzen auf <strong>de</strong>m Dach<br />

die Adresse pfeifen und die Lebemänner sie schon vergessen haben. Natürlich<br />

bleibt ihr dann noch genug Gelegenheit, um sich für die Neue Freie Presse<br />

auszuzeichnen und mit <strong>de</strong>m internationalen Ruhm <strong>de</strong>r Findigkeit auch etwas<br />

von <strong>de</strong>r europäischen Heiterkeit, die bisher nur einer stillen Dul<strong>de</strong>rin in <strong>de</strong>n<br />

Schoß fiel, zu ergattern. Immerhin läßt sich nicht leugnen, daß eine solche<br />

Verabredung, bei je<strong>de</strong>r Blamage halbpart zu machen, bedrohlich ist und daß<br />

die Maßregel, zu <strong>de</strong>r sich eine verzweifelte Redaktion und eine zielbewußte<br />

Polizei entschlossen haben, eine Erschwerung <strong>de</strong>s Wiener Lebens be<strong>de</strong>utet.<br />

Es steht zu befürchten, daß sich doch manche verdienstvolle Männer abschrecken<br />

lassen möchten, die Neue Freie Presse hineinzulegen. Freilich könnte<br />

ich sie auf alle nur mögliche Art ermuntern und ihnen die Beruhigung erteilen,<br />

daß sie getrost je<strong>de</strong> sich bieten<strong>de</strong> Gelegenheit benützen mögen, um die<br />

Neue Freie Presse hineinzulegen, weil es jetzt im weiten Bereiche <strong>de</strong>r Staatsnotwendigkeiten<br />

we<strong>de</strong>r etwas gibt, was dringen<strong>de</strong>r noch was gefahrloser ist<br />

und vor allem nichts, was mehr Spaß macht. Und wenn auch die eine o<strong>de</strong>r die<br />

an<strong>de</strong>re Zuschrift nicht erscheinen sollte: sie müssen nicht die Geduld verlieren,<br />

nicht <strong>de</strong>n Mut sinken lassen, es kommt die Zeit, wo wir wie<strong>de</strong>r lachen<br />

können. Das Leben ist ernst und es wäre <strong>de</strong>nn doch scha<strong>de</strong>, wenn wir <strong>de</strong>r wenigen<br />

Entschädigungen, die es bietet, verlustig gehen sollten, bloß <strong>de</strong>shalb,<br />

weil ein preßbereiter Polizist, <strong>de</strong>r an Freud und Leid <strong>de</strong>r Journalistik Anteil<br />

nehmen möchte, die Pflicht <strong>de</strong>r Dankbarkeit besser kennt als das Gesetz, und<br />

weil ein Feuilletonjüngel beauftragt ist, in Wien herumzurennen und ehrliche<br />

Leute durch die Verbreitung <strong>de</strong>s Gerüchtes zu schrecken, daß die Polizei bereits<br />

aufpaßt, daß <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse nichts geschieht. ich rate <strong>de</strong>r Polizei<br />

dringend, mir lieber meinen Pelz zur Stelle zu schaffen, vor allem aber<br />

acht zu geben, daß sie nicht am En<strong>de</strong> selbst hineinfällt und auf je<strong>de</strong>n Geologen,<br />

<strong>de</strong>n die Neue Freie Presse fängt, einen Verbrecher fin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r auch kei-<br />

8


ner ist. So wahr es im allgemeinen keine Grubenhun<strong>de</strong> gibt, so gibt es auch<br />

kein Gesetz, das imstan<strong>de</strong> wäre, sie zu unterdrücken, wenn sich ihre Existenz<br />

in beson<strong>de</strong>ren Fällen als notwendig herausstellen sollte; so wahr es in Ostrau<br />

in <strong>de</strong>r Regel keine Versuchsanstalt und in dieser für gewöhnlich keine Dynamos<br />

mit Hochdruckzylin<strong>de</strong>r gibt, so kann es keine Polizei geben, welche solche<br />

Unregelmäßigkeiten, die immer passieren können, untersucht, und so<br />

wahr keine Verordnung <strong>de</strong>r Berginspektion von Kattowitz in Vergessenheit<br />

geraten ist, so kann kein Paragraph <strong>de</strong>s Strafgesetzes herangezogen wer<strong>de</strong>n,<br />

um technische Fortschritte, die es nicht gibt, herbeizuführen, und technische<br />

Zuschriften, die es gibt, zu unterdrücken. Grubenhun<strong>de</strong>n ist mit <strong>de</strong>m Maulkorbzwang<br />

nicht beizukommen. Sie sind nicht nur nützlich, sie sind unabwendbar.<br />

ich spreche die bestimmte Erwartung aus, daß sich ehrliche und um<br />

das Gemeinwohl verdiente Männer wie <strong>de</strong>r Dr.—Ing. Erich R. v. Winkler nicht<br />

abhalten lassen wer<strong>de</strong>n, ihre Pflicht zu erfüllen. Sollte es <strong>de</strong>nnoch möglich<br />

sein, sollten die Besten im Land ihren Mut sinken lassen, weil ein Alba <strong>de</strong>s<br />

Schmocktums naht, so steht's schlimm genug um die Freiheit. Der Bürger<br />

mißtraut <strong>de</strong>m Bürger, <strong>de</strong>r Redakteur <strong>de</strong>m Einsen<strong>de</strong>r. Sen<strong>de</strong>t ein! Komme was<br />

kommen mag, für einen stehe ich: Berdach wankt nicht! Und ich verlasse ihn<br />

nicht in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gefahr. ich stelle mich vor ihn und nehme auf mich,<br />

was er getan hat. So zwei wie wir zwei, wer<strong>de</strong>n uns nicht hin<strong>de</strong>rn lassen, im<br />

gegebenen Augenblick zu tun, was wir für notwendig halten, und Arm in Arm<br />

mit ihm, man weiß schon. Wage man, uns zu trennen. ich ziehe mit ihm in <strong>de</strong>n<br />

Kerker, und ehe es noch dazu kommt, stelle ich mich in je<strong>de</strong>m Falle selbst <strong>de</strong>r<br />

Behör<strong>de</strong>. Es bedarf keiner Untersuchung, <strong>de</strong>n Scharfsinn <strong>de</strong>r Polizei lasse ich<br />

nicht aufkommen: ich hab's getan! Sen<strong>de</strong>t ein!<br />

* * *<br />

EIN NEUER STERN<br />

ist gefun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n, und das ist gleich eine be<strong>de</strong>nkliche Konstellation<br />

für die Neue Freie Presse. ich bin nicht Fachmann, ich hätt' mich an ihrer<br />

Stelle nicht getraut, das folgen<strong>de</strong> zu drucken:<br />

Den neuen Stern fin<strong>de</strong>t man leicht mit Hilfe eines Sternatlasses.<br />

Steht ein solcher nicht zur Verfügung, so gelingt seine Auffindung<br />

auf folgen<strong>de</strong> Weise: Gleich nach Dunkelwer<strong>de</strong>n stelle man sich mit<br />

<strong>de</strong>m Gesichte nach Sü<strong>de</strong>n. Sehr hoch am Himmel bemerkt man<br />

zwei Sterne zweiter Größe, Kastor und Pollux in <strong>de</strong>n Zwillingen,<br />

die etwa zehn Monddurchmesser voneinan<strong>de</strong>r entfernt und nahezu<br />

vertikal übereinan<strong>de</strong>rstehen. in einigermaßen großer Entfernung<br />

von diesen bei<strong>de</strong>n nach abwärts steht ein Stern erster Größe,<br />

Prokyon im Kleinen Hund. Man <strong>de</strong>nke sich nun Prokyon mit<br />

Kastor, <strong>de</strong>m oberen <strong>de</strong>r zwei hellen Zwillingssterne, durch eine<br />

gera<strong>de</strong> Linie verbun<strong>de</strong>n, ziehe, vom Kastor aus, zu dieser Linie<br />

eine senkrechte Linie nach rechts, trage auf <strong>de</strong>rselben 20 Monddurchmesser,<br />

also das Doppelte <strong>de</strong>r Distanz Kastor—Pollux, auf,<br />

so trifft man auf zwei nahe beieinan<strong>de</strong>rstehen<strong>de</strong> Sterne vierter<br />

Größe. Der von Kastor entfernter stehen<strong>de</strong> ist Theta Geminorum,<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r neue Stern.<br />

Sehr einfach. Aber die Börse dürfte doch noch leichter zu fin<strong>de</strong>n sein.<br />

Es wäre interessant zu erfahren, wie viele es mit <strong>de</strong>m neuen Stern versucht<br />

haben und wie vielen es geglückt ist ... ich wür<strong>de</strong> an Stelle <strong>de</strong>r Neuen Freien<br />

9


Presse mit solchen Ratschlägen vorsichtiger sein. Man kann nie wissen, was<br />

dabei herauskommt.<br />

* * *<br />

GEGEN DIE FINSTERLINGE<br />

Sie erhielt die folgen<strong>de</strong> Zuschrift:<br />

»Geehrter Herr Redakteur! Seit einer Woche kann ich das Abendblatt<br />

<strong>de</strong>r 'Neuen Freien Presse' erst am nächsten Morgen lesen.<br />

Nicht wegen unor<strong>de</strong>ntlicher Zustellung, son<strong>de</strong>rn aus Mangel an<br />

Licht. Wenn es kommt, pflegt bereits starke Dämmerung zu herrschen.<br />

Man bedarf also künstlichen Lichtes. Meine Gasluster sind<br />

in gutem Stan<strong>de</strong>, die Auerbrenner erst kürzlich erneuert wor<strong>de</strong>n.<br />

Aber die Gasflammen — beson<strong>de</strong>rs die im Schreibzimmer — brennen<br />

wie Nachtlichter; man kann bei ihrem Schein nicht lesen und<br />

nicht schreiben. Sie sind zwar etwas musikalisch, <strong>de</strong>nn sie geben<br />

mitunter leise Gurgeltöne von sich, auch scheinen sie nervös, weil<br />

sie häufig flackern und zucken; aber diese interessanten Erscheinungen<br />

entschädigen nicht für die mangeln<strong>de</strong> Leuchtkraft. Meine<br />

Nachbarn lei<strong>de</strong>n, seit das Kommunalgas unsere Wohnungen in<br />

sanftes Zwielicht hüllt, unter <strong>de</strong>m gleichen Übelstand. Wann wird<br />

<strong>de</strong>r Jammer en<strong>de</strong>n? Gegenwärtig wird im obersten Teil <strong>de</strong>r Hietzinger<br />

Hauptstraße ein neuer Graben gezogen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Verkehr<br />

erschwert und zur Aufnahme neuer Röhren bestimmt sein dürfte.<br />

Wird es nun in unseren Zimmern heller wer<strong>de</strong>n? O<strong>de</strong>r müssen wir<br />

warten, bis es auch im Gemein<strong>de</strong>rate heller wird?«<br />

Nicht von mir, aber fast. Natürlich wäre ich imstan<strong>de</strong>, wenn man mir etwas<br />

schwarzes Barthaar gibt, <strong>de</strong>n Einsen<strong>de</strong>r vollständig nachzuschaffen: wie<br />

er das Abendblatt, wenn es kommt, erst am Morgen lesen kann, was offenbar<br />

gegen die Gebräuche verstößt, und wie er vor <strong>de</strong>m Gedanken bebt, daß Finsternis<br />

hereinbrechen könnte auch über das Morgenblatt, wie er leisen Gurgeltönen<br />

lauscht und mit lauten Gurgeltönen <strong>de</strong>n Jammer ausruft, <strong>de</strong>r hereingebrochen<br />

ist, wie er aber <strong>de</strong>r Hoffnung Raum gibt, daß es nicht mehr zucken<br />

wird, wenn es kommt, beson<strong>de</strong>rs im Schreibzimmer, weil die Gemein<strong>de</strong>ratswahlen<br />

vor <strong>de</strong>r Tür stehen und sich bereits überall die Ahnung verkün<strong>de</strong>t: Es<br />

togt!<br />

————————<br />

Leseaben<strong>de</strong><br />

in Triest am 2. März, im Saale <strong>de</strong>s »Schiller—Vereines« mit <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n<br />

Programm:<br />

I. Der Traum ein Wiener Leben. — Aphorismen und <strong>Glossen</strong> (Der<br />

kleine Brockhaus / Ein Gedanke und sieben Kreuzer / Osten<strong>de</strong>,<br />

erster Morgen / Die Vision vom Wiener Leben / Vorstellung eines<br />

Tages <strong>de</strong>r Kindheit. — Die Welt <strong>de</strong>r Plakate.<br />

II. (mit Zugaben): Der Biberpelz. — Die <strong>Glossen</strong>: Der Deutlichkeit<br />

halber / Zur Erleichterung <strong>de</strong>s Lebens / Wiener Totschlag / Ge-<br />

10


fährlich / Teilnehmer an <strong>de</strong>r Tafel erzählen / Zweiunddreißig Minuten<br />

/ Angesichts / Schlichte Worte / Der Grubenhund.<br />

Il Piccolo, 3. März:<br />

La conferenza Kraus al Casino Schiller. E' stata, piu che una conferenza,<br />

una chiacchierata; ma una chiacchierata di persona geniale:<br />

Interotta spesso per saltare di palo in frasca; ma legata da<br />

un'inesauribile vena di umorismo: d'un umorismo acre, tagliente,<br />

di pretta marca te<strong>de</strong>sca. La vita <strong>de</strong>l~le grandi cittä mo<strong>de</strong>rne, <strong>de</strong>l<br />

gran<strong>de</strong> glornalismo, <strong>de</strong>lla mo<strong>de</strong>rna socletä borghese, la sua stessa<br />

vita privat& di glornalista e di scrittore: ecco le fontl ove 11 conferenziere<br />

attinse motivi umoristici felicissimt.<br />

L'Ilaritä piu spontanea e piü fragorosa accompagnb, si pub dire,<br />

ogni frase <strong>de</strong>ll' oratore: cosl questa era incisiva, cosl dipingeva di<br />

pochl trattl persone e ambienti, cogliendone la nota comica caratteristica.<br />

Piacque speclalmente il Kraus nella <strong>de</strong>serizione <strong>de</strong>i<br />

grandl «restaurants» viennesi alla moda, nella narrazione <strong>de</strong>lla<br />

conferenza che non pote aver luogo perche all'ultimo momento il<br />

conferenziere (il Kraus stesso) per<strong>de</strong>tte il manoscritto, nella satira<br />

<strong>de</strong>l «piccolo Brockhaus», che oggt comperano tutti per darsi Paria<br />

di grandi uomini, ma che viceversa non serve a nulla; nel vivido<br />

quadro <strong>de</strong>lla vita glornalistica di grandi giornali come la «N. F.<br />

Presse«, e la «Zeit»; ma sopratutto nell'instanza di puro stilt burocratico<br />

che la il professore universitario per aumento di paga. Qui,<br />

l'Ilarita raggiunse il colmo e gli applausi risuonatono fragorosissimi.<br />

Del resto, ilarita e applausi seguirono costantemente, di parl passo,<br />

come abbiamo <strong>de</strong>tto, la conferenza di Carlo Kraus: conferenza<br />

tutta fresca, spumante, spigliata, mo<strong>de</strong>rna, alla quale accorse iersera,<br />

nella sala Schiller, un numerosissimo ed elegante pubblico.<br />

*<br />

In Graz die erste Vorlesung am 18. Februar (siehe Nr. 343 / 344), die<br />

zweite am 4. März, wie<strong>de</strong>r im Rittersaal, mit <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Programm:<br />

I. Der Biberpelz. — Unter Räubern. — Von <strong>de</strong>n Schmetterlingen (aus<br />

»Sprüche und Wi<strong>de</strong>rsprüche«). — Erdbeben. II. Aphorismen aus »Pro domo et<br />

mundo«. — Die <strong>Glossen</strong>: Blutiger Ausgang einer Faschingsunterhaltung /<br />

Wahrung berechtigter Interessen / Ein Satz / Allerlei Überraschungen für <strong>de</strong>n<br />

Lord—Mayor / Wozu / Ein Fiebertraum. — Als Zugaben: Vision vom Wagentürlaufmacher<br />

/ Zweiunddreißig Minuten /Angesichts / Das Ehrenkreuz.<br />

Vor <strong>de</strong>r ersten Vorlesung war in <strong>de</strong>r 'Grazer Montagszeitung' (12. Februar)<br />

ein Aufsatz erschienen, in <strong>de</strong>m es heißt:<br />

... in beklemmen<strong>de</strong>r (nicht für ihn!) und benei<strong>de</strong>nswerter Einsamkeit,<br />

die mit <strong>de</strong>n Jahren zu stolzestem Bewußtsein <strong>de</strong>s eigenen<br />

Ichs wuchs, hat er sein unvergleichliches Lebenswerk geschaffen.<br />

Er darf Liebe, Haß und Verachtung austeilen nach seinem Ermessen,<br />

und er weiß, wie sie treffen! .... För<strong>de</strong>rer einer Kultur, die<br />

nicht von heute ist, die wir auch nicht erleben wer<strong>de</strong>n, aber die er<br />

uns für eine anständigere Zukunft sehnend voraussehen gelehrt<br />

hat .... Was wir nur dumpf fühlten, selten klar dachten, das hat<br />

Karl Kraus so meisterlich ausgesprochen, daß wir es wie eine Erlösung<br />

empfan<strong>de</strong>n, daß einer ist, <strong>de</strong>r unserem dunklen Fühlen die<br />

Klarheit seiner Gedanken und die Gewalt seiner Sprache gab.<br />

Doch hat er nie um »Anhänger« geworben. Vom Anfang an hat er<br />

11


sich bewußt außerhalb aller Gesellschaftsgeistigen, ästhetischen<br />

o<strong>de</strong>r sonst irgendwie »kulturför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n« Kreise gestellt, wollte<br />

und will auch heute noch ein Einsamer sein, nieman<strong>de</strong>m verpflichtet<br />

und um keines Menschen Liebe o<strong>de</strong>r auch nur Anerkennung<br />

werbend.... So war er und so mußte man sich mit ihm abfin<strong>de</strong>n, im<br />

bejahen<strong>de</strong>n und im verneinen<strong>de</strong>n Sinne. Wer ihm nicht paßte,<br />

wur<strong>de</strong> rücksichtslos abgeschüttelt.... Bei kleinen Seelen mußte<br />

sich dann natürlich Liebe in Haß verkehren, weil sie nie etwas an<strong>de</strong>res<br />

gewesen war als Eitelkeit.... In<strong>de</strong>m er in dreizehn Jahrgängen<br />

<strong>de</strong>r »Fackel«, <strong>de</strong>r subjektivsten Zeitschrift, die es gibt, das öffentliche<br />

Leben in <strong>de</strong>njenigen Erscheinungsformen, die er für betrachtenswert<br />

hielt, begleitete, hat er eine ungeheure, ja beispiellose<br />

Leistung vollbracht und im wahren Sinne <strong>de</strong>s Wortes ein<br />

Kulturdokument von unschätzbarem Werte geschaffen. … Nicht<br />

bessern will er die Gesellschaft, die Presse, die Rechtspflege, aber<br />

uns die Augen öffnen über <strong>de</strong>n hypnotischen Zwang, <strong>de</strong>r in diesen<br />

Fragen auf uns allen lastet.... Immer neue Probleme erstan<strong>de</strong>n<br />

ihm und in kleinen, oft wirklich nichtigen Ereignissen spiegelten<br />

sich ihm Fragen, <strong>de</strong>ren Lösung die Welt erbeben ließe. Das Walten<br />

<strong>de</strong>r Natur, <strong>de</strong>ren Gesetze über Menschenwünsche und Menschengesetze<br />

hinwegschreiten, fühlt er. Und zeigt die kläglichen<br />

Bemühungen reglementieren<strong>de</strong>r Staatsweisheit, gegen die Urgewalt<br />

<strong>de</strong>s Geschlechtstriebes mit Paragraphen und weltfrem<strong>de</strong>r<br />

Justizweisheit zu kämpfen. Mit dieser Entwicklung seiner Weltbetrachtung<br />

hielt die seiner Ausdrucksfähigkeit gleichen Schritt.<br />

Seine anfängliche Sprachgewandtheit ist zur Sprachkunst gewor<strong>de</strong>n,<br />

zur Sprachkunst von einer Höhe ohnegleichen. ... ich konnte<br />

hier nur versuchen, ganz allgemein Karl Kraus' Be<strong>de</strong>utung für unser<br />

kulturelles Leben und für unsere zu erhoffen<strong>de</strong> endliche<br />

Menschwerdung zu umreißen. ... Die Vorlesung am 18. Februar<br />

bietet Gelegenheit, diesen einzigen Mann in seinen besten Werken<br />

selbst zu hören. Die ihn schon kennen, wer<strong>de</strong>n sich freuen,<br />

aus seinem persönlichen Wesen neue Züge schöpfen zu können,<br />

die ihre Schätzung steigern wer<strong>de</strong>n; die an<strong>de</strong>ren, die Karl—Kraus<br />

—Neulinge, wer<strong>de</strong>n sich schämen, so vielen Nichtigkeiten zuliebe<br />

so viel Großes und Schönes bisher versäumt zu haben.<br />

August Heinz Holter (Graz).<br />

In diesen Ton stimmten nach <strong>de</strong>r Vorlesung die Referate <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschradikalen<br />

'Grazer Tagblattes' und <strong>de</strong>s christlich—sozialen 'Grazer Volksblattes'<br />

ein. in <strong>de</strong>r liberalen 'Grazer Tagespost' aber, <strong>de</strong>r größten und von Wien abhängigsten<br />

Zeitung, ließ es sich <strong>de</strong>r Chefredakteur nicht nehmen, ein Feuilletonn<br />

zu schreiben. Es begann mit <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n umfassen<strong>de</strong>n Geständnis <strong>de</strong>s<br />

Erfolgs:<br />

Der durch jahrelanges Totgeschwiegenwer<strong>de</strong>n so weithin bekannt<br />

gewor<strong>de</strong>ne, also eigentlich lebendiggeschwiegene Herausgeber<br />

<strong>de</strong>r roten Fackelhefte hat, wie in an<strong>de</strong>ren Städten, auch hier seine<br />

