Internationales Privatrecht - allgemeiner Teil
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<strong>Internationales</strong> Privat- und<br />
Zivilverfahrensrecht<br />
Allgemeiner <strong>Teil</strong><br />
nach der Vorlesung von<br />
Prof. Dr. Peter Jung<br />
an der Universität Basel<br />
lic. iur. Roman Gubser<br />
mail@gubserweb.ch<br />
www.gubserweb.ch<br />
Basel, Februar 2008
Inhaltsverzeichnis<br />
§ 1 Einführung 7<br />
A. Begriff und Gegenstand des Internationalen <strong>Privatrecht</strong>s 7<br />
I. Nationalität und Internationalität des IPR 9<br />
1. Nationalisierung internationaler Sachverhalte bzw. Fragestellungen 9<br />
2. Nationale und internationale Rechtsquellen 10<br />
3. Nationale und internationale Auslegung von IPR-Normen 11<br />
4. Anwendung nationalen und ausländischen Rechts 12<br />
II. IPR im engeren und weiteren Sinn 12<br />
III. <strong>Privatrecht</strong>licher Bezug 13<br />
B. Benachbarte Rechtsgebiete 15<br />
I. Andere Kollisionsrechte 15<br />
1. Kollisionsrecht mit öffentlich-rechtlichem Bezug 15<br />
2. Interlokales Kollisionsrecht 16<br />
3. Personales Kollisionsrecht 16<br />
4. Intertemporales Kollisionsrecht (Art. 196 ff. IPRG) 16<br />
II. Materielles Einheitsrecht 16<br />
1. Begriff 16<br />
2. Beispiele 17<br />
3. Abgrenzungen 17<br />
4. Exkurs: Anwendungsvoraussetzungen des CISG 17<br />
III. Unilaterales materielles Sonderrecht für internationale Sachverhalte 22<br />
1. Begriff 22<br />
2. Formen 22<br />
IV. Völkerrecht 23<br />
V. Auslandsrechtskunde und Rechtsvergleichung 24<br />
C. Rechtsquellen 25<br />
I. Staatsvertrag 25<br />
1. Allgemeines 25<br />
2. Arten von Staatsverträgen 26<br />
3. Anwendungsbereich von Staatsverträgen 28<br />
4. Garantie- und Günstigkeitsprinzip 28<br />
5. Autonome Auslegung 29<br />
II. IPRG 30<br />
III. Rechtsprechung 30<br />
1
D. Aufgaben des internationalen <strong>Privatrecht</strong>s 31<br />
I. Kollisionsrechtliche Gerechtigkeit 31<br />
1. Inhalt 31<br />
2. Instrumente zur Sicherung der kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit<br />
im IPR 31<br />
II. Materiellrechtliche Gerechtigkeit 32<br />
1. Inhalt 32<br />
2. Instrumente zur Sicherung der materiellen Gerechtigkeit im IPR 32<br />
E. Allgemeines Vorgehen bei der Prüfung eines IPR-Falls 33<br />
§ 2 Internationale Zuständigkeit und Rechtshängigkeit 35<br />
A. Begriff der internationalen Zuständigkeit 35<br />
I. Begriffsinhalt 35<br />
II. Abgrenzungen 35<br />
1. Indirekte Zuständigkeit 35<br />
2. Inländische Zuständigkeit 35<br />
3. Völkerrechtliche Zuständigkeit 36<br />
III. Arten der direkten Zuständigkeit 36<br />
1. Kategorisierung nach der Rechtsgrundlage 36<br />
2. Kategorisierung nach der Abdingbarkeit 36<br />
3. Kategorisierung nach dem Anwendungsbereich 37<br />
4. Kategorisierung nach dem Verhältnis zu anderen Gerichtsständen 37<br />
B. Rechtsquellen 39<br />
I. Staatsverträge 39<br />
1. Multilaterale Staatsverträge 39<br />
2. Bilaterale Staatsverträge 42<br />
II. Nationales Recht (IPRG) 42<br />
C. Prinzipien der Zuständigkeitsregelung 43<br />
I. Prinzip der Amtsprüfung 43<br />
II. Prinzip der Dispositionsfreiheit 43<br />
III. Prinzipien des sinnvollen Zusammenhangs 43<br />
1. Grundsatz 43<br />
2. Ausnahmen 44<br />
IV. Prioritätsprinzip 45<br />
2
1. Internationale Zuständigkeit 45<br />
2. örtliche Zuständigkeit 47<br />
V. Rechtswegprinzip 47<br />
VI. Grundsatz der perpetuatio fori 48<br />
D. objektive Zuständigkeitsanknüpfungen 50<br />
I. Personale Zuständigkeiten 50<br />
1. Wohnsitz bzw. Sitz 50<br />
2. gewöhnlicher Aufenthalt 51<br />
3. Niederlassung 52<br />
4. Staatsangehörigkeit 56<br />
5. Heimatort 57<br />
6. Geburtsort 58<br />
II. Streitgegenständliche Zuständigkeiten 58<br />
1. Erfüllungsort 58<br />
2. Handlungs- und Erfolgsort 61<br />
3. Belegenheitsort 63<br />
III. Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs 64<br />
1. Widerklage 64<br />
2. Passive Streitgenossenschaft 65<br />
3. Streitverkündung 65<br />
IV. Notzuständigkeiten 66<br />
1. Allgemeiner Notgerichtsstand (Art. 3 IPRG) 66<br />
2. Besondere Notgerichtsstände 66<br />
V. Zuständigkeit für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen 67<br />
VI. Exorbitante Zuständigkeiten 67<br />
E. gewillkürte Zuständigkeiten 67<br />
I. Gerichtsstandsvereinbarung 67<br />
1. Begriff und Wesen einer Gerichtsstandsvereinbarung 67<br />
2. Anerkennungsvoraussetzungen 68<br />
3. Rechtsfolgen 71<br />
4. Anwendung von LugÜ oder IPRG 72<br />
II. vorbehaltlose Einlassung 73<br />
1. Voraussetzungen 73<br />
2. Rechtsfolge 73<br />
III. Vereinbarung des Erfüllungsortes 74<br />
IV. Schiedsvereinbarung 77<br />
1. Begriff 77<br />
2. Arten 78<br />
3
3. Wirksamkeitsvoraussetzung 78<br />
4. Rechtsfolgen 80<br />
F. <strong>Internationales</strong> Gerichtsverfahren 81<br />
I. Rechtsquellen 81<br />
II. Ausgewählte Verfahrensfragen 82<br />
1. Beteiligte 82<br />
2. Zustellung 82<br />
3. Beweisaufnahme 82<br />
4. rechtliches Gehör 82<br />
G. internationale Schiedsgerichtsbarkeit 83<br />
I. Begriff 83<br />
1. Charakteristika und Abgrenzungen 83<br />
2. Arten 83<br />
II. Vor- und Nachteile 83<br />
1. Vorteile 83<br />
2. Nachteile 83<br />
III. Schiedsverfahren 83<br />
1. Rechtsquellen und anwendbares Recht 83<br />
2. Mindestanforderungen 85<br />
3. Ausgewählte Rechtsfragen 86<br />
§ 3 Kollisionsrecht 87<br />
A. Gegenstand des Kollisionsrechts 87<br />
B. Interessen und Prinzipien des Kollisionsrechts 87<br />
I. Kollisionsrechtliche Interessen 87<br />
1. Parteiinteressen 87<br />
2. Verkehrsinteressen 87<br />
3. Ordnungsinteressen 88<br />
II. Prinzipien des Kollisionsrechts 88<br />
1. Grundsatz der Privatautonomie 88<br />
2. Prinzip des engsten Zusammenhangs 90<br />
3. Günstigkeitsprinzip 92<br />
4. Vertrauensprinzip 92<br />
5. Schutzprinzip 93<br />
C. Methoden des Kollisionsrechts 93<br />
4
I. Statutistische Methode 93<br />
1. Anwendungsbereich 93<br />
2. Vorgehensweise 94<br />
3. Bewertung 94<br />
II. Anknüpfungsmethode 95<br />
1. Anwendungsbereich 95<br />
2. Vorgehensweise 95<br />
D. Elemente und Arten der Anknüpfung 102<br />
I. Elemente der Anknüpfung 102<br />
1. Anknüpfungsgegenstände 102<br />
2. Anknüpfungsmerkmale 103<br />
3. Anknüpfungssubjekt 103<br />
4. Anknüpfungszeitpunkt 103<br />
II. Arten der Anknüpfung 104<br />
1. Kategorisierung nach der Rechtsgrundlage 104<br />
2. Kategorisierung nach dem Differenzierungsgrad 104<br />
3. Kategorisierung nach dem Anknüpfungsgegenstand 105<br />
4. Kategorisierung nach dem Anknüpfungsmerkmal 106<br />
5. Kategorisierung nach der Veränderbarkeit der Anknüpfung 106<br />
6. Kategorisierung nach der Rechtsfolge 107<br />
E. Verweisung 108<br />
I. Begriff 108<br />
II. Arten 108<br />
1. Sachnormverweisung 108<br />
2. Gesamtverweisung 109<br />
III. Korrektur der Regelverweisung 112<br />
1. Ausnahmeklausel (Art. 15 IPRG) 113<br />
2. Eingriffsnormen (lois d’application immédiate) 116<br />
3. Korrektur bei Gesetzesumgehung 121<br />
4. Korrektur bei Nichtfeststellbarkeit des ausländischen Rechts<br />
(sog. Ersatzrechtsanwendung) 121<br />
F. Anwendung des berufenen Sachrechts 122<br />
I. Anwendung inländischen Sachrechts 122<br />
II. Anwendung ausländischen Sachrechts (so genannte<br />
Fremdrechtsanwendung) 122<br />
1. Ermittlung 122<br />
2. Anwendung 124<br />
3. Korrektur des Anwendungsergebnisses (Ordre-public-Vorbehalt) 125<br />
4. Überprüfung der Fremdrechtsanwendung 127<br />
5
G. Sonderprobleme des Kollisionsrechts 128<br />
I. Anpassung 128<br />
1. Begriff 128<br />
2. Arten 128<br />
3. Eindämmung des Problems der Anpassung 128<br />
4. Ausgewählte Anpassungsprobleme und ihre Lösung 128<br />
II. Statutenwechsel 130<br />
1. Begriff 130<br />
2. Konsequenzen 130<br />
§ 4 Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheide 131<br />
A. Einführung 131<br />
I. Problematik 131<br />
II. Rechtsgrundlagen 131<br />
1. Staatsverträge 131<br />
2. IPRG 132<br />
B. Gegenstand 132<br />
I. LugÜ 132<br />
II. IPRG 132<br />
C. Voraussetzungen der Anerkennung 134<br />
I. Anerkennungsvoraussetzungen nach Art. 25 ff. LugÜ 134<br />
1. Zuständigkeitsbejahung durch das Gericht eines Vertragsstaates 134<br />
2. Vollstreckbarkeit der ausländischen Entscheidung 134<br />
3. Fehlen von Verweigerungsgründen 135<br />
II. Anerkennungsvoraussetzungen nach IPRG 136<br />
1. Indirekte Zuständigkeit 136<br />
2. Endgültigkeit 137<br />
3. Fehlen von Verweigerungsgründen 138<br />
D. Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung 141<br />
I. Anerkennung ausländischer Entscheide 141<br />
1. Anerkennung eines Entscheids bei Anwendbarkeit des LugÜ 141<br />
2. Anerkennung von Entscheiden bei Anwendbarkeit des IPRG 141<br />
II. Vollstreckbarerklärung ausländischer Entscheide 141<br />
1. Vollstreckbarerklärung bei Anwendbarkeit des LugÜ 141<br />
2. Vollstreckbarerklärung bei Anwendbarkeit des IPRG 142<br />
6
§ 1 EINFÜHRUNG<br />
A. Begriff und Gegenstand des Internationalen <strong>Privatrecht</strong>s<br />
Worum geht es im IPR?<br />
Die drei Fragestellungen des IPR:<br />
- Das IPR regelt internationale Zuständigkeitsfragen. Dabei geht es um die Frage,<br />
wer überhaupt entscheiden soll. Es stellt sicher, dass ein und derselbe<br />
Sachverhalt nicht von unterschiedlichen Instanzen gleichzeitig beurteilt wird.<br />
- Weiter legt das IPR fest, welches materielle Recht zur Anwendung gelangt,<br />
z.B. der französische code civile, das deutsche BGB oder der italienische codice<br />
civile.<br />
- Schliesslich kann sich die Frage stellen, ob ein ausländischer Entscheid in der<br />
Schweiz anerkannt, bzw. vollstreckt werden kann.<br />
!<br />
ACHTUNG<br />
Das internationale Einheitsprivatrecht wie bspw. das CISG oder internationales<br />
Transportrecht, wird bewusst vom IPR abgegrenzt und<br />
zählt in einem umfassenden Sinne nicht einmal zum IPR dazu.<br />
Fall 1: X (wohnhaft in Zug) ist Bereichsleiter der schweizerischen T-AG. Er ist zuständig<br />
für die Geschäfte der T-AG in den USA und hat ein Büro in New York. Die T-<br />
AG vertreibt dort Kunststoffleitern. X weiss, dass die Sprossen der Leitern beim Zusammenkommen<br />
bestimmter Faktoren (Körpergewicht, Aussentemperatur, Luftfeuchtigkeit)<br />
brechen können. Dennoch beschliesst er, die Leitern nicht vom Markt zu<br />
nehmen. Aufgrund mehrerer Unfälle im Zusammenhang mit den Leitern der T-AG<br />
leiten die kalifornischen Behörden ein Ermittlungsverfahren ein. In dem sich daran<br />
anschliessenden Strafverfahren wird X von einem kalifornischen Gericht zu einer<br />
Geldstrafe von USD 50'000.00 verurteilt.<br />
Das Urteil soll in der Schweiz vollstreckt werden. Bewegt sich dieser Fall im Anwendungsbereich<br />
des IPRG?<br />
Das wäre nun eine Fragestellung im Bereich der dritten Kategorie: Anerkennung und<br />
Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung. Hier ist jedoch nur gefragt, ob sich<br />
der Fall überhaupt im Anwendungsbereich des IPRG bewegt.<br />
Ist dieser Sachverhalt überhaupt ein internationaler Sachverhalt?<br />
Art. 1 IPRG<br />
1 Dieses Gesetz regelt im internationalen Verhältnis:<br />
a. die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte oder Behörden;<br />
b. das anzuwendende Recht;<br />
c. die Voraussetzungen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen;<br />
d. den Konkurs und den Nachlassvertrag;<br />
e. die Schiedsgerichtsbarkeit.<br />
2<br />
Völkerrechtliche Verträge sind vorbehalten.<br />
7
Zunächst ist festzuhalten, dass der Sachverhalt einen internationalen Bezug aufweist.<br />
Es liegt in casu sicher ein grenzüberschreitendes Element im Sachverhalt vor.<br />
Art. 1 IPRG spricht jedoch von einem internationalen Verhältnis und nicht von einem<br />
internationalen Sachverhalt.<br />
Dies macht deutlich, dass man im IPR nicht nur ein grenzüberschreitendes Element<br />
im Sachverhalt braucht, sondern es braucht eine international rechtliche Fragestellung.<br />
Man spricht oft vom internationalen Sachverhalt, meint damit aber nicht nur die<br />
tatsächlichen Fakten, sondern auch die Relevanz dieser tatsächlichen, auf verschiedene<br />
Staaten verweisenden Anhaltspunkte.<br />
Internationalität wird also nicht nur durch grenzüberschreitende Elemente, also durch<br />
die tatsächlichen Fakten begründet, sondern auch durch eine Relevanz dieser Elemente<br />
