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Augustinus: Predigt 77 - Dittmer, Jörg

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<strong>Augustinus</strong>: <strong>Predigt</strong> <strong>77</strong><br />

(über die Worte des Evangelisten Matthaeus 15, 21-28)<br />

1. Die kanaanäische Frau als Beispiel der Demut.<br />

Diese kanaanäische Frau, die uns eben in der Lesung des Evangeliums ans Herz gelegt wurde,<br />

bietet uns ein Beispiel der Demut und zeigt uns den Weg frommer Liebe: aus der<br />

Erniedrigung aufzusteigen zum Hohen. Sie stammte aber, wie es aussieht, nicht aus dem<br />

Volk Israel, von wo die Patriarchen kommen, die Propheten, die leiblichen Eltern unseres<br />

Herrn Jesus Christus und besonders die Jungfrau Maria selbst, die Christus gebar. Nicht aus<br />

diesem Volk also war die Frau, sondern sie stammte aus den anderen Völkern. Denn, wie wir<br />

gehört haben, zog sich der Herr zurück in die Gebiet von Tyros und Sidon, und da ging die<br />

kanaanäische Frau aus jener Gegend los und bat mit großem Nachdruck darum, ihrer Tochter,<br />

die von einem Dämonen übel gequält wurde, Gutes zu tun und sich um sie zu kümmern.<br />

Tyrus und Sidon waren keine Städte des Volkes Israel, sondern der anderen Völker – wenn<br />

auch dem Volk Israel benachbart. Sie rief also immer wieder nach ihm in dem dringenden<br />

Wunsch, daß er ihrer Tochter Gutes tue, und drängte ihn heftig; er aber verstellte sich vor ihr -<br />

nicht um die barmherzige Tat abzulehnen, sondern um das Feuer ihres sehnsüchtigen<br />

Verlangens weiter anzufachen; und nicht nur um das Feuer des sehnsüchtigen Verlangens<br />

weiter anzufachen, sondern um uns, wie ich vorher schon gesagt habe, die demütige Haltung<br />

ans Herz zu legen. Sie rief also immer wieder, als ob der Herr es nicht hörte, aber er legte<br />

sich schweigend zurecht, was er tun wollte. Die Jünger baten ihren Herrn für sie und sagten:<br />

„Hilf ihr und laß sie gehen, weil sie die ganze Zeit hinter uns herruft!“ Und er: „Ich bin nur<br />

zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt!“<br />

2. Wie es gemeint ist, daß Christus nur zu den Israeliten gesandt wurde. Lösung der Frage.<br />

Hier, bei diesen Worten, ergibt sich eine Frage: Warum sind wir aus den anderen Völkern zur<br />

Herde Christi gekommen, wenn er nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt<br />

ist? Was hat der so tiefe Ratschluß dieses Geheimnisses zu bedeuten, daß der Herr, obwohl er<br />

wußte, warum er kam – jedenfalls doch um seine Kirche bei allen Völkern zu haben – doch<br />

sagte, er sei nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt? Wir verstehen ja, daß<br />

er die Gegenwart seines Körpers, die Geburt, die Wirkung der Wunder und die machtvolle<br />

Tat seiner Auferstehung bei diesem Volk zeigen mußte; daß es so vorgesehen, so von Anfang<br />

an sein Auftrag war, daß dies vorhergesagt, dies erfüllt war: daß Christus Jesus zum Volk der<br />

Juden kommen mußte um gesehen zu werden, um getötet zu werden und um von dort<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


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diejenigen zu gewinnen, von denen er es vorher schon wußte. Denn dieses Volk wurde nicht<br />

verurteilt, sondern teilte sich auf beim Wehen des Windes: Dort war eine Menge Spreu, aber<br />

dort war auch wertvolles Getreide zu finden; dort gab es das, was man anzündet, aber auch<br />

das, womit man die Scheune füllt. Denn woher stammen die Apostel, wenn nicht von dort?<br />

Woher Petrus? Woher die anderen?<br />

3. Saulus zum Paulus verwandelt. Der Sinn der Namensänderung von Saulus zu Paulus.<br />

Woher stammt dieser Paulus, der zuerst Saulus war? Das heißt: zuerst hochmütig, dann<br />

demütig. Denn als er Saulus hieß, war sein Name abgeleitet von Saul; Saul aber war ein<br />

hochmütiger König und verfolgte den demütigen David (1. Könige 18-24). Als also er, der<br />

später Paulus hieß, noch Saulus war, da war er durchaus hochmütig, da war er ein Verfolger<br />

der Unschuldigen, ein Verwüster der Kirche. Denn er hatte von den Priestern ein Schreiben<br />

erhalten (als er sich gleichsam mit glühendem Eifer für die Synagoge einsetzte und den<br />

christlichen Namen verfolgte), mit dem Auftrag, alle Christen, die er finden könnte,<br />

herbeizuschaffen, damit sie hart bestraft werden. Als er damit beschäftigt war, als er nach<br />