Vorlesung abgehalten. Wie in an<strong>de</strong>ren Städten so auch hier vor<br />

gesteckt vollem Saal und unter nicht en<strong>de</strong>nwollen<strong>de</strong>m Beifall, wobei<br />

das »Nichten<strong>de</strong>nwollen« ausnahmsweise keine Zeitungsphrase<br />

ist, die ihren Kraus verdient, er las über zweieinhalb Stun<strong>de</strong>n und<br />

12


es war <strong>de</strong>n Leuten noch zu wenig, man wollte ihn einfach nicht<br />

mehr weglassen ....<br />

Dann noch:<br />

Kraus ist ein ausgezeichneter Vorleser und unterschei<strong>de</strong>t sich dadurch<br />

von <strong>de</strong>n üblichen Vorlesern eigener Werke, die man in <strong>de</strong>r<br />

Regel nicht versteht. Ob er leise o<strong>de</strong>r laut ist, man hört ihn bis<br />

zum Saalen<strong>de</strong>, er hat in <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> Tempo, er hat Ausdruck, bald<br />

rast er Sätze dahin, bald hackt er, um die Pointe geschickt vorzubereiten,<br />

er wechselt mit <strong>de</strong>r Tenor— und Baritonlage, er stichelt<br />

mit <strong>de</strong>r Stimme, dann erhebt er sie wie<strong>de</strong>r zur zornigen Anklage.<br />

Völlig dialektfrei, wür<strong>de</strong> er kaum für einen Wiener gehalten wer<strong>de</strong>n;<br />

nur die Diphthonge ei und au verrate ihn, sie klingen bei ihm<br />

so wie bei Mahler. Aber die Hauptsache; seine hellen hohen Kopftöne<br />

machen <strong>de</strong>n Eindruck — von Brusttönen <strong>de</strong>r Überzeugung.<br />

Er verzeihe diesen saphirischen Scherz umsomehr, als Kraus, in<br />

<strong>de</strong>r Fackel wenigstens, selbst das Gegenteil von Saphir ist; kein<br />

Wortwitzling, son<strong>de</strong>rn ein blitzscharfer Witzling <strong>de</strong>r Sachen, Aufspürer<br />

verblüffen<strong>de</strong>r Zusammenhänge. Auffallend ist auch, daß<br />

sich die <strong>Glossen</strong> aus <strong>de</strong>r Fackel so gut vorlesen lassen: ein Beweis<br />

für ihr lebendiges, empfun<strong>de</strong>nes, nicht papierenes Deutsch ....<br />

Sollte man es glauben, daß solche Zugeständnisse noch Raum lassen<br />

für die klebrigsten Entschuldigungen vor <strong>de</strong>r Wiener Presse, <strong>de</strong>r sogleich<br />

nachgesagt wird, daß sie »doch Be<strong>de</strong>utung haben, doch eine geistige Notwendigkeit<br />

darstellen muß«, wenn sie mir solange schon »Stoff gebe«, daß die Fackel<br />

nur »eine Ergänzung <strong>de</strong>r Zeitungslektüre«, die Wiener Blätter »die<br />

schlechtesten Früchte nicht sind«, Herr Har<strong>de</strong>n »doch etwas großzügiger<br />

ist«, weil er sich mit Bismarck befaßt, und was <strong>de</strong>rlei traurige Umschweife eines<br />

armen Teufels mehr sind, <strong>de</strong>r in Wien Musikkritiker wer<strong>de</strong>n möchte und<br />

in Graz über mich nicht schweigen konnte, <strong>de</strong>r also gezwungen war, in je<strong>de</strong>m<br />

zweiten Satz für das Lob je<strong>de</strong>s ersten Abbitte zu leisten. Er hatte gehofft, ich<br />

wür<strong>de</strong> das verstehen und schon nicht bös sein, wenn er die »Chinesische<br />

Mauer« anblö<strong>de</strong>lnd sagte: »Der vielgehaßte Wiener Reporter hätte <strong>de</strong>n Kriminalfall<br />

Siegel kürzer und mit weniger Überschätzung behan<strong>de</strong>lt.« Zur Entschädigung<br />

gab er seine Karte bei mir im Hotel ab. Und <strong>de</strong>rselbe Mensch, <strong>de</strong>r<br />

mich einmal gegen eine Wiener Preßschweinerei mit <strong>de</strong>n Worten aufrief: »Da<br />

Sie <strong>de</strong>r Einzige in Wien sind, <strong>de</strong>r Mut hat solche Manieren zu geißeln, habe<br />

ich mich an Sie gewen<strong>de</strong>t« schützt nicht nur die Wiener Presse gegen mich,<br />

son<strong>de</strong>rn ta<strong>de</strong>lt das Grazer Auditorium, weil es <strong>de</strong>n Angriffen auf die Presse zustimmte:<br />

»Der Genuß, <strong>de</strong>n die Antikorruption bereitet, wäre nicht so hoch«,<br />

wenn ich Grazer Personen »aufs Korn genommen hätte«; dort hätte ich »nicht<br />

dreizehn Jahrgänge, kaum dreizehn Hefte herausgebracht«: »diesen dankbaren<br />

Gedanken, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Satiriker verschweigt, ergänzt <strong>de</strong>r Hörer, <strong>de</strong>r sich an<br />

<strong>de</strong>r Satire ergötzt« — ich habe also verschwiegen, daß ich in Graz keine dreizehn<br />

Hefte herausgebracht hätte —, und nicht genug an dieser Schäbigkeit:<br />

»Das homerische Gelächter, das er stellenweise hervorrief, bewies,<br />

welche Liebe viele Leute für die Presse im Busen hegen, für<br />

die Presse, die sie hassen, weil sie sie fürchten, die sie beiseite<br />

schieben, um wie<strong>de</strong>r danach zu greifen, und die keiner von <strong>de</strong>n<br />

Lachern besser machen wür<strong>de</strong>.«<br />

Nach<strong>de</strong>m so sich Feigheit unter <strong>de</strong>m Vorwand selbständigen Schwachsinns<br />

mit mir befaßt hatte, wobei sie mich unaufhörlich als »Fackelkraus« betastete,<br />

als »kleinen Kraus, <strong>de</strong>r sich auf <strong>de</strong>n chinesischen Koffer setzt«, be-<br />

13


gönnerte und schließlich als »köstlichen und unterhalten<strong>de</strong>n Plau<strong>de</strong>rer« gelten<br />

ließ, drängte sie sich noch einmal persönlich an mich heran. Der Herr, <strong>de</strong>r<br />

von Graz nach Wien kommen will, traf mich zum Glück in Triest. Er hatte<br />

noch nicht die Hoffnung aufgegeben, es auch mit mir, unter vier Augen, versuchen<br />

zu können, und sandte mir abermals seine Karte an <strong>de</strong>n Tisch. Als ich<br />

ablehnte, ließ er mir die Karte abverlangen, aber nicht die meine, son<strong>de</strong>rn die<br />

seine. Das Charakterbild eines in <strong>de</strong>r Provinz eingeklemmten Wiener Journalisten<br />

wäre nun zwar für <strong>de</strong>n Sammler fesselnd, aber für meinen Zweck unerheblich,<br />

wenn nicht auf die erste Vorlesung in Graz die zweite Vorlesung in<br />

Gratz gefolgt wäre. ich wählte nämlich diesmal fast lauter Aphorismen, die<br />

sich irgendwie auf die Reduktoren meiner Perspektive beziehen, auf das Mißverständnis<br />

<strong>de</strong>r kleinen Anlässe, auf <strong>de</strong>n Flachsinn, <strong>de</strong>r da fin<strong>de</strong>t, daß ich <strong>de</strong>m<br />

Flachsinn zu viel Ehre erweise, und ich zeichnete überall dort, wo das Wort<br />

»Tropf« steht, dieses in <strong>de</strong>r Betonung so vor allen an<strong>de</strong>rn Worten aus, daß<br />

auch <strong>de</strong>r Nichteingeweihte spüren mußte, hier wer<strong>de</strong> etwas ausgetragen und<br />

in Graz lebe ein Tropf. ich reduzierte <strong>de</strong>n Spruch selbst auf <strong>de</strong>n Anlaß, aber<br />

auf einen nachträglichen. Nun trat eine gute Wirkung ein. Nicht nur die 'Tagespost'<br />

begann zu lügen, son<strong>de</strong>rn auch die an<strong>de</strong>rn, und mehr als sie. Alle<br />

fühlten sich durch das Leitmotiv dieser zweiten Vorlesung, die fast in je<strong>de</strong>m<br />

Stück auf die anwesen<strong>de</strong> Presse Rücksicht nahm, getroffen, wiewohl doch<br />

schon die erste darin wahrlich nichts versäumt hatte. Die 'Tagespost' log nur,<br />

<strong>de</strong>r Saal sei halbvoll gewesen, das radikale 'Tagblatt' behauptete gleich, er sei<br />

halbleer gewesen. Keiner sagte, daß zweihun<strong>de</strong>rt Hörer — vierzehn Tage<br />

nach einer Vorlesung vor dreihun<strong>de</strong>rt — in einer Stadt wie Graz keinen äußern<br />

Mißerfolg be<strong>de</strong>uten. Sie schlossen ein Kartell gegen ihre frühere Meinung,<br />

und wie gründlich sie sichs überlegt hatten, konnte man im christlichsozialen<br />

'Grazer Volksblatt' lesen:<br />

Am 20. Februar:<br />

Eine eigenartige Persönlichkeit hat<br />

sich Sonntag <strong>de</strong>n Grazern vorgestellt,<br />

Karl Kraus, <strong>de</strong>r gefürchtete<br />

Herausgeber <strong>de</strong>r 'Fackel'. ist einer<br />

<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnsten Schriftsteller. Und<br />

doch wird er von <strong>de</strong>r fortschrittlichen<br />

Presse totgeschwiegen. Er hat<br />

das fluchwürdigste Majestätsverbrechen<br />

begangen, er hat gelästert wi<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Götzen <strong>de</strong>r freisinnigen Intelligenz,<br />

er hat die allmächtige<br />

'Neue Freie Presse' bekämpft! Sich<br />

diesen Kampf zur Lebensaufgabe<br />

gemacht. ... Glaubt nicht an Heinrich<br />

Heine !! Leuchtete mit seiner<br />

Fackel in die Synagogen hinein, in<br />

die Börse, in die Familien—Oligarchie<br />

<strong>de</strong>r Universitäten, in das gesamte<br />

gewerbs— und geschäftsmäßige<br />

Cliquewesen <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Meinung, <strong>de</strong>r Machthaber im aka<strong>de</strong>-<br />

Am 6. März:<br />

Der zweite Kraus—Abend enttäuschte<br />

... die Ursache »Presse« für das<br />

Aussterben von Wald und Schmetterlingen,<br />

die merkwürdig aufgeregte<br />

Entrüstung über die Bauernfeldpreisverleihung<br />

und viel Empörung<br />

über Dinge, die natürlich und klar<br />

sind; entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Pflicht <strong>de</strong>s Journalisten<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Wünschen <strong>de</strong>r Leser<br />

entsprechen, die doch schließlich<br />

außer <strong>de</strong>n Lehren von Karl—<br />

Kraus—Größen auch ein wenig berücksichtigt<br />

wer<strong>de</strong>n möchten. Denn<br />

streng genommen, ist die Presse<br />

doch für die Leser da und nicht für<br />

die 'Fackel'? Aber wir wollen die<br />

Kraus—Parole, nur allgemein zu kritisieren,<br />

halten und erlauben uns einige<br />

— sogar naive — Bemerkungen:<br />

Die Frage, warum Karl Kraus <strong>de</strong>nn<br />

in diesem geschmacklosen, uner-<br />

14


mischen, politischen, bürokratischen<br />

Kulturleben <strong>de</strong>r Gegenwart. Die<br />

zwölf Jahrgänge seiner 'Fackel' sind<br />

ein nach Inhalt und Form gleich<br />

wertvolles Archiv zeitgeschichtlicher<br />

Kulturdokumente. Diese eigenartige<br />

Persönlichkeit am Vorlesetisch zu<br />

sehen, danken die Grazer <strong>de</strong>r umsichtigen<br />

Konzertdirektion A.<br />

Seelig .... Karl Kraus las »Der Traum<br />

ein Wiener Leben«, <strong>Glossen</strong> und<br />

Aphorismen, »Die Welt <strong>de</strong>r Plakate«.<br />

in <strong>de</strong>r Glosse »Feuilletonisten und<br />

Natur« fällt ein treffen<strong>de</strong>s Wort<br />

über die verlogene Feuilletonlyrik<br />

Heines, <strong>de</strong>s Dichters vom träumen<strong>de</strong>n<br />

Fichtenbaum, in »Riedau und<br />

Lido« höhnt er mit beißen<strong>de</strong>n Worten<br />

die Korruption <strong>de</strong>r Presse; rast<br />

sich mit seiner ganzen Persönlichkeit<br />

aus in <strong>de</strong>r orgiastischen Phantasie<br />

»Die chinesische Mauer« ... Man<br />

hätte <strong>de</strong>r feinnervigen Gestalt eine<br />

solche Wucht <strong>de</strong>r Stimme nie zugetraut.<br />

Man muß also kein Riese sein,<br />

am wenigsten im Kampf <strong>de</strong>r Geister,<br />

um <strong>de</strong>n Gegner zerschmettern zu<br />

können. Daß die Wiener Schmocks<br />

mit ihren Dutzendphrasen von Freisinn,<br />

freier Forschung, Voraussetzungslosigkeit,<br />

Fortschritt u. dgl.,<br />

nur <strong>de</strong>m Intelligenz—Spießer imponieren,<br />

einem Karl Kraus aber nicht<br />

gewachsen sind, daher ihn besser<br />

totschweigen, begriff gestern je<strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Publizisten sah und hörte.<br />

Er ist eine Art lbsen, aus <strong>de</strong>r Literatur<br />

die Großstadt—Journalistik übertragen,<br />

ein »Volksfeind«.<br />

träglichen, bornierten Dorfe Wien<br />

lebt, was er schreiben wür<strong>de</strong>, wenn<br />

die Journalisten und Presse so wären,<br />

wie er es wünscht — wur<strong>de</strong><br />

schon getan. Aber: Wenn die Journalisten<br />

»zu Ban<strong>de</strong>n organisierte Individuen«<br />

sind, die sich »unter sich einer<br />

Gaunersprache bedienen«, wenn<br />

sie interviewend ihre »schmutzigen<br />

Finger in das Fleisch ihres Opfers<br />

drücken und dies dann Eindrücke<br />

nennen« (die Bösen interviewten<br />

aber nicht Karl Kraus), wenn <strong>de</strong>r<br />

»Schönheit, Natur und Kunst« in gebrochener<br />

Seufzer gewidmet, ein<br />

Sterbelied gesungen wird, weil die<br />

Presse sich ihrer »bemächtigte« —<br />

ja warum durfte <strong>de</strong>nn diese selbe<br />

Presse Reklame für <strong>de</strong>n Künstler<br />

Karl Kraus machen? Seine Vorträge<br />

ankündigen, immer wie<strong>de</strong>r? Warum<br />

ließ dieser selbe presseverachten<strong>de</strong><br />

Herr, <strong>de</strong>r über die Journalisten so<br />

beleidigend und über »die« Presse<br />

so höhnend loszieht, die Geschmacklosigkeiten<br />

aus acht Zeitungen<br />

abdrucken (in <strong>de</strong>nen man ihn<br />

seit Nietzsche <strong>de</strong>n Ersten und mit<br />

Goethe und Lessing in einem Atem<br />

nennt!!!)?? ... Mehr belustigend als<br />

beleidigend für die Journalistik waren<br />

die begeisterten Bravorufe,<br />

wenn's auf uns losging. Was dieselben<br />

Herrschaften aber für Skandale<br />

schlagen, wenn das Morgenblatt<br />

zum Frühstück zu spät kommt! Wie<br />

dieselben Menschen sind, wenn sie<br />

was von dieser Zeitung wollen o<strong>de</strong>r<br />

— nicht wollen! Merkwürdig!<br />

Es ist gewiß nicht unwichtig festzustellen, wie auf <strong>de</strong>n Wink <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>n<br />

sich die Christen sofort in Ju<strong>de</strong>n verwan<strong>de</strong>lt haben. Wenngleich in sehr<br />

schlichte. Wie aus meinen Mitkämpfern gegen die »Korruption <strong>de</strong>r Presse«<br />

plötzlich stan<strong>de</strong>sbewußte Vertreter jener Macht wur<strong>de</strong>n, die versagen kann,<br />

was die Leute »von ihr wollen«, und gewähren, was sie »nicht wollen«. Wenngleich<br />

sehr schlichte. Das <strong>de</strong>utschradikale Blatt hatte nach <strong>de</strong>r ersten Vorlesung<br />

so ziemlich aus je<strong>de</strong>r begeisterten Kritik, die <strong>de</strong>r Schriftleitung in die<br />

Hän<strong>de</strong> kam, einen Satz entlehnt, und stand nun von allen Hilfen entblößt da.<br />

Das christlichsoziale fühlte sich durch die Angriffe auf <strong>de</strong>n Journalismus, die<br />

es zwei Wochen vorher belobt hatte, beleidigt, nannte <strong>de</strong>shalb die Zeitungen,<br />

15


die <strong>de</strong>sgleichen getan hatten, geschmacklos und stellte im Veitstanz einer liberalen<br />

Inspiration zwischen an<strong>de</strong>ren gehaltvollen Bemerkungen fest, daß<br />

sich die Enttäuschung <strong>de</strong>s Publikums in begeisterten Bravorufen kundgegeben<br />

hat. Es ist eine mißliche Sache, daß sich Leute, die man gern für die Erfüllung<br />

<strong>de</strong>r Pflicht, das Publikum zu benachrichtigen, mit Freikarten versieht,<br />

hierdurch übermütig gemacht, das Recht herausnehmen, ungefragt ihre Meinung<br />

abzugeben. Des Beweises, daß Presse etwas ist, was nicht saalrein ist,<br />

hätte es natürlich nicht erst bedurft. Fin<strong>de</strong> ich in <strong>de</strong>r Provinz Veranstalter, die<br />

es mit ihren sonstigen Interessen vereinen können, die Presse nicht einzula<strong>de</strong>n,<br />

so wer<strong>de</strong> ich's künftig wie in Wien machen. Man weiß ja nicht, wer einem<br />

zuhört. Aber ich glaube nicht, daß <strong>de</strong>r Erfolg meiner Vorlesungen dadurch gefähr<strong>de</strong>t<br />

sein kann, daß Leute mit ausgesprochen schlechten Umgangsformen<br />

ihnen nicht beiwohnen.<br />

*<br />

»Es ist unzulässig, daß Leute <strong>de</strong>r Wissenschaft Tiere zu To<strong>de</strong> quälen;<br />

mögen die Ärzte mit Journalisten und Politikern experimentieren.«<br />

Henrik Ibsen (Nachlaß).<br />

*<br />

In Wien am 6. März, im Saale <strong>de</strong>r »Kleinen Bühne« (Aka<strong>de</strong>mischer Verband),<br />

mit <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Programm:<br />

I. Jean Paul: Schluß <strong>de</strong>s »Kampaner Tal« (mit einer kurzen Einleitung<br />

und einem Zitat aus Lichtenberg). — Shakespeare: Maß für Maß, erster Akt,<br />

Schluß <strong>de</strong>r 2. Szene, zweiter Akt, 1. Szene. — Aus <strong>de</strong>m »Prozeß Veith« (Anre<strong>de</strong><br />

an <strong>de</strong>n Staat). II. Fahren<strong>de</strong> Sänger. III. Bergführer und Hopf o<strong>de</strong>r Beginn<br />

einer Razzia auf Literarhistoriker. — Rhythmus eines österreichischen Sommers.<br />

— Die <strong>Glossen</strong>: Ritter Sonett und Ritter Tonreich / Blutiger Ausgang einer<br />

Faschingsunterhaltung. — Als Zugaben: Ein sympathischer Dichter / Wie<br />

man <strong>de</strong>utsche Sänger behan<strong>de</strong>lt, da hört sich alles auf / Wie? / Wenn ich einmal<br />

/ Nicht kennenlernen möchte ich / ich rufe die Rettungsgesellschaft / Das<br />

Ehrenkreuz / Schlichte Worte.<br />

Die 'Reichspost' brachte am 15. März ein Feuilleton, das hier zum größten<br />

Teil wie<strong>de</strong>rgegeben wird, weil es die erste, spontane und mit einer alten<br />

Verlegenheit abrechnen<strong>de</strong> Äußerung <strong>de</strong>r antiliberalen Presse vorstellt:<br />

Anmerkungen zu einer Kraus—Vorlesung.<br />

Solange Karl Kraus sich begnügte, in seiner 'Fackel' gepfefferte<br />

Polemiken, aphoristische Einfälle, Essays, Zeitsatiren und <strong>Glossen</strong><br />

zu veröffentlichen, brauchte die Tagespresse, außer es behagte<br />

ihr gera<strong>de</strong> seine Zeugenschaft, davon nicht Notiz zu nehmen.<br />

Selbst <strong>de</strong>r gewissenhaftesten Presse könnte es nicht zur Pflicht<br />

gemacht wer<strong>de</strong>n, nach Kabinettstücken <strong>de</strong>utscher Prosa zu fahn<strong>de</strong>n,<br />

die Kraus gestaltet, wie einer, <strong>de</strong>r Gewalt hat, mit jener souveränen<br />

Macht, die Neues schafft, Vergessenes wie<strong>de</strong>rbelebt und<br />

<strong>de</strong>utet, Verblaßtes mit jungem Klang erfüllt .... Als Kraus begann,<br />

Auslesen seiner periodischen Veröffentlichungen auf <strong>de</strong>n Büchermarkt<br />

zu werfen (es sei hier in Parenthese nur die kritische Studie<br />

'Heine und die Folgen' genannt, die über <strong>de</strong>n Lyriker Heine sozusagen<br />

das letzte Wort spricht und Kraus für immer einen Platz in<br />

<strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>r Klassiker unter <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Kritikern sichert), da<br />

ward es Sache <strong>de</strong>r zünftigen Kritik, aus <strong>de</strong>ren Hebammenarmen<br />

