Risikoverhalten, Kaufbereitschaft und Vertriebswege
Risikoverhalten, Kaufbereitschaft und Vertriebswege
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<strong>Risikoverhalten</strong>, <strong>Kaufbereitschaft</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vertriebswege</strong><br />
ao. Univ.-Prof. Dr. Michael Theil<br />
Institut für Versicherungswirtschaft<br />
Wirtschaftsuniversität Wien
Übersicht<br />
• Einordnung<br />
• Fragestellung, Erklärungsansätze, Methoden<br />
• Beispiel<br />
• Darstellung, Analyse, Extraktion<br />
• Einzeleffekte<br />
• Komplexitätsreduktion, Zeithorizont<br />
• Verb<strong>und</strong>effekte<br />
• Wechselwirkungen, Widersprüche, Sprunghaftigkeit<br />
• Folgerungen<br />
• Nachfrageverhalten, Steuerung, Absatzweg
Einordnung: Überblick<br />
1. Linie: Wie sehen optimale Entscheidungen unter Risiko aus?<br />
Bernoulli, v. Neumann / Morgenstern, Markowitz (90), Savage u.v.a.m.<br />
2. Linie: Wie sehen tatsächliche Entscheidungen unter Risiko aus?<br />
Bernoulli, Allais (88), Ellsberg, Simon (78), Einhorn / Hogarth, Kahneman<br />
(02) / Tversky<br />
3. Linie: Welche praktischen Erkenntnisse lassen sich gewinnen?<br />
Steinlin, Karten, v.d. Schulenburg<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Einordnung: Zusammenhänge<br />
1. Linie: „Soll“<br />
Methoden:<br />
Modellierung von Risiko,<br />
Ableitung von Nutzenfunktionen,<br />
Ableitung von Strategien<br />
<br />
2. Linie: „Ist“<br />
Methoden:<br />
Beobachtung, Experiment,<br />
Ableitung von „Gesetzmäßigkeiten“<br />
3. Linie: „Praxis“<br />
Methoden:<br />
Analysen auf Ebene von Produkteigenschaften,<br />
Folgerungen für<br />
Produktgestaltung <strong>und</strong> Absatz
Einordnung: Zusammenfassung<br />
1. Unterscheidung von drei Linien: „Soll“, „Ist“ <strong>und</strong> „Praxis“<br />
2. Schwergewicht der (konfliktären) Diskussion auf „Soll“ versus „Ist“<br />
3. Vergleichsweise geringer Beitrag von „Soll“ für „Praxis“<br />
4. Erst in der letzten Jahren beginnendes Austauschverhältnis<br />
zwischen „Ist“ <strong>und</strong> „Praxis“<br />
Ziel daher:<br />
Welchen Beitrag kann die deskriptive Entscheidungsforschung<br />
(genauer: ein Ausschnitt daraus) für praktische Fragen der<br />
Produktgestaltung <strong>und</strong> Wahl der Absatzwege leisten?<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Überblick<br />
• Bradford City FC vs. Lincoln City FC<br />
(11.5.1985)<br />
• 11.000+ Zuschauer im Stadion<br />
„Valley Parade“, davon ~2.500 auf<br />
der Haupttribüne<br />
• Innerhalb von Minuten wird die<br />
Haupttribüne zerstört („Bradford<br />
City Fire“)<br />
• 56 Tote, ~265 Verletzte<br />
• Aufnahmen von Yorkshire TV / BBC<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Zeitrahmen<br />
00:00<br />
„We actually have a fire<br />
on the far side of the<br />
gro<strong>und</strong>“<br />
04:47<br />
„The ambulance is beginning<br />
to arrive – and the stand is<br />
almost gone“
Beispiel: Szenen<br />
00:10<br />
• Zuschauer haben den unmittelbaren<br />
Bereich (<strong>und</strong> nur den) verlassen<br />
• Keine erkennbaren Löschversuche<br />
(bis zum Eintreffen der Feuerwehr)<br />
• Keine erkennbaren Versuche, die<br />
gesamte Tribüne zu evakuieren<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Szenen<br />
00:58<br />
• Die Tribüne ist außen rechts<br />
weitgehend evakuiert<br />
• Am linken Bildrand sind jedoch noch<br />