Mord lechzte, als er nach Blut dürstete, wurde durch die himmlische Stimme Christi der<br />

Verfolger zu Boden geworfen, der Prediger aufgerichtet (Apg. 9). Erfüllt wurde an jenem,<br />

was geschrieben steht bei dem Propheten: „Ich werde ihn schlagen, und ich werde ihn<br />

heilen!“ (Deut. 32, 39). Denn Gott schlägt das, was sich beim Menschen gegen Gott erhebt.<br />

Nicht der ist ein pflichtvergessener Arzt, der die Geschwulst öffnet, der die faule Stelle durch<br />

Schneiden oder Brennen behandelt. Er verursacht Schmerz – ja, aber um zur Gesundheit zu<br />

verhelfen. Er fällt zur Last – aber wenn er es nicht täte, wäre er nicht von Nutzen. Also hat<br />

Christus mit einem Wort den Saulus zu Boden geworfen und den Paulus aufgerichtet; das<br />

heißt: er hat den Hochmütigen zu Boden geworfen, den Demütigen aufgerichtet. Denn<br />

welchen Grund für seine Namensänderung konnte er haben, so daß er, obwohl er vorher<br />

Saulus genannt wurde, danach Paulus genannt werden wollte, wenn nicht den, daß er an sich<br />

selbst erkannte, daß der Name Saulus in der Zeit, da er den christlichen Namen verfolgte,<br />

Ausdruck seines Hochmutes war. Er wählte also den niedrigen Namen, so daß er Paulus, das<br />

heißt der Geringste, genannt wurde. Denn „paulum“ bedeutet „sehr gering“; „paulum“ heißt<br />

nichts anderes als „klein“. Und indem er sich schon bald dieses Namens rühmte und die<br />

demütige Haltung empfahl, sagte er: „Ich bin der geringste unter den Aposteln.“ Woher also,<br />

woher stammt dieser ab wenn nicht vom Volk der Juden? Daher stammen die anderen<br />

Apostel, daher Paulus, daher auch die, die derselbe Paulus empfiehlt, weil sie den Herrn nach<br />

der Auferstehung gesehen haben. Er sagt, nämlich, daß dieser von fast 500 Brüdern<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


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gleichzeitig gesehen wurde, von denen mehrere noch leben, einige aber entschlafen sind. (1.<br />

Kor. 15, 9/6)<br />

4. Die Juden hörten Petrus und wurden bekehrt. Die Schafe, zu denen Christus gesandt wurde.<br />

Aus diesem Volk aber sind auch jene, die vom Geist getroffen wurden, als Petrus sprach und -<br />

erfüllt vom heiligen Geist - auf das Leiden, die Auferstehung und die göttliche Natur Christi<br />

hinwies, und als alle jene, zu denen der heilige Geist kam, in den Sprachen aller Völker<br />

redeten; und diejenigen aus dem Volk der Juden, die es hörten, suchten nach einem Rat zu<br />

ihrer Rettung, weil sie verstanden, daß sie am Blut Christi schuldig seien: weil sie ihn selbst<br />

gekreuzigt hätten, selbst getötet hätten, ihn, der von ihnen getötet wurde und in dessen Namen<br />

sie doch so viele Wunder geschehen sahen, in dessen Namen sie die Gegenwart des heiligen<br />

Geistes sahen.<br />

Als sie also nach Rat suchten, bekamen sie zur Antwort: Tut Buße, und ein jeder von euch<br />

möge sich taufen lassen im Namen unseres Herrn Jesus Christus, und eure Sünden werden<br />

euch vergeben werden! Wer sollte da die Hoffnung verlieren, daß ihm die Sünden vergeben<br />

werden, wenn sogar das Verbrechen der Ermordung Christi den Schuldigen vergeben wurde?<br />

Sie wandten sich ab von diesem Volk der Juden: sie bekehrten sich und ließen sich taufen.<br />

Wie sie sich aber abgewandt haben, wie deutlich und vollkommen, das zeigt die<br />