16


das Lesepublikum alle Neugebornen entgegenzunehmen gewohnt<br />

ist, sowie <strong>de</strong>r literarischen Fachpresse, sich mit Kraus irgendwie<br />

auseinan<strong>de</strong>rsetzen. Auch jene Tagespresse, die es liebt, ihre Verzeichnisse<br />

und ihre Besprechungen <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Verlegern eingesandten<br />

Bücher als urkundliches Gesamtbild <strong>de</strong>utschen Geisteslebens<br />

und Literaturschaffens auszugeben, hatte nunmehr die<br />

Pflicht, wenigstens mit einer ihrer Rezensionsformeln Kraus <strong>de</strong>m<br />

Publikum vorzustellen o<strong>de</strong>r, wenn es Ihr beliebte, ihn abzutun.<br />

Schweigen war nunmehr Pflichtversäumnis, Unanständigkeit,<br />

Ignorieren eine Spekulation auf die Ignoranz.<br />

Seit Karl Kraus unter die Vorleser gegangen und so aus einem<br />

Schaffen<strong>de</strong>n ein Lokalereignis gewor<strong>de</strong>n ist, kann eine Tagespresse,<br />

die auch nur eine unbefangene Chronik <strong>de</strong>s täglichen Geschehens<br />

zu liefern vorgibt, an ihm nicht mehr stumm vorübergehen.<br />

Es ist nicht ersichtlich, warum die Berichterstattung, die aus Berufspflicht<br />

gesprächig wird, wenn <strong>de</strong>r kleine Korngold musiziert,<br />

Gregori <strong>de</strong>klamiert, Har<strong>de</strong>n gastiert, o<strong>de</strong>r Treumann randaliert,<br />

gera<strong>de</strong> nur dann im Kaffeehaus bleiben dürfte, wenn Karl Kraus<br />

an <strong>de</strong>n Vorlesetisch tritt. Allerdings, daß Kraus — bei ihm ist es<br />

mehr als bloße Kaprice — geflissentlich die sonst übliche Verständigung<br />

<strong>de</strong>r Presse unterläßt und mit Ihrer Umgehung sein Auditorium<br />

zu fin<strong>de</strong>n sucht, erleichtert es, seine Vorlesungen zu überhören.<br />

in <strong>de</strong>r Zweimillionenstadt, wo im allgemeinen <strong>de</strong>r Raum nur<br />

die Registrierung einer Auslese <strong>de</strong>s Tagesgeschehens gestattet,<br />

mag übrigens eine Zeitlang das Einzelereignis, und wenn es <strong>de</strong>n<br />

Tatzeugen noch so be<strong>de</strong>utsam erschiene, in <strong>de</strong>r Fülle untergehen,<br />

ohne daß die geduldige Kundschaft über schlechte Bedienung<br />

klagte. in <strong>de</strong>r Provinzstadt dagegen, wo je<strong>de</strong>rmann Zeuge je<strong>de</strong>s<br />

Ereignisses ist und die Genauigkeit seines Chronikeurs nachkontrolliert,<br />

ist <strong>de</strong>r Presse das Totschweigen unendlich schwerer gemacht.<br />

Kraus hat darum einen bösartigen Taktiker geoffenbart,<br />

als er, um die wi<strong>de</strong>r ihn mobilisierte schweigen<strong>de</strong> Ferne Wiens zu<br />

durchbrechen, mit seinen Vorlesungen literarisch interessierte<br />

Kreise <strong>de</strong>r Provinzstädte aufsuchte. Die Wiener Donau kann <strong>de</strong>n<br />

Zuflüssen aus <strong>de</strong>r Provinz nicht die Aufnahme weigern und von<br />

<strong>de</strong>r öffentlichen Meinung <strong>de</strong>r Kronlandsstädte führen hun<strong>de</strong>rt<br />

Kanäle, die kein Zensor <strong>de</strong>r Fichtegasse zu verstopfen vermag, in<br />

die Metropole. Ohnmächtig müssen die Wachtposten zusehen, wie<br />

das Unheil, das in die Stadt drang, seinen Lauf nimmt.<br />

Uns ist die Kraus—Vorlesung, <strong>de</strong>r wir am 6. d. im Saal <strong>de</strong>r Kleinen<br />

Bühne beiwohnten, zunächst willkommener Anlaß, von unserem<br />

Standpunkte aus einiges über die eigenartige Stellung Kraus' in<br />

<strong>de</strong>r Wiener Publizistik und über sein Wirken zu sagen. Seit <strong>de</strong>r<br />

Volksaufstand am Währinger Gürtel gegen die Wiener literarische<br />

Clique sich in eitel Wohlgefallen und behagliche Opernmusik aufgelöst<br />

und das von Müller—Guttenbrunn geführte Banausentum<br />

glücklich in <strong>de</strong>n allumarmen<strong>de</strong>n Tempel <strong>de</strong>r nicht mehr ganz<br />

»ignoten« Steyrermühl zurückgefun<strong>de</strong>n hat, ist Karl Kraus allen<br />

<strong>de</strong>nen, die sich nicht resigniert in die restlose Kapitulation, in die<br />

Demütigung vor <strong>de</strong>m Geßlerhut <strong>de</strong>r Clique schicken wollen, son<strong>de</strong>rn<br />

nur vom immer wie<strong>de</strong>rholten Angriffe einen Morgen <strong>de</strong>r Befreiung<br />

erhoffen, willkommener Rufer im Streit und Mauerbre-<br />

17


18<br />

cher. Was die positiv christlich gerichteten Literatenkreise an Angriffslust<br />

und ästhetischer Streitfreu<strong>de</strong> erübrigten, wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n<br />

letzten Jahren lei<strong>de</strong>r fast gänzlich aufgezehrt in zwar gewiß nicht<br />

ergebnislosen, aber immerhin die Stimmung weiter Kreise lähmen<strong>de</strong>n,<br />

herben, oft allzu herben Polemiken untereinan<strong>de</strong>r und<br />

kritischen Selbstbespiegelungen .... Die Kunststätten Wiens sind<br />

ein einziges Emporium <strong>de</strong>s Literaturju<strong>de</strong>ntums gewor<strong>de</strong>n. Die Clique<br />

herrscht so gut wie unumschränkt und hat alle Zugänge zum<br />

Publikum unter strengste Klausur gestellt. Wer nicht das Freimaurerzeichen<br />

weiß, wird nicht durchgelassen ....<br />

So horcht man <strong>de</strong>nn aus dieser Trostlosigkeit erfreut auf, so oft<br />

die satirischen Flegel <strong>de</strong>s unverdrossenen Dreschers Kraus erbarmungslos<br />

auf die Köpfe und Hohlköpfe <strong>de</strong>s verhaßten Usurpatorentums<br />

nie<strong>de</strong>rprasseln. Der da drischt, kommt nicht aus <strong>de</strong>m Reiche<br />

<strong>de</strong>r christlichen Weltanschauung. im eigenen Wal<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>n<br />

Literaturvögten die Zuchtrute herangewachsen, die nun Ihre<br />

Rücken erbarmungslos peitscht. Ihr eigenes Fleisch ist — und vielleicht<br />

liegt gera<strong>de</strong> darin das Wirksamste <strong>de</strong>r Erscheinung — da rebellisch<br />

gewor<strong>de</strong>n gegen <strong>de</strong>n maßlosen Übermut <strong>de</strong>r geistigen<br />

Knechter Wiens. Fernab <strong>de</strong>r christlichen Ethik eilen oft Kraus' Gedankengänge.<br />

Das offenbart sich am aufdringlichsten in <strong>de</strong>r Behandlung<br />

<strong>de</strong>s immer wie<strong>de</strong>r aufgerollten erotischen Problems, das<br />

allerdings <strong>de</strong>n Satirikern aller Jahrhun<strong>de</strong>rte eine nicht min<strong>de</strong>r beliebte<br />

als ergiebige Schaffensquelle war. Überdies darf bei Kraus,<br />

wer seine Lebensauffassung und manche seiner Äußerungen erklären<br />

will, <strong>de</strong>n unverkennbaren Zug zur Ungebun<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r<br />

Bohème nicht übersehen, dieser gesellschafts—ästhetischen Reaktion<br />

gegen bürgerlichen Durchschnitt und reglementierte Philisterei.<br />

Unter diesen ausdrücklichen Vorbehalten gegenüber <strong>de</strong>r Geistesrichtung<br />

braucht kein Be<strong>de</strong>nken eine Würdigung <strong>de</strong>s in seiner Art<br />

ganz einzigen Kampfes an dieser Stelle zu unterdrücken, <strong>de</strong>n Karl<br />

Kraus seit zwanzig Jahren .... mit erstaunlichem Talente, unerbittlicher<br />

Konsequenz und seltener persönlicher Tapferkeit führt. Die<br />

unerschrockene Auflehnung dieses Einen gegen das Duo von Clique<br />

und Claque, <strong>de</strong>r Einsatz einer ganzen Persönlichkeit in diesem<br />

Krieg, aus <strong>de</strong>m nun langsam mit <strong>de</strong>r unüberwindlichen Sieghaftigkeit<br />

<strong>de</strong>s Genius <strong>de</strong>r Verfemte und Totgeschwiegene als Sieger,<br />

als Verfolger seiner Verfolger und Ächter seiner Verleum<strong>de</strong>r<br />

hervorgeht, das ist ein Schauspiel, so interessant und reich an ästhetischen<br />

Reizen als irgend eines, das während dieser Zeit <strong>de</strong>n<br />

Wienern auf ihren Bühnen geboten wur<strong>de</strong>. An Polemikern und Satirikern,<br />

die mit Papiermessern vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s geuzten Publikums<br />

Scheingefechte ausführten und hinter <strong>de</strong>r Szene einan<strong>de</strong>r<br />

mit englischen Pflästerchen aushalfen, litt Wien keinen Mangel, es<br />

durfte daher <strong>de</strong>m Neuling mit abwarten<strong>de</strong>m Mißtrauen begegnen.<br />

Als ihn aber <strong>de</strong>r bloßgestellte Häuptling <strong>de</strong>rer, die selbst <strong>de</strong>n Applaus<br />

untereinan<strong>de</strong>r gewissenhaft kontingentieren, vor <strong>de</strong>n Kadi<br />

schleppte, als man ihn zweimal in öffentlichen Lokalen überfallen<br />

und tätlich mißhan<strong>de</strong>ln ließ, um <strong>de</strong>n gefährlichen Spötter in ewiges<br />

Schweigen zu schrecken, und all das mit negativem Erfolg —<br />

da war es klar, daß hier einer re<strong>de</strong>te, <strong>de</strong>r es mit seinem Gelächter


und Spott, mit seinem immer jungen Witz, <strong>de</strong>r eine ganze Stadt<br />

unterhielt, bitter ernst meinte .... Die es nicht zu erzwingen vermochten,<br />

daß er von ihnen schweige, wur<strong>de</strong>n von ihm gezwungen,<br />

daß sie ihn totschwiegen. Sie mochten in ihrem Dünkel Ihr<br />

Schweigen für seine Hinrichtung halten, es war aber ihr moralischer<br />

Selbstmord, <strong>de</strong>r sich von <strong>de</strong>m Selbstmord, in <strong>de</strong>n die Jambenpfeile<br />

<strong>de</strong>s Archilochos ihren Adressaten jagten, nur unwesentlich<br />

unterschei<strong>de</strong>t. Als auch <strong>de</strong>r letzte verzweifelte Versuch scheiterte,<br />

durch Lokalabtreibung <strong>de</strong>m Verhaßten <strong>de</strong>n direkten Verkehr<br />

mit <strong>de</strong>m Wiener Publikum zu sperren, da vergaßen die auf<br />

<strong>de</strong>r ganzen Linie überlisteten Grubenhun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schmocktums<br />

aufs Winseln und ließen das große Beben wie ein unabwendbares<br />

Fatum herankommen.<br />

Man hat Karl Kraus schon mit <strong>de</strong>r Formel »ganz wie Ferdinand<br />

Kürnberger« erledigen wollen. Die Ähnlichkeit beschränkt sich<br />

darauf, daß Kürnberger ebenso wie Kraus in <strong>de</strong>r Region <strong>de</strong>s Liberalismus<br />

geboren, eines schönen Tages <strong>de</strong>r liberalen Preßkorruption<br />

in schärfster Feh<strong>de</strong> gegenüberstand. Aber Kürnberger kam<br />

mehr durch äußere Umstän<strong>de</strong> gedrängt dazu, sich in diesen<br />

Kampf einzulassen, während Kraus ihn freiwillig, mit voller Überlegung,<br />

so wie etwa in <strong>de</strong>n Ritterepen <strong>de</strong>s Mittelalters die Ritter<br />

und Recken einan<strong>de</strong>r zum Kampf auf Tod und Leben herausfor<strong>de</strong>rn,<br />

beinahe mutwillig aufgenommen hat, innerlich provoziert<br />

von <strong>de</strong>m wi<strong>de</strong>rlichen Treiben, das er aus <strong>de</strong>r Nähe besehen hatte.<br />

Kürnberger focht diesen Streit durch, wie er eben Zeitungspolemiken<br />

auszufechten gewohnt war; im übrigen blieb er bis an sein<br />

Lebensen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r typische liberale Publizist und pedantische Nörgler<br />

mit <strong>de</strong>n ungenießbaren kulturkämpferischen Raunzereien <strong>de</strong>s<br />

doktrinären Liberalismus jener Tage. Von Kraus dagegen gilt, daß<br />

er ganz in seiner selbstgewählten Mission aufgeht .... Für »Preßfeindschaft«<br />

womit man <strong>de</strong>n Preßboykott gegen Kraus zu begrün<strong>de</strong>n<br />

suchte wird diese Auflehnung gegen die Überhebung und die<br />

Ausschweifungen <strong>de</strong>s Schmocktums, eben nur <strong>de</strong>r Schmock halten,<br />

<strong>de</strong>ssen Wer<strong>de</strong>gang Gustav Freytag ein für allemal geschil<strong>de</strong>rt<br />

hat. Gelegentliche — meist geniale — Übertreibungen, an die sich<br />

die Ausgepeitschten zu klammern suchen, liegen im Wesen <strong>de</strong>r<br />

Satire; <strong>de</strong>r Karikaturist ist kein Photograph. Die am meisten mißverstan<strong>de</strong>nen<br />

Verulkungen <strong>de</strong>r bo<strong>de</strong>nständigen, ach so populären<br />

Gemüatlichkeit und Schlamperei, kontrastieren wirksam mit <strong>de</strong>r<br />

Wucht und Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s übrigen; auch <strong>de</strong>r Satiriker darf gelegentlich<br />

seinen Vortrag durch einen Scherz unterbrechen.<br />

Der Vorleser Kraus nun ist <strong>de</strong>r Vollen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Autors Kraus. So<br />

manchem Dichter am Vorlesetisch möchte man <strong>de</strong>n freundschaftlichen<br />

Rat geben, sich und sein Werk einem Berufs<strong>de</strong>klamator anzuvertrauen.<br />

Kraus ist sein bester Leser. Er beherrscht alle Register<br />

<strong>de</strong>s Ausdrucks und gebraucht sie ohne jenes herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>,<br />

selbstgefällige Raffinement, das an <strong>de</strong>n Treibhausvirtuosen so verstimmt<br />

und <strong>de</strong>n Hörer immer wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Unbefangenheit <strong>de</strong>s<br />

Genießers reißt. Daß er die <strong>de</strong>utsche Sprache dialektlos spricht,<br />

ist vielleicht nicht überflüssig hier einzufügen. Er las zuerst mit<br />

erstaunlich reich abgestufter Tonskala <strong>de</strong>r Empfindung die Mondnachtszene<br />

aus <strong>de</strong>m »Kampaner Tal« <strong>de</strong>s Jean Paul .... Die<br />

19


schwärmerische Innigkeit dieser Stelle, für ein männliches Organ<br />

schier nicht zu bewältigen, strömte aus <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Vorlesers<br />

auf, zum Zuhörer über .... Als er aber sich selber zu lesen<br />

begann ... da hörte man nicht mehr <strong>de</strong>n Vorleser, da hatte man<br />

<strong>de</strong>n Eindruck, Tatzeuge eines Ereignisses zu sein. Das war nicht<br />

Wie<strong>de</strong>rgabe mehr, das war Neuproduktion. Und als er unter <strong>de</strong>m<br />

atemanhalten<strong>de</strong>n Schweigen <strong>de</strong>s Publikums sich hinter <strong>de</strong>m Tische<br />

aufreckte und seine ganze Persönlichkeit in die Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

warf, die <strong>de</strong>r Schluß <strong>de</strong>r »Faschingsunterhaltung« an die<br />

Bauernfeldpreisverteiler richtet, da hatte man das Gefühl, einem<br />

Spiele beizuwohnen, in <strong>de</strong>m es auf Tod und Leben geht ....<br />

P. Th.<br />

*<br />

In Prag am 22. März, veranstaltet von <strong>de</strong>n Schriftstellern Willy Haas<br />

und Franz Janowitz, mit <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Programm:<br />

I. Shakespeare: aus »Timon«. — Jean Paul: aus <strong>de</strong>m »Kampaner<br />

Tal«. — Osten<strong>de</strong>, erster Morgen / Ein Gedanke und sieben Kreuzer<br />

/ Die Vision vom Wiener Leben. II. Aus <strong>de</strong>m »Prozeß Veith«. —<br />

Die <strong>Glossen</strong>: Schlichte Worte / Riedau und Lido / Zur Erleichterung<br />

<strong>de</strong>s Lebens / Der Deutlichkeit halber / Gefährlich / Hinaus! /<br />

Angesichts. — Als Zugaben: Blutiger Ausgang einer Faschingsunterhaltung<br />

/ ich rufe die Rettungsgesellschaft / Teilnehmer an <strong>de</strong>r<br />

Tafel / Zweiunddreißig Minuten / Wie? / Wahrung berechtigter Interessen.<br />

'Prager Tagblatt' (24. März):<br />

Karl Kraus ist Freitag zum dritten mal als Vorleser nach Prag gekommen<br />

und von einem Kreise ausgewählter Intellektueller mit<br />

Begeisterung empfangen wor<strong>de</strong>n. Diesmal setzte er die Vorlesung<br />

aus eigenen Werken an <strong>de</strong>n Schluß <strong>de</strong>s Abends und begann mit<br />

Shakespeares »Timon von Athen«. Die Kunst <strong>de</strong>s Wortes, die hier<br />

scheinbar losgelöst von <strong>de</strong>r eigenen Produktion <strong>de</strong>s Rezitators<br />

und im Dienste eines Frem<strong>de</strong>n sich zu entfalten hatte, diente im<br />

Wesen doch Kraus' eigener Persönlichkeit. Denn im Mittelpunkt<br />

stan<strong>de</strong>n die Wutausbrüche <strong>de</strong>s unter <strong>de</strong>m Pöbel lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Timon;<br />

und zu diesem Ziel seines Vortrags aus Shakespeare bahnte sich<br />

Kraus <strong>de</strong>n Weg durch eine Reihe von Dialogen mit seiner geistigen,<br />

ins Gedankliche bohren<strong>de</strong>n Rhetorik, die er mit überlegen<strong>de</strong>n,<br />

erläutern<strong>de</strong>n Handbewegungen unterstützt. Timons Verzweiflung<br />

und Wut aber schrie er mit einer rücksichtslosen, fortreißen<strong>de</strong>n<br />

Lei<strong>de</strong>nschaft in die Zuhörer hinein. Das Pathos <strong>de</strong>s<br />

Hasses kennt man an Kraus; was man aber nicht wußte und was<br />

selbst für gute Leser <strong>de</strong>s Wiener Schriftstellers etwas ganz Überraschen<strong>de</strong>s<br />

und Neues war, brachte die folgen<strong>de</strong> Vorlesung aus<br />

Jean Pauls »Kampanertal«: die Erkenntnis, daß Kraus auch lyrischer<br />

Gestaltung fähig ist. Dieser Zerstörer und Verneiner las die<br />

Jean Paulsche Prosa mit einer Hingebung, mit einer melodischen<br />

Zartheit, mit einer tönen<strong>de</strong>n Anmut, daß im Hörer Visionen von<br />

Farben und Klängen aufstiegen. Man hatte das Gefühl, daß dies<br />

die vollen<strong>de</strong>te Wie<strong>de</strong>rgabe lyrischer Prosa sei.<br />

Dann folgte die Vorlesung eigener <strong>Glossen</strong> und Satiren. Auch hier<br />

holte <strong>de</strong>s Autors Wort Wirkungen hervor, die <strong>de</strong>m Leser verborgen<br />

geblieben waren. Vor allem ist es merkwürdig, um wieviel<br />

20


menschenfreundlicher Kraus' Satiren klingen, wenn er selbst sie<br />

liest. Sein scheinbar schroffer und egoistischer Individualismus<br />

mil<strong>de</strong>rt sich hier nicht nur in soziale Güte, son<strong>de</strong>rn wan<strong>de</strong>lt sich<br />

zu einer lei<strong>de</strong>nschaftlichen For<strong>de</strong>rung nach Gerechtigkeit. Unvergeßlich,<br />

mit welcher Wut er die geballte Faust auf <strong>de</strong>n Tisch fallen<br />

läßt, in höchster Erregung ruft: »Vivos voco, mortuos plango, fulgura<br />

frango«, und noch zitternd aus <strong>de</strong>m Saal stürmt. Immer wie<strong>de</strong>r<br />

verlangten die enthusiasmierten Hörer die Vorlesung weiterer<br />

<strong>Glossen</strong>; und erst nach fast dreistündigem Vortrag trennte sich<br />

Kraus von seinen Prager Freun<strong>de</strong>n.<br />

st.<br />

'Deutsches Abendblatt' (23. März):<br />

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —<br />

Zuerst langweilte er eine Stun<strong>de</strong> lang durch die Vorlesung einiger<br />