zahlreiche Zuschauer bis in die<br />
hinteren Reihen<br />
• Polizisten verbleiben in<br />
unmittelbarer Nähe des Feuers<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Szenen<br />
02:00<br />
• Das Feuer schlägt explosionsartig<br />
auf das Dach <strong>und</strong> nach rechts über<br />
• Diese Entwicklung ist zu plötzlich für<br />
die Zuschauer im linken Teil der<br />
Tribüne<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Szenen<br />
03:25<br />
• Obwohl die Tribüne in Vollbrand<br />
steht, sind weiter die<br />
„Schlachtgesänge“ der Fans zu<br />
hören (<strong>und</strong> zu sehen)<br />
• In den folgenden Minuten nimmt die<br />
Dramatik ab<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Szenen<br />
05:47<br />
• Die erste Schlauchleitung wird<br />
gelegt<br />
• Parkende PKW behindert die<br />
Einsatzfahrzeuge<br />
• Die Einsatzfahrzeuge behindern<br />
einander<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Stimmen<br />
I‘ve never seen anything like this …<br />
First, you could smell it. I saw a<br />
small fire, and that was it. And, all of<br />
a sudden, within a minute …<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Stimmen<br />
Suddenly, a little bit smoke, all you<br />
could see a little smoke, and then,<br />
before you knew, a little flame came,<br />
and then it just went like a wildfire.<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Stimmen<br />
My first indication was that there<br />
was smoke and the opinion was that<br />
somebody has set off a smoke bomb<br />
or a flare or something. And quite<br />
honestly, I paid very little attention<br />
to it.<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Beispiel: Stimmen<br />
I think there ought to be an inquiry<br />
into this, because I think that it is<br />
almost obvious that somebody has<br />
deliberately set fire to the stand.<br />
The thing that concerns me is the<br />
manner in which the fire spread so<br />
quickly.<br />
I thought that somebody has set a<br />
smoke bomb off at the end of the<br />
stand.<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Einzeleffekte<br />
• An diesem <strong>und</strong> weiteren Beispielen (Hochwasser, Blitzschlag,<br />
Straßenverkehr u.v.a.m.) sind prinzipielle Muster erkennbar.<br />
• Diese Muster wurden in Experimenten isoliert weiter untersucht <strong>und</strong><br />
haben sich dabei als stabil erwiesen.<br />
• Ihr Sinn (<strong>und</strong> ihre Entstehung) liegt in der Erleichterung von<br />
Routineentscheidungen.<br />
• Auf Basis dieser Erkenntnisse ist es möglich, Entscheidungsverhalten<br />
zu erklären <strong>und</strong> (eingeschränkt) vorherzusagen.<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Einzeleffekte: Prototyp<br />
• Vereinfachung<br />
• Reduktion auf idR nur eine Größe („Prototyp“)<br />
• Bei numerischen Größen idR ein „mittlerer“ Wert<br />
• Bei nicht numerischen Größen zB typische Eigenschaften<br />
• Beispiele aus Bradford City Fire<br />
• Ausbreitungsgeschwindigkeit des Feuers (before you knew, wildfire,<br />
within a minute)<br />
• Ursache des Feuers (smoke bomb, flare)<br />
• Andere Beispiele<br />
• (sichere) Fahrgeschwindigkeit, Häufigkeit von Ereignissen,<br />
Schadenstypen (zB Sach vs. BU), Risikoursachen<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Konsequenzen für Versicherung<br />
„regression to the mean“<br />