Apostelgeschichte. Denn alles, was sie besaßen, haben sie verkauft und den Erlös ihrer Habe<br />

den Aposteln zu Füßen gelegt; und einem jeden wurde so viel davon gegeben, wie er<br />

brauchte; und niemand nannte irgendetwas sein eigen, sondern sie besaßen alles gemeinsam;<br />

und sie hatten, wie es geschrieben steht (Apg. 2 und 4) eine Seele und ein Herz und waren<br />

Gott zugewandt. Siehe, das sind die Schafe, von denen er sagte: „Ich bin nur zu den<br />

verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt!“ Denn ihnen hat er die Gnade seiner<br />

Gegenwart erwiesen, für sie hat er, als sie gegen ihn wüteten, am Kreuz gebetet: „Vater,<br />

vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Luk. 23, 34) Es verstand der Arzt, daß sie<br />

im Wahn und ohne Verstand den Arzt töten wollten, und daß sie sich, ohne es zu wissen,<br />

durch den Tod des Arztes ein Heilmittel verschafften. Denn durch den Tod des Herrn sind<br />

wir alle geheilt worden, durch sein Blut freigekauft, durch das Brot seines Leibes vom Hunger<br />

befreit. Diese Gegenwart also schenkte Christus den Juden. Dies also bedeutet das „Ich bin<br />

nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt!“: daß er ihnen die Gnade der<br />

Gegenwart seines Leibes erwies, nicht daß er die Schafe, die er bei den anderen Völkern<br />

hatte, verachtete und übergehen wollte.<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


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5. Zu den anderen Völkern wurde Christus nicht gesandt, sondern sandte selbst zu ihnen.<br />

Zu den anderen Völkern ging er nämlich nicht selbst, aber er sandte seine Jünger dorthin.<br />

Und dort wurde erfüllt, was der Prophet sagte: „Ein Volk, das ich nicht kennengelernt habe,<br />

hat mir gedient.“ Seht, wie tief, wie deutlich, wie ausdrücklich die Weissagung ist! Ein<br />

Volk, das ich nicht kennengelernt habe, das bedeutet: dem ich nicht die Gnade meiner<br />

Gegenwart erwiesen habe, hat mir gedient. Wie das? Es folgt: „Durch das Hören seines<br />

Ohres hat es mir gehorcht.“ (Psalm 18, 45) Das bedeutet: nicht durch das Sehen, sondern<br />

durch das Hören haben sie geglaubt. Daher ist der Ruhm der anderen Völker größer. Denn<br />

jene haben ihn gesehen – und sie haben ihn getötet; die anderen Völker haben ihn nur gehört<br />

– und sie haben geglaubt. Um aber die anderen Völker zu rufen und zu versammeln, damit<br />

das Wort erfüllt werde, das wir eben gehört haben: „Versammele uns aus den Völkern, damit<br />

wir deinen Namen bekennen und uns deines Ruhmes rühmen!“ (Psalm 106 47), dazu wurde<br />

jener Apostel Paulus gesandt. Jener Geringste wurde groß, nicht durch sich, sondern durch<br />

den, den er verfolgte, und er wurde zu den anderen Völkern gesandt, er, der von einem<br />

Räuber zu einem Hirten, von einem Wolf zu einem Schaf geworden war. Jener Geringste<br />

unter den Aposteln wurde zu den anderen Völkern gesandt, und er hatte viel Mühe bei den<br />

anderen Völkern, und sie glaubten durch ihn; das bezeugen seine Briefe.<br />

6. Die Tochter des Synagogenvorstehers und die Blutflüssige.<br />

Du findest das auch im Evangelium auf hochheilige Weise in Bildern ausgedrückt. Die<br />

Tochter eines Synagogenvorstehers war gestorben; ihr Vater bat den Herrn, zu ihr zu gehen:<br />

er hatte sie krank und in lebensbedrohlichem Zustand zurückgelassen. Der Herr war<br />

unterwegs, um die Kranke aufzusuchen und zu heilen; da wurde ihr Tod gemeldet und dem<br />