Szenen aus »Timon von Athen« u. vermittelte dabei die wertvolle<br />

Erkenntnis, daß die Athener im Dialekte <strong>de</strong>r Jitschiner Han<strong>de</strong>lsleute<br />

zu sprechen pflegten. Dann sagte er ein Kapitel aus <strong>de</strong>m<br />

»Kampaner Tal« im pathetisch—verständnislosen Tonfalle eines<br />

arroganten Sekundaners auf und las zuletzt eigene Geistesblitze.<br />

Zum Beispiel: daß die Osternummer <strong>de</strong>s 'Neuen Wiener Tagblatt'<br />

einen sehr großen Umfang habe. (Bewegung.) Schließlich nannte<br />

Herr Kraus die 'Neue Freie Presse'. Alles lachte. Die Krone aber<br />

setzte Herr Kraus seinem Humor auf, als er — ganz unvermittelt!<br />

— <strong>de</strong>n Namen »Har<strong>de</strong>n« nannte. Herr Polatschek jun. i. Fa. »Mareg<br />

& Polatschek« bekam einen Lachkrampf. Man be<strong>de</strong>nke: Mitten<br />

in einem scheinbar ernsten Satze hatte Kraus <strong>de</strong>n Namen Har<strong>de</strong>ns,<br />

dieses »Trottels«, genannt! Es war zum Quietschen.<br />

K.<br />

'Narodni Listy' (24. März):<br />

Karel Kraus v Praze. Bfitk~ vi<strong>de</strong>fisky satirik a krue posuzovalel literatury,<br />

tisku, soudnictvf a vefejn6ho iivota, pfednägel v pätek<br />

veeer praisk6mu obecensivu. Po Shakespearovi a Jeann Paulovi<br />

do§lo na vlastni tvorbu hostovu, jmenoviti na Jeho prudki, fezavd<br />

invektivy proti Justici, litetätnim porotäm a praktikäm vi<strong>de</strong>fisk6ho<br />

tisku, Jehof je vydavatel »Fackel« dävnym opov6dnym nepfitelem.<br />

Vybuchy smfchu, sledujfcf neodolateln~ sattrick~ talent Jeho, stffdaly<br />

se s chvfleml, kdy se mu dafilo pfen6sti na obecenstvo Zäst<br />

svi vä§ne proti kaidd kfivdg, af vystupuje k<strong>de</strong>koliv a kdykoliv.<br />

Prudk~ ütok proti porot6 v Litom&ficich, kterä osvobodila vraha<br />

Jen proto, ie obef Jeho nepatfila k slugni IldskA spoleZnosti, zakoneil<br />

Kraus neoeekävanou ranou proti Jazykov6mu sporu v<br />

Üechäch; n6meck6 obecenstvo v§ak nezastavilo svüj poilesk.<br />

Bitte um Totschweigen<br />

Es hat sich in die ohnedies empfindlichen Gehirne meiner Zeit—, Orts—<br />

und Berufsgenossen — wie gern wäre ich schon dieser dramatischen Einheit<br />

verlustig — ein Mißverständnis eingefressen. Nämlich, daß ich mich über das<br />

Totgeschwiegenwer<strong>de</strong>n beklage und gern das Echo jener Stimmen mache, die<br />

<strong>de</strong>n Kordon <strong>de</strong>s Schweigens durchbrechen. In Wahrheit tue ich nur so und die<br />

Wahrheit ist, daß ich nicht so tue. Man <strong>de</strong>nkt nicht immer auf <strong>de</strong>rselben Ebene,<br />

nie auf <strong>de</strong>rselben, auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>nkt, und Konsequenz kann immer<br />

21


einen an<strong>de</strong>rn Sinn haben. Der Abdruck <strong>de</strong>r Rezensionen, anfangs wohl einer<br />

literaturpolitischen Absicht, nie <strong>de</strong>m Vergnügen an oft völlig wertlosem Lob<br />

entsprungen, dient immer <strong>de</strong>m Zweck, das Milieu <strong>de</strong>r Empfänglichkeit festzuhalten<br />

und künftigen Literarhistorikern die Arbeit und das Verdienst abzunehmen.<br />

Was aber die Klage über das Totgeschwiegenwer<strong>de</strong>n und die Freu<strong>de</strong><br />

über die Entschädigung anlangt, so ist längst ein wohltätiger Wechsel eingetreten<br />

und es wird hoffentlich bald dahin kommen, daß die Klage über die<br />

Entschädigung in <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> über das Totgeschwiegenwer<strong>de</strong>n verstummt.<br />

Möge es. Denn es mag schwer sein, über mich zu schweigen — über die<br />

Schwierigkeit, von mir zu sprechen, kommen die wenigsten hinweg. Wenn ich<br />

<strong>de</strong>r Wiener Presse <strong>de</strong>utsche Urteile unter die Nase hielt, so geschah es weiß<br />

Gott nicht, weil ich sagen wollte: So ist's mir recht. O<strong>de</strong>r: Dort geschieht mir<br />

Recht, hier Unrecht. Son<strong>de</strong>rn, weil ich, die eigene Sache objektiv wie frem<strong>de</strong>n<br />

Wert betrachtend, eine <strong>de</strong>r schwersten Unterlassungen feststellen wollte.<br />

Wenn ich endlich — auf die Gefahr hin, an allgemeinem Gut mich zu versündigen<br />

— meinen persönlichen Geschmack zu Wort kommen lassen darf, so<br />

möchte ich eine inständige Bitte um weiteres Totschweigen vorbringen. ich<br />

habe es geta<strong>de</strong>lt, weil es eine öffentliche Schweinerei ist, die zum Himmel<br />

stinkt. ich strebe es an, weil es mir privatim Erholung, ja Erlösung be<strong>de</strong>utet.<br />

ich habe nie von mir gesprochen, wenn ich das Verhalten <strong>de</strong>r Wiener Presse<br />

gegen mich angriff. Das haben die Schöpse nur nicht verstan<strong>de</strong>n. Jetzt erst<br />

spreche ich von mir und für mich, da ich dieses Verhalten lobenswert fin<strong>de</strong><br />

und um geneigte Fortsetzung bitte. Allen Ernstes bitte ich darum. Denn was<br />

ich so im Laufe eines Monats zu hören bekomme, wenn die, <strong>de</strong>ren Schweigen<br />

verdrießlich scheint, zu re<strong>de</strong>n beginnen, gibt mir <strong>de</strong>n Wunsch ein, ihnen das<br />

Maul zu halten. ich kriege das Asthma, wenn sie mich nur zitieren: sie sollten<br />

es lieber ohne Angabe <strong>de</strong>r Quelle tun als mit Weglassung <strong>de</strong>s Atems. Keiner<br />

hat eine Ahnung, was aus einem Satz von mir wer<strong>de</strong>n kann, wenn er ihn in die<br />

Hand nimmt. ich baue die Nacht lang an einem Gedanken und solche Ziegelschupfer<br />

<strong>de</strong>r Meinung, <strong>de</strong>r öffentlichen, zeigen <strong>de</strong>m Passanten, woraus er besteht.<br />

ich habe annähernd ein Gefühl dafür, wie schwer es ist, mich zu zitieren;<br />

<strong>de</strong>nn ich erlebe siebenfachen Bedacht, ehe ich einen Satz aus <strong>de</strong>m Klima<br />

einer Glosse hole und zwischen Aphorismen leben lasse, und ich erlebe die<br />

Ahnungslosigkeit <strong>de</strong>s Lesers, <strong>de</strong>r nur die Gleichheit merken und <strong>de</strong>n Weltenunterschied<br />

eines Kommas nicht spüren wird. Wie ist es nur möglich, daß<br />

man drei Seiten in einer Stun<strong>de</strong> schreibt und, wenns fertig ist, zu einer Zeile<br />

drei Tage braucht ? Solange die Intelligenz diese Rechnung unlöslich fin<strong>de</strong>t,<br />

verzichte ich auf je<strong>de</strong>s Urteil über das Resultat. Wie es zustan<strong>de</strong>gekommen<br />

ist, davon wissen ein paar. Die können mir in Briefen sagen, daß sie es wissen,<br />

ich bin ihnen dankbar, und sie brauchen sich nicht für mich in ein Mißverständnis<br />

zu wagen, das wie alle besseren Mißverständnisse nicht coram<br />

publico, son<strong>de</strong>rn nur post publicum zu beheben ist. Alles Herausstreichen <strong>de</strong>s<br />

Verständlichen aber ist wertlos. Der größte Kampf wiegt weniger als das<br />

kleinste Wort. Was in dreizehn Jahren getan ist, braucht seinen Lobsprecher<br />

nicht zu fin<strong>de</strong>n, solange, was in einer Nacht vorgeht, durch stummen Mund<br />

auf taube Ohren trifft, ist wirklich ein Vollsinniger in <strong>de</strong>r Nähe, <strong>de</strong>r glauben<br />

konnte, mir wäre es irgendwann und irgendwo um eine Besprechung zu tun<br />

gewesen? Und ich hätte je eine gewollt, von einer auch nur vorher gewußt<br />

und einem Autor je für an<strong>de</strong>res gedankt als für <strong>de</strong>n Mut o<strong>de</strong>r die manuelle<br />

Mühe <strong>de</strong>r Übersendung? ich sehe ein, daß es ein literarischer Skandal ist,<br />

wenn eine Besprechung über mich nicht erscheint. Das nehme ich so sachlich,<br />

wie ichs gegenüber einem an<strong>de</strong>rn Autor von meiner Be<strong>de</strong>utung persönlich<br />

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nehmen wür<strong>de</strong>. Aber ich bringe damit ein Opfer; <strong>de</strong>nn ich muß sagen, daß mir<br />

das Erscheinen von Besprechungen maßlos lästig ist. Vom Enthusiasmus habe<br />

ich genug und <strong>de</strong>n Blödsinn möchte ich nur genießen, wenn er einem an<strong>de</strong>rn<br />

gilt. Mir geht er durch Mark und Bein. Aus allerinnerster, tiefster und auf<br />

Wunsch eidlich zu erhärten<strong>de</strong>r Überzeugung erkläre ich, daß mir persönlich,<br />

so groß die Infamie auch sein mag, das Verhalten <strong>de</strong>r Wiener Tagespresse,<br />

dieses sich mit <strong>de</strong>r Welt Verhalten, dieses Verhalten <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> über mich eine<br />

Wohltat be<strong>de</strong>utet. Ein diesem Heft beigelegter Verlagsprospekt behauptet, sie<br />

wolle mich in Schweigen ersticken. Das mag sein, aber es kitzelt so angenehm.<br />

Die größte Lust, die meine Haut kennt, ist hinterm Ohr rasiert zu wer<strong>de</strong>n;<br />

ich hatte nie dabei die üble Empfindung, daß es an <strong>de</strong>n Hals geht, auch<br />

wenn man mir hun<strong>de</strong>rtmal versichert hätte, daß <strong>de</strong>m Friseur nicht zu trauen<br />

sei. An<strong>de</strong>rs: wenn er zu re<strong>de</strong>n anfinge, wär's um mich geschehen; ich wür<strong>de</strong><br />

mich langweilen. Was die Feuilletonisten hinter meinem Rücken mit mir treiben,<br />

ist wohl getan. Es gibt Schwarzseher, die mir mit <strong>de</strong>r Vermutung aufwarten,<br />

es könne nicht immer so bleiben, eines Tages müßten, über kurz o<strong>de</strong>r<br />

lang wür<strong>de</strong>n sie. ich wünsche es nicht zu erleben. Die Vorstellung, daß sie eines<br />

Tages müßten, dürften o<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong>n; daß sie es über sich brächten o<strong>de</strong>r<br />

daß es ihnen angeschafft wür<strong>de</strong>; daß die Begeisterung <strong>de</strong>r Wiener Redaktionen<br />

über je<strong>de</strong>s Heft <strong>de</strong>r Fackel in die Wiener Zeitungen dränge — hat bei Gott<br />

wenig Reiz für mich. Es gibt Ironiker — merkwürdiger Weise gibt es Ironiker<br />

über mir —, die sagen wer<strong>de</strong>n: aha, er fürchtet für seine Unabhängigkeit.<br />

Aber das ist ja Unsinn. ich bin meiner so sicher, daß keine Beachtung imstan<strong>de</strong><br />

ist, mir meine Verachtung herauszufiloutieren. ich wäre dann endlich für<br />

sie auf <strong>de</strong>r Welt: aber was nützte es, da sie noch immer für mich auf <strong>de</strong>r Welt<br />

wären? Sie hätten dann an einem Falle ihre Pflicht erfüllt und an <strong>de</strong>r Sache<br />

noch immer versäumt. Sie hätten sie aus <strong>de</strong>n schlechtesten Motiven erfüllt.<br />

Sie hätten gesagt, ich sei etwas, um mich darüber zu täuschen, daß sie nichts<br />

sind. Das wür<strong>de</strong> nicht nur nicht gelingen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Versuch wäre eine Vermehrung<br />

meiner Argumente gegen sie. Noch nie habe ich einen Schuft <strong>de</strong>shalb<br />

für ehrlich gehalten, weil er so unehrlich war, zu sagen, ich sei kein<br />

Schuft. Wenn sie mir einen Beweis geben wollen, genügt es nicht, mich leben<br />

zu lassen. Aufhören, selbst zu leben: das ist die Frie<strong>de</strong>nsbedingung, von <strong>de</strong>r<br />

ich auch kein Jota abhan<strong>de</strong>ln lasse. Primum non vivere, <strong>de</strong>in<strong>de</strong> wird sich fin<strong>de</strong>n.<br />

Eines Tages mögen sie — bei mir verän<strong>de</strong>rt sich nichts. Sie könnten<br />

einen Bestechungsversuch machen, in<strong>de</strong>m sie mir in Aussicht stellen, daß sich<br />

auch bei ihnen nichts verän<strong>de</strong>rt und daß ich nicht eines Tages für jourfähig<br />

erklärt wer<strong>de</strong>. Freilich, wenn sie meine Bitte um Totschweigen auch erfüllen,<br />

so könnte ich mich ihnen <strong>de</strong>nnoch nicht erkenntlich zeigen. Da ich meiner privaten<br />

Behaglichkeit kein Opfer bringe und die Pflicht mich zwingt, sie für<br />

Schweinehun<strong>de</strong> zu halten, so läßt sich lei<strong>de</strong>r nichts machen und alles bleibt<br />

zwischen uns beim Alten. Der Friseur schweige. Ich spreche weiter.<br />

Razzia auf Literarhistoriker<br />

Und man glaube mir, daß die Bitte um Totschweigen ihren Grund in Erlebnissen<br />

hat und daß die Erschütterung stark sein muß, welche <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r so<br />

gern von sich spricht, zur Bitte treibt, daß es die an<strong>de</strong>rn wenigstens unterlassen<br />

mögen. Weiß man <strong>de</strong>nn, wie ich lebe? Da irrt in zweistündigem Schlaf ein<br />

Komma durch <strong>de</strong>n Weltraum und droht die Er<strong>de</strong> zu zerschellen: aber <strong>de</strong>r<br />

Postbote pocht an die Tür und bringt <strong>de</strong>n Ausschnitt aus <strong>de</strong>r Allgemeinen<br />

Sportzeitung, die nicht für Pfer<strong>de</strong> geschrieben ist, son<strong>de</strong>rn nur für Pfer<strong>de</strong>-<br />

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händler und darum sich zur Erfassung künstlerischer Dinge nicht eignet. Und<br />

<strong>de</strong>nnoch ist es die erste Zeitung, die über Pro domo et mundo geschrieben<br />

hat. »Eine prickeln<strong>de</strong> Lektüre«, sagt sie. Und über <strong>de</strong>n »Provinzonkel« sagt<br />

sie gleich darauf: »Ein ungewöhnlich witziges Buch.« Dadurch, daß ich, was<br />

mir die Post bringt, in das Fach <strong>de</strong>s Traumes zurückstecke und nach je<strong>de</strong>m<br />

Briefe mich für eine Stun<strong>de</strong> noch auf ein Postskriptum <strong>de</strong>s Schlafes einlasse,<br />

kann mir nichts geschehen und ich erwache gekräftigt. Sonst wäre <strong>de</strong>r<br />

Wunsch in mir zu stark, auszugehen und einem, <strong>de</strong>r mich prickelnd fin<strong>de</strong>t, je<strong>de</strong>s<br />

Barthaar einzeln auszureißen. ich überschlafe <strong>de</strong>n Entschluß, und erinnere<br />

mich nachher nur dunkel, daß ich am Abend zuvor Sodawasser getrunken<br />

und dann unruhig geträumt habe ... Dieses war die erste Rezension. Einen<br />

Tag später wollte es <strong>de</strong>r Himmel, daß mir eine Stimme aus Breslau zurief, das<br />

Buch sei »nach<strong>de</strong>nklich und amüsant zu lesen«. Und zum Schlusse krümmte<br />

sich ein zitierter Satz, <strong>de</strong>n ich nicht wie<strong>de</strong>rerkannte. im Buch war er eine unter<br />

<strong>de</strong>n Feuerzungen. Neben meinem Bett aber lag eine Blindschleiche. »Dieses<br />

Aphorisma soll geistreich sein. Wir möchten es an<strong>de</strong>rs nennen«, rief Breslau.<br />

Aus Überzeugung stimme ich zu. Über O<strong>de</strong>rberg verän<strong>de</strong>rt sich manches.<br />

Aber selbst wenn ich eine Stufe ausbräche, um zu sagen, wie herrlich die<br />

Treppe sei, wäre die Stufe kein Beweis und die Treppe in Gefahr. ich konnte<br />

weiter schlafen, <strong>de</strong>nn ich dachte in Frie<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n Verleger, <strong>de</strong>m ich immer<br />

<strong>de</strong>n Waschzettel hatte ausre<strong>de</strong>n wollen und <strong>de</strong>r gesagt hatte, er sei notwendig.<br />

So ist es, aber man muß ihn <strong>de</strong>n Hun<strong>de</strong>n vorbin<strong>de</strong>n, daß sie ihn anbehalten<br />

und we<strong>de</strong>r mehr beißen können noch auch bellen. Ein Buch darf, wenns<br />

<strong>de</strong>nn schon darauf ankommt, es ins Publikum zu bringen, überhaupt nur<br />

durch ein vorgeschriebenes Urteil empfohlen und bei Strafe <strong>de</strong>r Entziehung<br />

weiterer Rezensionsexemplare muß <strong>de</strong>r Redaktion verboten wer<strong>de</strong>n, sich einer<br />

selbständigen Ansicht zu bedienen. Die Rezensionsexemplare sollen vor<br />

<strong>de</strong>r Lektüre verkauft wer<strong>de</strong>n. ich bin ein Fanatiker <strong>de</strong>s Waschzettels. ... Dieses<br />

war die zweite Rezension. Aber das Ärgste war noch nicht geschehen. Oft<br />

hatte ich mir gedacht: was wer<strong>de</strong> ich tun, wenn eines Tages eine Rezension<br />

erscheint, in <strong>de</strong>r so nebenbei gesagt wird, »Pro domo et mundo« — das heiße<br />

auf <strong>de</strong>utsch »Für Haus und Welt«? Denn domus heißt ja Haus und mundus<br />

heißt ja Welt. ich habe schon so viel von <strong>de</strong>r Menschen Ungunst erfahren, ich<br />

wür<strong>de</strong>, glaubte ich, auch das hinnehmen, aber ich wer<strong>de</strong> dann meinen Verleger<br />

bitten, nicht nur <strong>de</strong>n Zeitschriften, die ich ihm ausdrücklich genannt<br />

habe, son<strong>de</strong>rn überhaupt allen besseren Journalen das Exemplar zu entziehen.<br />

Denn <strong>de</strong>n Waschzettel drucken doch nur die kleinen Provinzblätter, aber<br />

so ein Kerl, <strong>de</strong>r in einer Hauptstadt wohnt, glaubt zu einer selbstständigen<br />

Ansicht verpflichtet zu sein. Am dritten Tag also pochte <strong>de</strong>r Postbote an die<br />

Tür und brachte mir die Post, die in Berlin erscheint und national ist. Ei, da<br />

steht ja ein Feuilleton und darüber — »Für Haus und Welt«! ich wünschte<br />

mich über Land und Meer. Die erste Zeile lautete:<br />

Karl Kraus sagt die Sache natürlich lateinisch. » ro domo et mundo«<br />

betitelt er eine Kurzgedankensammlung, die er im Verlag Albert<br />

Langen (München) in einem Ban<strong>de</strong> von 178 Seiten (2,50 M.)<br />

erscheinen ließ.<br />

Aber die letzte Zeile:<br />

Es scheint, als ob auch für Kraus etwas heilig wäre. Vor Stillreligiösem,<br />

vor irgen<strong>de</strong>iner Ordnung, die er nirgends vorfin<strong>de</strong>t, scheint<br />

er Achtung zu haben. Und das gab ihm vielleicht <strong>de</strong>n Titel <strong>de</strong>s<br />

Werkes. Aber man kann das nur fühlen, nicht fin<strong>de</strong>n. tu.<br />

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Diese Trompete wird mich nicht mehr loslassen. Von Schlaf keine Re<strong>de</strong><br />

mehr. Man kann das nur fühlen, nicht fin<strong>de</strong>n. Der Kerl zitiert meine Kurzgedanken<br />

zu 2,50 und erläutert sie stillreligiös. tu. Der Kerl ist ein Beiwagenredakteur.<br />

tu. ich will und will nichts mehr hören.<br />

*<br />

Nun hören Sie aber, was weiter geschah. Die »Bitte um Totschweigen«<br />

war längst geschrieben, da kam die Frankfurter Zeitung mit einem Aufsatz<br />

»Vom Aphorismus«. Hier wur<strong>de</strong> das Endgültige gesagt. Was ein Aphorismus<br />

ist, was er soll und wie man sich zu benehmen hat, wenn man zum Aphorismenschreiben<br />

inkliniert. »Der ganze Reiz, <strong>de</strong>n eine gelungene aphoristische<br />

Form auf unser Gemüt ausübte«, rühre »aus <strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong> her, daß hier<br />

eine Reihe von Erkenntnissen in einen einzigen Satz <strong>de</strong>rart zusammengedrängt<br />

wird, daß letzterer … « und in einem Aphorismus wer<strong>de</strong> »eine Reihe<br />

von Betrachtungen durch ein gelungenes Bild <strong>de</strong>rmaßen erhellt, daß sie <strong>de</strong>m<br />