hinsichtlich des jeweils anwendbaren Rechts.<br />
Das ist ein Grundproblem, welches sich im IPR gegebenenfalls stellt. Oft hat man<br />
Vorfragen, man muss also zuerst eine Annahme treffen und diese dann bis zum<br />
Ende durchdenken. Hier muss man sich vergegenwärtigen, ob es überhaupt internationale<br />
Bezüge gibt – im Beispielfall ist dies unproblematisch; dann stellt sich die weit<br />
aus wichtigere Frage: Sind diese Elemente für das anwendbare IPR überhaupt relevant?<br />
Dazu muss man wissen, welches IPR überhaupt anwendbar ist und dies wiederum<br />
setzt voraus, dass der Sachverhalt international ist.<br />
Weiter ist die Fragestellung rechtlich einzuordnen. Es ist also zu klären, ob es sich<br />
zentral um eines der folgenden Elemente handelt:<br />
1. Frage der Zuständigkeit<br />
2. Frage der Anwendbarkeit des materiellen Rechts<br />
3. Anerkennung und Vollstreckbarkeit des ausländischen Entscheides<br />
Begriffsdefinition:<br />
Das IPR umfasst jene Rechtsnormen, die festlegen, ob, wie und in welchem Masse<br />
dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass ein Sachverhalt Bezüge zu mehr als nur<br />
einer Rechtsordnung aufweist.<br />
Liegen also Bezüge zu mehreren Rechtsordnungen vor, beantwortet das jeweilige<br />
IPR, ob diese Bezüge relevant sind und in welchem Masse diesen Bezügen Rechnung<br />
zu tragen ist.<br />
Die Bezeichnung IPR hat sich eingebürgert, obwohl sie – wie oben bereits erläutert –<br />
teilweise missverständlich oder sogar falsch ist. Beim IPR handelt es sich also nicht<br />
um international vereinheitlichtes Recht, es handelt sich auch nicht nur um <strong>Privatrecht</strong>.<br />
Gerade beispielsweise die Zuständigkeitsfragen des Zivilprozessrechts sind<br />
Fragen des öffentlichen Rechts.<br />
Das IPR will auch nicht materielle Gerechtigkeitsfragen regeln. Das IPR im engeren<br />
Sinne begnügt sich damit zu sagen, dass das was Recht ist beispielsweise ein kalifornischer<br />
Richter nach seinem Recht entscheiden soll.<br />
Die Prämisse, welche dahinter steht, ist diejenige, dass alle Rechtsordnungen auf<br />
der Welt prinzipiell gleich sind und somit prinzipiell gleichermassen geeignet sind,<br />
Gerechtigkeit zu schaffen.<br />
8
I. Nationalität und Internationalität des IPR<br />
Wiethölter: „Das IPR ist national von Geblüt, aber international von Gemüt“.<br />
1. Nationalisierung internationaler Sachverhalte bzw. Fragestellungen<br />
Die Rechtsquellen sind im Wesentlichen nationales Recht. Nach der monistischen<br />
Theorie gelten auch Staatsverträge in der Schweiz unmittelbar als Schweizer Recht.<br />
Auch das CISG – als internationales Einheitsprivatrecht – gilt in der Schweiz unmittelbar<br />
als Schweizer Recht und kommt zur Anwendung, sofern die Anwendbarkeitsvoraussetzungen<br />
des CISG gegeben sind.<br />
a) <strong>Internationales</strong> Verhältnis (Art. 1 IPRG)<br />
Wie bereits gesagt, regelt das IPRG einen internationalen Sachverhalt. Dies wird in<br />
Art. 1 IPRG auch mit der Formulierung „internationales Verhältnis“ angedeutet. Bei<br />
einer Falllösung geht es somit zuerst darum, diese internationalen Elemente des<br />
Sachverhalts zu finden.<br />
Der Sachverhalt muss also diese Internationalität aufweisen. Es reicht somit nicht<br />
aus, dass nur eine Rechtswahl getroffen wird zugunsten eines ausländischen<br />
Rechts. Fehlt ein derartiger Ansatzpunkt im Ausland, ist eine Klausel, welche ausländisches<br />
Recht zur Anwendung bringen will, nicht wirksam.<br />
Art. 116 IPRG<br />
1 Der Vertrag untersteht dem von den Parteien gewählten Recht.<br />
[…]<br />
Dieser Artikel ermöglicht den Parteien, eine Rechtswahl zu treffen. Das ist unproblematisch<br />
bei einem internationalen Sachverhalt. Der Art. 116 Abs. 1 IPRG ist aber nur<br />
im internationalen Verhältnis anwendbar.<br />
Ein Auslandsbezug kann auch nur teilweise gegeben sein. Dies ist beispielsweise<br />
gegeben bei einem rein schweizerischen Nachlass, bei welchem jedoch ein Grundstück<br />
in Spanien liegt. Für dieses Grundstück kommt unter Umständen das IPRG zur<br />
Anwendung.<br />
Eine wichtige Rolle spielt zusätzlich das zeitliche Element. Dies vor allem bei Anknüpfungspunkten,<br />
die nicht in alle Ewigkeit festliegen, z.B. der letzte Wohnsitz des<br />
Erblassers steht für immer fest – nicht jedoch der gewöhnliche Aufenthalt einer Person.<br />
Massgeblich ist schlussendlich die Internationalität der rechtlichen Fragestellung.<br />
Darauf kommt es an. Reine Internationalität des Sachverhaltes reicht nicht aus. Ausschlaggebend<br />
ist die rechtliche Relevanz.<br />
Ob ein grenzüberschreitendes Element nun rechtlich relevant ist, richtet sich nach<br />
dem jeweils anwendbaren IPR. Man kann nicht generell sagen, ob ein grenzüber-<br />
9
schreitender Sachverhalt auch relevant ist, sondern man muss dies für jede einzelne<br />
rechtliche Fragestellung gesondert klären.<br />
Nachdem man festgestellt hat, ob es sich um die Frage der Zuständigkeit, des anwendbaren<br />
Rechts oder der Anerkennung handelt, muss man klären in welchem<br />
Rechtsgebiet sich der Fall abspielt (bspw. Erbrecht, Sachenrecht, Familienrecht, etc).<br />
Klassisches Beispiel ist der Kauf einer Sache durch einen Chinesen in Zürich. Niemand<br />
kommt auf die Idee, diesen Kauf nicht nach Schweizer Recht zu behandeln.<br />
Die Staatsangehörigkeit ist im vorliegenden Fall also nicht relevant. Zuständig ist das<br />
Gericht in Zürich. Anwendbares Recht ist Schweizer Recht. In casu geht es beispielsweise<br />
um Schadenersatzforderungen im Rahmen des Vertragsrechts.<br />
Die Staatsangehörigkeit spielt im IPRG nur subsidiäre Bedeutung. Massgeblich ist<br />
meistens der Wohnsitz, bzw. der gewöhnliche Aufenthalt des Beklagten (Bsp. Art.<br />
112 Abs. 1 IPRG).<br />
b) weitgehende Nationalität der <strong>Privatrecht</strong>sordnungen<br />
Ein wichtiger Aspekt des IPRG ist die weitgehende Nationalität der <strong>Privatrecht</strong>sordnungen.<br />
Die internationalen Einheitsprivatrechte sind eher von geringer Bedeutung.<br />
Zu erwähnen ist einzig das CISG. Der grosse Rest ist nationales <strong>Privatrecht</strong>.<br />
Es gibt aber auch wenig supranationales <strong>Privatrecht</strong>, wie bspw. auf der Ebene der<br />
Europäischen Gemeinschaft (EG). Diese ist weltweit eine der einzigen supranationalen<br />
Gemeinschaften, welche auch ein supranationales <strong>Privatrecht</strong> kennen.<br />
Die jeweiligen <strong>Privatrecht</strong>sordnungen gelten grundsätzlich nur territorial für die auf<br />
dem jeweiligen Staatsgebiet sich befindlichen Personen. Es gilt also ein personellräumlich<br />
nationaler Anwendungsbereich.<br />
c) Verfahrens- und materiellrechtliche Anknüpfung des internationalen Verhältnisses<br />
an ein nationales Recht<br />
Bei der Falllösung geht es also darum, den grenzüberschreitenden Sachverhalt an<br />
eine nationale Rechtsordnung, bzw. Zuständigkeitsordnung anzuknüpfen. Es gilt, die<br />
internationale Zuständigkeit zu ermitteln. Jeder Staat bestimmt aufgrund der staatlichen<br />
Souveränität selber, ob er sich für zuständig erachtet oder nicht.<br />
Davon zu trennen, ist die Frage nach dem anwendbaren Recht. Diese ist erst in einer<br />
zweiten Phase zu beantworten.<br />
2. Nationale und internationale Rechtsquellen<br />
- IPR-Sachnormen (z.B. Art. 12 oder 102 Abs. 2 IPRG)<br />
Art. 12 IPRG:<br />
Hat eine Person im Ausland vor schweizerischen Gerichten oder Behörden eine Frist zu wahren,<br />
so genügt es für die Wahrung von Fristen, wenn die Eingabe am letzten Tag der Frist bei<br />
einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung eintrifft.<br />
10
Das ist keine IPR-Regelung im eigentlichen Sinne, weil das IPR nur die drei<br />
oben erwähnten Fragestellungen behandelt (Zuständigkeit, anwendbares<br />
Recht, Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Entscheiden).<br />
Art. 12 IPRG regelt einen internationalen Sachverhalt, es ist eine Sachnorm<br />
für einen internationalen Sachverhalt. Für diesen Sachverhalt trifft diese Norm<br />
nun eine materiell rechtliche Regelung.<br />
Art. 102 IPRG<br />
1 […]<br />
2 Gelangt eine bewegliche Sache in die Schweiz und ist an ihr im Ausland ein Eigentumsvorbehalt<br />
gültig begründet worden, der den Anforderungen des schweizerischen Rechts nicht<br />
genügt, so bleibt der Eigentumsvorbehalt in der Schweiz noch während drei Monaten gültig.<br />
3 […]<br />
- Fremdenrechtliche Normen<br />
Diese Normen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nach der Staatsangehörigkeit<br />
differenzieren.<br />
Bsp: Lex Koller<br />
- Normen des Obligationenrechts<br />
Bsp Art. 84 OR: Fremdwährungsschulden<br />
Jeder Staat hat sein eigenes IPR Gesetz. Jede nationale Behörde wendet ihr nationales<br />
IPRG an.<br />
Zuerst prüft die betroffene Behörde, ob sie überhaupt zuständig ist. Diese Frage<br />
beantwortet sie nach IPRG oder unter Umständen nach einem Staatsvertrag.<br />
Ist die jeweilige Behörde zuständig, hat sie zu prüfen, welches Recht zur Anwendung<br />
gelangt. Dies wiederum nach eigenem IPRG.<br />
3. Nationale und internationale Auslegung von IPR-Normen<br />
Bsp: „Gesellschaft“<br />
Wie wird der Begriff „Gesellschaft“ ausgelegt? Es gibt die Möglichkeit der nationalen<br />
oder der internationalen Auslegung dieses Begriffes.<br />
Bei Staatsverträgen ist es klar: Die Auslegung von Staatsverträgen richtet sich nach<br />
der Wiener Konvention zur Auslegung von Verträgen (WKV).<br />
Auch das CISG soll autonom ausgelegt werden. Ein Begriff wird also so ausgelegt,<br />
wie es sich aus den Materialien zum betreffenden Erlass ergibt.<br />
Beim IPRG ist es strittig. Es handelt sich um nationales Gesetzesrecht. In der<br />
Schweiz gelten somit die klassischen schweizerischen Auslegungsmethoden. Das ist<br />
die herrschende Lehre in der Schweiz.<br />
Eine Mindermeinung vertritt die Auffassung, dass die Internationalität des IPRG berücksichtigt<br />
werden muss und somit seine Auslegung ebenfalls im Hinblick auf diese<br />
internationalen Aspekte geschehen muss.<br />
Wie ist nun der Begriff „Gesellschaft“ auszulegen?<br />
11
Art. 154 IPRG<br />
1 Gesellschaften unterstehen dem Recht des Staates, nach dessen Vorschriften sie organisiert sind,<br />
wenn sie die darin vorgeschriebenen Publizitäts- oder Registrierungsvorschriften dieses Rechts erfüllen<br />
oder, falls solche Vorschriften nicht bestehen, wenn sie sich nach dem Recht dieses Staates<br />
organisiert haben.<br />
[…]<br />
Eine schweizerische Gesellschaft wird also nach Schweizer Recht definiert. Das<br />
IPRG hat jedoch für sich einen eigenen Gesellschaftsbegriff:<br />
Art. 150 IPRG<br />
1 Als Gesellschaften im Sinne dieses Gesetzes gelten organisierte Personenzusammenschlüsse und<br />
[…]<br />
organisierte Vermögenseinheiten.<br />
Diese Definition weicht ab von der Definition in Art. 530 Abs. 1 OR.<br />
Dass ein Begriff durch das IPRG selbst definiert wird, ist der Idealfall. Leider gibt es<br />
diesen nicht so häufig. Die Ehe beispielsweise wird nicht genauer umschrieben. Ist<br />
es nun die Ehe im Sinne des ZGB? Die herrschende Meinung in der Schweiz sagt ja.<br />
4. Anwendung nationalen und ausländischen Rechts<br />
Es kann sein, dass der Schweizer Richter ausländisches Recht anwenden muss. Im<br />
Schweizer Recht gilt der Grundsatz des „iura novit curia“, also dass die Parteien den<br />
Sachverhalt vortragen. Auf dieser Grundlage entscheidet dann der Richter nach<br />
nationalem Recht, er muss also das Recht kennen. Gilt dies aber beispielsweise<br />
auch für das Recht von Burkina Faso?<br />
Als Kompromiss gilt im Schweizer Recht, dass der Richter die Möglichkeit hat, die<br />
Parteien einzuspannen und ihm das ausländische Recht vortragen zu lassen.<br />
II.<br />
IPR im engeren und weiteren Sinn<br />
IPR im engeren Sinne umfasst nur das so genannte Kollisions- oder Verweisungsrecht.<br />
Das Verweisungsrecht ist die Antwort auf die zweite Frage: Welches Recht ist<br />
anwendbar? Es handelt sich also um die Bestimmung des auf den internationalen<br />
Sachverhalt anwendbaren Rechts.<br />
IPR im weiteren Sinne ist das, was Art. 1 Abs. 1 IPRG umschreibt. Es regelt im internationalen<br />
Verhältnis die Frage nach<br />
- der Zuständigkeit<br />
- des anwendbaren Rechts und<br />