Vater gesagt: „Das Mädchen ist tot, belästige den Meister nicht länger!“ Der Herr aber, der<br />

wußte, daß er die Toten auferwecken kann, nahm dem verzweifelten Vater nicht die Hoffnung<br />

und sagte zu ihm: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ Er ging weiter zu dem Mädchen, und da<br />

drängte sich unterwegs, so gut sie es in der Menschenmenge vermochte, eine Frau an ihn<br />

heran, die unter Blutfluß litt und wegen dieser andauernden Auszehrung ohne Erfolg alles,<br />

was sie hatte, für Arztkosten aufgewendet hatte. Sobald sie den Saum seines Gewandes<br />

berührte, wurde sie gesund. Und der Herr sagte: „Wer hat mich berührt?“ Da wunderten sich<br />

die Jünger, die nicht wußten, was geschehen war, und die nur sahen, daß er dicht von einer<br />

Menschenmenge umgeben und doch von einer Frau, die ihn nur leicht berührt hatte, so stark<br />

bewegt worden war, und so gaben sie zur Antwort: „Eine Menge Menschen ist um dich<br />

herum, und da sagst du: ,Wer hat mich berührt?’ “ Und er: „Es hat mich jemand berührt.“<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


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Denn diese umgeben ihn, aber jene hat ihn berührt; den Leib Christi umgeben also viele und<br />

sind dabei nur lästig, einige wenige aber erfahren davon Heil. „Es hat mich“, sagte er,<br />

„jemand berührt. Denn ich habe gespürt, daß eine Kraft von mir ausgegangen ist.“ Sobald sie<br />

aber sah, daß ihr Handeln nicht verborgen geblieben war, warf sie sich ihm zu Füßen und gab<br />

zu, was sie getan hatte. Danach ging er weiter und gelangte an den Ort, wo er hin wollte, und<br />

er fand das Mädchen, die Tochter des Synagogenvorstehers, tot vor und erweckte sie auf.<br />

(Luk. 8, 41-56)<br />

7. Was darüber erzählt wird, ist wahrhaftig geschehen und doch zugleich ein Bild.<br />

Es ist wirklich geschehen und hat sich so, wie es erzählt wird, erfüllt; und doch hatten auch<br />

diese Taten, die der Herr getan hat, eine zeichenhafte Bedeutung, so wie Worte, wenn man es<br />

so sagen kann, zugleich eine deutlich sichtbare und eine zeichenhafte Bedeutung haben. Das<br />

wird am klarsten deutlich in dem Fall, wo er zur falschen Jahreszeit die Früchte am Baum<br />

haben wollte und den Baum verfluchte und ihn vertrocknen ließ, weil er sie nicht fand. (Mark.<br />

11, 13/14) Wenn man diesen Vorgang nicht bildlich versteht, wird man ihn dumm finden:<br />

erstens, daß man die Früchte an diesem Baum haben wollte, obwohl es nicht die richtige Zeit<br />

dafür war, daß sie an irgendeinem Baum waren; zweitens, wenn es schon die Zeit der Früchte<br />

gewesen wäre: welche Schuld der Baum daran hätte haben können, daß er keine Früchte hat.<br />

Aber weil er zeichenhaft zum Ausdruck bringen wollte, daß er nicht nur Blätter, sondern auch<br />

die Frucht haben will, das heißt: nicht nur Worte, sondern auch die Taten der Menschen,<br />

bezeichnete er durch das Verdorrenlassen, wo er nur Blätter vorfand, die Strafe derer, die<br />

Gutes reden können, aber nicht Gutes tun wollen. So ist es also auch hier. Denn es ist<br />

durchaus ein Geheimnis. Der, der alles vorher weiß, sagt: „Wer hat mich berührt?“ Einem<br />

Unkundigen macht sich der Schöpfer gleich, und es fragt nicht nur der, der dies schon wußte,<br />

sondern auch der, der die anderen Dinge im voraus wußte. Irgendetwas ist es in jedem Fall,<br />

was Christus uns sagen will, indem er es im zeichenhaften Geheimnis zum Ausdruck bringt.<br />

8. Was dadurch bildlich gesagt wird.<br />

Jene Tochter des Synagogenvorstehers wollte das Volk der Juden bezeichnen, dessentwegen<br />

Christus gekommen war, der ja sagte: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses<br />

Israel gesandt.“ Jene Frau aber, die unter Blutfluß litt, stellte im Bild die Kirche aus den<br />

anderen Völkern dar, zu der Christus nicht mit der Gegenwart seines Körpers gesandt worden<br />

war. Zu jener ging er, ihr Heil strebte er an; diese kommt dazwischen, berührt den Saum<br />

seines Gewandes, als ob er es nicht wüßte, das heißt: sie wird von ihm wie von einem<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