Geiste <strong>de</strong>s Lesers ohne weiteres einleuchten. Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß diese<br />

Betrachtungen schon einen gewissen Grad von gedanklicher Be<strong>de</strong>utung besitzen<br />

müssen«. Ein Aphorismus ist also das, was <strong>de</strong>m Geiste <strong>de</strong>s Lesers ohne<br />

weiteres einleuchtet, was aber gedanklich be<strong>de</strong>utend sein muß, weil <strong>de</strong>r Leser<br />

sich mit Dummheiten nicht abgibt. Das liegt auf <strong>de</strong>r Hand. Und solche<br />

Hän<strong>de</strong> rühren in Deutschland die Kunst an. Es sind die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tuchreisen<strong>de</strong>n.<br />

Da aber <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>s Lesers vollständig informiert sein will, so muß ihm<br />

auch gesagt wer<strong>de</strong>n, was <strong>de</strong>r Aphorismus nicht sein soll. »Eine weit ausholen<strong>de</strong><br />

theoretische Auseinan<strong>de</strong>rsetzung eignet sich ebenso wenig zu einem richtigen<br />

Aphorismus wie ein be<strong>de</strong>utungsloser Gedankengang. ...« Also ist we<strong>de</strong>r<br />

ein Zitat aus <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung noch auch die Kritik <strong>de</strong>r reinen Vernunft<br />

ein richtiger Aphorismus, das leuchtet ohne weiteres ein und liegt auf <strong>de</strong>r<br />

Hand. Richtige Aphoristen sind vielmehr — von Blumenthal abgesehen — »ein<br />

Pascal, ein Lichtenberg, ein Nietzsche«. Sie haben so geschrieben, daß »eine<br />

möglichst große Fülle von Gedanken einen möglichst kleinen Raum<br />

einnimmt«. Überhaupt »spielt beim Aphorismus die äußere Form eine ausschlaggeben<strong>de</strong><br />

Rolle«. — Das Individuum nun, das diesen Satz nie<strong>de</strong>rzuschreiben<br />

vermag, wird von <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung eingesetzt, über »Pro<br />

domo et mundo«, zu richten. ich nämlich erfülle die kulanten Bedingungen,<br />

die <strong>de</strong>r Reisen<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Aphoristen stellt, ganz und gar nicht, und die Betrachtung<br />

über <strong>de</strong>n Aphorismus ist nur die Einleitung zu einer Kritik, die meinem<br />

»Pro domo et mundo« gilt. Zwar hat dieselbe Frankfurter Zeitung ehe<strong>de</strong>m behauptet,<br />

daß alle jene Bedingungen in meiner Schreibkunst erfüllt sind, und<br />

mich eben <strong>de</strong>shalb mit Lichtenberg verglichen. Aber im Feuilleton—Koben<br />

<strong>de</strong>r großen Presse haben alle Meinungen Platz, und es ist nur unappetitlich,<br />

daß man bei Gelegenheit die »günstige« erwischt. ich wehre mich nicht gegen<br />

<strong>de</strong>n Ta<strong>de</strong>l, son<strong>de</strong>rn gegen die Berührung. Die Burschen sollen Neuigkeiten<br />

bringen, nicht Urteile. Zwei Wochen nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>m Aphoristen Blumenthal<br />

hochgestimmte Betrachtungen nachgerühmt wur<strong>de</strong>n, habe ich überhaupt<br />

nicht an <strong>de</strong>rselben Stelle genannt zu wer<strong>de</strong>n. Die Quarantäne hat zwei Jahrhun<strong>de</strong>rte<br />

zu dauern. In dieser Zeit lehne ich es ab, nach irgen<strong>de</strong>iner Richtung<br />

<strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung unverdächtig zu sein. ich verzichte auf <strong>de</strong>n Passierschein:<br />

»Nun liegt es ganz und gar nicht in unserer Absicht, die sonstigen<br />

Verdienste <strong>de</strong>s Verfassers irgendwie zu schmälern. Wir wissen wohl, daß er in<br />

einer bestimmten Richtung ein wirklicher Befreier war und ist, aber was er<br />

uns in <strong>de</strong>r letzten Phase seiner schriftstellerischen Entwicklung und beson<strong>de</strong>rs<br />

in diesem vor uns liegen<strong>de</strong>n Werke bietet, wirkt <strong>de</strong>primierend und befrem<strong>de</strong>nd.«<br />

ich wer<strong>de</strong> trachten, die Frankfurter Zeitung auch in jener Rich-<br />

25


tung zu <strong>de</strong>primieren und zu befrem<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r ich ein wirklicher Befreier bin,<br />

und ich wer<strong>de</strong> ihr schon beibringen, daß es in <strong>de</strong>r Kunst alles eher gibt als<br />

sonstige Verdienste, und keine an<strong>de</strong>rn als immer die, welche die Intelligenz<br />

nicht anerkennt. Überhaupt wer<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>r Intelligenz, die mit <strong>de</strong>r letzten Phase<br />

meiner schriftstellerischen Entwicklung naturnotwendig unzufrie<strong>de</strong>n sein<br />

muß, es abgewöhnen, mit meiner Vergangenheit einverstan<strong>de</strong>n zu sein. Wenn<br />

ich nämlich nur <strong>de</strong>r wäre, <strong>de</strong>n die Leute kapieren, hätte ich mich knapp vor<br />

<strong>de</strong>m Eintritt in die letzte Phase erschießen müssen. ich habe ein großes<br />

Schweineschlachten hinter mir und male jetzt mit <strong>de</strong>m Blut meine Bil<strong>de</strong>r. Die<br />

Schweine rächen sich an <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m sie das Schlachten besser fin<strong>de</strong>n.<br />

Aber was ich hinter mir habe, habe ich immer wie<strong>de</strong>r auch vor mir. Wenn sie<br />

es nicht kapieren, daß sie auch auf höherer Ebene kaputt gemacht wer<strong>de</strong>n<br />

können, so will ich gern zu ihnen hinuntersteigen. ich kann es. Ob ich ein<br />

»falscher Aphorist« bin, darüber wer<strong>de</strong> ich mit einem großen Han<strong>de</strong>lsblatt<br />

nicht rechten, das schon öfter behauptet hat, daß ich ein richtiger bin; fern<br />

sei es von mir, <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung ihre Ansicht aufdrängen zu wollen. Ob<br />

ein Satz wie <strong>de</strong>r: 'Der Kopf <strong>de</strong>s Weibes ist bloß <strong>de</strong>r Polster, auf <strong>de</strong>m ein Kopf<br />

ausruht' »we<strong>de</strong>r geistreich noch geschmackvoll« ist und ob meine Aphorismen<br />

»durch ihre ungemeine Banalität <strong>de</strong>s gedanklichen Gehalts überraschen, die<br />

das Feingefühl <strong>de</strong>s Lesers peinlich berührt«, darüber wer<strong>de</strong> ich mit einem<br />

Blatt, das je<strong>de</strong>m meiner Sätze »<strong>de</strong>n Extrakt langer Gedankenarbeit« nachsagt<br />

und mich »einen Künstler <strong>de</strong>r Pointe« nennt, »wie wir ganz wenige haben«,<br />

nicht streiten. Es ist einfach eine Frechheit. Verschärft, wenn solcher Pöbel<br />

einen an<strong>de</strong>rn Satz von mir entstellt, um ihn zu loben. ich wer<strong>de</strong> diese Leute<br />

schon lehren, mich in Bausch und Bogen zu verwerfen. Denn die einzige Basis,<br />

auf <strong>de</strong>r sie sich zur Kunst stellen können, ist die Logik, und die wird ihnen<br />

begreiflich machen, daß ein Werk, in welches — populär gesprochen — die<br />

besten Stellen aus jenen Aufsätzen eingereiht sind, in <strong>de</strong>nen ich »ein wirklicher<br />

Befreier« bin, auch <strong>de</strong>n Tölpel, <strong>de</strong>r es glaubt, nicht enttäuschen kann,<br />

und daß es da von rechtswegen nur eine Überraschung gibt, nämlich die über<br />

das Plus kompositorischer Leistung. Da ich aber <strong>de</strong>nnoch enttäusche, so folgt,<br />

daß ich vorher getäuscht haben muß. Nun hoffe ich zwar, daß es mir noch gelingen<br />

wird, von diesen Leuten wie<strong>de</strong>r verachtet zu wer<strong>de</strong>n, aber ich fürchte,<br />

daß es mir nicht mehr gelingen wird, von ihnen nicht beachtet zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Und wenn sie es endlich merken, daß ich nichts an<strong>de</strong>res im Sinn habe, als ihr<br />

Feingefühl peinlich zu berühren: ihre Zudringlichkeit wird sich nicht abhalten<br />

lassen. Aber ich muß Mittel fin<strong>de</strong>n, mich vor <strong>de</strong>m Zitiertwer<strong>de</strong>n zu schützen,<br />

von <strong>de</strong>m kunstferne Schmierer nicht ahnen, daß es selbst bei buchstäblicher<br />

Genauigkeit ein Entstelltwer<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utet, ich muß <strong>de</strong>r Klarheit, die die Kunst<br />

erklären möchte, das Material entziehen. Die Meinungsfreiheit wird ja vorläufig<br />

nicht abzustellen sein, und ich will mich da schon mit <strong>de</strong>m Genuß <strong>de</strong>r Vorstellung<br />

begnügen, daß ich einem dummen Kerl verbieten kann, sich über<br />

mich Gedanken zu machen. Vielleicht hilfts, wenn ich ihm die Arbeit abnehme<br />

und ihm verrate, daß wirklich an mir garnichts ist. Er braucht sich nicht anzustrengen,<br />

ich sage ihm schon, daß ich mich auch nicht anstrengen muß. Es ist<br />

richtig, ich unterschei<strong>de</strong> mich von <strong>de</strong>n eigentlichen Aphoristen, die »ein von<br />

innen her bestimmtes, persönliches Verhältnis zu <strong>de</strong>n Dingen und <strong>de</strong>n Menschen<br />

besitzen« dadurch, daß ich einen »äußeren Anlaß« brauche, um zu <strong>de</strong>nken.<br />

So oft ich einen dummen Kerl sehe, bin ich schon geistreich. Vorher bin<br />

ichs gewiß nicht, und <strong>de</strong>r Unterschied zwischen mir und meinem Kritiker ist<br />

nur <strong>de</strong>r, daß ich, wenn ich ihn nur anschaue, auf Gedanken komme, während<br />

er, wenn er mich anschaut, noch dümmer wird. Dies mein ganzes Verdienst,<br />

26


ich habe kein »sonstiges«, und darin mag ich mich wohl von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

Aphoristen unterschei<strong>de</strong>n, die schon mit <strong>de</strong>n Gedanken an die Dinge und<br />

Menschen herantreten. ich bin eben nur ein Satiriker und darum kann ich<br />

ohne einen Esel nicht leben o<strong>de</strong>r wäre selbst einer, wenn ich keinen hätte. Sicher<br />

ist, daß ich <strong>de</strong>r Dummheit mehr verdanke als sie mir und daß sie <strong>de</strong>shalb<br />

mit Recht in ein gewisses Gefühl <strong>de</strong>r Überlegenheit über mich hineinkommt.<br />

Auf die Banalität muß ich banal wirken und es unterliegt keinem Zweifel, daß<br />

sie, die selbstzufrie<strong>de</strong>n gelebt hat, vor einem Spiegel sich durch die ungemeine<br />

Banalität <strong>de</strong>s gedanklichen Inhalts überrascht und in ihrem Feingefühl<br />

peinlich berührt fühlen muß. An<strong>de</strong>re Aphoristen reflektieren die Welt jenseits<br />

solches Dings, das darum noch Hoffnung hat, in sie einbezogen zu sein. ich<br />

reflektiere mit Ausschluß und besiedle <strong>de</strong>n Hohlraum, <strong>de</strong>n ich hergestellt habe.<br />

Das ist <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Weg, unwegsamer, weil er von <strong>de</strong>n Dingen und Menschen<br />

wegführt, scheinbar ein Kin<strong>de</strong>rspiel, weil er dort anfängt, wo sie stehen.<br />

Aber sind <strong>de</strong>nn nicht die Vergleiche mit an<strong>de</strong>rn Aphoristen immer, auch<br />

wenn sie zu meinen Gunsten ausfallen, unsinnig? Wenns eine Instanz in<br />

Deutschland gäbe, die über solche Dinge zu entschei<strong>de</strong>n hätte, sie müßte mir<br />

nicht <strong>de</strong>n Wert, aber sie müßte mir die Unvergleichlichkeit — ich meine die<br />

Unvergleichbarkeit — meiner Aphorismenreihen bestätigen. Und wenns hier<br />

Proben für ein Ganzes gäbe, dann stelle ich mich getrost <strong>de</strong>r Untersuchung,<br />

ob in <strong>de</strong>m Kapitel »Vom Künstler«, o<strong>de</strong>r im letzten, nicht Sätze stehen, die die<br />

stärksten Proben <strong>de</strong>utscher Sprachschöpfer — in <strong>de</strong>r Probe, nicht im Ganzen<br />

— übertreffen. Keiner <strong>de</strong>r Sprachsudler, <strong>de</strong>nen sich die Vorstellung »Lichtenberg<br />

und Nietzsche« automatisch einstellt, sobald von Sprache die Re<strong>de</strong> geht,<br />

wäre imstan<strong>de</strong>, durch die Tagebuchnotizen Lichtenbergs, die großen Teils ein<br />

zu Druckfehlern gestaltetes Gedankenmaterial und zum geringsten Proben<br />

<strong>de</strong>s richtigen Aphorismus bieten, zum Künstler vorzudringen, und <strong>de</strong>r's vermöchte,<br />

müßte zugeben, daß das Entzücken an <strong>de</strong>m Einklang von Wort und<br />

Weisheit gera<strong>de</strong> dort aussetzt, wo Lichtenberg — wie in <strong>de</strong>n völlig verwesten<br />

Satiren — nicht bloß notiert, son<strong>de</strong>rn geschrieben hat. Jenen Einklang verdankt<br />

aber auch er nur <strong>de</strong>r »Gelegenheit«, und in seinen vollkommensten<br />

Aphorismen hat er eben das, was <strong>de</strong>m rationalistischen Tropf einen Denker<br />

be<strong>de</strong>nklich macht: <strong>de</strong>n Wortwechsel mit <strong>de</strong>m Anlaß, in <strong>de</strong>n sich, überraschend,<br />

<strong>de</strong>r Gedanke mischt. Dann sprechen sie alle eine Sprache. Das »Verhältnis<br />

zu <strong>de</strong>n Dingen und Menschen«, das <strong>de</strong>r Tropf in Gegensatz zum »Anlaß«<br />

bringt, muß freilich da sein, aber es hat nicht <strong>de</strong>n Weg zur Verständigung.<br />

Die Sprache holt von draußen, was drinnen ist. Was <strong>de</strong>r Tropf unter<br />

<strong>de</strong>m Aphorismus wie unter Lyrik begreift, ist eben noch »eine gelungene<br />

Form«, in die es <strong>de</strong>m Dichter beliebt, seinen so wie so fertigen Gedanken o<strong>de</strong>r<br />

sein auch an und für sich präsentables Gefühl hineinzutun, damit <strong>de</strong>r Betrachter<br />

eine Freu<strong>de</strong> hat. Was er nicht begreift, weil ein handliches Gehirn <strong>de</strong>rlei<br />

nicht begreifen kann, ist das Glück <strong>de</strong>s Aphoristen, allem Ernst <strong>de</strong>r Welt das<br />

vorbestimmte Spiel <strong>de</strong>s Wortes so zu fin<strong>de</strong>n, daß die Auflösung sein Verdienst<br />

scheint. Lichtenberg weiß darum, aber lebt nicht immer danach. Dort, wo er<br />

Fragment ist, nicht Aphorist — an<strong>de</strong>utend verlängert, und mir aus verwandter<br />

Anschauung, Stimmung o<strong>de</strong>r Meinung das Wort entspringt, gera<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n oft<br />

behaupteten Ähnlichkeiten beweist sich die Verschie<strong>de</strong>nheit. ich schrieb einmal:<br />

»Lichtenberg gräbt tiefer als irgend einer, aber er kommt nicht wie<strong>de</strong>r<br />

hinauf. Er re<strong>de</strong>t unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Nur wer selbst tief gräbt, hört ihn.« Maulwürfe<br />

können ihm nicht hinunterfolgen. Spaziergänger sehen mich nur, wenn<br />

ich wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Oberfläche bin. Wenn aber Journalisten über die Sprache<br />

sprechen, so sollten Anstreicher über die Farbe malen dürfen. Eine gewisse<br />

27


Kennerschaft sollte <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie zum Besten gibt, ehrlos machen. Und <strong>de</strong>n<br />

Kennern wäre ich, <strong>de</strong>r Nietzsche nicht kennt, und schon <strong>de</strong>shalb nicht zu<br />

leugnen vermöchte, daß er ihm manches verdankt, recht dankbar, wenn sie<br />

mir einmal durch Beispiele erweisen könnten, daß er <strong>de</strong>r richtige Aphorist<br />

war. ich habe aus allem, was ich über ihn und aus ihm gelesen habe, das Gefühl,<br />

daß er <strong>de</strong>n Aphorismus besser geschmeckt als gekonnt hat, und keiner<br />

seiner oft zitierten Prägungen kann ich mehr abgewinnen als <strong>de</strong>n Eindruck<br />

von einer Erregung, die ohne die Brücke <strong>de</strong>s Humors zu einem gegebenen Pathos<br />

hinüberlangt, und keinem seiner geflügelten Worte mehr als <strong>de</strong>n Eindruck<br />

von einer schwerfälligen Zeit, die witzlos genug war, über <strong>de</strong>n »Moraltrompeter<br />

von Säckingen« zu lachen, wiewohl Schillers Bezeichnung <strong>de</strong>r<br />

Frauenbrüste als <strong>de</strong>r »Halbkugeln einer bessern Welt« die Moral durch einen<br />

pathetischen Witz besser erledigt, als jenes Nietzschewort. ich darf nur davon<br />

sprechen, daß ich stets die humorlosesten Pedanten auf Nietzsches Sprengkraft<br />

<strong>de</strong>s Wortes sich berufen hörte; ich vermesse mich nicht, mein kleines<br />

Ganzes — klein, wenn man vom Erkenntniswert die Satire, also das Verdienst<br />

<strong>de</strong>r Umwelt, <strong>de</strong>r erkannten, abzieht — mit einem größeren Ganzen zu vergleichen:<br />

aber da jene an Zitaten die Persönlichkeit messen und auf die äußersten<br />

Beweise <strong>de</strong>r Sprachleistung dringen, so wäre es endlich eine heilsame Abfuhr<br />

für mich, wenn einer die besten von <strong>de</strong>n richtigen Aphorismen Nietzsches neben<br />

die besten von meinen falschen stellen wollte. ich bitte darum. Daß aber<br />

zwei Wochen nach <strong>de</strong>n Busenwitzen <strong>de</strong>s Herrn Blumenthal im Feuilleton einer<br />

großen Zeitung meine Banalität ausgerufen wird, ist eine Unsauberkeit, die<br />

die <strong>de</strong>utsche Literatur nicht auf sich sitzen lassen dürfte, wenn die <strong>de</strong>utsche<br />

Literatur nicht von <strong>de</strong>n Finanzgeiern abhängig wäre, die so en passant auch<br />

einem Prometheus die Leber aushacken wür<strong>de</strong>n. Gewiß, ich bin nur ein<br />

»Nachahmer« und wenn wir noch einen Himmel haben, von <strong>de</strong>m Himmel<br />

habe ich das Feuer gestohlen. Das ist meine Grenze und meine Stärke. jetzt<br />

versuche die Frankfurter Zeitung sich auszukennen. Jetzt entschei<strong>de</strong> sie, wer<br />

recht hat, die Frankfurter Zeitung, die schreibt:<br />

Kraus ist ein Künstler <strong>de</strong>r Pointe, wie wir ganz wenige haben. In<br />

ein halbes Dutzend sorgfältigst gewählter Worte preßt er <strong>de</strong>n Extrakt<br />

langer Gedankenarbeit, und hinter seinen Witzen liegt oft<br />

genug, wie hinter <strong>de</strong>nen Lichtenbergs, ein System verborgen<br />

o<strong>de</strong>r die Frankfurter Zeitung, die schreibt:<br />

Er rührt seine Wortvorstellungen so lange umher, bis ein or<strong>de</strong>ntlicher<br />

Schaum entsteht, und dieser Schaum sieht dann beinahe wie<br />

ein Gedanke aus ... Die Kraus'schen Aphorismen überraschen<br />

durch ihre ungemeine Banalität <strong>de</strong>s gedanklichen Gehalts, die das<br />

Feingefühl <strong>de</strong>s Lesers peinlich berührt<br />

die Frankfurter Zeitung:<br />

... Auch sonst kann ich das Gefühl nicht loswer<strong>de</strong>n, daß hinter <strong>de</strong>r<br />

Grimasse eines wüten<strong>de</strong>n Menschenfeinds und Verächters sich<br />

ein überempfindliches, durch alltägliche Trivialitäten und Niedrigkeiten<br />

bis aufs Blut gereiztes Künstlergemüt verbirgt, das einen<br />

grimmigen Lebensschmerz vergeblich zu betäuben sucht. Und<br />

Thersites, <strong>de</strong>r die Buckel seines Größenwahns kreischend zur<br />

Schau stellt, ist wahrscheinlich im tiefsten Innern ein beschei<strong>de</strong>ner,<br />

mit schmerzhafter Selbsterkenntnis ringen<strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r<br />

zu schamhaft und zu stolz ist, vor <strong>de</strong>r Kanaille sich in seiner wahren<br />

Gestalt zu zeigen<br />

28


o<strong>de</strong>r die Frankfurter Zeitung, die es wagt, <strong>de</strong>n Auslagenarrangeur, <strong>de</strong>n<br />

sie auf mich losläßt, <strong>de</strong>n Satz schreiben zu lassen:<br />

Wozu all diese Mühe? Wozu vergeu<strong>de</strong>t ein Mann von so starkem<br />