- der Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Entscheiden<br />
sowie die Fragen betreffend internationaler Nachlassvertrag und die Schiedsgerichtsbarkeit.<br />
Die lit. a und c des Art. 1 Abs. 1 IPRG fasst man zusammen zum „internationalen<br />
Zivilverfahrensrecht“. Ausserdem regelt das IPRG Sachnormen. Zählt<br />
man diese Normen ebenfalls dazu, erhält man das IPR im umfassenden Sinne.<br />
12
III.<br />
<strong>Privatrecht</strong>licher Bezug<br />
Der privatrechtliche Bezug ist jeweils vom Sachverhalt her gegeben. Die Parteien<br />
stehen sich auf der gleichen Ebene gegenüber. Es geht nicht um die Ausübung von<br />
hoheitlicher Gewalt, sondern um die Regelung von Verhältnissen zwischen Privaten;<br />
gegebenenfalls auch zwischen Privaten und dem Staat, wenn er fiskalisch handelt.<br />
Der Sachverhalt ist somit privatrechtlicher Natur – die Rechtsverhältnisse sind teilweise<br />
öffentlichrechtlicher Natur (vor allem Zuständigkeits- und prozessuale Fragen,<br />
Berufung, etc.).<br />
Fall 2 (nach Zivilgericht BS vom 1.2.1989, BJM 1991, S. 31 ff.): Die schweizerische<br />
T-AG führt für die in Kalifornien ansässige S-Inc. Transporte (unter anderem<br />
auch nach England) durch. Dafür stellte die S-Inc. Holzkisten zur Verfügung. Im<br />
Laufe der Jahre zweigte die T-AG wissentlich zahlreiche Holzkisten der S-Inc. ab.<br />
Das deswegen von der S-Inc. angerufene kalifornische Gericht sprach ihr in Anwendung<br />
des englischen Rechts (die Parteien hatten diesbezüglich eine Rechtswahl<br />
getroffen) einen Schadenersatzanspruch i. H. v. USD 120'060.-- und USD 50'000.--<br />
als sog. „punitive damages“ zu. Das Urteil wurde rechtskräftig. Mit den „punitive damages“<br />
sollen einerseits ungerechtfertigte Bereicherungen ausgeglichen und andererseits<br />
der Schädiger und Dritte von einem solchen Verhalten abgeschreckt werden.<br />
Die S-Inc. will das Urteil in der Schweiz vollstrecken lassen. Bewegt sich der Fall im<br />
Anwendungsbereich des IPRG?<br />
Ist hier ein internationaler Sachverhalt gegeben?<br />
Ist das IPR hier einschlägig?<br />
Die tatsächliche Natur des Rechtsverhältnisses ist offenbar von internationaler Art.<br />
Angesprochen sind einerseits die Schweiz – andererseits die USA. Es stellt sich<br />
jedoch die Frage der Relevanz. Es kommt nicht auf die Internationalität des Sachverhaltes,<br />
sondern auf die Internationalität der Fragestellung an (vgl. Art. 1 IPRG).<br />
In casu geht es um die dritte Fragestellung, um die Anerkennung und Vollstreckung<br />
eines ausländischen Entscheides in der Schweiz. Die Internationalität ist somit im<br />
Hinblick auf diese Fragestellung zu beurteilen. Es kommt nicht darauf an, ob der<br />
Sachverhalt international ist, sondern es kommt bei Anerkennungs- und Vollstreckungsfragen<br />
nur darauf an, ob insoweit – also bezogen auf diese Fragestellung der<br />
Anerkennung und Vollstreckung – ein internationaler Sachverhalt gegeben ist. Das<br />
ist immer dann der Fall, wenn ein ausländisches Urteil in der Schweiz anerkannt und<br />
vollstreckt werden soll. Es geht also darum, dass ein ausländisches Urteil vorliegt<br />
und ein Schweizer Richter entscheiden soll, ob dieses Urteil anerkannt und vollstreckt<br />
werden soll.<br />
Dass es sich in casu bei der T-AG um eine schweizerische Gesellschaft handelt, sich<br />
der Sachverhalt in den USA abspielt und diverse ausländische Vertragsparteien<br />
angesprochen werden, spielt für die Internationalität in Bezug auf die Fragestellung<br />
der Anerkennung und Vollstreckung erst einmal keine Rolle.<br />
Für die Beurteilung der Internationalität im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung<br />
ist also nur relevant, dass es sich um ein ausländisches Urteil handelt, welches<br />
in der Schweiz vollstreckt werden soll.<br />
Die Internationalität ist somit gegeben.<br />
13
Es stellt sich nun die Frage, ob das schweizerische IPRG überhaupt anwendbar ist.<br />
Hierzu muss der Sachverhalt nicht nur einen relevanten internationalen Bezug aufweisen,<br />
sondern es muss sich dabei auch um einen privatrechtlichen Sachverhalt<br />
handeln.<br />
Welches Rechtsgebiet ist betroffen? Handelt es sich überhaupt um <strong>Privatrecht</strong>?<br />
In casu wurde die Schweizerische T-AG zu „punitive damages“ verurteilt. Dabei handelt<br />
es sich um eine Institution des angloamerikanischen Rechts, welche den Zweck<br />
der Abschreckung und Bestrafung verfolgt. Es handelt sich also nicht mehr um einen<br />
Ausgleich für den erlittenen Schaden, sondern es werden weitere Elemente (wie<br />
beispielsweise Busse, Genugtuung oder Prävention) mit dem Begriff des Schadenersatzes<br />
verknüpft.<br />
Der Sachverhalt ist sicherlich ein privatrechtlicher. Prinzipiell steht der Vollstreckung<br />
des Urteils nichts im Weg. Art. 25 ff. IPRG schreiben zwar nicht ausdrücklich vor,<br />
dass nur privatrechtliche Urteile anerkannt und vollstreckt werden. Dies ergibt sich<br />
allerdings aus dem Systemzusammenhang. Das IPRG befasst sich ja generell mit<br />
dem internationalen <strong>Privatrecht</strong>. Weiter ergibt sich aus den Materialien zum IPRG,<br />
dass der Schweizer Gesetzgeber mit den Art. 25 ff. IPRG nicht die Anerkennung und<br />
Vollstreckung von ausländischen öffentlich-rechtlichen oder strafrechtlichen Entscheiden<br />
regeln wollte.<br />
In Bezug auf die „punitive damages“ ist das Urteil jedoch materiellrechtlich ein Strafurteil.<br />
Da die Parteien jedoch bewusst englisches Recht zur Anwendung bringen<br />
wollen, müssen sie sich der Gefahr der punitive damages bewusst sein. Das Strafelement<br />
von USD 50'000.-- kann daher auch als ‚privatrechtlich vereinbart’ angesehen<br />
werden.<br />
Art. 27 IPRG<br />
1 Eine im Ausland ergangene Entscheidung wird in der Schweiz nicht anerkannt, wenn die Anerkennung<br />
mit dem schweizerischen Ordre public offensichtlich unvereinbar wäre.<br />
[…]<br />
Im Vergleich zum eben behandelten Fall 2 ging es im Fall 1 eindeutig um ein Strafurteil.<br />
Das IPRG ist somit nur im Fall 2 einschlägig.<br />
14
B. Benachbarte Rechtsgebiete<br />
I. Andere Kollisionsrechte<br />
1. Kollisionsrecht mit öffentlich-rechtlichem Bezug<br />
Das internationale <strong>Privatrecht</strong> ist abzugrenzen von folgenden weiteren Rechtsgebieten:<br />
- internationales Verwaltungsrecht<br />
- internationales Steuerrecht<br />
- internationales öffentliches Wirtschaftsrecht, insbesondere Aufsichtsrecht wie<br />
o Bankenaufsichtsrecht<br />
o Versicherungsaufsichtsrecht<br />
o Börsenaufsichtsrecht<br />
- internationales Strafrecht<br />
An der Grenze zum IPRG zu zählen ist jedoch das Kartellrecht. Dieses ist nach einer<br />
umstrittenen Auffassung noch zum <strong>Privatrecht</strong> zu zählen.<br />
Beispiel: BGE 124 IV 73 (Lotterie im Ausland); territoriale Anwendbarkeit von UWG und LG<br />
(UWG 3, 23; LG 4; 38; StGB 3 Ziff. 1 Abs. 1, 7 I und 333 I):<br />
Sachverhalt: Das Unternehmen X betrieb unter anderem für Gesellschaften mit Sitz in Costa Rica und<br />
in Nassau (Bahamas) die EDV-mässige Verarbeitung von Warenbestellungen, die Auslieferung von<br />
Waren und das Inkasso. Sie stellte diesen Unternehmen, welche per Post verschiedene Werbegewinnspiele<br />
in Deutschland, Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei veranstalteten, ihre schweizerische<br />
Postfachadresse zur Verfügung und wirkte an der Durchführung dieser Veranstaltungen mit.<br />
Die beiden Gesellschafter C. und H. der X. wurden von den kantonalen Instanzen wegen Widerhandlungen<br />
gegen UWG 23 i.V.m. 3 lit. b und lit. h sowie LG 38 zu bedingten Freiheitsstrafen und Bussen<br />
verurteilt. C. und H. gelangten daraufhin mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde ans Bundesgericht.<br />
Entscheidung: Das Bundesgericht befasste sich im Entscheid mit der territorialen Anwendbarkeit von<br />
UWG und LG. C. und H. brachten vor, die beiden Gesetze seien in casu nicht anwendbar, da ausschliesslich<br />
Kunden im Ausland durch die betreffenden Schreiben angesprochen worden seien. Das<br />
Bundesgericht stellte zuerst fest, dass sich der räumliche Geltungsbereich des UWG aufgrund von<br />
StGB 333 I nach den StGB 3 bis 7 bestimme. Zu beachten sei diesbezüglich StGB 3 Ziff. 1 Abs. 1,<br />
wonach das schweizerische StGB auf diejenigen Personen Anwendung finde, welche in der Schweiz<br />
ein Delikt begehen. Gemäss StGB 7 I gelte ein Delikt als dort verübt, wo es der Täter ausführt und wo<br />
der Erfolg eingetreten ist. Bei strafrechtlichen Sanktionen käme das im privatrechtlichen Lauterkeitsrecht<br />
geltende Auswirkungsprinzip nicht zur Anwendung, wonach Ansprüche aus unlauterem Wettbewerb<br />
dem Recht desjenigen Staates unterstehen, auf dessen Markt die unlautere Handlung ihre<br />
Wirkung entfaltet. Folglich sei das UWG auf die Handlungen der Beschwerdeführer in casu anwendbar.<br />
Dies ergebe sich im Übrigen auch aus der Botschaft des Bundesrates zum Klagerecht des Bundes<br />
gemäss UWG 10 II lit. c UWG. Da unlautere Werbe- und Verkaufsmethoden der vorliegenden Art<br />
gegenüber Personen im Ausland das Ansehen der schweizerischen Wirtschaft in Verruf brächten und<br />
sich indirekt auch auf die Wettbewerbsfähigkeit von seriösen Schweizer Unternehmen nachteilig<br />
auswirken könnten, bejahte das Bundesgericht in der Folge auch die Anwendbarkeit des LG und<br />
lehnte die Nichtigkeitsbeschwerde daher ab.<br />
Hier zeigt sich die unklare Grenzziehung zwischen Strafrecht und <strong>Privatrecht</strong>. Das<br />
UWG ist ein privatrechtlicher Erlass. Dennoch sieht es strafrechtliche Sanktionen vor.<br />
Es stellt sich somit die Frage, ob der geschilderte Fall in den Bereich des Privat- oder<br />
des Strafrechts fällt und daher entweder das internationale <strong>Privatrecht</strong> oder das internationale<br />
Strafrecht Anwendung findet.<br />
15
2. Interlokales Kollisionsrecht<br />
Ebenfalls vom internationalen <strong>Privatrecht</strong> abzugrenzen, ist das interlokale <strong>Privatrecht</strong>.<br />
Dabei handelt es sich um innerstaatliches Kollisionsrecht. Es stellt sich beispielsweise<br />
die Frage, ob innerhalb der USA der New Yorker Richter kalifornisches<br />
Recht anzuwenden hat.<br />
Grundsätzlich bleibt diese Frage vom IPR völlig unberührt. Es verweist beispielsweise<br />
nur auf das amerikanische Recht. Ob nun kalifornisches oder texanisches Recht<br />
zur Anwendung gelangt, bleibt dem amerikanischen Recht überlassen.<br />
!<br />
ACHTUNG<br />
Hier gibt es allerdings eine Ausnahme im Bereich der Zuständigkeitsregelung.<br />
Beispielsweise wird im IPRG beim „Ort der gelegenen<br />
Sache“ direkt auf einen konkreten Ort verwiesen – Zürich,<br />
Bern, etc. Es wird also nicht auf ein Gericht eines bestimmten<br />
Staates verwiesen, sondern direkt auf einen konkreten Ort.<br />
3. Personales Kollisionsrecht<br />
Das personale Kollisionsrecht spielt keine grosse Rolle. Hier sind als Beispiele die<br />
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgruppe oder die Stammesrechtsordnungen<br />
bestimmter afrikanischer Stämme zu erwähnen.<br />
4. Intertemporales Kollisionsrecht (Art. 196 ff. IPRG)<br />
Art. 196 IPRG<br />
1 Die rechtlichen Wirkungen von Sachverhalten oder Rechtsvorgängen, die vor Inkrafttreten dieses<br />
Gesetzes entstanden und abgeschlossen sind, beurteilen sich nach bisherigem Recht.<br />
[…]<br />
Das ist intertemporales Kollisionsrecht. Dieses regelt die zeitliche Abfolge mehrer<br />
IPR-Gesetze. Das führt dann zu Übergangsbestimmungen, wie sie viele andere<br />
Gesetze auch kennen.<br />
II.<br />
Materielles Einheitsrecht<br />
1. Begriff<br />
Es geht um ein materielles Recht, welches auf völkerrechtlicher Grundlage beruht<br />
(Staatsverträge, Übereinkommen, Abkommen). Es bindet jeden Mitgliedstaat oder<br />
Vertragsstaat unmittelbar, also ohne dass es eines speziellen Rezeptionsaktes bedürfte.<br />
Es handelt sich also um internationales <strong>Privatrecht</strong> im eigentlichen Wortsinn –<br />
jedoch nicht in dem Rahmen, in welchem er in der Vorlesung behandelt wird.<br />
16
Es gibt somit auch eine gewisse Konkurrenz zwischen IPR und materiellem Einheitsrecht.<br />
Es ist logisch, dass die Bedeutung des IPR abnimmt, je mehr internationales<br />
Einheitsrecht geschaffen wird.<br />