f(x)<br />
ein Wert<br />
Viele kleine <strong>und</strong><br />
mittlere Schäden<br />
Wenige große Schäden<br />
Schadenausmaß<br />
x<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Konsequenzen für Versicherung<br />
• v.a. große, seltene Schäden bleiben systematisch unbeachtet<br />
• Hauptstärke von Versicherung geht verloren<br />
• Versicherungsprämien erscheinen überteuert<br />
• Effekt stabil <strong>und</strong> zusätzlich verstärkt durch<br />
• Ignorieren von kleinen Wahrscheinlichkeiten (zB p=0,1 ≈ p=0)<br />
• Ignorieren „untypischer“ Schadenarten (zB BU im Ggs. zu Sach)<br />
• Ambiguitätsaversion<br />
• verbreiteter Gr<strong>und</strong> für Marktversagen auf Seiten der Nachfrager (zB<br />
uninsured motorist problem, Naturgefahren)<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Einzeleffekte: Verfügbarkeit<br />
• Vereinfachung<br />
• Reduktion auf idR nur eine, die eben „verfügbare“ Größe<br />
• Einfluß durch Berichterstattung in den Medien <strong>und</strong> persönliche Erfahrung<br />
• idR (sehr) kurzfristiger Effekt<br />
• Beispiele aus Bradford City Fire<br />
• unterschiedliche Zeitpunkte der Fluchtreaktion<br />
• Abbruch der Flucht, Lähmung<br />
• Andere Beispiele<br />
• Hilfsbereitschaft nach Naturkatastrophen, v.a. Erdbeben, „The Day<br />
After“, Unfallzeugen<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Konsequenzen für Versicherung<br />
f(x)<br />
repräsentativer<br />
Wert<br />
verfügbarer<br />
Wert<br />
Schadenausmaß<br />
x
Konsequenzen für Versicherung<br />
• gegenläufiger Effekt zu Prototyp<br />
• kurzfristige Wirkung<br />
• Beeinflussung durch<br />
• unmittelbare persönliche Erfahrung<br />
• Berichterstattung, v.a. Bilder, Film<br />
• Erzählungen<br />
• jeweils mit (vermuteter) persönlicher Relevanz<br />
• Grenzen: (vermutete) Übertreibung, Einzelfall, Kontrollillusion<br />
• unmittelbarer / mittelbarer Schadensfall als Motiv sich zu versichern<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Einzeleffekte: Bedeutung der Zeit<br />
• weiter Zeithorizont<br />
• Prototyp dominiert<br />
• langfristige Wirkungen werden besonders negiert, ebenso (kausal)<br />
mittelbare Wirkungen<br />
• Anpassungen des Prototyps vermutet, aber kaum feststellbar<br />
• (sehr) kurzer Zeithorizont<br />
• punktuelle (Neu-) Bewertungen, (relativ) leicht belegbar<br />
• beeinflußbar<br />
• Problem der Urteilsrevision<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Verb<strong>und</strong>effekte<br />
• Prototyp, Verfügbarkeit <strong>und</strong> Zeit<br />
• divergierende Einflüsse auf die Wahrnehmung ein- <strong>und</strong> desselben<br />
Risikos<br />
• über die Zeit sprunghafte Beurteilungen – mal ja, mal nein<br />
• Konkurrenz vielfältiger Situationen<br />
• nicht direkt erforscht<br />
• vermutlich bleiben die Prinzipien von Prototyp, Verfügbarkeit <strong>und</strong> Zeit<br />
erhalten<br />
• d.h. jenes Risiko wird beachtet, das am ehesten dem Prototyp entspricht<br />
bzw. gerade verfügbar ist<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Nachfrageverhalten: „bad news“<br />
• Versicherung als Schutz gegen große, seltene Schäden wird<br />
systematisch unterschätzt<br />
• Preis (Prämie) ist systematisch präsenter als ein zu versicherndes<br />
Risiko<br />
• Verfügbarkeit wirkt nur in einem vergleichsweise kleinen Zeitfenster<br />
• Entscheidungen aufgr<strong>und</strong> Verfügbarkeit können ex post nur schwer<br />