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Abwesenden geheilt. Jener sagt: „Wer hat mich berührt?“, als ob er sagen wollte: „Ich kenne<br />

dieses Volk nicht. Ein Volk, das ich nicht kennengelernt habe, hat mir gedient. Mich hat<br />

jemand berührt. Denn ich habe gespürt, daß eine Kraft von mir ausgegangen ist.“, das heißt:<br />

daß das Evangelium ausgesandt wurde und den ganzen Erdkreis erfüllt hat. Berührt wird aber<br />

der Saum als ein kleiner Teil ganz am Rand des Gewandes. Denk dir das Gewand Christi<br />

gleichsam als die Apostel. Dort war Paulus der Saum; das heißt: ganz am Rand und der<br />

kleinste. Denn beides hat er von sich gesagt: „Ich bin der kleinste unter den Aposteln.“ (1.<br />

Kor. 15, 9) Denn nach allen wurde er berufen, nach allen glaubte er, mehr als alle heilte er.<br />

Der Herr war nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Aber weil auch das<br />

Volk, das er nicht kennengelernt hatte, ihm dienen sollte, durch das gehorsame Hören seines<br />

Ohres ihm gehorchen sollte, hat er auch über jenes nicht geschwiegen, obwohl er dort zu<br />

Hause war. Denn derselbe Herr sagt an einer bestimmten Stelle: „Ich habe andere Schafe, die<br />

nicht aus dieser Hürde sind; ich muß auch diese herbeiführen, damit es eine Herde ist und ein<br />

Hirte.“ (Joh. 10, 16)<br />

9. Die Hartnäckigkeit der kanaanäischen Frau beim Bitten.<br />

Von daher war diese Frau da; daher wurde sie nicht verächtlich behandelt, sondern<br />

hingehalten: „Ich bin“, sagte er, „nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“<br />

Und doch drängte jene mit ihrem Rufen, blieb beharrlich, erschütterte ihn, als ob sie schon<br />

gehört hätte: „Bitte, und empfange; suche, und du wirst finden; klopfe an, und es wird dir<br />

geöffnet werden!“ Sie drängte, sie klopfte. Denn auch der Herr hatte, als er diese Worte<br />

sagte: „Bittet, und ihr werdet empfangen; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und euch<br />

wird geöffnet werden!“, zuvor gesagt: „Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft nicht<br />

eure Perlen den Schweinen vor, damit sie sie nicht etwa mit ihren Füßen zertreten und sich<br />

umwenden und euch zerreißen!“ (Matth. 7, 7/6); das heißt: damit sie nicht etwa nach der<br />

Verachtung eurer Perlen auch euch selbst lästig werden. Werft ihnen also nicht das vor, was<br />

sie verachten!<br />

10. Warum die anderen Völker die Hunde sind.<br />

Und wodurch können wir unterscheiden – als ob sie selber Antwort geben würden - , wer die<br />

Schweine sind und wer die Hunde? Das ist an dieser Frau gezeigt. Denn ihr antwortete er,<br />

als sie nicht locker ließ, dies: „Es ist nicht gut, das Brot der Kinder wegzunehmen und es den<br />

Hunden vorzuwerfen.“ Du bist ein Hund, eine Frau von den anderen Völkern, du betest die<br />

Götterbilder an. Was aber ist so normal für Hunde, wie an Steinen zu lecken? „Es ist also<br />

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nicht gut, das Brot der Kinder wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“ Wenn sie<br />

nach diesen Worten weggegangen wäre, wäre sie als Hund hergekommen und als Hund<br />

weggegangen: aber durch ihr Nachdrängen wurde sie von einem Hund zum Menschen. Denn<br />

sie ließ nicht ab vom Bitten, und auf das hin, was doch gleichsam eine Kränkung war, zeigte<br />

sie ihre demütige Haltung und fand Barmherzigkeit. Denn weder wurde sie bewegt noch<br />

erzürnte sie, weil sie Hund genannt worden war, als sie um eine Wohltat nachsuchte und um<br />

Barmherzigkeit bat, sondern sie sagte: „Ja, Herr!“ Du hast mich Hund genannt: Ich bin<br />

durchaus ein Hund, ich erkenne meinen Namen an; die Wahrheit spricht, aber daher darf mir<br />

doch nicht die Wohltat vorenthalten werden. Natürlich, ich bin ein Hund: Aber auch die<br />

Hunde essen von den Resten, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Eine maßvolle und kleine<br />

Wohltat wünsche ich mir: Ich gehe nicht an den Tisch, sondern ich suche nach den Resten.<br />

