Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...
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B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />
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A R B E I T S M I G R A N T E N , F L Ü C H T L I NGE U N D AU S S I E D L E R AU F D E M B R E M E R A R B E I T S M A R K T<br />
Dieses Netzwerk besitzt <strong>der</strong>zeit 120 Mitglie<strong>der</strong>,<br />
neben Einzelhändlern und Gewerbetreibenden<br />
auch Vereine und Institutionen aus dem Bildungs-,<br />
Sozial- und Kulturbereich. In <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
konnte mithilfe dieses Netzwerks und durch öffentliche<br />
För<strong>der</strong>mittel (EFRE und URBAN) wesentlich<br />
zur internen Stabilisierung, zur Vernetzung <strong>der</strong><br />
Stadtteilökonomie und zur Stärkung des sozialen<br />
Zusammenhalts <strong>bei</strong>getragen werden. Denn es sind<br />
häufig die nicht formalisierten Einbindungen in<br />
Bildungs-, Sozial- und Kulturaktivitäten, durch die<br />
auch viele Selbstständige und Gewerbetreibende<br />
erreicht werden, die einer formalen Mitgliedschaft<br />
in einem Gewerbeverein erst mal distanziert<br />
gegenüberstehen. Gerade durch die spezifische<br />
Verknüpfung <strong>der</strong> Bildungs-, Sozial- und Kulturnetzwerke<br />
mit den lokalen Wirtschaftsnetzwerken<br />
konnten migrantische Unternehmerinnen und<br />
Unternehmer eingebunden und mit kommunalen<br />
För<strong>der</strong>- und Qualifizierungsangeboten in Kontakt<br />
gebracht werden. Zukünftig muss dieser beson<strong>der</strong>s<br />
erfolgreiche Ansatz durch die bereits beginnenden<br />
Stadtentwicklungsplanungen für den ›Bremer<br />
Westen‹ weiter gestärkt und fortentwickelt werden.<br />
Dazu sind vor allem interkulturelle Kompetenzen<br />
zwingend erfor<strong>der</strong>lich und Teile <strong>der</strong> migrantischen<br />
Selbstständigen in Gröpelingen können für diese<br />
Prozesse ein wichtiger ›Motor‹ sein.<br />
Literatur<br />
❚ Der Senator für Wirtschaft und Häfen<br />
19.05.2009: Vorlage Nr. 17/188-L für die Sitzung <strong>der</strong><br />
Deputation für Wirtschaft und Häfen am 10. Juni 2009.<br />
Az.: 710-01-01/2-6-1 vom 19.05.2009. Strukturkonzept<br />
Land Bremen 2015 / Mittelstands- und Existenzgründungsoffensive.<br />
❚ Die Beauftragte <strong>der</strong> Bundesregierung für<br />
Migration, Flüchtlinge und Integration (2010):<br />
8. Bericht über die Lage <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>län<strong>der</strong>innen und<br />
<strong>Aus</strong>län<strong>der</strong> in Deutschland, Juni 2010.<br />
❚ Die Beauftragte <strong>der</strong> Bundesregierung für<br />
Migration, Flüchtlinge und Integration (2012):<br />
9. Bericht über die Lage <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>län<strong>der</strong>innen und<br />
<strong>Aus</strong>län<strong>der</strong> in Deutschland, Juni 2012.<br />
❚ Hillmann, Felicitas (2011) (Hg.): Marginale<br />
Urbanität: Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung.<br />
❚ Hillmann, Felicitas/Rohmeyer, Lea: Expertise im<br />
Auftrag <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tnehmerkammer Bremen. Projektzeitraum:<br />
01.01.2012–31.03.2012. Unter Mitar<strong>bei</strong>t <strong>bei</strong> <strong>der</strong><br />
Datenerhebung von Lukas Engelmeier, Esra Nurgenç,<br />
Rafaela Rau.<br />
❚ IBA Hamburg: IBA-Programm ›Lokale Ökonomie‹.<br />
❚ Jung, Martin/Unterberg, Michael/Bendig,<br />
Mirko/Seidl-Bowe, Britta (2011): Unternehmensgründungen<br />
von Migranten und Migrantinnen.<br />
Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für<br />
Wirtschaft und Technologie (BMWi), Juli 2011.<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmigranten, Flüchtlinge und<br />
<strong>Aus</strong>siedler auf dem Bremer Ar<strong>bei</strong>tsmarkt –<br />
ein Streifzug durch Betriebe,<br />
Verwaltungen und Beratungsstellen<br />
Manchmal gehört ein magischer Moment dazu,<br />
den Mut für eine Entscheidung zu fassen, die dem<br />
Leben eine neue Richtung gibt. Da beobachtet <strong>der</strong><br />
19-jährige Abiturient Nermin Sali während einer<br />
Abiklausur, wie seine Lehrerin die Prüfungsaufgaben<br />
nicht einfach auf den Tisch knallt und die<br />
Schüler ihrem Schicksal überlässt – er sieht, wie<br />
sie sich in den Stress und die Angst <strong>der</strong> Schüler<br />
hineinversetzt, geradezu mitleidet und versucht,<br />
ihnen die Situation emotional zu erleichtern.<br />
›Da wurde mir das Menschliche klar, das ein<br />
Lehrer ja in sich tragen muss, die Fähigkeit zur<br />
Empathie. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt<br />
daran dachte, Lehrer werden zu können‹,<br />