2. Beispiele<br />
Prominentestes Beispiel ist das internationale Einheitskaufrecht CISG.<br />
3. Abgrenzungen<br />
Zu denken sind jedoch auch an internationale Handelsbräuche oder internationales<br />
Gewohnheitsrecht. Das sind Modellgesetze, die nicht unmittelbar gelten, sondern nur<br />
als Vorschlag an den nationalen Gesetzgeber gerichtet sind, sich an diesen zu orientieren.<br />
4. Exkurs: Anwendungsvoraussetzungen des CISG<br />
a) Geltungsvereinbarungen der Parteien<br />
Privatautonome Vereinbarungen der Parteien sind zu respektieren. Sprechen sich<br />
die Parteien für die Anwendung des CISG aus, ist dies prinzipiell und unabhängig<br />
von anderen Anwendungsvoraussetzungen zu respektieren.<br />
Die Wahl ist jedoch nur im Rahmen des jeweiligen nationalen Rechts zulässig. Nur<br />
wenn das betreffende nationale Recht eine Wahl zugunsten des Einheitsprivatrechts<br />
akzeptiert, ist diese auch möglich.<br />
Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass das nationale Recht aufgrund zwingender<br />
nationaler Bestimmungen gewisse Regelungen des CISG nicht zulässt.<br />
b) Voraussetzungen der autonomen Anwendung (Art. 1 Abs. 1 lit. a CISG)<br />
- die Vertragsparteien haben ihre Niederlassungen (Art. 10 CISG) in unterschiedlichen<br />
Vertragsstaaten. Diese Niederlassung muss gemäss Art. 1 II<br />
CISG für die Vertragsparteien ausserdem erkennbar gewesen sein.<br />
- das angerufene Gericht (welches gemäss IPR auch zuständig sein muss) ist<br />
zur Anwendung des CISG verpflichtet, weil:<br />
o es sich in einem Vertragsstaat befindet oder<br />
o es aufgrund des am Gerichtsort geltenden und auf das Recht eines<br />
Vertragsstaates verweisenden IPR zur Anwendung des CISG verpflichtet<br />
ist<br />
- keine kollisionsrechtliche oder (partielle) materiellrechtliche Abwahl des CISG<br />
Hier gilt die Parteiautonomie im negativen Sinne also zulasten des CISG. Die<br />
Parteien können das CISG ausdrücklich abwählen und den Vertrag nicht dem<br />
17
UN-Kaufrecht unterstellen. Sie können das CISG generell oder aber auch nur<br />
einzelne Bestimmungen abwählen.<br />
c) Voraussetzungen der kollisionsrechtlichen Anwendung (Art. 1 Abs. 1 lit. b und<br />
95 CISG)<br />
- fehlen der niederlassungsmässigen Voraussetzungen nach Art. 1 Abs. 1 lit. a<br />
CISG<br />
- Kollisionsrechtliche Anwendung des Rechts eines CISG-Vertragsstaates<br />
durch das angerufene Gericht<br />
- keine kollisionsrechtliche oder (partielle) materiellrechtliche Abwahl des CISG<br />
Schliesslich kann aufgrund kollisionsrechtlicher Anwendungen das CISG massgeblich<br />
sein, wenn die Parteien nicht die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 lit. a CISG<br />
erfüllen, also ihre Niederlassungen nicht (erkennbar) in verschiedenen Vertragsstaaten<br />
haben.<br />
Trotzdem kann das anwendbare Kollisionsrecht das Recht eines Mitgliedstaates für<br />
anwendbar erklären. Wird beispielsweise auf das Schweizer Recht verwiesen, wird<br />
das UN-Kaufrecht mitanwendbar.<br />
Fall 3: Der peruanische Geschäftsmann K und seine Frau F (beide wohnhaft in Lima)<br />
begeben sich nach Basel. Dort kauft K bei V, einem Multimillionär und begeisterten<br />
Autofan mit riesigem Fuhrpark, dessen Rolls-Royce, einen Oldtimer, den schon der<br />
englische König George V benutzt haben soll. Bei den Verhandlungen erklärt K, dass<br />
er den Wagen ausschliesslich erwerben wolle, um mit F bei ihren zahlreichen Europabesuchen<br />
Ausflüge in noble Schweizer Skiorte zu unternehmen. V erwidert, dass<br />
K unbesorgt sein könne, weil der Wagen in einwandfreiem Zustand sei. V weiss,<br />
dass K in Peru wohnt. Als Gerichtsstand vereinbaren K und V Basel. Sofort nach<br />
dem Kauf machen K und F sich auf den Weg nach Davos. Schon an der Ausfahrt<br />
Pratteln gibt der Rolls-Royce seinen Geist auf, so dass K der F statt Fondue im<br />
Schnee nur Fleischbällchen bei IKEA bieten kann. Der schon im Zeitpunkt des Abschlusses<br />
des Kaufvertrages vorhandene Defekt war dem K bei seiner direkt nach<br />
der Übergabe vorgenommenen sorgfältigen Inspektion des Wagens nicht erkennbar.<br />
Am nächsten Tag fragt K seinen Anwalt A, ob er einen Anspruch gegen V auf Beseitigung<br />
des Defekts habe. Ihm sei deswegen daran gelegen, weil V einen begnadeten<br />
Mechaniker in seinen Diensten habe, dem er die Reparatur des teuren Gefährts viel<br />
eher zutraue als einer ansässigen Werkstatt. Was wird A erwidern? (Die Zuständigkeit<br />
eines schweizerischen Gerichts ist zu unterstellen)<br />
Als erstes ist zu bestimmen, um welchen Fragekreis es sich im konkreten Fall handelt:<br />
Zuständigkeit, anwendbares Recht oder Anerkennung und Vollstreckung.<br />
In casu geht es um den zweiten Bereich des IPR: Die Frage nach dem anwendbaren<br />
Recht. Die Berufung von Basel als Gerichtsstand setzen wir als wirksam voraus.<br />
Es stellt sich nun die Frage, ob internationales Einheitsrecht massgeblich ist. In casu<br />
will K von V Nachbesserung seines Autos. Eine mögliche Anspruchsgrundlage für<br />
diese Nachbesserung wäre Art. 46 Abs. 3 CISG.<br />
18
Art. 46 CISG<br />
[…]<br />
(3) Ist die Ware nicht vertragsgemäß, so kann der Käufer den Verkäufer auffordern, die Vertragswidrigkeit<br />
durch Nachbesserung zu beheben, es sei denn, daß dies unter Berücksichtigung aller Umstände<br />
unzumutbar ist. Nachbesserung muss entweder zusammen mit einer Anzeige nach Artikel<br />
39 oder innerhalb einer angemessenen Frist danach verlangt werden.<br />
Es ist prinzipiell mit der Anspruchsgrundlage zu beginnen. Somit prüft man als erstes<br />
generell die Anwendbarkeit des CISG.<br />
Theoretischer Exkurs:<br />
Der Nachbesserungsanspruch ist im nationalen Recht auf Art. 368 Abs. 2 OR zu<br />
stützen.<br />
Art. 368 OR<br />
[…]<br />
2 Sind die Mängel oder die Abweichungen vom Vertrage minder erheblich, so kann der Besteller<br />
einen dem Minderwerte des Werkes entsprechenden Abzug am Lohne machen oder auch, sofern<br />
dieses dem Unternehmer nicht übermässige Kosten verursacht, die unentgeltliche Verbesserung<br />
des Werkes und bei Verschulden Schadenersatz verlangen.<br />
In casu geht es jedoch nicht um einen Werkvertrag, sondern um einen Kaufvertrag.<br />
Art. 368 Abs. 2 OR ist daher analog anzuwenden.<br />
Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts:<br />
- Parteivereinbarung: negativ<br />
- Autonome Anwendung:<br />
Wie bereits erwähnt findet die Verhandlung vor einem Basler Gericht statt. Es<br />
ist daher zuerst das Schweizer IPR zu konsultieren. Dieses verweist auf<br />
Schweizer Recht. Das CISG ist Bestandteil des Schweizer Rechts und kommt<br />
daher zur Anwendung.<br />
Sachlicher Anwendungsbereich: Art. 1 Abs. 1 CISG.<br />
Art. 1 CISG<br />
Dieses Übereinkommen ist auf Kaufverträge über Waren zwischen Parteien anzuwenden, die<br />
ihre Niederlassung in verschiedenen Staaten haben, wenn diese Staaten Vertragsstaaten sind<br />
[…]<br />
Art. 1 Abs. 1 CISG verlangt eine Ware, das Auto ist eine Ware, somit ist das<br />
CISG sachlich anwendbar.<br />
19
Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich<br />
Verlangt wird gemäss Art. 1 Abs. 1 CISG, dass sich die Niederlassungen der<br />
Parteien in verschiedenen Staaten befinden. Der Begriff „Niederlassung“ wird<br />
in Art. 10 CISG genauer ausgeführt.<br />
Art. 10 CISG<br />
Für die Zwecke dieses Übereinkommens ist,<br />
a) falls eine Partei mehr als eine Niederlassung hat, die Niederlassung maßgebend, die<br />
unter Berücksichtigung der vor oder bei Vertragsabschluß den Parteien bekannten<br />
oder von ihnen in Betracht gezogenen Umstände die engste Beziehung zu dem Vertrag<br />
und zu seiner Erfüllung hat;<br />
b) falls eine Partei keine Niederlassung hat, ihr gewöhnlicher Aufenthalt massgebend.<br />
K und F haben ihren Wohnsitz in Lima, V hat seinen Sitz in Basel. Die Niederlassungen<br />
der Parteien befinden sich somit in verschiedenen Staaten. Peru ist<br />
seit dem 25. März 1999 Vertragsstaat, die Schweiz seit dem 21. Februar<br />
1990. Die Parteien haben ihre Niederlassungen somit in verschiedenen Vertragsstaaten.<br />
Art. 2 CISG<br />
Dieses Übereinkommen findet keine Anwendung auf den Kauf<br />
a) von Ware für den persönlichen Gebrauch oder den Gebrauch in der Familie oder im<br />
Haushalt, es sei denn, dass der Verkäufer vor oder bei Vertragsabschluß weder wusste<br />
noch wissen musste, dass die Ware für einen solchen Gebrauch gekauft wurde,<br />
[…]<br />
Hier kommt es auf die Erkennbarkeit der persönlichen Verwendungsbestimmung<br />
an. Da K und F den Rolls-Roys gemäss Sachverhalt klar für den persönlichen<br />
Gebrauch verwenden wollen, ist das UN-Kaufrecht in casu nicht<br />
anwendbar.<br />
Eine autonome Anwendbarkeit des CISG ist somit ebenfalls zu verneinen. In Frage<br />
kommen könnte noch die dritte Möglichkeit:<br />
- kollisionsrechtliche Anwendbarkeit<br />
Dies würde jedoch ebenfalls an Art. 2 CISG scheitern.<br />
Fazit: Das CISG ist wegen Art. 2 lit. a CISG nicht anwendbar.<br />
Ein anderes internationales Einheitsrecht ist für diesen Sachverhalt nicht einschlägig,<br />
denn für Kaufverträge gibt es nur das CISG. Es gibt somit nur noch die Möglichkeit<br />
des Rückgriffs auf nationales Recht, womit Art. 368 Abs. 2 OR analog zur Anwendung<br />
käme.<br />
Vorfrage: Ist überhaupt Schweizer Recht anwendbar?<br />
Das zuständige Basler Gericht entscheidet diese Frage nach dem eigenen IPRG,<br />
beziehungsweise nach internationalen Übereinkommen, welche für die Schweiz<br />
massgeblich sind.<br />
In casu ist dies das „Haager-Übereinkommen betreffend das auf internationale Kaufverträge<br />
über bewegliche körperliche Sachen anzuwendende Recht“.<br />
20
!<br />
ACHTUNG<br />
Staatsvertragliche Regelungen haben gegenüber dem nationalen<br />
IPRG Vorrang (Art. 1 Abs. 2 IPRG).<br />
Diese Übereinkommen regelt eine Problematik des zweiten Fragekreises im sehr<br />
eng begrenzten Bereich der internationalen Kaufverträge über bewegliche körperliche<br />
Sachen.<br />
Sachliche Anwendbarkeit:<br />
Diese ist anzunehmen, weil es sich um eine bewegliche Sache handelt. Weiter sind<br />
gemäss Art. 2 des Übereinkommens Rechtswahlvereinbarungen der Parteien vorrangig.<br />
In casu haben sie jedoch nicht eine Rechtswahl getroffen, sondern nur einen<br />
Gerichtsstand vereinbart.<br />
Art. 3 Haager-Übereinkommen<br />
Fehlt eine Erklärung der Parteien über das anzuwendende Recht, die den Erfordernissen des vorstehenden<br />
Artikels genügt, so untersteht der Kaufvertrag dem innerstaatlichen Recht des Landes, in dem<br />
der Verkäufer zu dem Zeitpunkt, an dem er die Bestellung empfängt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt<br />
hat…<br />
Massgeblich ist somit der Aufenthalt in dem Zeitpunkt, in welchem der Verkäufer die<br />
Bestellung empfängt. Dem Recht des Aufenthaltsortes wird sodann der Kaufvertrag<br />
unterstellt. In casu hat der Verkäufer im Augenblick des Empfangs des Rolls seinen<br />
gewöhnlichen Aufenthalt in Basel. Nach dem Übereinkommen wäre somit Schweizer<br />
Recht anwendbar.<br />
Es ist jedoch noch zu überprüfen, ob der Basler Richter überhaupt das Haager-<br />
Übereinkommen anwenden kann. Wieso prüft er zuerst das Übereinkommen und<br />
nicht Art. 117 IPRG?<br />
Art. 117 IPRG<br />
1 Bei Fehlen einer Rechtswahl untersteht der Vertrag dem Recht des Staates, mit dem er am engsten<br />
zusammenhängt.<br />
2 Es wird vermutet, der engste Zusammenhang bestehe mit dem Staat, in dem die Partei, welche die<br />
charakteristische Leistung erbringen soll, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder, wenn sie den Vertrag<br />
aufgrund einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit geschlossen hat, in dem sich ihre Niederlassung<br />
befindet.<br />
Die Antwort lautet: Staatsverträge haben Vorrang (Art. 1 Abs. 2 IPRG). Weiter verweist<br />
Art. 118 IPRG ausdrücklich auf das Haager-Übereinkommen.<br />
Art. 118 IPRG<br />
1 Für den Kauf beweglicher körperlicher Sachen gilt das Haager Übereinkommen vom 15. Juni 1955<br />
betreffend das auf internationale Kaufverträge über bewegliche körperliche Sachen anzuwendende<br />
Recht.<br />
2 Artikel 120 ist vorbehalten.<br />
21
Das Haager-Übereinkommen ist anwendbar, dieses beruft in Art. 3 das Schweizer<br />
Recht. Der Basler Richter hat somit das Schweizer Recht anzuwenden.<br />