begründet werden – Gefahr inneren Widerspruchs<br />
• bei zunehmender Komplexität (mehrere Risiken) „Herunterlizitieren“<br />
zu unmittelbar Greifbaren<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Nachfrageverhalten: „good news“<br />
• Risikowahrnehmung kann (isoliert <strong>und</strong> kurzfristig) relativ leicht<br />
beeinflußt werden<br />
• Der Eindruck überteuerter Prämien tritt dabei in den Hintergr<strong>und</strong><br />
• Anknüpfen an allgemeinen „Themen“ (zB Pensionsdebatte) relativ<br />
leicht möglich<br />
• Zugang über persönliche Betroffenheit<br />
• Eigendynamik durch vermehrte Diskussion<br />
• (neue) Medien können effektiv eingesetzt werden<br />
• Nicht nur für Versicherungen gültig, sondern zB auch volatile Anlagen,<br />
variable Kreditzinsen uä<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Absatzwege - Anforderungen<br />
• „Gießkanne“ nur sehr eingeschränkt möglich <strong>und</strong> nicht<br />
empfehlenswert<br />
• weder für eine größere Anzahl von Produkten (Kannibalisierung)<br />
• noch in Richtung einer <strong>und</strong>ifferenzierten Menge an potentiellen K<strong>und</strong>en<br />
(mangelnder Bezug)<br />
• für gezielte Maßnahmen besser geeignet<br />
• wenn Betroffenheit des Angesprochenen bekannt / wahrscheinlich<br />
• durch (vorbereitenden) diversifizierten Medieneinsatz<br />
• Initiative seitens des VUs<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Einschränkungen<br />
• Risikowahrnehmung ist sehr komplex<br />
• Auf Ebene des Individuums: Vielfalt von Einflüssen, nur beschränkt<br />
bekannt <strong>und</strong> kontrollierbar<br />
• Auf Ebene der Forschung: Involvierung zahlreicher Disziplinen<br />
• wahrnehmen impliziert nicht unbedingt auch handeln<br />
• Initiative seitens des VUs wird nicht ersetzt; allerdings läßt sich<br />
differenzieren, wo sie mehr <strong>und</strong> wo weniger Erfolg verspricht<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Zusammenfassung<br />
• Was können wir im Ergebnis sagen?<br />
• Wir können die systematische Unterschätzung von Risiken erklären<br />
• Wir können punktuelle Abweichungen erklären<br />
• Wir wissen über zentrale Einflußgrößen Bescheid<br />
• Was können wir im Ergebnis tun?<br />
• Differenzieren: Produkte, die langen Zeithorizont <strong>und</strong>/oder diffuse<br />
Deckungen bieten, haben wenig Chance auf Akzeptanz<br />
• Vereinfachen: Wenn die Adressaten die Situation radikal reduzieren,<br />
haben komplexe Botschaften wenig Sinn<br />
Einordnung | Beispiel | Einzeleffekte | Verb<strong>und</strong>effekte | Folgerungen
Wo kann man nachlesen?<br />
• überaus breite <strong>und</strong> verstreute Literatur<br />
• einführend <strong>und</strong> zusammenfassend:<br />
Kahneman, Daniel / Slovic, Paul / Tversky, Amos (Eds.): Judgment<br />
Under Uncertainty: Heuristics and Biases, Cambridge University Press,<br />
Cambridge 1982<br />
• versicherungs- / risikobezogen:<br />
Theil, Michael: Versicherungsentscheidungen <strong>und</strong> Prospect Theory. Die<br />
Risikoeinschätzung der Versicherungsnehmer als<br />
Entscheidungsgr<strong>und</strong>lage, Springer, Wien / New York 2002<br />
Theil, Michael: The Value of Personal Contact in Marketing Insurance.<br />
Client Judgments of Representativeness and Mental Availability; Risk<br />
Management and Insurance Review 6 (2), 2003: 145-157