erzählt <strong>der</strong> heutige Lehrer Nermin Sali. ›Vorher hätte<br />
ich jeden ausgelacht, <strong>der</strong> mir gesagt hätte, dass<br />
das möglich ist. Selbst Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen,<br />
die hier geboren sind und sich als Deutsche fühlen,<br />
weil sie perfekt Deutsch sprechen und die Kultur<br />
kennen, fehlt oft <strong>der</strong> Mut, sich hinzustellen und zu<br />
sagen: Ich kann so etwas erreichen, wie einen<br />
akademischen Grad, einen verantwortungsvollen<br />
Beruf. Ich muss nicht am Fließband stehen.‹<br />
Diese Selbstzweifel werden in <strong>der</strong> Regel nicht<br />
aus den Herkunftskulturen mitgebracht, son<strong>der</strong>n<br />
entstehen in <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>einan<strong>der</strong>setzung mit den Institutionen<br />
hierzulande. Auch diesen Wirkungszusammenhang<br />
bringt Nermin Sali auf den Punkt.<br />
›Die Gesellschaft transportiert ein Bild, dass Menschen<br />
mit Migrationshintergrund etwas Beson<strong>der</strong>es<br />
leisten müssen, um anerkannt zu werden. Diese<br />
Message kommt <strong>bei</strong> Kin<strong>der</strong>n an, die bildungsfern<br />
aufwachsen. Wenn man das im Elternhaus<br />
hört und von den Medien transportiert bekommt<br />
und dann in <strong>der</strong> Schule noch mit offener o<strong>der</strong><br />
verdeckter Diskriminierung konfrontiert ist, ist es<br />
für eine Kin<strong>der</strong>seele programmiert, dass die<br />
Selbsteinschätzung nicht hinhaut.‹<br />
Neben dieser Produktion eines Unterlegenheitsgefühls<br />
gibt es weiterhin Faktoren, die ohne Umwege<br />
auf die Bildungs- und Erwerbsbiografien von<br />
Ar<strong>bei</strong>tnehmerinnen und Ar<strong>bei</strong>tnehmern mit<br />
Migrationshintergrund einwirken: diskriminierende<br />
Einstellungs- beziehungsweise Beför<strong>der</strong>ungspraxen,<br />
vorenthaltene Sprachkurse o<strong>der</strong>, wie <strong>bei</strong><br />
RALF LORENZEN<br />
Soziologe, freier Journalist<br />
Flüchtlingen, gesetzliche Vorschriften, die das<br />
Ar<strong>bei</strong>ten gleich ganz verbieten. Dazu kommen<br />
Faktoren, die nichts mit <strong>der</strong> ethnischen Herkunft<br />
zu tun haben, aber trotzdem die Stellung auf<br />
dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt beeinflussen, wie die soziale<br />
Herkunft, das Geschlecht o<strong>der</strong> die Situation einer<br />
alleinerziehenden Mutter.<br />
Dieser Bericht kann es nicht leisten, die Faktoren<br />
in ihrem Zusammenspiel genau zu analysieren<br />
o<strong>der</strong> ein in irgendeiner Weise repräsentatives Bild<br />
<strong>der</strong> Situation von Migrantinnen und Migranten<br />
auf dem Bremer Ar<strong>bei</strong>tsmarkt zu vermitteln. Aber<br />
die elf Interviews geben Einblicke in Lebensgeschichten,<br />
die sich beständig mit diesen Faktoren<br />
auseinan<strong>der</strong>setzen und die erlebten Hürden sichtbar<br />
machen.<br />
Die Interviews haben nicht nur einseitig nach<br />
Benachteiligungen gesucht, son<strong>der</strong>n auch nach<br />
Faktoren, die eine Integration auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
beför<strong>der</strong>t haben o<strong>der</strong> nach Ansätzen, solche<br />
Prozesse künftig bewusster zu initiieren. Da<strong>bei</strong><br />
wird zum Beispiel deutlich, wie wichtig es für die<br />
zweite Generation türkischer Ar<strong>bei</strong>tsmigranten<br />
war, dass Bremer Großbetriebe Ende <strong>der</strong> 1970er-<br />
Jahre in großem Stil ungelernte Ar<strong>bei</strong>tskräfte eingestellt<br />
haben. Und wie wichtig es für die dritte<br />
Generation sein könnte, dass zumindest im öffentlichen<br />
Dienst die allerorts kursierenden ›Diversity‹-<br />
Sprechblasen ernst genommen werden und Ar<strong>bei</strong>tsuchende<br />
mit Migrationshintergrund bevorzugt<br />
eingestellt werden.<br />
Die Interviewpartner dieses Berichts wurden<br />
relativ zufällig ausgewählt. Die <strong>Aus</strong>wahl sollte<br />
lediglich gewährleisten, möglichst viele unterschiedliche<br />
Lebenslagen in den Blick zu bekommen.<br />
Dazu gehören auch jene Biografien, die<br />
gemeinhin als Erfolgsgeschichten bezeichnet werden.<br />
Diese Geschichten machen beson<strong>der</strong>s deutlich,<br />
wie falsch und verzerrend die übliche Konnotation<br />
Migration=Defizit ist. An<strong>der</strong>erseits lässt sich gerade<br />
an ihnen beson<strong>der</strong>s gut ablesen, welche Faktoren<br />
nötig sind, damit <strong>der</strong> Migrationshintergrund keine<br />
Rolle spielt und sich sowohl im Selbstbild als auch<br />
in <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en irgendwann<br />
verflüchtigt.