Bei der Prüfung der Art. 197 ff. OR kommt man dann zu einem negativen Ergebnis,<br />
da das Schweizer Recht keinen Nachbesserungsanspruch kennt. In Frage kommt<br />
höchstens eine analoge Anwendung von Art. 368 Abs. 2 OR.<br />
K hat somit prinzipiell keinen Anspruch auf Nachbesserung, da das CISG nicht anwendbar<br />
ist und das Schweizer Kaufrecht keinen Nachbesserungsanspruch vorsieht.<br />
Einzig das Werkvertragsrecht des Art. 368 OR sieht einen Nachbesserungsanspruch<br />
vor, womit ein solcher in casu eventuell diskutabel wäre.<br />
III.<br />
Unilaterales materielles Sonderrecht für internationale Sachverhalte<br />
1. Begriff<br />
Es geht um Sachnormen, welche internationale Sachverhalte regeln und betreffen<br />
und deshalb einen Berührungspunkt zum IPR aufweisen. Sie betreffen aber nicht<br />
eine der drei typischen Fragestellungen des IPR (1. Zuständigkeit, 2. anwendbares<br />
Recht, 3. Anerkennung und Vollstreckung), sondern materiellrechtliche Fragen.<br />
2. Formen<br />
Es gibt drei Arten dieser unilateralen also national materiellrechtlichen Regelungen,<br />
die einen internationalen Sachverhalt betreffen:<br />
a) Fremdenrechtliche Normen<br />
Fremdenrechtliche Normen sind Normen, welche an die Staatsangehörigkeit, bzw.<br />
bei juristischen Personen, welche keine Staatsangehörigkeit, sondern ein Sitz haben,<br />
an die Staatszugehörigkeit anknüpfen.<br />
Bsp. Lex Koller<br />
b) Sachnormen des IPR<br />
Bei Sachnormen des IPR handelt es sich um eine materiellrechtliche Regelung einer<br />
Sachlage, welche explizit im IPRG geregelt wird (z.B. Art. 116 Abs. 2 IPRG).<br />
Beispiel: IPRG 102 II und BGE 131 III 595 (Ungültigwerden eines im Ausland begründeten Eigentumsvorbehalts<br />
bei Nichteintragung):<br />
Der Entscheid betrifft die praktisch bedeutsame Problematik der Gefährdung von Mobiliarsicherheiten<br />
beim Grenzübertritt des Sicherungsobjekts. Ein im Ausland (in casu: Österreich) begründeter Eigentumsvorbehalt<br />
an einer in die Schweiz gelangte Sache wird, wenn er nicht nach ZGB 715 I in das<br />
öffentliche Register am Wohnort des Erwerbers eingetragen wird, nach Ablauf der dreimonatigen<br />
Schonfrist ungültig (IPRG 102 II), weil dem Eintragungserfordernis nach ständiger Rechtsprechung<br />
Ordre-public-Charakter zukommt (BGE 106 II 197 E.4). Die Erkennbarkeit dinglicher Rechte (Publizitätsgrundsatz)<br />
hat nach Ansicht des BGer unbedingten Vorrang vor dem Interesse des ausländischen<br />
Vertragspartners an der Gültigkeit des Eigentumsvorbehalts.<br />
22
c) Sonstige Sachnormen mit Auslandsbezug<br />
Im nationalen Recht gibt es ebenfalls Normen, welche einen Sachverhalt mit Auslandsbezug<br />
regeln. Beispiele wären die Art. 84 II sowie 95 I OR.<br />
IV.<br />
Völkerrecht<br />
Beim Völkerrecht handelt es sich um Rechtsregeln betreffend Rechte und Pflichten<br />
der Staaten. Adressaten des Völkerrechts sind somit nicht <strong>Privatrecht</strong>ssubjekte,<br />
sondern die verschiedenen Staaten. Es regelt die verschiedenen Beziehungen dieser<br />
Völkerrechtssubjekte untereinander. Berührungspunkte zum IPR sind<br />
- Staatsverträge, welche nach völkerrechtlichen Regeln ausgelegt werden (beispielsweise<br />
nach der Wiener Vertragsrechtskonvention)<br />
- Ordre-public-Vorbehalt<br />
Art. 17 IPRG erwähnt den Ordre-public. Diese Vorbehalte berücksichtigen neben<br />
nationalen Rechtsinstituten wie pacta sunt servanda oder den nationalen<br />
Verfassungsrechten auch völkerrechtliche Rechtsgrundsätze.<br />
- Problem der extraterritorialen Wirkung von Rechtsakten<br />
Beispiel:<br />
Fall 4 (nach Präsident der Rechtbank Den Haag, ILM 22 (1983), 66 = RabelsZ<br />
47 (1983), 141 mit Anm. Basedow):<br />
Die Sensor Nederland B.V. ist eine in den Niederlanden domizilierte Enkelgesellschaft<br />
einer US-amerikanischen Gesellschaft. Sensor verpflichtet sich gegenüber<br />
der französischen C.E.P. S.A. zur Lieferung von seismographischen<br />
Geräten, die im Bereich der Erdgasförderung einsetzbar sind. Mit Ausrufung<br />
des Kriegsrechts in Polen 1981 verhängen die USA verschieden Embargomassnahmen<br />
im Bereich der Erdgastechnologie. Nicht nur den USamerikanischen<br />
Unternehmen, sondern auch ihren ausländischen Lizenznehmern<br />
und Tochtergesellschaften wird die Ausfuhr von Erdgastechnologieprodukten<br />
verboten. Bei Verstössen gegen die entsprechenden Verbote drohen<br />
den Unternehmen bzw. ihren Organmitgliedern drakonische Geld- und Freiheitsstrafen<br />
sowie der Entzug von Ausfuhrgenehmigungen für künftige Geschäfte.<br />
Mit Inkrafttreten der Embargomassnahmen und gegenüber der Vertragsverletzungsklage<br />
von C.E.P. beruft sich Sensor auf eine Befreiung von<br />
der Leistungspflicht wegen force majeure nach dem für den Vertrag massgeblichen<br />
Einheitskaufrecht (1981: Art. 74 Abs. 1 EKG). Mit Recht?<br />
Diese Embargomassnahme wirkt nicht nur auf US-amerikanische Gesellschaften,<br />
sondern auch auf Tochtergesellschaften, bspw. in Europa und auch deren<br />
Vertragspartner. Sie betrifft also auch Subjekte, welche keinerlei Berührungspunkte<br />
mit den USA haben. Die Massnahme wirkt extraterritorial.<br />
Hier stellt sich die Frage, ob ein Staat nach Völkerrecht eine Regelung erlassen<br />
darf, welche in die Souveränität eines anderen Staates eingreift.<br />
Das Völkerrecht anerkennt diese extraterritoriale Wirkung prinzipiell – allerdings<br />
mit Einschränkungen:<br />
23
o völkerrechtliches Interventions- und Rücksichtnahmegebot<br />
Wenn schon in die Souveränität eines anderen Staates eingegriffen<br />
wird, muss auf dessen Belange Rücksicht genommen werden. Dies<br />
läuft letztlich auf eine Abwägung hinaus.<br />
o Beachtung der Menschenrechte<br />
o Beschränkung des Auswirkungsprinzips<br />
o Erfordernis eines gewissen Inlandsbezugs der Massnahme nach dem<br />
Territorialitätsprinzip, Personalitätsprinzip, Auswirkungsprinzip oder<br />
Schutzprinzip<br />
Erläuterungen:<br />
- Auswirkungsprinzip<br />
Hat ein Sachverhalt, der schwerpunktmässig seinen Ursprung im Ausland hat,<br />
eine Auswirkung auf das eigene Territorium des regelnden Staates, darf dieser<br />
Massnahmen gegen diesen ausländischen Sachverhalt ergreifen.<br />
- Territorialitätsprinzip<br />
Ein Staat kann einen Sachverhalt regeln, dessen Erfolgseintritt sich auf dem<br />
Territorium des regelnden Staates befindet, der Ursprung sich aber im Ausland<br />
befindet.<br />
- Personalitätsprinzip<br />
Ein Staat kann die Verhaltensweise der eigenen Staatsangehörigen regeln,<br />
obwohl sich der Sachverhalt im Ausland abgespielt hat.<br />
Beispiel: Art. 3 ff. StGB<br />
Ein Sachverhalt, der sich im Ausland abspielt, kann durch ein Schweizer Gericht<br />
nach Schweizer Recht beurteilt werden, wenn dieser Sachverhalt auch im<br />
Ausland strafbar ist, die Schweizer Regelung aber eine günstigere Strafe vorsieht.<br />
- Schutzprinzip<br />
Im Vordergrund steht beim Schutzprinzip der Schutz eigener Staatsangehöriger.<br />
Insofern kann das eben genannte Beispiel auch für das Schutzprinzip herangezogen<br />
werden.<br />
Im oben erwähnten Sensor-Fall hat der angerufene Richter gegen die Sensor Nederland<br />
B.V. entschieden und die Vertragsverletzungsklage der C.E.P. gutgeheissen.<br />
V. Auslandsrechtskunde und Rechtsvergleichung<br />
Die Rechtsvergleichung hat einen sachlichen Bezug zum IPR. Ein Schweizer Richter<br />
kann gezwungen sein, ausländisches Recht anzuwenden. Daher muss er in der<br />
Lage sein, sich mit den ausländischen Kodifikationen auseinanderzusetzen. Weiter<br />
ist die Rechtsvergleichung wichtig bei der Interpretation von internationalem Einheitsrecht.<br />
24
C. Rechtsquellen<br />
I. Staatsvertrag<br />
1. Allgemeines<br />
Vor allem im internationalen Zivilverfahrensrecht spielen Staatsverträge eine entscheidende<br />
Rolle. Besonders im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung von<br />
ausländischen Entscheiden, sind Staatsverträge bedeutende Rechtsquellen.<br />
Bedeutsam sind vor allem die Staatsverträge der Haager Konferenz sowie das Lugano-Übereinkommen.<br />
Bei der Falllösung ist die Berücksichtigung von allfälligen Staatsverträgen deshalb<br />
besonders wichtig, weil diese aufgrund des Garantieprinzips gegenüber dem nationalen<br />
Recht einen Vorrang beanspruchen.<br />
Dieser Vorrang wird im Übrigen durch den Art. 1 Abs. 2 IPRG noch einmal bestätigt.<br />
Um sich einen Überblick über die verschiedenen Staatsverträge der Schweiz machen<br />
zu können, muss man die systematische Sammlung zu Rate ziehen. Die wichtigsten<br />
Staatsverträge für das IPR haben die Nummern 0.211 sowie 0.274.<br />
Die wichtigste internationale Organisation zur Vereinheitlichung des IPR ist die Haager<br />
Konferenz, gegründet 1893. Von den knapp 40 Konventionen, welche die Haager<br />
Konferenz ausgearbeitet hat, sind in der Schweiz 2001 nur gerade 12 in Kraft gewesen.<br />
Ein Staatsvertrag ist ein völkerrechtlicher Vertrag, womit die Wiener Vertragsrechtskonvention<br />
(WVK) Geltung erlangt. Die Staatsverträge selber erlangen ihre Geltung<br />
aufgrund von Art. 5 IV BV, sie werden durch die Bundesversammlung genehmigt<br />
(Art. 166 II) und durch den Bundesrat unterzeichnet (Art. 184 II BV). Mit der Ratifikation<br />
durch den Bundesrat tritt der Staatsvertrag in der Schweiz als unmittelbar geltendes<br />
Recht in Kraft. Man spricht in diesem Zusammenhang vom sog. Monismus –<br />
dies im Gegensatz zum dualistischen Modell, wobei es einer Transformation des<br />
Vertrages in das nationale Recht bedarf.<br />
Aufgrund des Art. 190 BV sind völkerrechtliche Verträge für alle rechtsanwendenden<br />
Behörden massgeblich.<br />
Relevante Gesetzesbestimmungen<br />
Art. 5 BV<br />
[…]<br />
4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.<br />
Art. 166 BV<br />
[…]<br />
2<br />
Sie [die Bundesversammlung] genehmigt die völkerrechtlichen Verträge; ausgenommen sind die<br />
Verträge, für deren Abschluss auf Grund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat<br />
zuständig ist.<br />
25
Art. 184 BV<br />
[…]<br />
2 Er [der Bundesrat] unterzeichnet die Verträge und ratifiziert sie. Er unterbreitet sie der Bundesversammlung<br />
zur Genehmigung.<br />
Art. 190 BV<br />
Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden<br />
Behörden massgebend.<br />
2. Arten von Staatsverträgen<br />
a) Klassifikation nach der Zahl der Vertragsstaaten<br />
- Abkommen<br />
Abkommen sind bilaterale oder zweiseitige Staatsverträge also ein Konsens<br />
von zwei Vertragsstaaten.<br />
- Übereinkommen<br />
Übereinkommen sind multilaterale, mehrseitige Staatsverträge wie etwa das<br />
LugÜ oder die Übereinkommen der Haager Konferenz.<br />
b) Klassifikation nach der Beitrittsmöglichkeit<br />
- offene Staatsverträge<br />
Alle Staaten können beitreten.<br />
- halboffene Staatsverträge<br />
Bei halboffenen Staatsverträgen besteht eine Beitrittsmöglichkeit unter der<br />
Voraussetzung der Zustimmung der übrigen Signatarstaaten. Eine derartige<br />
Regelung findet sich beispielsweise im LugÜ (Art. 62 Abs. 1 lit. b).<br />
Art. 62 LugÜ<br />
(1) Dem Übereinkommen können nach seinem Inkrafttreten beitreten<br />
a) […]<br />
b) andere Staaten, die auf ein an den Depositarstaat gerichtetes Ersuchen eines Vertragsstaates<br />
hin zum Beitritt eingeladen worden sind. Der Depositarstaat lädt den<br />
betreffenden Staat zum Beitritt nur ein, wenn ihm nach Übermittlung des Inhalts der<br />
Mitteilungen, die der betreffende Staat nach Artikel 63 zu machen beabsichtigt, die<br />
Zustimmung aller Unterzeichnerstaaten sowie aller in Artikel 60 Buchstaben a und b<br />
bezeichneten Vertragsstaaten vorliegt.<br />
[…]<br />
- geschlossene Staatsverträge<br />
Die Beitrittsmöglichkeit ist auf gewisse, genau genannte Staaten beschränkt.<br />
26
c) Klassifikation nach der Wirkungsweise<br />
- Staatsverträge auf Gegenseitigkeit<br />
Der Staatsvertrag soll nur unter den Vertragsstaaten wirken. Das ist beispielsweise<br />
auch der Grundsatz beim LugÜ.<br />
- Staatsverträge mit erga-omnes-Wirkung (sog. lois uniformes)<br />
Der Staatsvertrag soll gegenüber jedermann gelten also auch gegenüber<br />
nicht-Vertragsstaaten. Voraussetzung ist, dass sich das anwendende Gericht<br />
in einem Vertragsstaat befindet.<br />