11. Die durch die kanaanäische Frau empfohlene Demut. Eine große Medizin gegen den<br />

Hochmut. Gott ist Mensch.<br />

Seht, wie die demütige Haltung uns hier empfohlen ist! Der Herr hatte jene Hund genannt;<br />

sie sagte nicht: „Ich bin es nicht!“, sondern sie sagte: „Ich bin es!“ Und gleich darauf sagte<br />

der Herr, weil sie sich als Hund annahm: „Frau, groß ist dein Glaube! Es soll dir geschehen,<br />

so wie du es gewollt hast!“ Du hast dich als Hund angenommen, ich erkenne dich nun als<br />

Menschen an. „Frau, groß ist dein Glaube!“ Du hast gebeten, gesucht, geklopft: empfange,<br />

finde, es soll dir geöffnet werden! Seht, Brüder, wie an dieser Frau, die eine Kanaanäerin<br />

war, das heißt: die von den anderen Völkern abstammte und die Urform, das heißt: das Bild<br />

der Kirche darstellte, in besonderer Weise die Demut empfohlen wurde. Denn das jüdische<br />

Volk, war in seinem Hochmut so aufgeblasen, daß es vom Evangelium abgestoßen wurde;<br />

denn es habe verdient, das Gesetz zu empfangen; aus diesem Volk seien die Patriarchen<br />

hervorgegangen, die Propheten hervorgetreten; Moses, der Diener Gottes, habe große<br />

Wunder, die wir im Psalm gehört haben, in Ägypten getan; er habe das Volk durch das Rote<br />

Meer geführt, als die Wasser zurückwichen; er habe das Gesetz empfangen, das er diesem<br />

Volk gegeben habe (Psalm 106). Es gab Gründe, weswegen sich das jüdische Volk erhob,<br />

und durch diesen Hochmut kam es, daß es sich nicht für Christus erniedrigen wollte, den<br />

Begründer der Demut, den Bekämpfer des Geschwollenen, den göttlichen Arzt, der<br />

deswegen, obwohl er Gott war, Mensch wurde, damit sich der Mensch als Mensch erkenne.<br />

Eine große Medizin! Wenn diese Medizin den Hochmut nicht heilt, weiß ich nicht, was ihn<br />

heilen kann. Er ist Gott – und wird Mensch: er legt die Göttlichkeit ab, das heißt: er gibt sie<br />

gewissermaßen in Verwahrung, das bedeutet: er verbirgt, was seines war, er erscheint als das,<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


8<br />

was er empfangen hatte. Jener wird Mensch, obwohl er Gott ist: und der Mensch erkennt sich<br />

nicht als Menschen an, das heißt: er akzeptiert nicht, daß er sterblich ist, er akzeptiert sich<br />

nicht als zerbrechlich, er akzeptiert sich nicht als Sünder, er akzeptiert sich nicht als krank, so<br />

daß er doch wenigstens als Kranker einen Arzt sucht! Aber was noch gefährlicher ist: er<br />

kommt sich gesund vor!<br />

12. Die Juden wegen ihres Hochmuts verworfen, die anderen Völker wegen ihrer Demut an<br />

deren Stelle aufgenommen. Groß ist ihr Glaube, so wie ein Senfkorn.<br />

Deswegen also ging jenes Volk nicht zu ihm, das heißt: wegen seines Hochmuts; und man<br />

nannte sie die ausgebrochenen natürlichen Äste des Ölbaums – dies bedeutet: von jenem<br />

Volk, das von den Patriarchen herkam; das heißt: Juden, die verdientermaßen unfruchtbar<br />

sind durch den Geist ihres Hochmutes; und in jenen Ölbaum wurde der Sproß eines wilden<br />

Ölbaums eingesetzt. Der wilde Ölbaum sind die Menschen, die von den anderen Völkern<br />

stammen. So sagt es der Apostel, daß ein wilder Ölbaum eingesetzt ist in den Ölbaum, daß<br />

aber seine natürlichen Zweige ausgebrochen sind. Jene sind ausgebrochen wegen ihres<br />

Hochmutes: der wilde Ölbaum ist eingesetzt wegen seiner Schlichtheit. (Röm. 11, 17-21)<br />

Diese schlichte, demütige Haltung zeigte die Frau, als sie sagte: „Ja, Herr, ich bin ein Hund,<br />

ich wünsche mir Reste.“ Mit dieser demütigen Haltung fand auch jener Zenturio Gefallen:<br />