Talent seine geistigen Kräfte, in<strong>de</strong>m er sich heiser schreit und mit<br />

<strong>de</strong>r Komödiantenmaske die Leute foppt? Aber die unglückselige<br />

Gewohnheit, jahrelang vor einem Publikum zu re<strong>de</strong>n, wächst sich<br />

zu jenem Dünkel aus, <strong>de</strong>r die Vernunft verdunkelt. Dazu kommt,<br />

daß unsere Gesellschaft eine ganz seltsame Art von Professionen<br />

züchtet: <strong>de</strong>n traurigen Beruf <strong>de</strong>r Dirne, immer lustig, und <strong>de</strong>n abstumpfen<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>schriftstellers, immer geistreich zu sein<br />

Der Mensch heißt — infolge einer geistigen Verwandtschaft — Seligmann.<br />

Es ist hier wohl die größte Ordinärheit begangen, die je in einer Zeitung<br />

zu lesen war. Tellerlecker <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung, die in die Bank eintreten<br />

müßten, wenn die Bank sich nicht eine Zeitung hielte, Bediente, die<br />

jahrelang vor einem Publikum re<strong>de</strong>n dürfen, weil sie ihm nicht wi<strong>de</strong>rsprechen,<br />

entlarven die Einsamkeit als Betrug und die Kraft als unglückselige Gewohnheit.<br />

Der transparente Dummkopf, <strong>de</strong>r mich mit <strong>de</strong>r halben Auflage, die<br />

je<strong>de</strong>s meiner Bücher erreicht hat, schon in <strong>de</strong>n Rang <strong>de</strong>s Herrn Blumenthal<br />

erhebt, und an mir die Profession herabsetzt, die er an einem »Mo<strong>de</strong>schriftsteller«<br />

preisen müßte, verdient nicht, daß man ihm ins ehrliche Gesicht<br />

spuckt. ich wür<strong>de</strong> sonst, um es zu tun, meine Komödiantenmaske abnehmen!<br />

ich hatte sie für alle Nächte dieser dreizehn Jahre vorgebun<strong>de</strong>n, anstatt zu<br />

schlafen und am Tag jene ehrlichen Geschäfte zu machen, die Geld, Gunst<br />

und <strong>de</strong>n Respekt <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung einbringen.<br />

* * *<br />

Daß die bessere Literatur und die feineren Schapseln meinen Vorlesungen<br />

fern bleiben, ist erwünscht. Daß aber die bessere Literatur und die feineren<br />

Schapseln sich von <strong>de</strong>m Abend Else Lasker—Schülers absentiert haben,<br />

war mir persönlich zwar auch angenehm, aber verdient doch, bemerkt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

ich hatte die Absicht, eine Liste <strong>de</strong>r Herren anzulegen, die ihr Fernbleiben<br />

im Gegensatz zu <strong>de</strong>r Usance beim Concordiaball, nicht einmal entschuldigt<br />

hatten. Ein an<strong>de</strong>rmal tu' ichs sicher. ich wer<strong>de</strong> kontrollieren, wie schlecht<br />

sich die Leute auch dann gegen die Kunst benehmen, wenn sie ihren Stoff<br />

nicht gera<strong>de</strong> aus ihrer Haut schnei<strong>de</strong>t, wenn sie in Mondweite von ihrem Gewimmel<br />

lebt und ihnen nichts an<strong>de</strong>res getan hat, als daß sie eben Kunst ist.<br />

Da spielen sie nicht mit. ich bin mir selbst schuld, weil ich ein Flegel bin. Zu<br />

mir wer<strong>de</strong>n sie nicht gela<strong>de</strong>n, und wer<strong>de</strong>n es nie erleben, gela<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n.<br />

ich lasse meinen Wert nicht bezifferern. Zu Else Lasker—Schülers Auftreten<br />

aber waren sie gela<strong>de</strong>n. Sie mochten mit Recht befürchten, daß sie ihre Wun<strong>de</strong>r<br />

erleben und ihre Überlegenheit verlernen könnten; und daß vor Musik<br />

und Bild einer Sprache ihnen jenes Hören und Sehen vergehen könnte, welches<br />

sie zur ferneren Erfüllung ihrer schundigen Pflicht noch dringend brauchen.<br />

Es konnte ja dahin kommen, daß sie, unvermögend ihren Strobl, Ewers,<br />

Salten, Wert—, Auern— und Oppenheimer künftig noch gerecht zu wer<strong>de</strong>n,<br />

sich ein Leids antäten. Das wollten sie nicht. Vor <strong>de</strong>r Kunst siegt <strong>de</strong>r Selbsterhaltungstrieb.<br />

Sie beschlossen ihre Karten verfallen zu lassen. Alles gerettet!<br />

* * *<br />

29


Da ich <strong>de</strong>n Wunsch habe, zum fünfzigsten To<strong>de</strong>stag Nestroys <strong>de</strong>m größten<br />

satirischen Philosophen, <strong>de</strong>n die Deutsche je gehabt haben, durch <strong>de</strong>n<br />

Vortrag einiger seiner Monologe, Couplets und Sätze zu huldigen; da ich in<br />

<strong>de</strong>r Sichtung seines Geistreichtums erkenne, daß schon <strong>de</strong>r tausendste Teil<br />

dieser versunkenen Schätze genügt, um mich für das zu entschädigen, was<br />

diese armutprotzen<strong>de</strong> Gegenwart bevorzugt, so wächst auch meine Verachtung<br />

für die liberalen Tröpfe, die <strong>de</strong>n Versuch machen, seine Tiefe ihrer Gesinnung<br />

zu assimilieren und ihn zu einer Parteigenossenschaft zu verpflichten,<br />

<strong>de</strong>ren Gegenteil ihm eher zu Gesicht stand, als <strong>de</strong>r Liberalismus zum Gegenteil<br />

seines Gesichts. Schon jetzt kündige ich an, daß ich alle jene Herren,<br />

die am 25. Mai 1912 es wagen sollten, Nestroy nicht in Ruhe zu lassen, vielmehr<br />

mit ihm ihre Fortschritts—Petite zu machen, schonungslos insultieren<br />

wer<strong>de</strong>, genau so, als ob sie selbst schon fünfzig Jahre wehrlos wären. Nestroy<br />

hatte, wie aus seine wun<strong>de</strong>rvollen Testament hervorgeht, Angst vor <strong>de</strong>m Lebendigbegrabenwer<strong>de</strong>n;<br />

das Gräßlichere: liberal exhumiert zu wer<strong>de</strong>n, soll<br />

ihm erspart bleiben. Und da ich an seinem Grab stehe, schon bereit, drei<br />

Handvoll Er<strong>de</strong> auf die Herren zu werfen, die sich zum 25. Mai es nicht nehmen<br />

lassen wer<strong>de</strong>n, sich <strong>de</strong>n Nestroy nicht nehmen zu lassen, und da ich es<br />

nicht erwarten kann, erzählt er mir so viel vom Fortschritt und liefert mir Material<br />

gegen Herr Friedjung. Alle Stän<strong>de</strong> hat <strong>de</strong>r Monologist <strong>de</strong>r Menschheit,<br />

hat <strong>de</strong>r Coupletsänger <strong>de</strong>s Kosmos vorgeführt, von Schustern, Färbern Ziegeleibesitzern,<br />

Handlungsgehilfen, Diurnisten und Hausknechten Beziehungen<br />

aus ihrer Sphäre in unser aller Sphäre herstellen lassen: nur <strong>de</strong>n Historiker<br />

hat er vergessen. Jetzt grämt er sich lebendig, da ich ihm von Herrn Friedjung<br />

erzähle: und weiß doch um ihn Bescheid. ich zitiere ihm die Stelle:<br />

Übrigens war <strong>de</strong>n Wienern die wahre Gesinnung Nestroys <strong>de</strong>shalb<br />

nicht zweifelhaft, weil seine ganze Natur Opposition war ... Ebenso<br />

lehnte er sich nach <strong>de</strong>r Revolution gegen die Unterdrückung<br />

auf. In <strong>de</strong>m 1849 verfaßten Stück »Lady und Schnei<strong>de</strong>r« wen<strong>de</strong>t<br />

er sich zwar auch gegen die Übertreibungen <strong>de</strong>s Radikalismus,<br />

verhöhnt aber die Erbärmlichkeit <strong>de</strong>rjenigen, die 1848 das »Deutsche<br />

Vaterland« gesungen und <strong>de</strong>n Fe<strong>de</strong>rhut geschwungen haben,<br />

jetzt aber so charakterlos sind, zu schreien:<br />

»A Verfassung, freie Press',<br />

Zu was braucht das Volk dös ?<br />

Volksbewaffnung zu was?<br />

's Volk hat gelebt auch ohne das:<br />

Wenn ich könnt', so stürzt' ich<br />

's ganze Jahr Achtundvierzig.«<br />

Mit diesem Gelichter wollte er nichts zu tun haben. In diesem<br />

Stück hat er die Summe aus <strong>de</strong>r Revolution in <strong>de</strong>m geistreichen<br />

Satz gezogen: »Das Volk is ein Ries' in <strong>de</strong>r Wieg'n, <strong>de</strong>r aufwacht,<br />

aufsteht, herumtorkelt (herumtaumelt), alles z'sammtritt und am<br />

End' wo hinfallt, wo er noch schlechter liegt als in <strong>de</strong>r Wieg'n —«<br />

Völlig auf Seite <strong>de</strong>r Freiheit steht Nestroy in ....<br />

Nestroy freute sich unbändig und verwies mich auf seinen Beweis, daß<br />

<strong>de</strong>r Mensch ein Fe<strong>de</strong>rvieh sei. Was aber Herrn Friedjung im beson<strong>de</strong>rn anlangt,<br />

so klagte ich, daß ich die Strophe in »Lady und Schnei<strong>de</strong>r« nicht gefun<strong>de</strong>n<br />

habe. Also bleibe nur <strong>de</strong>r Satz vom Volk als Riesen in <strong>de</strong>r Wiege übrig für<br />

<strong>de</strong>n Beweis, daß Nestroy in diesem Stück sich für die Freiheit erklärt habe.<br />

Wo aber erklärt er, mit <strong>de</strong>m Gelichter nichts zu tun haben zu wollen zu dürfen<br />

zu können die Ehre gehabt zu haben? in »Lady und Schnei<strong>de</strong>r« also nicht.<br />

30


Dort steht außer <strong>de</strong>n schon zitierten Beleidigungen <strong>de</strong>s Liberalismus noch das<br />

folgen<strong>de</strong> Zwiegespräch, das ein politischer Schnei<strong>de</strong>r mit sich selbst führt:<br />

»Sind Sie für das Ein— o<strong>de</strong>r Zweikammersystem?« »ich bin für<br />

das Dritthalbkammersystem, <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r zweiten Kammer<br />

sollt' immer noch ein Speckkammerl sein« ... »Wenn einer in<br />

einen Uhrmacherla<strong>de</strong>n dringt, sich die schönste Uhr aussucht,<br />

und fährt damit ab, wer<strong>de</strong>n Sie ihn einen Dieb o<strong>de</strong>r Räuber nennen?«<br />

» Keines von bei<strong>de</strong>n, ich wer<strong>de</strong> sagen, daß es ein Uhrwähler<br />

ist« ...<br />

Wo aber steht die Strophe, in <strong>de</strong>r Nestroy sich für die freie Presse erklärt<br />

und gegen das Gelichter, nämlich gegen jenes, das sich gegen die freie<br />

Presse erklärt? In Lady und Schnei<strong>de</strong>re also nicht. Das entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Argument<br />

hat Herr Friedjung in diese antiliberale Posse getan, um sie zu mil<strong>de</strong>rn.<br />

in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Posse, in <strong>de</strong>r es steht, dürfte es auch auf ihn keinen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Eindruck machen. In <strong>de</strong>r Posse »Höllenangst« nämlich singt Wen<strong>de</strong>lin<br />

ein Couplet mit <strong>de</strong>m Refrain: »Na, da müssen ei'm bescheidne Zweifel aufsteig'n.«<br />

Er stellt die Re<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Menschen in Kontrast zu ihrer Gesinnung und<br />

zu ihrer Tat. Als letzten Beleg führt er einen vor, <strong>de</strong>r jetzt, nach 48, ganz loyal<br />

tut, nach<strong>de</strong>m »vorig's Jahr hat <strong>de</strong>rselbe g'rad so g'schrien gegen 's Schwarzgelbe«.<br />

Da haben wir die Strophe; und:<br />

Ists <strong>de</strong>nn Ernst, daß Sie jetzt gar so gut g'sinnt sich tun zeig'n?<br />

Na, da müssen ei'm bescheidne Zweifel aufsteigen.<br />

Nestroy will also nicht, wie Herr Friedjung glaubt, <strong>de</strong>n Verrat, nicht einmal,<br />

wie ich zuerst glaubte, die Unmündigkeit, die <strong>de</strong>n Rausch nicht verträgt,<br />

son<strong>de</strong>rn die Mitläuferei verhöhnen, als die sich ihm im Jahre 49 <strong>de</strong>r Radikalismus<br />

von anno 48 erst herausstellt. Aus dieser Absage an je<strong>de</strong> politische Gebär<strong>de</strong>,<br />

aus dieser Reduzierung aller Parteimaskera<strong>de</strong> auf ein streberisches<br />

Nichts, aus diesem unermüdlich abgewan<strong>de</strong>lten Hohn auf die Revoluzzerei<br />

entnimmt Herr Friedjung die gesinnungstüchtige Absage an die Reaktion.<br />

Derselbe Wen<strong>de</strong>lin singt aber auch ein Couplet zur Verherrlichung <strong>de</strong>s Aberglaubens,<br />

<strong>de</strong>r »immer noch was Besseres als Unglaube« sei.<br />

D' Mehrzahl Menschen hat Grund ohne Zweifel,<br />

Wenn's ein' gibt, sich zu fürchten vor'm Teufel,<br />

Statt sich z' bessern, disputier'n s' lieber keck<br />

Dem Teufel die Ohrwaschel weg.<br />

Mit <strong>de</strong>m Satiriker machen sie's nicht an<strong>de</strong>rs. Und:<br />

Auch d' Wahrsagerei is veracht't,<br />

Wird statt unterstützt nur verlacht:<br />

D' Leut zahl'n lieber für d'Abendblätter ihr Bares,<br />

Das schon zeigt, sie hab'n kein' Sinn für was Wahres,<br />

Auch auf Träum', daß s' ausgehn, glaub' i fest,<br />

Mit unsre Freiheitsi<strong>de</strong>en is's so g'west,<br />

Und ich frag', ob's nicht wahr is und gewiß,<br />

Ob die Sach' uns nicht aus'gangen is?<br />

Der Refrain:<br />

ich lass' mir mein' Aberglaub'n<br />

Durch ka Aufklärung raub'n,<br />

's is jetzt schön überhaupt,<br />

Wenn m'r an etwas noch glaubt.<br />

Und Nestroy scheint doch schon Herrn Friedjung gekannt zu haben, je<strong>de</strong>nfalls<br />

besser als dieser ihn; <strong>de</strong>nn Wen<strong>de</strong>lin singt auch<br />

Sagt man zu d' Gelehrten: 's geht um,<br />

31


So lachen s' ein' aus, und warum?<br />

Weil s' an eignem Geist ihnen oft fehlt,<br />

Sag'n s' glei, 's gibt gar kein' Geist in <strong>de</strong>r Welt.<br />

Mit diesem Gelichter wollte er nichts zu tun haben. Er ging weiter. In<br />

<strong>de</strong>r Posse »Der holländische Bauer o<strong>de</strong>r: Sie sollen ihn nicht haben« ruft er:<br />

's Schicksal tut doch rein mit die Menschen, was es will; da kann<br />

man 'was sagen von einer Tyrannei. Nach <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>s<br />

Fortschritts sollt' es schon lang gar kein Schicksal mehr geben.<br />

Gegen das Schicksal wür<strong>de</strong> er »ein' G'spitzten mit ei'm breiten Rand<br />

aufsetzen und a Fe<strong>de</strong>r brennrot bis in d' Wolken hinauf« — empfiehlt er <strong>de</strong>n<br />

kostümbewußten Demokraten. Denn das Schicksal »paßt nicht für unsere<br />

Zeit«. Und nun folgt eine Strophe, die Herrn Friedjung nicht passen wird:<br />

's Schicksal übt Protektion auch, 's ganze Füllhorn <strong>de</strong>s Glücks<br />

Schütt 's über a paar aus, und Millionen krieg'n nix,<br />

Und toleriert es das Wort »Gleichberechtigung« neb'nbei,<br />

So is das a handgreifliche Leutfopperei.<br />

Von diesem Phantom hat <strong>de</strong>r Mensch 's klare Bild<br />

Bei <strong>de</strong>r Ziehung, wann wird wo a Herrschaft ausg'spielt,<br />

Da strömen viele tausend Gleichberechtigte hin,<br />

Aber im Glücksrad sind doch nur drei Haupttreffer drin,<br />

D' an<strong>de</strong>rn alle fall'n durch, und sie krieg'n ein' Schmar'n,<br />

Nur 's Bewußtsein hab'n s', daß s' Gleichberechtigte war'n.<br />

Doch fünf Gul<strong>de</strong>n müssen s' zahlen für d' Freud'.<br />

's Schicksal paßt nicht für unsere Zeit.<br />

Das Schicksal sei ferner ein Bürokrat, ganz nach <strong>de</strong>m alten System: beschwert<br />

man sich, so wird nichts erledigt, »'s wird hübsch auf d' lange Bank<br />

<strong>de</strong>r Ewigkeit alles g'schoben«. Nur die eine gute Eigenschaft habe es, »nämlich<br />

die, daß nach Gusto drüber schimpfen man kann.<br />

Man weiß zwar, es nutzt nix, aber schön is's halt doch,<br />

Wenn ich weiß, ich kann re<strong>de</strong>n und komm' nicht ins Loch.«<br />

Dieser Hohngigant in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n eines fortschrittlichen Politikers?<br />

Herr Friedjung hat, um mit Nestroy zu sprechen, einen Gefangenen gemacht,<br />

und <strong>de</strong>r läßt ihn nicht mehr los. ich will abbrechen, sonst bekommt das dokumentieren<strong>de</strong><br />

Männchen <strong>de</strong>n Schüttelfrost. Nestroy ein Liberaler? 's is jetzt<br />

schön überhaupt, wenn m'r an etwas noch glaubt, und ich wür<strong>de</strong> mit keiner<br />

Aufklärung dazwischenfahren. In<strong>de</strong>s <strong>de</strong>n guten Glauben, <strong>de</strong>r die Geschichtswissenschaft<br />

anno Serbien so tief hineingeritten hat, <strong>de</strong>n können wir diesmal<br />

kaum gelten lassen. Was bleibt von Herrn Friedjung übrig? Dennoch bin ich<br />

für Gna<strong>de</strong>. Freilich mit einer generellen Verwarnung für alle Parteiwanzen<br />

und Geschichtskletten. ich warne vor <strong>de</strong>m 25. Mai. Vielleicht nützt es und das<br />

journalistische Wien verhält sich reserviert. Es muß doch schon nach <strong>de</strong>n mitgeteilten<br />

Proben sehen, was ihm bevorsteht, wenn ich ernstlich genötigt sein<br />

sollte, das An<strong>de</strong>nken Nestroys zu schützen. Denn daß <strong>de</strong>r sich als Liberaler<br />

tät zeigen na, da müssen ei'm bescheidne Zweifel aufsteig'n.<br />

32


<strong>Glossen</strong><br />

AUSHEBUNG VON WORTKUPPLERINNEN<br />

Wenn die Frau Pospischil Kin<strong>de</strong>rschän<strong>de</strong>r bedient hat, so sagt <strong>de</strong>r Bericht,<br />

in ihren eleganten Appartements hätten sich lebenslustige Herren getroffen:<br />

ohne daß die Lebenslust <strong>de</strong>r Herren durch Anführungszeichen geta<strong>de</strong>lt<br />

wird. Wenn die Herren aber die Altersgrenze respektierten, so wer<strong>de</strong>n<br />

die Damen in »Damen« verwan<strong>de</strong>lt, die Frequenz <strong>de</strong>r Lasterhöhle wird übertrieben,<br />

in<strong>de</strong>m dort »Lebemänner, die auch über die entsprechen<strong>de</strong>n Mittel<br />

verfügten« — das ist die Definition <strong>de</strong>r Besucher — einan<strong>de</strong>r die Türklinke<br />

reichten o<strong>de</strong>r die Besucherinnen ein— und ausgingen — man möchte wenigstens<br />

einmal dabei gewesen sein, wie sie ausgingen, aber immer kommt man<br />

zu spät —, und mit einer Mischung aus Überlegenheit und Staunen wird alles<br />

so beschrieben, als ob es sich um <strong>de</strong>n ersten Fall dieser Art han<strong>de</strong>lte und die<br />

Schlange im Paradies soeben dabei betreten wor<strong>de</strong>n wäre, wie sie <strong>de</strong>n Versuch<br />

machte, »Männlein und Weiblein« — in diesem Ausdruck grinst die protokollarische<br />

Visage — zusammenzubringen. Man hat immer die Vorstellung,<br />

daß in so einem Salon gleichzeitig min<strong>de</strong>stens zwanzig Paare beisammen<br />

sind. Von <strong>de</strong>r Pospischil heißt es, sie habe lebhaften »gesellschaftlichen« Verkehr<br />

unterhalten wobei das »gesellschaftlich« natürlich nicht ernst gemeint<br />

ist, son<strong>de</strong>rn eben in Anführungszeichen gesetzt wird, damit <strong>de</strong>r Leser eben<br />

wisse, wie das gemeint ist, und nicht ärgerlich, son<strong>de</strong>rn vergnügt sei. Mit <strong>de</strong>rselben<br />