Beispiel ist das New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung<br />
ausländischer Schiedssprüche. Art. 192 Abs. 2 IPRG verweist auf<br />
dieses Übereinkommen und erklärt es ausdrücklich für anwendbar.<br />
Art. 192 IPRG<br />
1 […]<br />
2 Haben die Parteien eine Anfechtung der Entscheide vollständig ausgeschlossen und sollen<br />
die Entscheide in der Schweiz vollstreckt werden, so gilt das New Yorker Übereinkommen<br />
vom 10. Juni 1958 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche<br />
sinngemäss.<br />
- Mischformen<br />
Art. 16 und 17 LugÜ enthalten Regeln mit erga-omnes-Wirkung. Es reicht<br />
nicht unbedingt, immer zu sagen, ein Staatsvertrag sei prinzipiell auf Gegenseitigkeit<br />
geschlossen. Er kann trotzdem einzelne Regelungen mit ergaomnes-Wirkung<br />
enthalten, was jedoch eher die Ausnahme ist.<br />
Auch ein Staatsvertrag, der prinzipiell erga omnes wirkt, kann Gegenseitigkeitsvorbehalte<br />
zur Absicherung der Vertragsstaaten enthalten.<br />
d) Klassifikation nach dem Regelungsgegenstand<br />
- Convention simple<br />
Staatsvertrag, der nur die Anerkennung und Vollstreckung – also den dritten<br />
Fragekreis – regelt<br />
- Convention double<br />
Staatsvertrag, welcher zum dritten Fragekreis zusätzlich den ersten Fragekreis<br />
regelt, also:<br />
o Anerkennung und Vollstreckung und<br />
o Zuständigkeit der Gerichte<br />
- Convention triple<br />
Staatsvertrag, der alle drei Fragekreise des IPR regelt<br />
27
3. Anwendungsbereich von Staatsverträgen<br />
a) sachlicher Anwendungsbereich<br />
Bsp. Kaufvertrag, Familienrecht, etc.<br />
b) Personeller Anwendungsbereich<br />
Welche Personen sind betroffen? Ist der Personenkreis anderweitig beschränkt?<br />
Bsp. Konsumenten<br />
c) Räumlicher Anwendungsbereich<br />
Ein Staat regelt einen Sachverhalt für sein Territorium und seine Staatsangehörigen.<br />
d) Zeitlicher Anwendungsbereich<br />
Ist ein Sachverhalt betroffen, der nach oder vor Inkrafttreten des Staatsvertrages<br />
massgeblich ist?<br />
4. Garantie- und Günstigkeitsprinzip<br />
Das Garantieprinzip ist der Grundsatz: Der Staatsvertrag beansprucht Vorrang vor<br />
dem nationalen IPR (vgl. auch Art. 1 Abs. 2 IPRG).<br />
Eine Ausnahme hiervon macht jedoch das Günstigkeitsprinzip. Nach diesem Prinzip<br />
kann ausnahmsweise dennoch unter zwei Voraussetzungen das nationale Recht vor<br />
dem Staatsvertrag zur Anwendung kommen:<br />
- wenn das nationale Recht anders als der Staatsvertrag zur Anerkennung und<br />
Vollstreckbarkeit einer Entscheidung führt (sog. favor recognitionis)<br />
und<br />
- wenn der Staatsvertrag nicht gerade eine umfassende und abschliessende<br />
Einheitsregelung angestrebt hat (z.B. LugÜ).<br />
Fall 5: Der peruanische Geschäftsmann K (wohnhaft in Lima) begibt sich nach Basel.<br />
Dort kauft er bei V, einem Multimillionär und begeisterten Autofan mit riesigem Fuhrpark,<br />
mehrere Rolls-Royce-Oldtimer. Im Kaufvertrag wird die Fahrtüchtigkeit der<br />
Oldtimer vereinbart. Dem V ist bekannt, dass K die exquisiten Fahrzeuge erworben<br />
hat, um sie gewinnbringend in seiner Heimat Peru weiterzuverkaufen. Nach Bezahlung<br />
und Übergabe führt K direkt eine Inspektion durch. Dabei stellt er fest, dass sich<br />
sämtliche Fahrzeuge aufgrund von Marderschäden nicht starten lassen.<br />
28
K fragt seinen Anwalt A, nach welchem Recht sich mögliche Ansprüche aus Mängelgewährleistung<br />
richten. Was wird A antworten (die Zuständigkeit eines schweizerischen<br />
Gerichts ist zu unterstellen)?<br />
Das Haager Kaufrechtsübereinkommen (HKÜ) sowie das CISG sind anwendbar.<br />
Welches Recht ist nun anzuwenden? Die nationale Regelung des OR ist somit nicht<br />
direkt anwendbar, da die völkerrechtlichen Übereinkommen vorgehen.<br />
Sollte jedoch das HKÜ das CISG verdrängen, wäre via HKÜ dennoch das Schweizer<br />
Recht anwendbar. Umgekehrt hat das Einheitsrecht gegenüber dem Kollisionsrecht<br />
einen gewissen Vorrang.<br />
Jung: „…Das Kollisionsrecht ist immer die zweitbeste Lösung, es ist eine Brücke. Wir<br />
brauchen es nur dann, wenn wir kein materielles Einheitsrecht haben…“<br />
Das CISG, wie auch anderes materielles Einheitsrecht kann gegenüber den andern<br />
Staatsverträgen einen Vorrang beanspruchen.<br />
5. Autonome Auslegung<br />
Staatsverträge sind autonom auszulegen. Definitionen in den Staatsverträgen sind<br />
zu berücksichtigen. Ein Rückgriff auf schweizerische Begriffsinhalte ist ausgeschlossen.<br />
Der Vertrag ist so auszulegen, wie er es selber vorgibt, d.h. es sind primär vertragliche<br />
Auslegungskriterien zu berücksichtigen.<br />
Beispiel:<br />
Art. 7 CISG<br />
1 Bei der Auslegung dieses Übereinkommens sind sein internationaler Charakter und die Notwendigkeit<br />
zu berücksichtigen, seine einheitliche Anwendung und die Wahrung des guten Glaubens im<br />
internationalen Handel zu fördern.<br />
2 Fragen, die in diesem Übereinkommen geregelte Gegenstände betreffen, aber in diesem Übereinkommen<br />
nicht ausdrücklich entschieden werden, sind nach den allgemeinen Grundsätzen, die diesem<br />
Übereinkommen zugrunde liegen, oder mangels solcher Grundsätze nach dem Recht zu entscheiden,<br />
das nach den Regeln des internationalen <strong>Privatrecht</strong>s anzuwenden ist.<br />
Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen:<br />
1. autonome Auslegung, Berücksichtigung des internationalen Charakters<br />
2. nicht Zugrundelegung der nationalen Begrifflichkeit<br />
3. Grundsatz des guten Glaubens im internationalen Handel berücksichtigen<br />
Falls der konkrete Vertrag keine Auslegungskriterien enthält, ist auf die Wiener Vertragsrechtskonvention<br />
(WVK) zurückzugreifen (Art. 31 ff WVK). Gemäss WVK sind<br />
vorrangig und gleichwertig zu berücksichtigen: Wortlaut, Systematik und Teleologie.<br />
Diese Auslegungsmethoden gehen der historischen vor.<br />
Einzig im Entscheid BGE 105 II 49 ging das Bundesgericht sogar davon aus, dass<br />
dem Wortlaut eine noch gewichtigere Rolle zukomme. Es argumentierte, dass wenn<br />
der Wortlaut klar sei, gar nicht weiter ausgelegt werden müsse.<br />
Dieser Entscheid ist jedoch einhellig auf Kritik gestossen und entspricht nicht den<br />
internationalen Gepflogenheiten.<br />
29
Die entsprechende Auslegung soll auch die effektive Anwendung des entsprechend<br />
auszulegenden Staatsvertrages sicherstellen. Man spricht in diesem Zusammenhang<br />
vom Gebot des effet utile. Dabei soll das Vertragsziel möglichst gefördert werden<br />
und demnach soll der Vertrag entsprechend ausgelegt werden.<br />
Schliesslich sollen die Umstände des Vertragsschlusses und die vorbereitenden<br />
Arbeiten ergänzend berücksichtigt werden (vgl. WVK 32).<br />
Beispiel: Protokoll Nr. 2 zum LugÜ über die einheitliche Auslegung des Übereinkommens<br />
(Berücksichtigung ausländischer Entscheide zum LugÜ)<br />
II.<br />
IPRG<br />
Das Schweizer IPRG ist in Kraft seit dem 1. Januar 1989. Es handelt sich um ein<br />
international insgesamt sehr anerkanntes Regelungswerk.<br />
Man spricht von einer Gesamtkodifikation, da alle drei Fragekreise – Zuständigkeit,<br />
anwendbares Recht sowie Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Entscheiden<br />
in einer Kodifikation geregelt werden.<br />
III.<br />
Rechtsprechung<br />
- Bundesgericht<br />
- Kantonale Gerichte<br />
- Ausländische Gerichte (vgl. Protokoll Nr. 2 zum LugÜ)<br />
Nach diesem Protokoll sind Entscheide ausländischer Gerichte und des EuGH<br />
zu berücksichtigen.<br />
- EuGH (Protokoll Nr. 2 zum LugÜ und Erklärung der EFTA-<br />
Unterzeichnerstaaten zum LugÜ)<br />
Danach sollen die Gerichte der EFTA-Unterzeichnerstaaten, also auch die<br />
Schweizer Gerichte, bei der Auslegung des LugÜ „…den Grundsätzen gebührend<br />
Rechnung tragen, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der<br />
Europäischen Gemeinschaften und der Gerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen<br />
Gemeinschaften zu denjenigen Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens<br />
ergeben, die in ihrem wesentlichen Gehalt in das Luganer Übereinkommen<br />
übernommen worden sind…“.<br />
Zur Bedeutung der EuGH-Rechtsprechung siehe etwa BGE 123 III 414 ff. und<br />
BGE 125 III 108, 110<br />
Dies bedeutet, dass wenn die Schweizer Gerichte von den Präjudizen des EuGH<br />
abweichen wollen, dies besonders zu begründen haben. Es herrscht also ein besonderer<br />
Begründungszwang. Ausserdem müssen die Schweizer Gerichte selbst dann<br />
diese Entscheide berücksichtigen, wenn sich zwischenzeitliche Änderungen ergeben<br />
haben. Angesprochen sind damit Änderungen sachlicher Art, die es zumindest fraglich<br />
erscheinen lassen, ob der EuGH heute nochmals gleich entscheiden würde, wie<br />
beispielsweise 1980.<br />
30
D. Aufgaben des internationalen <strong>Privatrecht</strong>s<br />
I. Kollisionsrechtliche Gerechtigkeit<br />
1. Inhalt<br />
Die Frage des anwendbaren Rechts soll gerecht gelöst werden und zwar unter dem<br />
Gesichtspunkt des engsten Zusammenhangs. Es soll also ein Recht zuständig sein,<br />
das in dem Staat gilt, der einen engen Bezug zu diesem Sachverhalt hat. Weiter soll<br />
dieses Recht entscheiden, welches ebenfalls einen engen Bezug zum Sachverhalt<br />
hat. Man strebt eine kollisionsrechtliche Gerechtigkeit an.<br />
Das mit dem Sachverhalt am engsten verbundene Recht soll auch über den Rechtsstreit<br />
befinden. Das sagt beispielsweise Art. 117 Abs. 1 IPRG ausdrücklich.<br />
Art. 117 IPRG<br />
1 Bei Fehlen einer Rechtswahl untersteht der Vertrag dem Recht des Staates, mit dem er am engsten<br />
zusammenhängt.<br />
2 Es wird vermutet, der engste Zusammenhang bestehe mit dem Staat, in dem die Partei, welche die<br />
charakteristische Leistung erbringen soll, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder, wenn sie den Vertrag<br />
aufgrund einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit geschlossen hat, in dem sich ihre Niederlassung<br />
befindet.<br />
Dahinter steht die Überlegung, dass das am engsten mit dem Vertrag zusammenhängende<br />
Recht wohl auch das Recht ist, welches die Parteien vereinbart hätten.<br />
2. Instrumente zur Sicherung der kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit im IPR<br />
a) Differenzierung der Anknüpfung<br />
Es wird nicht nach einer Regel im Kindschaftsrecht und nach einer andern im Vertragsrecht<br />
angeknüpft, sondern es wird differenziert. Es wird weiter sogar noch innerhalb<br />
des Kindschaftsrechts differenziert. Im Familienrecht wird also bei Abschluss<br />
der Ehe gesondert an ein Recht angeknüpft, während für die finanziellen Folgen an<br />
andere Kriterien angeknüpft wird.<br />
b) Ausweichklausel (IPRG 15)<br />
Das Schweizer Recht ist berühmt für die Ausweichklausel in Art. 15 IPRG.<br />
Art. 15 IPRG<br />
1 Das Recht, auf das dieses Gesetz verweist, ist ausnahmsweise nicht anwendbar, wenn nach den<br />
gesamten Umständen offensichtlich ist, dass der Sachverhalt mit diesem Recht in nur geringem, mit<br />
einem anderen Recht jedoch in viel engerem Zusammenhang steht.<br />
2 Diese Bestimmung ist nicht anwendbar, wenn eine Rechtswahl vorliegt.<br />
Dies ist die Berücksichtigung des Grundsatzes von Art. 117 I IPRG. Verweist also<br />
eine Kollisionsnorm auf ein Recht, welches einen geringeren Bezug zu einem Sachverhalt<br />
hat, als es ein anderes Recht hätte, kann über Art. 15 IPRG korrigierend<br />
31
eingegriffen werden. Dies ist Ausfluss des Grundsatzes der kollisionsrechtlichen<br />
Gerechtigkeit.<br />
II.<br />
Materiellrechtliche Gerechtigkeit<br />
1. Inhalt<br />
Das Kollisionsrecht ist eine Vorsaussetzung um zum materiell gerechten Ergebnis zu<br />
kommen. Es ist jedoch keine Garantie: Liegt kollisionsrechtliche Gerechtigkeit vor,<br />
brauch gleichzeitig nicht auch unbedingt schon materiellrechtliche Gerechtigkeit<br />
vorzuliegen. Es wurde lediglich ein Recht bestimmt, welches zum Sachverhalt einen<br />
engen Zusammenhang aufweist. Dies kann aber ein Recht sein, das beispielsweise<br />
nach der Religionszugehörigkeit Differenzierungen oder gar Diskriminierungen vornimmt.<br />
Dann handelt es sich nicht um ein materiell gerechtes Recht. Das Ergebnis ist<br />
mit anderen Worten ungerecht.<br />
In diesen Fällen stellt das IPRG verschiedene Instrumente zur Verfügung, um dieses<br />