Als der dringend darum bat, daß sein Sohn vom Herrn behandelt werde, und der Herr sagte:<br />

„Ich werde kommen und ihn behandeln!“, antwortete jener: „Herr, ich bin nicht wert, daß du<br />

unter mein Dach eintrittst; aber sprich nur ein Wort, und mein Sohn wird geheilt werden.“ -<br />

„Ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach eintrittst.“ Er nahm ihn nicht in sein Haus auf,<br />

aber er hatte ihn in seinem Herzen aufgenommen. Je demütiger, desto reicher, desto größer<br />

die Fülle. Denn die Hügel weisen das Wasser zurück, die Täler aber werden voll. Was sagte<br />

dann, was sagte dazu der Herr, nachdem der gesagt hatte: „Ich bin nicht wert, daß du unter<br />

mein Dach trittst!“, was sagte er zu denen, die ihm folgten: „Amen ich sage euch, ich fand<br />

keinen so starken Glauben in Israel!“, das heißt: in jenem Volk, zu dem ich gekommen bin,<br />

habe ich keinen so starken Glauben gefunden. So stark - was bedeutet das? So groß. Wieso<br />

groß? Vom Kleinsten und Geringsten her, das heißt: von der demütigen Haltung her<br />

großartig. Ich fand keinen so starken Glauben: ähnlich einem Senfkorn: je winziger, desto<br />

schärfer. Der Herr also setzte schon den wilden Ölbaum in den Ölbaum ein. Damals machte<br />

er dies, als er sagte: „Amen ich sage euch, ich habe keinen so starken Glauben in Israel<br />

gefunden!“<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


9<br />

13. Fleischliche Genüsse darf man im Himmelreich nicht erwarten. Der Reichtum hier ist ein<br />

Beweis der Bedürftigkeit. Die Gesundheit dieses Lebens ist eine lange Krankheit.<br />

Schließlich sieh, was daraus folgt: „Daher sage ich euch“, (denn: „Ich habe keinen so starken<br />

Glauben in Israel gefunden.“, das bedeutet: eine so große Demut in gläubigem Vertrauen),<br />

„daher sage ich euch, daß viele kommen werden von Osten und von Westen, und sie werden<br />

mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tische liegen.“ (Matth. 8, 5/11) „Sie<br />

werden zu Tische liegen“, sagt er: sie werden sich ausruhen. Denn wir dürfen dort nicht an<br />

fleischliche Speisen denken oder irgendetwas derartiges in jenem Reich begehren, so daß wir<br />

nicht die Laster mit den Tugenden vertauschen, sondern die Laster fortsetzen! Es ist nämlich<br />

eine Sache, das Himmelreich wegen der Weisheit und des ewigen Lebens zu ersehnen, eine<br />

andere, es wegen eines irdischen Glücks zu erstreben, als ob wir dieses dort in reicherem und<br />

größerem Maße hätten. Wenn du glaubst, daß du in jenem Reich Reichtum besitzen wirst,<br />

beschneidest du die Begierde nicht, sondern du verlagerst sie nur. Und dennoch wirst du reich<br />

sein - und nur dort wirst du reich sein! Denn hier sammelt deine Bedürftigkeit die meisten<br />

Dinge zusammen. Warum haben die Reichen viel? Weil sie viel brauchen; die größere<br />

Bedürftigkeit verschafft gleichsam größere Möglichkeiten. Dort wird diese Bedürftigkeit<br />

selbst sterben! Dann wirst du wahrhaft reich sein, wenn du keiner Sache mehr bedürftig sein<br />

wirst! Denn es ist nicht so, daß du reich bist und der Engel arm, der kein Zugvieh und keinen<br />

Wagen und keine Familie hat. Warum? Weil er sie nicht braucht, weil er, je stärker er ist,<br />

desto weniger braucht. Also ist dort der Reichtum, und zwar der wahre Reichtum. An die<br />

Speisen dieser Erde sollst du dort nicht denken! Denn die Speisen dieser Erde sind tägliche<br />

Medizin; für eine gewisse Art von Krankheit, mit der wir geboren werden, ist sie notwendig.<br />

Diese Krankheit fühlt jeder, wenn die Stunde der Genesung vorüber ist. Willst du sehen, wie<br />

groß diese Krankheit ist, daß sie dich wie ein heftiges Fieber in sieben Tagen tötet? Halte<br />

dich nicht für gesund! Die Unsterblichkeit wird die Gesundheit sein. Denn dieses Leben hier<br />

ist eine lange Krankheit. Weil du mit täglichen Medikamenten deine Krankheit stützt,<br />

kommst du dir gesund vor: Nimm die Medikamente weg – und sieh, was dann noch geht!<br />

