Der »Atomismusstreit« in der Zeitschrift DIE DREI 1922/23
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14 Vgl. Thomas S. Kuhn: Die<br />
Struktur wissenschaftlicher<br />
Revolutionen (1962/1970),<br />
Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1989.<br />
15 Anregungen, auf die paradigmatische<br />
und weltanschauliche<br />
Ebene zu blicken,<br />
wurden von Rabel und Theberath<br />
nicht aufgegriffen. So<br />
hatte Hermann von Baravalle<br />
versucht, Weltanschauungen<br />
durch den Blick auf die geistigen<br />
Entwicklungsbewegungen<br />
zu charakterisieren,<br />
aus denen sie hervorgehen,<br />
<br />
<br />
um sie zu an<strong>der</strong>en Weltanschauungen<br />
<strong>in</strong>s Verhältnis<br />
zu setzen (vgl. Hermann von<br />
Baravalle: Atomismus, <strong>in</strong>: <strong>DIE</strong><br />
<strong>DREI</strong>, Jg. 2, H. 2/3 (Mai/Juni<br />
<strong>1922</strong>), S. 172-174). Dies hätte<br />
erfor<strong>der</strong>t, sich sowohl positiver<br />
als auch negativer Beurteilungen<br />
des Atomismus<br />
zu enthalten und die Paradigmen<br />
selbst wie<strong>der</strong>um als<br />
Phänomene e<strong>in</strong>er Art übergeordneter<br />
Wissenschaftstheorie<br />
zu behandeln. Wilhelm<br />
Pelikan hatte relativierend<br />
die Zeitgebundenheit des<br />
Atomismus angeführt (vgl.<br />
Wilhelm Pelikan: Das Ost-<br />
West-Problem als Lebensfrage<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen Naturwissenschaft,<br />
<strong>DIE</strong> <strong>DREI</strong>, Jg. 2, H. 2/3<br />
(Mai/Juni <strong>1922</strong>), S. 182-201).<br />
Ernst Lehrs schließlich sah <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von Wert und<br />
Würde unseres Menschse<strong>in</strong>s<br />
e<strong>in</strong> Kriterium, anhand dessen<br />
Weltanschauungen betrachtet<br />
werden sollten (Ernst<br />
Lehrs: Physik und Weltanschauung,<br />
<strong>in</strong>: <strong>DIE</strong> <strong>DREI</strong>, Jg. 2,<br />
H. 5 (Aug. <strong>1922</strong>), S. 351-365).<br />
<br />
auch den Persönlichkeiten <strong>der</strong> Beteiligten geschuldet se<strong>in</strong>, hat<br />
jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptsache e<strong>in</strong>en tieferen Ursprung <strong>in</strong> ihrer Stellung<br />
zum Atomismus.<br />
Dieser spielt e<strong>in</strong>e paradigmatische Rolle im S<strong>in</strong>ne Thomas S.<br />
Kuhns. 14 Rabels verzweifelte Frage nach <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong><br />
Existenz <strong>der</strong> Atome me<strong>in</strong>t doch: Bewegen wir uns <strong>in</strong> demselben<br />
Paradigma o<strong>der</strong> nicht? Diese Klärung ist für sie grundlegend<br />
und muss daher allem an<strong>der</strong>en vorangehen. <strong>Der</strong> Atomismus<br />
gibt e<strong>in</strong>en Rahmen vor, <strong>in</strong>nerhalb dessen Fragen gestellt und<br />
beantwortet werden können. Damit erfüllt er die Hauptfunktion<br />
e<strong>in</strong>es Paradigmas – und ist zugleich Weltanschauung <strong>in</strong> dem<br />
von Theberath und an<strong>der</strong>en kritisierten S<strong>in</strong>ne. 15<br />
Warum aber blieb es den Hauptkontrahenten weitgehend unmöglich,<br />
die Gebundenheit an ihr Paradigma zum<strong>in</strong>dest vorübergehend<br />
zu verlassen? Diese Frage führt nochmals tiefer auf<br />
e<strong>in</strong>e formal erkenntnistheoretische Ebene, die hier aber <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Weise des tatsächlich gelebten In-<strong>der</strong>-Welt-Stehens zur Geltung<br />
kommt. Sie besteht im Verhältnis des Erkennenden zur Welt<br />
sowie zu se<strong>in</strong>em Wahrnehmen und Denken. Im Unterschied<br />
zum mehr <strong>in</strong>haltlich bestimmten Paradigma geht es hier um<br />
die <strong>in</strong>dividuelle Artung des seelisch-geistigen Untergrunds, auf<br />
dem die Erkenntnistätigkeit aufruht und sich entfaltet. Theberath<br />
und an<strong>der</strong>e haben verschiedentlich auf dieser Ebene argumentiert,<br />
aber ihr Bedürfnis, hier anzusetzen, nicht explizit<br />
gemacht. Rabel h<strong>in</strong>gegen ist auf erkenntnistheoretische Fragen<br />
nicht e<strong>in</strong>gegangen bzw. hat sie als nachgeordnet zurückgestellt<br />
und auf <strong>der</strong> vorrangigen Klärung <strong>der</strong> Bekenntnisfrage zur Atomtheorie<br />
bestanden.<br />
Rabel selbst steht nach eigenem Bekunden »<strong>der</strong> anthroposophischen<br />
Wissenschaft mit großer Skepsis gegenüber«: »Da b<strong>in</strong><br />
ich Gegner<strong>in</strong>. Ich b<strong>in</strong> nicht nur sogenannter Gegner, […] ich<br />
b<strong>in</strong> wirklicher Gegner.« 16 Obwohl sie große Sympathie für den<br />
<strong>in</strong> ihren Augen »religiösen Charakter« <strong>der</strong> Anthroposophie hegt,<br />
erkennt sie im verehrend aufblickenden Verhalten vieler Anthroposophen<br />
gegenüber Ste<strong>in</strong>er und allem Geistigen e<strong>in</strong>e »religiöse<br />
Ges<strong>in</strong>nung«, die ihrer eigenen »wissenschaftlichen Ges<strong>in</strong>nung«<br />
diametral entgegenstehe und mit <strong>der</strong>selben unvere<strong>in</strong>bar<br />
sei. »<strong>Der</strong> wissenschaftliche Mensch muss vollständig frei se<strong>in</strong><br />
Urteil sich bilden […] frei und unabhängig se<strong>in</strong>«. 17 – In dieser<br />
Gegenüberstellung kl<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> zeitgenössische neopositivistische<br />
Gegensatz von Wissenschaft und Weltanschauung an. Dieser<br />
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