ungerechte Ergebnis zu korrigieren (Stichwort: Ordre public, etc.).<br />
2. Instrumente zur Sicherung der materiellen Gerechtigkeit im IPR<br />
a) Favorisierung<br />
Begriff<br />
Arten:<br />
- favor negotii<br />
- favor testamenti<br />
- favor infantis<br />
- favor laesi<br />
b) Sonderanknüpfungen<br />
c) Materiellrechtlicher Ordre-public-Vorbehalt (LugÜ 27 Ziff. 1, IPRG 17, 27 I)<br />
Begriff und Beispiele<br />
d) Vorbehaltsklauseln<br />
IPRG 18 (Vorbehalt zugunsten von sog. Eingriffsnormen des schweizerischen<br />
Rechts)<br />
IPRG 19 (Vorbehalt zugunsten von ausländischen Eingriffsnormen)<br />
e) Sachnormen im IPR<br />
32
E. Allgemeines Vorgehen bei der Prüfung eines IPR-Falls<br />
Prüfungsschema:<br />
1. Ermittlung der IPR-spezifischen Fragestellung<br />
- Ist nach der Zuständigkeit des Gerichts gefragt?<br />
- Ist nach dem anwendbaren Recht gefragt?<br />
- Ist nach Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils in der<br />
Schweiz gefragt?<br />
2. Inhaltliche Zuordnung der Fragestellung zu einem bestimmten Rechtsbereich<br />
Der Sachverhalt ist grob einem Rechtsgebiet zuzuordnen.<br />
Beispiel:<br />
Geht es um:<br />
- die Handlungsfähigkeit<br />
- den Konsens<br />
- Irrtümer<br />
- Erfüllung<br />
- Verrechnung<br />
- die Eintragung von Grundeigentum<br />
- Bewegliche Sachen<br />
Am Besten geht man hierbei nach dem Schema des IPRG vor:<br />
- Personenrecht<br />
- Familienrecht<br />
- Erbrecht<br />
- Sachenrecht<br />
- Vertragsrecht<br />
- Schuldrecht<br />
Es kann natürlich sein, dass mehrere Rechtsfragen betroffen sind.<br />
3. Prüfung der IPR-Relevanz der Fragestellung<br />
a) <strong>Privatrecht</strong>liche Fragestellung<br />
Handelt es sich überhaupt um eine privatrechtliche Fragestellung?<br />
Abgrenzung von strafrechtlichen oder öffentlichrechtlichen Fragestellungen.<br />
b) Auslandsbezug des Sachverhalts<br />
Gibt es grenzüberschreitende Elemente? Diese können ein genereller Auslandsbezug<br />
oder einzelne aus dem Sachverhalt hervorgehende Elemente sein, z.B. ausländischer<br />
Wohnort, etc.<br />
33
c) konkreter Auslandsbezug als Anknüpfungspunkt einer einschlägigen IPR-<br />
Norm<br />
Welches Rechtsgebiet aus Punkt 2 ist nun massgeblich?<br />
Prüfung der Anknüpfungspunkte für das jeweilige Rechtsgebiet in den konkreten<br />
Normen des IPRG. Der generelle Auslandsbezug wird dann nochmals in die konkrete<br />
Fragestellung impliziert.<br />
Beispiel:<br />
Zuständigkeit im Immobiliarsachenrecht: Art. 97 ff IPRG<br />
Art. 97 IPRG<br />
Für Klagen betreffend dingliche Rechte an Grundstücken in der Schweiz sind die Gerichte am Ort der<br />
gelegenen Sache ausschliesslich zuständig.<br />
Liegt das Grundstück in der Schweiz, hat es im Sachverhalt jedoch noch andere<br />
mögliche Anknüpfungspunkte, ist zu prüfen, ob es nun um das Grundstück oder ein<br />
anderes Problem geht.<br />
4. Ermittlung der massgeblichen Rechtsquellen<br />
a) Anwendungsbereich eines Staatsvertrags eröffnet?<br />
Beispielsweise zuerst LugÜ, dann erst IPRG<br />
- Sachlicher Anwendungsbereich<br />
- Personeller Anwendungsbereich<br />
- Räumlicher Anwendungsbereich<br />
- Zeitlicher Anwendungsbereich<br />
b) Falls nein: Anwendung der Vorschriften des IPRG<br />
Merke:<br />
Internationalität ist gegeben, wenn ein wesentlicher Bezug zum Ausland<br />
besteht. Wesentlichkeit ist insbesondere dann gegeben, wenn ein anknüpfungsrelevantes<br />
Anknüpfungsmerkmal ins Ausland verweist.<br />
34
§ 2 INTERNATIONALE ZUSTÄNDIGKEIT UND RECHTSHÄNGIGKEIT<br />
A. Begriff der internationalen Zuständigkeit<br />
I. Begriffsinhalt<br />
Aufgabe des internationalen Zuständigkeitsrechts: Verteilung von Gerichtsständen<br />
zwischen den beteiligten Staaten<br />
Es geht darum, welche Gerichte und Behörden in der betreffenden Sache zuständig<br />
sind. Insbesondere in internationalen Staatsverträgen spielt die Zuständigkeit eine<br />
zentrale Rolle. Es geht nicht um die konkrete innerstaatliche Zuständigkeit.<br />
Man spricht im Zusammenhang mit der internationalen Zuständigkeit von direkter<br />
Zuständigkeit oder vom Forum, im Gegensatz zur indirekten Zuständigkeit.<br />
Die internationale Zuständigkeit ist von grosser Bedeutung, hängen doch alle weiteren<br />
rechtlichen Fragen im IPR vorerst von der Beantwortung dieser ersten Frage ab:<br />
Das zuständige Gericht wendet sein IPR an und erst dann verweist das IPR auf das<br />
jeweilige materielle Recht.<br />
Die Zuständigkeit ist auch daher von Bedeutung, als dass man alle späteren kollisionsrechtlichen<br />
Fragen nicht ohne die konkrete Zuständigkeit definitiv beantworten<br />
kann.<br />
II.<br />
Abgrenzungen<br />
1. Indirekte Zuständigkeit<br />
Die indirekte Zuständigkeit betrifft vor allem Anerkennungsfragen. Man stellt sich die<br />
Frage, ob das Gericht, welches die Entscheidung gefällt hat nach dem eigenen IPRG<br />
überhaupt für dieses Verfahren zuständig war.<br />
2. Inländische Zuständigkeit<br />
Bei der inländischen Zuständigkeit geht es darum, welches Gericht innerhalb des<br />
vom IPR als kompetent erklärten Staates in der konkreten Sache zuständig ist. Diese<br />
Frage wird in der Regel nicht vom IPR gelöst – jedenfalls strukturell nicht und insbesondere<br />
nicht in Staatsverträgen. Das Schweizer IPRG kennt jedoch verschiedene<br />
solcher Bestimmungen (z.B. Art. 97 IPRG).<br />
Weitere Beispiele:<br />
Art. 2 LugÜ<br />
Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens sind Personen, die ihren Wohnsitz in dem<br />
Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den<br />
Gerichten dieses Staates zu verklagen.<br />
35
Es geht also um den Wohnsitz in einem Vertragsstaat. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit<br />
sind somit die Gerichte dieses Landes zuständig, in welchem die zu<br />
verklagende Person ihren Wohnsitz hat.<br />
Das LugÜ redet als Staatsvertrag nur vom Wohnsitzstaat. Es regelt also nur die<br />
Zuweisung zu einem zuständigen Staat. Dieser entscheidet dann selber innerstaatlich,<br />
welches Gericht zuständig ist.<br />
Anders regelt dies Art. 2 IPRG. Es spricht vom Gericht am Wohnsitz des Beklagten.<br />
Art. 2 IPRG<br />
Sieht dieses Gesetz keine besondere Zuständigkeit vor, so sind die schweizerischen Gerichte oder<br />
Behörden am Wohnsitz des Beklagten zuständig.<br />
Art. 2 IPRG regelt gleichzeitig auch die innerstaatliche Zuständigkeit: am Wohnsitz<br />
des Beklagten.<br />
3. Völkerrechtliche Zuständigkeit<br />
Wurde in der Vorlesung nicht behandelt.<br />
III.<br />
Arten der direkten Zuständigkeit<br />
1. Kategorisierung nach der Rechtsgrundlage<br />
- Gerichtsstände kraft Rechtsnorm<br />
Man spricht bezügliche der Gerichtsstände kraft Rechtsnorm auch von objektiven<br />
Gerichtsständen. Diese stehen unabhängig von den subjektiven Parteivereinbarungen<br />
fest.<br />
- staatsvertragliche und autonome Gerichtsstände<br />
Weiter können Gerichtsstände durch einen Staatsvertrag vorgeschrieben werden.<br />
Ist dies nicht der Fall, sind die autonomen Gerichtsstände, bspw. diejenigen<br />
des IPRG relevant.<br />
- gewillkürte Gerichtsstände<br />
In der Regel sind die gewillkürten Gerichtsstände aufgrund der Privatautonomie<br />
vorrangig zu berücksichtigen, also diejenigen Gerichtsstände, welche die<br />
Vertragsparteien selber bestimmt haben. Allerdings sind die gesetzlichen Gerichtsstände<br />
meist nur im Vertragsrecht dispositiv, dies im Gegensatz zu den<br />
zwingenden Normen beispielsweise im Familien- oder Erbrecht.<br />
2. Kategorisierung nach der Abdingbarkeit<br />
- zwingende Gerichtsstände / zwingende Zuständigkeit<br />
- dispositive Gerichtsstände / fakultative Zuständigkeit<br />
36
Liegt ein dispositiver Gerichtsstand vor, ist dennoch im Einzelfall zu prüfen, ob<br />
es nicht eine spezialgesetzliche Regelung gibt, welche dennoch einen zwingenden<br />
Gerichtsstand vorschreibt.<br />
3. Kategorisierung nach dem Anwendungsbereich<br />
- allgemeine Gerichtsstände<br />
Der allgemeine Gerichtsstand ist derjenige, welcher in Art. 2 IPRG sowie in<br />
Art. 2 LugÜ erwähnt wird: Der Wohnsitz oder Sitz des Beklagten. Er gilt prinzipiell<br />
in allen Bereichen.<br />
In der Schweiz wurde diese Garantie ausserdem in Art. 30 Abs. 2 BV ausdrücklich<br />
festgehalten.<br />
Art. 30 BV<br />
1 […]<br />
2 Jede Person, gegen die eine Zivilklage erhoben wird, hat Anspruch darauf, dass die Sache<br />
vom Gericht des Wohnsitzes beurteilt wird. Das Gesetz kann einen anderen Gerichtsstand<br />
vorsehen.<br />
3 […]<br />
- besondere Gerichtsstände<br />
In den verschiedenen Rechtsbereichen finden sich in den jeweiligen Kapiteln<br />
des IPRG besondere Gerichtsstände. Beispielsweise wird im Sachenrecht in<br />
den Art. 97 ff. IPRG auf den Ort der gelegenen Sache verwiesen.<br />
!<br />
ACHTUNG<br />
Der Grundsatz des lex specialis derogat legi generali gilt hier<br />
nicht, sondern der besondere Gerichtsstand tritt neben den allgemeinen<br />
Gerichtsstand.<br />
Ausnahmen sind nur die auschliesslichen Gerichtsstände:<br />
Diese Gerichtsstände sind ausdrücklich qualifiziert. Das Gesetz<br />
oder der Staatsvertrag spricht dabei immer explizit vom „ausschliesslichen<br />
Gerichtsstand“.<br />
4. Kategorisierung nach dem Verhältnis zu anderen Gerichtsständen<br />
a) Kategorisierung nach der Abhängigkeit vom Eingreifen eines Tatbestandes<br />
- primäre Gerichtsstände<br />
Primäre Gerichtsstände greifen unabhängig vom Nichteingreifen eines anderen<br />
Gerichtsstandes ein. Sie können also immer herangezogen werden, wenn<br />
der Tatbestand nicht einschlägig ist. Die primären Gerichtsstände verdrängen<br />
die subsidiären Gerichtsstände.<br />
Dies heisst aber nicht, dass die besonderen Gerichtsstände immer primäre<br />
wären.<br />
37
- Subsidiäre Gerichtsstände<br />
Diese subsidiären Gerichtsstände kommen zur Anwendung, wenn nirgends<br />
ein Gerichtsstand gegeben ist. Dies würde zu einer Rechtsverweigerung führen,<br />
womit eine Art „Notgerichtsstand“ gegeben sein muss.<br />
Die Schweizer Rechtsordnung sieht daher vorbildlicherweise die Notzuständigkeit<br />
des Art. 3 IPRG vor.<br />
Art. 3 IPRG<br />
Sieht dieses Gesetz keine Zuständigkeit in der Schweiz vor und ist ein Verfahren im Ausland<br />
nicht möglich oder unzumutbar, so sind die schweizerischen Gerichte oder Behörden am Ort<br />
zuständig, mit dem der Sachverhalt einen genügenden Zusammenhang aufweist.<br />
Der Notgerichtsstand kommt zur Anwendung, wenn nirgends auf der Welt ein<br />
Gerichtsstand begründet wurde. Auch andere Gründe wie Kriegszustand,<br />
Asylstatus, etc. lassen die Anwendung des Art. 3 IPRG zu.<br />
Die Frage der Zumutbarkeit wirft jedoch auch hier verschiedene, heikle Abgrenzungsfragen<br />
auf: Ist beispielsweise eine erhöhte Seuchengefahr im betroffenen<br />
Land noch als zumutbar zu erachten?<br />
Es gibt aber noch andere subsidiäre Gerichtsstände. Gerade in der so genannten<br />
Kaskadenanknüpfung ist die subsidiäre Zuständigkeit der Heimatzuständigkeit<br />
– also die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit – von Bedeutung.<br />
Ein einschlägiges Beispiel ist etwa Art. 47 IPRG.<br />
Art. 47 IPRG<br />
Haben die Ehegatten weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz und ist<br />
einer von ihnen Schweizer Bürger, so sind für Klagen oder Massnahmen betreffend die ehelichen<br />
Rechte und Pflichten die Gerichte oder Behörden am Heimatort zuständig, wenn es unmöglich<br />
oder unzumutbar ist, die Klage oder das Begehren am Wohnsitz oder am gewöhnlichen<br />
Aufenthalt eines der Ehegatten zu erheben.<br />
1. Wohnsitz, falls nicht möglich…<br />
2. gewöhnlicher Aufenthalt und zuletzt…<br />
3. Heimatzuständigkeit.<br />
b) Kategorisierung nach der Verdrängungswirkung<br />
vgl. oben<br />
- ausschliessliche Gerichtsstände<br />
sind von Amtes wegen zu beachten und sind ausdrücklich zwingend. Sollen<br />
Gerichtsstände internationale Wirkung entfalten, können sie nur durch Staatsvertrag<br />
verbindlich geregelt werden.<br />
- konkurrierende Gerichtsstände<br />
Die grosse Regel sind die konkurrierenden Gerichtsstände. Es sind immer alle<br />
Gerichtsstände zu prüfen und dann zu entscheiden, welcher Gerichtsstand im<br />
konkreten Fall der günstigste ist Forum shopping.<br />
Hat sich die Geschädigte beispielsweise den Kaffee über die Beine gegossen<br />