Betonung heißt es, daß die weiblichen »Schützlinge«, die die lukrative<br />

»Gastfreundschaft« <strong>de</strong>r Pospischil genossen haben, die Hälfte <strong>de</strong>s Gewinnes<br />

an die Pospischil abführen mußten. Das Waschweib Polifka aber gefällt sich<br />

»in <strong>de</strong>r Rolle eines Postillon d'amour« und hatte <strong>de</strong>n Auftrag, die »Damen« zu<br />

avisieren, daß die Herren — ohne Anführungszeichen — eingetroffen seien<br />

und vice versa. Wie man das halt so macht, um die Leute zu verständigen. Es<br />

ist tierisch. Mitangeklagt ist gewöhnlich eine 27jährige Private. Was ist das<br />

männliche Pendant zu einer Privaten? Nun, Idiot heißt auch Privatmann. Solche<br />

Fälle, wo die Behör<strong>de</strong> Wahrnehmungen macht, die zu Verhaftungen führen,<br />

häufen sich jetzt. Aber immer wer<strong>de</strong>n wir von neuem mit <strong>de</strong>n Grundbegriffen<br />

<strong>de</strong>s außerehelichen Geschlechtsverkehres vertraut gemacht. Über alle<br />

Maßen gräßlich wird es, wenn irgendwo eine Lebedame stirbt. Das ist nun ein<br />

Geschehnis, das <strong>de</strong>n Idioten förmlich höhnisch stimmt. Es han<strong>de</strong>lt sich also<br />

um »das En<strong>de</strong> einer Lebedame«. Dieses wird folgen<strong>de</strong>rmaßen vorbereitet: Zuerst,<br />

da festgestellt wird, daß sie wegen ihrer Schönheit in <strong>de</strong>r Lebewelt bald<br />

bekannt wur<strong>de</strong>, gehts noch; <strong>de</strong>nn die Lebewelt, soweit sie nicht aus Lebedamen<br />

besteht, wird ernst genommen. Aber dann beginnt sich die Lebedame zu<br />

entwickeln. Sie hat eine elegant eingerichtete Wohnung inne, in <strong>de</strong>r sie »nicht<br />

nur die ihr befreun<strong>de</strong>ten Herren zu empfangen pflegte«, son<strong>de</strong>rn auch an<strong>de</strong>ren<br />

»Damen« Aufenthalt gewährte. Der »Betrieb an dieser Stätte« wird nun<br />

mit <strong>de</strong>r Zeit »so rege«, daß sie — man wird es nicht glauben, was nun geschah<br />

und was eben wichtig genug ist, um in Depeschen weitergegeben zu wer<strong>de</strong>n<br />

— »daß sie sich schließlich sogar ein Telephon legen lassen mußte«. Die<br />

Worte »ein Telephon« wer<strong>de</strong>n unterstrichen, so daß <strong>de</strong>m Leser auf <strong>de</strong>n ersten<br />

Blick die Ungeheuerlichkeit <strong>de</strong>r Tatsache auffällt, die so bezeichnend ist für<br />

ein abschüssiges Leben und direkt <strong>de</strong>n letalen Ausgang vorbereitet. Das kann<br />

nicht gut en<strong>de</strong>n und muß namentlich in Wien Eindruck machen. Ein Telephon<br />

hat sie gehabt! (Vielleicht hat sie's auch sofort nach <strong>de</strong>r Anmeldung bekom-<br />

33


men! Hier müssen die intellektuellen Berufe oft sechs Monate warten 1 , und<br />

dann wird man erst nicht verbun<strong>de</strong>n. Ein Telephon hat sie gehabt!) Legen hat<br />

sie sichs lassen! Nun geht es rapid bergab. Es kommen Intermezzos. Einer ihrer<br />

»Beschützer« hatte sich im vergangenen Jahre wegen ihrer »Untreue« in<br />

Stettin erschossen. (So wird ein Fall beschrieben, <strong>de</strong>r vielleicht eine Katastrophe<br />

<strong>de</strong>r Menschlichkeit in sich schließt, wie sie sich nicht einmal in <strong>de</strong>r Vorstellung<br />

eines lumpigen Korrespon<strong>de</strong>ntengehirnes abspielen könnte, geschweige<br />

<strong>de</strong>nn in einem lumpigen Korrespon<strong>de</strong>ntenherzen.) »Das scheint<br />

aber auf das leicht veranlagte Mädchen keinen tieferen Eindruck gemacht zu<br />

haben«, wagt <strong>de</strong>r Lump, <strong>de</strong>r's eben selbst noch begrinst hat, hinzusetzen. Die<br />

einzige Folge <strong>de</strong>s »vielbesprochenen Intermezzos« sei gewesen, daß sie ihre<br />

Zelte in Berlin abbrach — natürlich nur eine Phrase, <strong>de</strong>r Lump will nicht einmal<br />

sagen, daß sie »in <strong>de</strong>n Zelten«, einer eleganten Straße Berlins, gewohnt<br />

hat —, und hierauf stürzte sie sich — na wohin? in <strong>de</strong>n Stru<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s internationalen<br />

Lebens. Nun trat sie als »Gran<strong>de</strong> Dame« auf, versteht sich, nie ohne<br />

Gänsefüßchen. Der Korrespon<strong>de</strong>nt aber kennt <strong>de</strong>n faulen Zauber. Er nennt sie<br />

noch immer die »üppige Fine«. Und jetzt, da sie tot ist, wird sie wohl nichts<br />

dagegen haben, sich von <strong>de</strong>m Kerl abgreifen zu lassen. Aber or<strong>de</strong>ntlich neidisch<br />

wer<strong>de</strong>n die Prostituierten <strong>de</strong>r Fe<strong>de</strong>r, wenn die vom an<strong>de</strong>rn Geschlecht<br />

Karriere machen. »So mag es ihr gelungen sein, <strong>de</strong>n unglücklichen Marchese<br />

Volpicelli«, nun? — in ihre Netze zu ziehen. — Seine Phrasen setzt natürlich<br />

so ein Lump nie in Anführungszeichen, nur immer die Dinge, die es wirklich<br />

gibt. Beschützer gibts Gottseidank, Untreue gibts auch Gottseidank, aber das<br />

ist alles nur Klischee <strong>de</strong>s Hohnes. Ernsthaft bleibt die Sorte nur, wenn sie sagen<br />

kann, daß eine ihre Zelte abgebrochen, sich in <strong>de</strong>n Stru<strong>de</strong>l gestürzt und<br />

einen in ihre Netze gezogen hat. Wie sich <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nt das große Leben<br />

vorstellt: So eine Lebedame führt viel Gepäck mit, da sind Koffer mit Toiletten,<br />

Hutkoffer, Schuhkoffer, Wäschekoffer und dann vor allem, vor allem, <strong>de</strong>r<br />

große Koffer, in <strong>de</strong>m die Netze sind. Kolossal umständlich. Nun, die Zeit ist<br />

angebrochen, wo es gilt, die Worte wie<strong>de</strong>r in das Recht ihrer Gegenständlichkeit<br />

einzusetzen und die Phrasen, die einmal Bil<strong>de</strong>r waren, einzelweise abzumurksen.<br />

Sonst wird man bald nicht mehr einem Fischfang zusehen können,<br />

ohne daß einem übel wird. Man glaubt nämlich, <strong>de</strong>r Fischer fange <strong>de</strong>n Fisch<br />

mit einer Phrase, und er sei eine Kokotte.<br />

* * *<br />

Mähä<br />

» ... ich habe einen ausgezeichneten Librettisten in <strong>de</strong>r Person <strong>de</strong>s<br />

Dr. Willner gefun<strong>de</strong>n und seine Mitarbeiterschaft hat mir gestattet,<br />

diese sogenannten Wiener Operetten zu schaffen, die überall<br />

die Gunst <strong>de</strong>s Publikums fan<strong>de</strong>n. Dr. Willner ist selbst ein ausgezeichneter<br />

Musiker, und mit seiner Hilfe erhalte ich Texte, die<br />

sich <strong>de</strong>r Musik völlig anschmiegen; das ist eine Überlegenheit<br />

über die Operetten alten Stils. ich glaube auch, daß eine Operette,<br />

um überall Erfolg zu haben, nicht ausschließlich lustig sein darf.<br />

Das ist <strong>de</strong>r Fehler <strong>de</strong>r französischen, und auch zweifellos <strong>de</strong>r<br />

Grund, weshalb diese so schwer jenseits <strong>de</strong>r Grenzen Verbreitung<br />

fin<strong>de</strong>n. Das große Publikum aller Län<strong>de</strong>r liebt eine Mischung von<br />

Heiterkeit und Rührseligkeit. Dr. Willner und ich haben uns be-<br />

1 Fast so lange wie in <strong>de</strong>r gottseisgedankt ehemaligen DDR!<br />

34


müht, diese bei<strong>de</strong>n Elemente in unseren Werken in richtiger Mischung<br />

zu verteilen, und <strong>de</strong>shalb haben unsere Schöpfungen so<br />

viel Anklang gefun<strong>de</strong>n. Wir haben stets zwei Hauptpaare: die Verliebten,<br />

die girren und die lustigen Leute, die zum Lachen reizen.<br />

So fin<strong>de</strong>n sich alle Geschmacksrichtungen befriedigt. Dazu eine<br />

geschickt aufgebaute Intrige, die mein Mitarbeiter stets interessant<br />

zu gestalten versteht, in<strong>de</strong>m er sie mit mannigfachen Episo<strong>de</strong>n<br />

würzt, langsame Walzer nach Wiener Art, in die ich möglichst<br />

viel Schmelz zu legen mich bemühe, was mir vielleicht gelingt,<br />

da ich slawischen Ursprungs bin, dann auch Tschardasch,<br />

wo ich das Feuer <strong>de</strong>r ungarischen, Rasse, <strong>de</strong>r ich gleichfalls angehöre,<br />

zu zeigen mich befleißige.«<br />

Sprach's, und wur<strong>de</strong> nicht sofort verhaftet.<br />

* * *<br />

Der König amüsiert sich!<br />

»Als <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r Amundsens gestern beim König Hakon zur Audienz<br />

erschien, zeigte ihm dieser lachend ein Telegramm, das ihm<br />

von einer großen amerikanischen Zeitung zugegangen war, und<br />

worin <strong>de</strong>r König aufgefor<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m Blatte telegraphisch<br />

mitzuteilen, was er über Amundsen wisse.«<br />

Warum nicht? Da gibts gar nichts zu lachen. Die Zeitung ist nicht zudringlich,<br />

son<strong>de</strong>rn ehrlich. Warum solche Regungen abstoßen? Ist es <strong>de</strong>nn<br />

nicht besser, man bringt, was <strong>de</strong>r König gesagt hat, als man bringt, was <strong>de</strong>r<br />

König nicht gesagt hat? Ist es nicht besser, <strong>de</strong>r König hat gesagt, was man<br />

bringt, als <strong>de</strong>r König hat's nicht gesagt? Wenn <strong>de</strong>r König sich amüsiert, wird<br />

er nur erreichen, daß man nicht bringt, was er gesagt hat <strong>de</strong>r König.<br />

* * *<br />

VON HERZEN ZU HERZEN GEHENDE WORTE EINES TAPFERN KABARETTIERS<br />

o<strong>de</strong>r<br />

WER WIRD DEN DEUTSCH—FRANZÖSISCHEN KRIEG VERHINDERN?<br />

»Ich erinnere mich, daß ich in Wien, wo ich mit meinem Freun<strong>de</strong>,<br />

<strong>de</strong>m Maler Karl Hollitzer, auf unserer Bühne ein altes <strong>de</strong>utsches<br />

Lied sang, bis zu Tränen ergriffen wur<strong>de</strong>, weil die echte Stu<strong>de</strong>ntenmütze<br />

aus <strong>de</strong>n 48er Jahren, die ich trug, durch einen Schuß in<br />

<strong>de</strong>r Revolution durchlöchert war, und weil eine echte geschmie<strong>de</strong>te<br />

Gartenlaterne aus einem Maria—Theresia—Schloß über unserem<br />

Tisch hing.<br />

Wenn Sie als Zuhörer, beim Vorsingen eines naiven, französischen<br />

Kin<strong>de</strong>rlie<strong>de</strong>s tiefgerührt sind und das Herz Frankreichs ganz nahe<br />

pochen hören, so sind wir belohnt und glücklich, <strong>de</strong>nn wir haben<br />

mehr für Frie<strong>de</strong>n und Annäherung gemacht als zehn Diplomaten<br />

und zwanzig politische Re<strong>de</strong>n. Und das wollen wir auch.«<br />

* * *<br />

35


DER MUSS AUCH SCHON HÜBSCH VERDIENEN,<br />

von <strong>de</strong>m neulich im Deutschen Volkstheater ein Stück aufgeführt wur<strong>de</strong>,<br />

wo die Liebe über die Pflicht siegt o<strong>de</strong>r umgekehrt, ich weiß nicht ...<br />

»In rascher Liebe entflammt Prinz Georg zu Hedwig ... Der zweite<br />

Akt führt uns in die Garnison ... in <strong>de</strong>r Prinzenvilla ist ein sonniges<br />

Glück aufgeblüht ... Aber das schöne Idyll wird jäh zerstört. ... Die<br />

Staatsraison greift in das zarte Netz. ... Hedwig will stark<br />

bleiben ... Da zeigt ihm die Herzogin <strong>de</strong>n Weg, die Pflichten <strong>de</strong>r<br />

Staatsraison und <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s Herzens zu vereinen ...«<br />

Schon faul. Nun, die hohen Herrschaften haben sich ja längst daran gewöhnt,<br />

Herrn Salten als Trauzeugen zur linken Hand zu haben. Daß ihre Photographien<br />

im weiland Depeschensaal <strong>de</strong>r 'Zeit' ausgestellt wur<strong>de</strong>n, haben sie<br />

hingenommen. Aber vielleicht wirds ihnen doch zu bunt, daß ihre Angelegenheiten<br />

jetzt auch vor <strong>de</strong>m sympathischen Volkstheaterpremierenpublikum zur<br />

Verhandlung gelangen. Vielleicht kommen sie doch dahinter, daß die pragmatische<br />

Sanktion leichter zu ertragen ist als die Vertraulichkeit <strong>de</strong>s Abschaums.<br />

Womit nicht auf <strong>de</strong>r Welt Geschäfte gemacht wer<strong>de</strong>n können! In England wür<strong>de</strong><br />

es selbst das durch Herrn Shaw reduzierte Niveau nicht dul<strong>de</strong>n, daß mit<br />

einem alten Hosenbandor<strong>de</strong>n gehan<strong>de</strong>lt wird. Hier kann einer begütert wer<strong>de</strong>n,<br />

wenn er <strong>de</strong>n Wollhändlern erzählt, daß er einmal beinah ein gol<strong>de</strong>nes<br />

Vließ gesehen hätte. Hedwig will stark bleiben! Auch die Volksseele wird als<br />

Mezzie in <strong>de</strong>n Kauf genommen, und <strong>de</strong>r Konflikt zwischen Liebe und Staatsraison<br />

führt einem Autor <strong>de</strong>s Inselverlags — Herr Salten ist nämlich, ob mans<br />

glaubt o<strong>de</strong>r nicht, auch Autor <strong>de</strong>s Inselverlags — die Kauflust weiterer Kreise<br />

zu. Nun, <strong>de</strong>r Zug <strong>de</strong>s Herzens, <strong>de</strong>r meistens in die Schweiz führt und nicht zurück,<br />

mag eine angenehme Reise versprechen. Aber wenn er schon <strong>de</strong>r Kautelen<br />

entbehren muß, unter <strong>de</strong>nen sonst die Hofseparatzüge abgelassen wer<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>r primitivsten bürgerlichen Sicherungen sollte er nicht entbehren müssen.<br />

Daß ihn kein Hofrat Claudy begleitet, ist begreiflich; aber daß ihn <strong>de</strong>r<br />

Salten begleitet, kann keineswegs zur Beruhigung <strong>de</strong>r Reisen<strong>de</strong>n beitragen.<br />

Bürgersleute können wenigstens die Notleine ziehen, wenn <strong>de</strong>r Zugsführer<br />

sich ins Coupe einschleicht.<br />

* * *<br />

AUF VIELFACHE BITTEN<br />

hat sich Herr Maximilian Har<strong>de</strong>n entschlossen, endlich ein Einsehen zu<br />

haben und das Wort »Geburtstag« nie<strong>de</strong>rzuschreiben, stellte aber die Bedingung,<br />

daß ihm gestattet wer<strong>de</strong>, an diesem historischen Tag von »Kleios Erzgriffel«<br />

zu sprechen. Man konnte nichts machen.<br />

* * *<br />

ES WÄRE PURER NEID<br />

wenn ich verschweigen wollte, daß die Desperanto—Sprache auch in<br />

Wien bereits eine Nie<strong>de</strong>rlassung hat. Ehre, wem Ehre gebührt. Es gibt hier<br />

eine Mittagszeitung, in <strong>de</strong>r man täglich im engen Spielraum einer halben<br />

Spalte miterleben kann, wie ein stiller Artist <strong>de</strong>r politischen Lage je nach Be-<br />

36


darf <strong>de</strong>n Makedonenknäuel entwirrt, die Osmanenflanke zerstückt o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>n Zrinystaat schüttern<strong>de</strong>n Wirren nach<strong>de</strong>nkt. Die Metho<strong>de</strong> muß fabelhaft<br />

leicht sein und billiger als Berlitz. Neulich rief er:<br />

... <strong>de</strong>m Lukacs haben sie durch die Verästelung mit Tiszas knorrigem<br />

Zwerggesträuch die Blätter von <strong>de</strong>r Krone gerissen, und einsam<br />

ragt Graf Khuen, <strong>de</strong>r mit sorgen<strong>de</strong>n Mienen sein Portefeuille<br />

in die Hei<strong>de</strong> warf, als <strong>de</strong>r einzig Ministrable aus <strong>de</strong>m verdorrten<br />

Gelän<strong>de</strong>.<br />

Ganz gut, ganz gut. Und es mag <strong>de</strong>n im Grunewald letzen, sich auf<br />

seine alten Tage so fortgepflanzt zu sehen. Dabei soll <strong>de</strong>r Nachwuchs noch älter<br />

sein. Fante, <strong>de</strong>nen das Kinnhaar noch nicht sproß, in <strong>de</strong>r Zeitungnot stöhnend,<br />

sah man mählich so ins Machtgeschirr dieser gleißen<strong>de</strong>n Sprachpracht<br />

gewöhnt. Der Anblick <strong>de</strong>s fast schon Greisen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich, in <strong>de</strong>s Herrn Omnes<br />

Sehweite, auf die Leibsella setzt, vermag kaum <strong>de</strong>n Kennerschmack zu<br />

quicken. Es ist scheußlich. So einer kann nicht mehr von Viktor Emanuel III.<br />

sprechen, son<strong>de</strong>rn nur mehr vorn dritten Viktor Emanuel. Ein alter Leitartikler,<br />

sollte man meinen, müßte über die Verlockungen <strong>de</strong>r Sprachlähmung hinaus<br />

sein. Tja, es gibt eben eine Schwärmerei, die einen plötzlich packt. Man<br />

lebt dreißig Jahre als harmloser Zeitungmensch, auf einmal würgt es einen,<br />

man kann sich nicht helfen, man spuckt die S aus, mit sorgen<strong>de</strong>n Mienen stehen<br />

die Redaktiongenossen, es hat ihn, er schreibt ehern, um Gotteswillen<br />

wird er nicht aussprechen was ist?<br />

* * *<br />

EINE AUSEINANDERSETZUNG<br />

zwischen <strong>de</strong>r 'Zeit' und <strong>de</strong>m toten Burckhard hat stattgefun<strong>de</strong>n. Das hat<br />

sie sich auch nicht träumen lassen, daß sie ihn überleben wer<strong>de</strong>. Sein Nachruf<br />

wäre noch schärfer ausgefallen. Er war einmal ihr Kritiker. Darum gibt sie<br />

zwar zu, daß er »eine originelle Figur« war, jedoch nicht mehr. Es scheinen<br />

aber auch Verstimmungen neuesten Datums vorzuliegen. Burckhard hatte<br />

nichts Wichtigeres zu tun, als zu sterben, am Tage, da Herr Salten eine Premiere<br />

hatte.<br />

»Burckhards Neigung zu drastischer Deutlichkeit verführte ihn oft<br />

bis zum Zynismus, <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs auf <strong>de</strong>r Bühne auffallend empfun<strong>de</strong>n<br />

wur<strong>de</strong>.«<br />

* * *<br />

GRÜSS GOTT, DOKTOR<br />

rief »<strong>de</strong>r erprobte Held unseres Burgtheaters«, als ihm ein Vertreter<br />

<strong>de</strong>r Neuen Freien Presse die Nachricht brachte, sein früherer Direktor sei gestorben,<br />

und die Bitte, er möge sich zusammennehmen und etwas schreiben.<br />

Och, versetzte Reimers, und als <strong>de</strong>r Vertreter somit sah, daß jener willens sei<br />

und es sich in ihm bereits zu regen beginne, überließ er ihn <strong>de</strong>r Inspiration,<br />

und Reimers schrieb <strong>de</strong>n Satz hin: »Heute rot, morgen tot ...« Der Vertreter<br />

kehrte nach einigen Stun<strong>de</strong>n zurück, fand <strong>de</strong>n Anfang außeror<strong>de</strong>ntlich packend,<br />

warf noch einen Funken hin und entfernte sich wie<strong>de</strong>r. Reimers beschrieb<br />

nun, wie er gestern noch Burckhard getroffen hatte, es war ein schöner<br />

Frühlingstag, und Burckhard rief ihm »Servus Schurschl« zu. Und heute<br />

37


—! »Wenn man mit einem lieben Freun<strong>de</strong> und Menschen gestern noch so<br />

fröhlich beisammen war, dann muß es einem wie ein Blitz durch <strong>de</strong>n Körper<br />

fahren, wird einem die To<strong>de</strong>snachricht.« Eines Tages hatte Burckhard zu ihm<br />

in seiner jovialen Art gesagt: »Schurschl, mit die Ritterstiefeln, so geht das<br />

nicht weiter!« Reimers bekam hierauf eine Salonrolle und Burckhard sagte:<br />

»Sixt es, Schurschl, hab' ich nicht recht gehabt?« Er hatte aber nicht recht<br />

gehabt, son<strong>de</strong>rn es war einer <strong>de</strong>r Irrtümer Burckhards. Er glaubte, die Ritterstiefel,<br />

die Herrn Reimers sehr gut paßten, seien schuld. Herr Reimers<br />

aber paßte <strong>de</strong>n Ritterstiefeln nicht und <strong>de</strong>r Salonrock war auch nicht zufrie<strong>de</strong>n.<br />