14. Die Notwendigkeit des Sterbens gleich von Geburt an. Die Unsterblichkeit als wahre<br />

Gesundheit.<br />

Denn seitdem wir geboren werden, müssen wir sterben; diese Krankheit führt<br />

notwendigerweise zum Tode. Sicherlich sagen die Ärzte, wenn sie die Kranken untersuchen,<br />

zum Beispiel dies: „Der ist wassersüchtig, er stirbt; diese Krankheit kann man nicht heilen. Er<br />

leidet unter Elephantiasis, auch diese Krankheit kann nicht geheilt werden. Er ist<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002


10<br />

schwindsüchtig – wer kann das heilen? Er muß zugrunde gehen, er muß sterben.“ Schau,<br />

schon hat der Arzt gesagt: „Er ist schwindsüchtig, er kann nur sterben!“ Und dennoch stirbt<br />

irgendwann einmal der Wassersüchtige nicht davon, und der mit der Elephantiasis stirbt nicht<br />

davon, und der Schwindsüchtige stirbt nicht davon: und dennoch muß jeder, der geboren ist,<br />

von da an auch sterben. Er stirbt davon, er kann nicht anders; dies verkündet sowohl der Arzt<br />

als auch der Laie. Aber auch wenn er langsamer stirbt, stirbt er deshalb etwa nicht? Wann<br />

also ist es eine wahre Gesundheit, außer wenn es die wahre Unsterblichkeit ist? Wenn es nun<br />

die wahre Unsterblichkeit ist, wenn es kein Verderben und keinen Defekt gibt, wozu wird<br />

man dort noch Lebensmittel brauchen? Wenn du also hörst: „Sie werden zu Tische liegen mit<br />

Abraham und Isaak und Jakob!“, dann sollst du nicht deinen Magen bereit machen, sondern<br />

den Geist! Du wirst dort Sättigung finden: und dieser Magen des inneren Menschen hat seine<br />

Speisen! Mit Blick auf diesen Magen wird gesagt: „Glücklich, die hungern und dürsten nach<br />

Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden!“ (Matth. 5, 6). Und sie werden wahrhaftig<br />

gesättigt werden, so daß sie nicht hungern.<br />

15. Die natürlichen Zweige werden abgeschnitten, der wilde Ölbaum wird eingesetzt; warum.<br />

Der Herr setzte also schon den wilden Ölbaum ein, als er sagte. „Viele werden kommen von<br />

Westen und Osten, und sie werden zu Tische liegen mit Abraham und Isaak und Jakob im<br />

Himmelreich.“, das heißt: sie werden in den Ölbaum eingesetzt werden. Denn die Wurzeln<br />

dieses Ölbaums sind Abraham und Isaak und Jakob; die Söhne des Reiches aber, das heißt:<br />

die ungläubigen Juden, werden in das äußerste Finsternis gehen (Matth. 8, 12).<br />

Abgeschnitten werden die natürlichen Zweige, damit der wilde Ölbaum eingesetzt wird. Aber<br />

warum haben die natürlichen Zweige es verdient, abgeschnitten zu werden, wenn nicht<br />

aufgrund ihres Hochmutes? Warum hat der wilde Ölbaum es verdient, eingesetzt zu werden,<br />

wenn nicht aufgrund seiner Demut? Daher hat auch diese Frau gesagt: „Ja, Herr! Denn auch<br />

die Hunde essen von den Resten, die vom Tisch ihrer Herrn fallen.“ Und daher hört sie:<br />

„Frau, groß ist dein Glaube!“ So verhält es sich auch bei jenem Centurio: „Ich bin nicht wert,<br />

daß du unter mein Dach eintrittst! – Amen ich sage euch, einen so starken Glauben habe ich<br />

in Israel nicht gefunden.“ Wir wollen die Demut lernen, oder wir wollen an ihr festhalten!<br />

Wenn wir sie noch nicht haben, wollen wir sie lernen; wenn wir sie haben, wollen wir sie<br />

nicht verlieren! Wenn wir sie noch nicht haben, wollen wir sie haben, damit wir eingesetzt<br />

werden; wenn wir sie schon haben, wollen wir an ihr festhalten, damit wir nicht abgeschnitten<br />

werden!<br />

<strong>Jörg</strong> <strong>Dittmer</strong> 2002

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