Aus diesem Konflikt erwuchs Herrn Reimers die tragische Kraft, und das<br />

Burgtheater, das sich in die Differenzen zwischen Schnei<strong>de</strong>r und Schöpfer nie<br />

eingemengt hat und <strong>de</strong>m die Gunst <strong>de</strong>s Obersthofmeisters wichtiger sein<br />

mußte als alle Gna<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Genies, ließ Matkowsky ziehen und behielt Herrn<br />

Reimers. Aber schließlich hatte es ja auch noch Krastel, wenngleich <strong>de</strong>ssen<br />

Feuer schon im Winterabend mehr sang als wärmte. Ein Veteran <strong>de</strong>s Schwunges,<br />

als greise Kopie <strong>de</strong>r eigenen Jugend noch ein Stück Leben neben <strong>de</strong>m Figuranten<br />

Reimers, <strong>de</strong>m man <strong>de</strong>n Harnisch nur glaubte, wenn das Visier geschlossen<br />

war. Trotz<strong>de</strong>m erzählt dieser, wie es ihn nach <strong>de</strong>m Mortimer gelüstete.<br />

Eine liebliche Erinnerung. Burckhard schlug auf <strong>de</strong>n Tisch: »Glauben<br />

Sie, daß ich Ihrethalben <strong>de</strong>n Krastel erschlagen soll?« »Darauf erwi<strong>de</strong>rte ich<br />

erregt: 'Machen Sie, was Sie wollen' und schlug auch mit Wucht auf <strong>de</strong>n<br />

Tisch.« Burckhard, zuerst wütend, meinte: »Darüber re<strong>de</strong>n wir noch!« ... Ein<br />

Ge<strong>de</strong>nkblatt für zwei, die eines natürlichen To<strong>de</strong>s gestorben sind. Der Plan<br />

wur<strong>de</strong> nicht ausgeführt. Na, Schurschl, san mer noch harb?« fragte Burckhard<br />

und sie gingen auf ein Krügl. Auch sonst erledigte Burckhard Konflikte<br />

mit Humor. Herr Reimers erzählt, wie er einmal <strong>de</strong>n Unterschied zwischen<br />

<strong>de</strong>r Wolter und einer neuen Schauspielerin durch <strong>de</strong>n Vergleich eines Fiakers<br />

mit einem Einspänner bezeichnet habe. Aber ich glaube, daß er eben <strong>de</strong>shalb<br />

kein Burgtheaterdirektor war; sonst hätte er es nicht gewagt, <strong>de</strong>n Sonnenwagen<br />

mit <strong>de</strong>n reduzierten Fahrgelegenheiten seiner Ära zu vergleichen. Jetzt<br />

gibts freilich auch solche nicht mehr. Auf seinen starken Schultern trägt Herr<br />

Reimers die Burgtheaterherrlichkeit. Schließlich spürt er sie gar nicht mehr,<br />

sie stirbt mit einem »Servus Schurschl!« auf <strong>de</strong>n Lippen, und er steht allein.<br />

So entschließt er sich, ein <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r Schauspieler zu wer<strong>de</strong>n, und been<strong>de</strong>t<br />

<strong>de</strong>n Nachruf mit <strong>de</strong>m Worte: »Heute rot, morgen tot!«<br />

* * *<br />

DIE QUOTE<br />

»Amtlich wird konstatiert, so wird uns aus Budapest telegraphiert,<br />

daß die Zahl <strong>de</strong>r Esel in Ungarn be<strong>de</strong>utend abnimmt. Das ungarische<br />

Ackerbauministerium veranstaltet nämlich eine Viehzählung,<br />

um <strong>de</strong>n gegenwärtigen Viehstand im Lan<strong>de</strong> genau festzustellen.<br />

Der statistische Ausweis, welcher nun vom Ministerium veröffentlicht<br />

wur<strong>de</strong>, konstatiert unter an<strong>de</strong>rm, daß in Ungarn zu Beginn<br />

<strong>de</strong>s Jahres 1912 nur 17.830 Esel vorhan<strong>de</strong>n waren, während zur<br />

Zeit <strong>de</strong>r letzten Viehzählung im Jahre 1895 noch 21.393 Esel existierten.<br />

Das Ministerium stellt <strong>de</strong>mnach fest, daß die Zahl <strong>de</strong>r Esel<br />

in <strong>de</strong>n letzten 16 Jahren um 3563 Stück abgenommen hat.«<br />

Was geht daraus zur Evi<strong>de</strong>nz hervor?<br />

38


* * *<br />

DAS JUBILÄUM<br />

brachte ganz Wien auf die Beine. Weit mehr als tausend briefliche und<br />

telegraphische Glückwünsche kamen aus Nah und Fern. Der Statthalter sandte<br />

ein in <strong>de</strong>n wärmsten Ausdrücken gehaltenes Schreiben, zahlreiche Deputationen<br />

<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nsten Körperschaften fan<strong>de</strong>n sich ein, um <strong>de</strong>n Jubilar zu<br />

beglückwünschen. Die Zeitungen brachten Biographien und längere Essays,<br />

die <strong>de</strong>m Wer<strong>de</strong>gang und <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Gefeierten gerecht wur<strong>de</strong>n.<br />

Abends fand ein Festbankett mit fünfhun<strong>de</strong>rt Ge<strong>de</strong>cken statt, von <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>n<br />

Berichten gesagt wur<strong>de</strong>, daß es sich zu einem wirklichen Ereignis gestaltete,<br />

und an <strong>de</strong>ssen offiziellen Teil sich ein erlesenes Vortragsprogramm schloß.<br />

Anwesend waren <strong>de</strong>r Bürgermeister von Wien mit <strong>de</strong>n drei Vizebürgermeistern,<br />

ein Feldmarschall—Leutnant, mehrere Oberste und Majore, <strong>de</strong>r spanische<br />

Militärbevollmächtigte, <strong>de</strong>r spanische Legationssekretär, <strong>de</strong>r serbische<br />

Militärbevollmächtigte, <strong>de</strong>r Gesandtschaftsattache <strong>de</strong>r bulgarischen Legation,<br />

als Vertreter <strong>de</strong>s verbün<strong>de</strong>ten Deutschen Reiches <strong>de</strong>r geheime Hofrat Renee,<br />

zahlreiche an<strong>de</strong>re Hofräte, Legationsräte, Regierungsräte, Polizeiräte, Sektions—,<br />

Stadt— und Gemein<strong>de</strong>räte, Kammer—, Kornmerzial—, Sang—, Rechnungs—<br />

und kaiserliche Räte, einige Bezirkshauptmänner, ein Geistlicher, viele<br />

Reichs— und Landtagsabgeordnete, Provinzbürgermeister, Hof—, Staats—<br />

und Militärbeamte aller Rangsklassen, Landwehrplatzkommandanten—Stellvertreter,<br />

Feuerwehrkommandanten, Großindustrielle, Bankdirektoren, Linienschiffsärzte,<br />

Obergeometer, Oberrevi<strong>de</strong>nten, Oberintendanten, Oberkellner,<br />

Künstler, hun<strong>de</strong>rt Vertreter <strong>de</strong>r Presse und Angelo Eisner von Eisenhof.<br />

Den ersten Toast sprach <strong>de</strong>r anwesen<strong>de</strong> Feldmarschall—Leutnant auf <strong>de</strong>n Kaiser.<br />

Hierauf toastierte <strong>de</strong>r Bürgermeister von Wien auf <strong>de</strong>n Jubilar. Der dritte<br />

Toast wur<strong>de</strong> auf die Presse ausgebracht. Notar Gass toastierte auf die Frauen.<br />

Auf <strong>de</strong>r Estra<strong>de</strong> waren zahlreiche Geschenke ausgestellt, mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />

Jubilar überrascht wor<strong>de</strong>n war. In <strong>de</strong>n Festartikeln wie in allen Zuschriften<br />

kam <strong>de</strong>r Gedanke zum Ausdruck, daß die Schar <strong>de</strong>r Gratulanten <strong>de</strong>n Sophiensaal<br />

füllte und daß dies eben nur darum <strong>de</strong>r Fall sei, weil es sich um eine<br />

»einzige Persönlichkeit handle, um einen Mann, an <strong>de</strong>ssen Schicksalen und<br />

Erlebnissen alle lebhaften Anteil nehmen«, <strong>de</strong>nn Wien erblicke in ihm »die<br />

Verkörperung eines mo<strong>de</strong>rnen, Geist atmen<strong>de</strong>n Gewerbes«. Eine ganz beson<strong>de</strong>re<br />

Ehrung bereitete <strong>de</strong>m Jubilar die Genossenschaft <strong>de</strong>r Wiener Kaffeesie<strong>de</strong>r,<br />

die ihn zu ihrem Ehrenmitglie<strong>de</strong> ernannte und ihm damit die höchste<br />

Auszeichnung verlieh, über die diese Korporation verfügt (und die bekanntlich<br />

nicht einmal Grillparzer erreicht hat). Der Jubilar widmete seinen hochverehrten<br />

Gästen ein Ge<strong>de</strong>nkblatt, das große Verbreitung fand und in <strong>de</strong>m er sie<br />

»seiner innigen Sympathie versicherte und es von sich wies, diesen Anlaß<br />

dazu benützen zu wollen, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Person<br />

zu lenken, o<strong>de</strong>r um es gera<strong>de</strong> herauszusagen, Reklame für sich o<strong>de</strong>r sein Geschäft<br />

machen zu wollen«. Er »entbiete ihnen diesen beschei<strong>de</strong>nen Jubiläumsgruß«<br />

nur aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong>, weil es bisher nur wenigen Cafétiers vergönnt<br />

war, fünfundzwanzig Jahre lang in einem und <strong>de</strong>mselben Kaffeehause tätig zu<br />

sein. »Der Beruf <strong>de</strong>s Cafétiers sei keineswegs so leicht, wie das Publikum sich<br />

ihn häufig vorstelle.« Allen Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n zum Trotz habe er sich durchgesetzt<br />

und zuletzt die großen Mezzaninlokalitäten geschaffen«. Nun folgt eine entwicklungsgeschichtliche<br />

Darstellung vom Jahre 1276 bis zu <strong>de</strong>m Tage, da ein<br />

junger Mann voll Lebensmut an ein großes Unternehmen herantrat. Er dürfe<br />

39


heute mit Stolz sagen, daß es immer sein eifrigstes Bestreben war, »allen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>r verfeinerten Kultur nachzukommen«. Dieses Ziel sei »<strong>de</strong>r<br />

Leitstern seines Strebens« gewesen, und das sei »<strong>de</strong>r Geist, <strong>de</strong>r ein Vorzug<br />

<strong>de</strong>s Wiener Cafétiers überhaupt ist«. Nach einem Dank an die hervorragendsten<br />

Marköre jener Epoche, an die Kassierinnen, die gleichfalls »eine wichtige<br />

Rolle in <strong>de</strong>m Betrieb <strong>de</strong>s Kaffeehauses gespielt haben«, und an die an<strong>de</strong>ren<br />

Mitarbeiter, die unter <strong>de</strong>r umsichtigen Leitung <strong>de</strong>s ersten und <strong>de</strong>s zweiten<br />

Küchenchefs ihren Dienst versehen, noch ein Wort <strong>de</strong>r Anerkennung für die<br />

Behör<strong>de</strong>n, namentlich für die Polizei:<br />

»Auch kann ich nicht umhin, <strong>de</strong>r Wiener Polizei, vor allem aber<br />

<strong>de</strong>m hochgeschätzten Herrn Polizeipräsi<strong>de</strong>nten Ritter v. Brzesowski<br />

und <strong>de</strong>ssen Stellvertreter Baron Gorup herzliche Worte <strong>de</strong>s<br />

Dankes zu sagen. Es ist aller Anerkennung wert, mit welchem<br />

Takt, mit welcher Umsicht die Wiener Polizei ihre schwere Aufgabe<br />

löst, zumal wenn man die immensen Anfor<strong>de</strong>rungen be<strong>de</strong>nkt,<br />

die <strong>de</strong>r Verkehr einer Weltstadt stellt, zu <strong>de</strong>r Wien emporgewachsen<br />

ist. Hier waltet ein mo<strong>de</strong>rner Geist, <strong>de</strong>r das Problem <strong>de</strong>r freien<br />

Entwicklung im Rahmen <strong>de</strong>r gegebenen Ordnung harmonisch<br />

löst ... «<br />

In diese Epoche, in <strong>de</strong>r Wissenschaften und Künste emporgeblüht sind<br />

und das Mezzanin dazu gemietet wur<strong>de</strong>, fällt aber auch die Entwicklung <strong>de</strong>r<br />

Journalistik.<br />

»Unauslöschlichen Dank schul<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>r geehrten Presse, die mir<br />

in diesen fünfundzwanzig Jahren in liebenswürdigster Weise entgegengekommen<br />

ist ... Auf Bewun<strong>de</strong>rung machen wir schlichten<br />

bürgerlichen Menschen, wir einfachen Geschäftsleute, selbstverständlich<br />

keinen Anspruch ...«<br />

Trotz<strong>de</strong>m ließ es sich ein begeisterter Verehrer nicht nehmen, <strong>de</strong>m Jubilar<br />

eine Hymne zu widmen, in <strong>de</strong>r es heißt.<br />

Wenn heut' alle Wiener <strong>de</strong>n Wackeren loben,<br />

So <strong>de</strong>nk' ich ans Kircherl am Schneeberg hoch d'roben,<br />

Ein höheres Lob und noch höhere Ehr'<br />

Die hat in ganz Wien kein Bürger wie »Er«.<br />

Ihr kennt ja <strong>de</strong>n Riedl, was soll ich Euch quälen,<br />

Und alles, was je Er geleistet, erzählen,<br />

Was er für sein Wien allein nur getan,<br />

Das sieht man von außen <strong>de</strong>m Riedl nicht an.<br />

Das Gedicht en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>n Worten:<br />

Zu End' ist <strong>de</strong>r Sang vom lustigen Liedl,<br />

Es gibt nur a Kaiserstadt und nur an Riedl.<br />

* * *<br />

BITTE, DAS IST MEIN RECHT, DAS LASS' ICH MIR NICHT NEHMEN, DIE FRAGE MUSS MIR<br />

BEANTWORTET WERDEN,<br />

war <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Meldung<br />

[Oskar Blumenthals 60. Geburtstag.] Aus Meran wird uns gemel<strong>de</strong>t:<br />

Anläßlich Oskar Blumenthals 60. Geburtstag brachte die Bürgerkapelle<br />

heute vormittags auf Veranlassung Dr. Reinhardts <strong>de</strong>m<br />

40


Jubilar ein Ständchen ... Kurvorsteher Dr. Huber von Meran gratulierte<br />

persönlich<br />

[*** es fehlen Textzeilen ***]<br />

genannte Dr. Reinhardt, auf <strong>de</strong>ssen Veranlassung die Bürgerkapelle von<br />

Meran anläßlich Oskar Blumenthals 60. Geburtstag heute vormittags <strong>de</strong>m Jubilar<br />

ein Ständchen brachte, während <strong>de</strong>r Kurvorsteher Dr. Huber persönlich<br />

gratulierte, schon vorher wer, o<strong>de</strong>r ist er erst bei dieser Gelegenheit hervorgetreten,<br />

und wenn es keinem Zweifel unterliegt, daß man, wenn man <strong>de</strong>reinst<br />

vom Dr. Huber sprechen wird, nicht sagen wird: das war <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />

Oskar Blumenthal persönlich gratuliert hat, son<strong>de</strong>rn sagen wird, das war <strong>de</strong>r<br />

Kurvorsteher von Meran, ob man, wenn man <strong>de</strong>reinst vom Dr. Reinhardt sprechen<br />

wird, sagen wird, er sei dies o<strong>de</strong>r das gewesen, o<strong>de</strong>r ob man vielmehr<br />

sagen wird, er sei <strong>de</strong>r gewesen, auf <strong>de</strong>ssen Veranlassung anläßlich Oskar Blumenthals<br />

60. Geburtstag die Bürgerkapelle heute vormittags <strong>de</strong>m Jubilar ein<br />

Ständchen gebracht hat, während Dr. Huber — persönlich — Dr. Reinhardt —<br />

also bitte — oh nicht weggehen, bevor ich es weiß! ... Aber <strong>de</strong>r Tag, dieser<br />

grausame Vogt, hört mich nicht und gibt mir nur die Antwort:<br />

Bei <strong>de</strong>r Ankunft <strong>de</strong>s Erzherzogs Karl Franz Josef in Leipnik wur<strong>de</strong><br />

ihm vom Volksschüler Paul Tauber, Sohn <strong>de</strong>s dortigen Kaufmanns<br />

Samuel Tauber, ein Blumenstrauß überreicht.<br />

Wie?, rufe ich, ist's möglich? Wie kommt das, <strong>de</strong>r Südpol ist doch ent<strong>de</strong>ckt<br />

wor<strong>de</strong>n, die Welt wird größer mit je<strong>de</strong>m Tag? Ich werfe mich <strong>de</strong>m Weltblatt<br />

zu Füßen und flehe, mich aus <strong>de</strong>r Hölle <strong>de</strong>r Zweifel zu erlösen. Was ist<br />

Wahrheit? Da zuckt die Neue Freie Presse die Achseln und weiß mir nur die<br />

bittere Antwort:<br />

Erzherzogin Zita hat während ihres Aufenthaltes in Mährisch—<br />

Weißkirchen das Zeitungs— und Papiergeschäft E. Gewürz besucht<br />

und dort Einkäufe besorgt.<br />

Da ward mir schwarz und gelb vor <strong>de</strong>n Augen, die Er<strong>de</strong> drehte sich wie<br />

eine Rotationsmaschine, eine Kolumne aus Dreck stieg zum Firmament empor,<br />

wo eben aufgegangen waren die bei<strong>de</strong>n Sterne Gewürz und Tauber, ich<br />

hörte auf Veranlassung Dr. Reinhardts alle Engel singen und die Chronik begann<br />

zu kreißen und aufzuwerfen Namen und Ständchen und Geschäfte. Da<br />

erschrak ich und alles Volk, <strong>de</strong>nn wir sahen Schlangen— und Tiger— und Leopar<strong>de</strong>ngesichter<br />

zurückgeworfen aus <strong>de</strong>m entsetzlichen Spiegel. Und ich hörte<br />

eine Stimme schallen aus <strong>de</strong>m Rauche <strong>de</strong>s Felsens: Gna<strong>de</strong>, Gna<strong>de</strong> je<strong>de</strong>m<br />

Sün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Abgrunds, morgen ist das Riedl—Jubiläum und du<br />

allein bist verworfen!<br />

* * *<br />

ABER DER VERZWEIFLUNG ENTRONNEN, LIEF ICH DEM NEID IN DIE ARME,<br />

<strong>de</strong>nn<br />

Anläßlich <strong>de</strong>r diamantenen Hochzeit <strong>de</strong>s Erzherzogs Rainer hat<br />

die Schriftstellerin Sophie Großmann einen Glückwunsch gesen<strong>de</strong>t,<br />

wofür ihr vom Obersthofmeister Grafen Orsini—Rosenberg<br />

<strong>de</strong>r Dank telegraphisch ausgesprochen wur<strong>de</strong>.<br />

* * *<br />

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EIN BILD<br />

auf <strong>de</strong>m ein Vollbart doziert und zwölf Uniformen lauschen. Darunter<br />

<strong>de</strong>r Text:<br />

»Die Direktion <strong>de</strong>r Wiener städtischen Straßenbahnen läßt viele<br />

ihrer Schaffner in <strong>de</strong>r englischen und französischen Sprache unterrichten.<br />

Vor allem wird auf das Erlernen von Verkehrsausdrücken<br />

Wert gelegt, so daß die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache unkundigen<br />

Frem<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Wiener Straßenbahnwagen künftig je<strong>de</strong> Auskunft<br />

in ihrer Muttersprache erhalten wer<strong>de</strong>n.«<br />

Die Englän<strong>de</strong>rin noch, die kürzlich nicht verstand, wur<strong>de</strong> verhaftet. Zur<br />

Vermeidung solcher Vorfälle wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sprachunterricht eingeführt. Das ist<br />

zweckvoll. Der Unterricht <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache hätte je<strong>de</strong>nfalls<br />

nichts genützt. Wie aber fin<strong>de</strong>n die dieser Sprache kundigen Einheimischen<br />

ihr Fortkommen auf <strong>de</strong>r Tramway? An sie <strong>de</strong>nkt niemand. Wer übersetzt<br />

einem Deutschen <strong>de</strong>n Ruf: Kirntnastrassiii o<strong>de</strong>r: Aoschting bi<strong>de</strong>ee! Die<br />

Englän<strong>de</strong>r und Franzosen im Beiwagen gehen natürlich auch leer aus bei <strong>de</strong>r<br />

Reform. Sie haben zwar die Genugtuung, die Worte »Merci» o<strong>de</strong>r »Thank<br />

you« zu hören. Aber sie können die Trompete nicht übersetzen.<br />

* * *<br />

EIN ANDERES BILD,<br />

<strong>de</strong>ssen sich nicht die Stadt, son<strong>de</strong>rn die Er<strong>de</strong> zu schämen hat. Zwei<br />

Pfer<strong>de</strong>. Darunter <strong>de</strong>r Text:<br />

Als am letzten Samstag in <strong>de</strong>n Gruben von England, Schottland<br />

und Wales <strong>de</strong>r Streik <strong>de</strong>r Kohlenarbeiter ausbrach, wur<strong>de</strong>n Hun<strong>de</strong>rte<br />

von Ponies, die in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Kohlenbergwerken<br />

zum Ziehen <strong>de</strong>r Kohlenwagen verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, ans Tageslicht<br />

beför<strong>de</strong>rt. Sie haben Feiertag, solange <strong>de</strong>r Streik dauert. Viele<br />

dieser Tiere haben durch Jahre die Sonne nicht gesehen.<br />

Möge sie die Menschheit blen<strong>de</strong>n!<br />

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