und sich dabei verbrüht, ist es günstiger, einen Gerichtsstand in den USA zu<br />
begründen. Es ist also in den Ausführungen so zu Argumentieren, dass derje-<br />
38
nige Anknüpfungspunkt für massgeblich erklärt wird, welcher die Zuständigkeit<br />
eines US-Gerichts beruft.<br />
Dies ist jedoch nur bei konkurrierenden Gerichtsständen möglich. Bei ausschliesslichen<br />
Gerichtsständen besteht – wie bereits erwähnt – diese Möglichkeit<br />
nicht.<br />
B. Rechtsquellen<br />
I. Staatsverträge<br />
1. Multilaterale Staatsverträge<br />
a) Lugano-Übereinkommen (LugÜ)<br />
Fall 6 (nach BGE 124 III 436 ff.): Am 3. März 1989 gewährte die D-AG mit Sitz in<br />
Zürich der A-Corp. mit Sitz im Sultanat Oman ein Darlehen. D liess dieses Darlehen<br />
bei der SACE, einer italienischen juristischen Person des öffentlichen Rechts mit<br />
sozialpolitischen Zielen, gegen politische und kommerzielle Risiken versichern. Dem<br />
Abschluss einer entsprechenden Versicherung geht immer eine interne Garantieverfügung<br />
des „Comitato di gestione“ (CDG) der SACE voraus. In der vom 22. Februar<br />
1989 datierten Versicherungspolice trafen die Parteien eine Rechtswahl zugunsten<br />
des italienischen Rechts und vereinbarten Rom als ausschliesslichen Gerichtsstand<br />
für alle Streitigkeiten aus dem Vertragsverhältnis.<br />
Am 24. September 1996 erhob die D-AG beim Handelsgericht des Kantons Zürich<br />
Klage, da die A-Corp. sich mit der Darlehensrückzahlung in Verzug befinde. Die<br />
SACE erwiderte, dass das Handelsgericht Zürich aufgrund der zwischen den Parteien<br />
getroffenen Gerichtsstandsvereinbarung nicht zuständig sei.<br />
An welchen Vorschriften ist die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung zu<br />
messen? (Auf die Wirksamkeit an sich ist nicht einzugehen)<br />
Es geht also um die Frage, ob eine gewillkürte Gerichtsstandsvereinbarung vorliegt.<br />
Liegt eine Gerichtsstandsvereinbarung gemäss Art. 17 LugÜ oder Art. 5 IPRG vor?<br />
Da beide Regelungen unterschiedlich sind, kommt es besonders darauf an, welche<br />
Regelung nun einschlägig ist.<br />
Der Staatsvertrag hat Vorrang. Art. 17 LugÜ ist somit zuerst zu prüfen. Es ist also zu<br />
prüfen, ob die Anwendungsvoraussetzungen des LugÜ gegeben sind:<br />
- sachlicher Anwendungsbereich<br />
Gemäss Art. 1 Abs. 1 LugÜ muss es sich um eine Zivil- und Handelssache<br />
handeln.<br />
- persönlicher Anwendungsbereich<br />
- räumlicher Anwendungsbereich<br />
39
- zeitlicher Anwendungsbereich<br />
Das LugÜ ist in der Schweiz erst seit dem 1. Januar 1992 in Kraft, die Gerichtsstandsvereinbarung<br />
wurde aber vorher abgeschlossen. Allerdings ist die<br />
Rechtsprechung des EuGH – wie bereits ausgeführt – vom Schweizer Richter<br />
zu übernehmen. Es kommt letztlich nur auf die Klageerhebung an und nicht<br />
auf den Zeitpunkt der Vereinbarung. Man beurteilt also im Zeitpunkt der Klageerhebung,<br />
ob sich in diesem Moment die Gerichtsstandsvereinbarung nach<br />
LugÜ oder nach IPRG beurteilt.<br />
aa) Einführung<br />
Beim LugÜ handelt es sich um ein Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit<br />
und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil und Handelssachen.<br />
Somit betrifft das LugÜ die Fragekreise 1 und 3.<br />
Das LugÜ wurde 1988 als multilaterales Abkommen geschlossen und ist am 1. Januar<br />
1992 für die Schweiz in Kraft getreten.<br />
Das LugÜ war lange Zeit ein Parallelübereinkommen zum Brüsseler Übereinkommen<br />
vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung<br />
gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ).<br />
Dies ist jedoch nicht mehr massgeblich weil es in eine Verordnung der Europäischen<br />
Gemeinschaft (EG) – nicht EU! – integriert wurde: EuGVVO.<br />
Die EG hat jedoch nicht nur die Rechtsnatur geändert (Staatsvertrag in Verordnung),<br />
sondern sie hat auch den Inhalt angepasst. Dies setzt die Vertragsstaaten des LugÜ<br />
unter Zugzwang, da das LugÜ ebenfalls diesen Veränderungen angepasst werden<br />
muss. Diese Anpassungen werden wohl frühestens im Sommer 2008 massgeblich<br />
werden.<br />
bb) Anwendungsbereich<br />
Sachlicher Anwendungsbereich (Art. 1 LugÜ)<br />
- Zivil- und Handelssachen (Art. 1 Abs. 1 LugÜ)<br />
- Ausnahmen (Art. 1 Abs. 2 LugÜ): v.a. grds. Personen-, Familien- und Erbrecht<br />
Die Beschränkung auf Zivil- und Handelssachen ist sehr weit gefasst. Daher<br />
enthält Art. 1 Abs. 2 LugÜ verschiedene Einschränkungen. Es handelt sich<br />
dabei praktisch um die gesamten ersten <strong>Teil</strong>e des ZGB.<br />
Im Personenrecht sind lediglich einzelne Bereiche wie z.B. Persönlichkeitsverletzungen<br />
vom LugÜ erfasst. Im Familienrecht werden die Unterhaltsfragen<br />
vom LugÜ geregelt.<br />
Ansonsten sind Personen-, Familien- und Erbrecht vom LugÜ ausgeschlossen.<br />
40
Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich<br />
- Grundsatz (Art. 2 Abs. 1 LugÜ)<br />
Nach Art. 2 Abs. 1 LugÜ ist der Wohnsitz der beklagten Person in einem Vertragsstaat<br />
massgeblich. Es gilt grundsätzlich das Gegenseitigkeitsprinzip und<br />
keine erga omnes Wirkung.<br />
- Vereinzelte Erweiterungen (z.B. Art. 4 Abs. 2 LugÜ, Art. 17 Abs. 1 S. 3 LugÜ)<br />
Das LugÜ kann aber in anderen Sonderverhältnissen ebenfalls anwendbar<br />
sein, also auch dann, wenn sich der Wohnsitz einer beklagten Person nicht in<br />
einem Vertragsstaat befindet. Daher ist immer zu prüfen ob bei einer grundsätzlichen<br />
Verneinung der Anwendbarkeit des LugÜ nicht doch eine Sonderregelung,<br />
wie z.B. Art. 4 Abs. 2 LugÜ zur Anwendung kommt.<br />
Art. 4 LugÜ<br />
1 Hat der Beklagte keinen Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats, so bestimmt<br />
sich, vorbehaltlich des Artikels 16, die Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Vertragsstaats<br />
nach seinen eigenen Gesetzen.<br />
2 Gegenüber einem Beklagten, der keinen Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats<br />
hat, kann sich jede Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats<br />
hat, in diesem Staat auf die dort geltenden Zuständigkeitsvorschriften, insbesondere<br />
auf die in Artikel 3 Absatz 2 angeführten Vorschriften, wie ein Inländer berufen, ohne dass<br />
es auf ihre Staatsangehörigkeit ankommt.<br />
Zeitlicher Anwendungsbereich<br />
Das LugÜ ist in der Schweiz seit dem 1.1.1992 in Kraft.<br />
cc) Charakteristika der Wirkung<br />
- Vereinheitlichungsprinzip<br />
Die Zuständigkeitsregelungen sind für alle Vertragsstaaten einheitlich.<br />
Es gibt jedoch einzelne Anknüpfungspunkte, die nicht einheitlich geregelt wurden.<br />
Beispielsweise der Begriff des „Wohnsitzes“ bereitet nach wie vor international<br />
Schwierigkeiten. Diese Fragen regelt das LugÜ nicht, sondern verweist<br />
auf das jeweils anwendbare nationale IPR. Dieses soll hilfsweise herangezogen<br />
werden, um bei der Interpretation dieses Begriffes behilflich zu sein.<br />
- Gegenseitigkeitsprinzip<br />
Das LugÜ ist kein erga omnes Vertrag, sondern wirkt nur relativ zwischen den<br />
Vertragsstaaten. Es enthält nur vereinzelt erga omnes Regelungen bei den<br />
Gerichtsständen in den Art. 16 und 17 LugÜ.<br />
b) sonstige Übereinkommen<br />
Sonstige Übereinkommen spielen praktisch keine Rolle.<br />
Zu erwähnen sind beispielsweise das Haager Minderjährigenschutz-Abkommen,<br />
MSA oder the Hague Convention on Choice of Court Agreements.<br />
41
Die Haager Konferenz bemüht sich aktuell um ein Welt-Zuständigkeits-Abkommen.<br />
Das wäre natürlich das Ideal, ist zurzeit jedoch leider nur Zukunftsmusik.<br />
2. Bilaterale Staatsverträge<br />
Prüfungsrelevant ist nicht, dass man jedes bilaterale Abkommen kennt, man sollte<br />
jedoch daran denken. Für die Schweiz sind diesbezüglich vor allem Freundschafts-,<br />
Handels- und Niederlassungsverträge von Bedeutung.<br />
II.<br />
Nationales Recht (IPRG)<br />
In den Bereichen des LugÜ haben die Zuständigkeitsvorschriften des IPRG keine<br />
Bedeutung mehr. Diese nationalen Regelungen werden durch den Staatsvertrag<br />
verdrängt. Das IPRG ist jedoch allenfalls für Fragen der Sitz- oder Wohnsitzbestimmung<br />
heranzuziehen.<br />
Im Bereich des IPRG sind die Art. 2 ff die allgemeinen Zuständigkeitsnormen. Weiter<br />
finden sich in den jeweiligen Rechtsgebieten jeweils am Anfang des Kapitels weitere<br />
Zuständigkeitsregeln. Diese Zuständigkeitsregeln gehen dem Gerichtsstandsgesetz<br />
vor. Es handelt sich um eine lex specialis für internationale Sachverhalte.<br />
42
C. Prinzipien der Zuständigkeitsregelung<br />
I. Prinzip der Amtsprüfung<br />
Die Zuständigkeitsregelung ist von Amtes wegen zu prüfen. Die Parteien müssen<br />
nicht die Unzuständigkeit des Gerichtes vortragen.<br />
Jung: „… das macht der Richter im eigenen Interesse, weil er hofft, dass er nicht<br />
zuständig ist und er den Fall abgeben kann…“.<br />
Es wird jedoch nicht von Amtes wegen ermittelt. Es gilt die Parteimaxime: Der Kläger<br />
muss die Umstände darlegen, welche die Zuständigkeit des Gerichtes begründen. Es<br />
wird nur das berücksichtigt, was der Kläger vorträgt. Ist der Klägervortrag unbestritten<br />
und schlüssig, prüft das Gericht aufgrund dieses Vortrages die Zuständigkeit von<br />
Amtes wegen. Es ermittelt aber nicht den Sachverhalt, sondern berücksichtigt nur,<br />
was ihm vorgetragen wird – auch wenn es nur die halbe Wahrheit ist und der Richter<br />
dies sogar weiss.<br />
II.<br />
Prinzip der Dispositionsfreiheit<br />
Inhalt:<br />
- Grundsätzliche Möglichkeit der Gerichtsstandsvereinbarung (LugÜ 17, IPRG<br />
5)<br />
- Grundsätzliche Beachtlichkeit der vorbehaltlosen Einlassung (LugÜ 18, IPRG<br />
6)<br />
- Grundsätzliche Möglichkeit zur Beeinflussung der Zuständigkeit mittels Vereinbarung<br />
des Erfüllungsortes (LugÜ 5 Ziff. 1, IPRG 113)<br />
- Grundsätzliche Möglichkeit zu einer Schiedsvereinbarung<br />
Grenzen:<br />
- Existenz von Schutzbedürfnissen aufgrund typischer Ungleichgewichtslagen<br />
(z.B. LugÜ 12 f., 15, 17 V)<br />
- Schutz öffentlicher Interessen (zwingende Gerichtsstände in den nicht vermögensrechtlichen<br />
Bereichen des Personen-, Familien- und Erbrechts des IPRG)<br />
III.<br />
Prinzipien des sinnvollen Zusammenhangs<br />
1. Grundsatz<br />
Es geht bei den Gerichtsstandsfragen nicht darum, den geeignetsten Gerichtsstand<br />
als den einzig wahren zu bestimmen. Viel mehr ist das Ziel, unter den mehreren in<br />
Betracht kommenden Gerichtsständen, den günstigsten herauszufiltern.<br />
Man spricht von normaler Zuständigkeit, sobald ein sinnvoller Zusammenhang gegeben<br />
ist.<br />
Bei der Notzuständigkeit von Art. 3 IPRG wird dieses Prinzip aufgenommen und man<br />
spricht von einer „genügenden“ Zuständigkeit.<br />
43
2. Ausnahmen<br />
Es gibt jedoch zwei Ausnahmen vom eben zitierten Grundsatz. Es gibt Fälle, in welchen<br />
man strenger ist: Forum-non-conveniens-Doktrin.<br />
Das Gegenstück zur Forum-non-conveniens-Doktrin sind die exorbitanten Gerichtsstände.<br />
a) Forum-non-conveniens-Doktrin<br />
Im Rahmen der Forum-non-conveniens-Doktrin will man den geeignetsten Gerichtsstand<br />
begründen. Diese Lehre ist jedoch in der Schweiz nicht anerkannt. Sie spielt<br />
aber im angelsächsischen Bereich eine grosse Rolle und wird dort von den Gerichten<br />
öfters herangezogen.<br />
Das klassische Beispiel im Rahmen der Forum-non-conveniens-Doktrin ist der Flugzeugabsturz:<br />
Passagiere mehrerer Nationalitäten starten in New York für einen Flug<br />
nach Paris. Das Flugzeug stürzt über Schottland ab. Nach der Forum-nonconveniens-Doktrin<br />
ist der Gerichtsstand in Schottland am geeignetsten, über<br />
Rechtsstreite bezüglich der Rechtsfolgen dieses Unglücks zu bestimmen.<br />
b) Exorbitante Gerichtsstände<br />
Die exorbitanten Gerichtsstände werden auch als beziehungsarme Gerichtsstände<br />
bezeichnet. Bei diesen stellt man weniger, bis schon fast keine Anforderungen mehr<br />
an die vernünftige Anknüpfungsbeziehung.<br />
Das Schweizer Recht kennt nur einen exorbitanten Gerichtsstand: Art. 4 IPRG, der<br />
Gerichtsstand am Ort des Vollstreckungsobjekts. Es handelt sich also um einen<br />
besonderen, sachlichen Gerichtsstand, welcher auf die Begebenheit des Vollstreckungsobjekts<br />
abstellt.<br />
Art. 4 IPRG<br />
Sieht dieses Gesetz keine andere Zuständigkeit in der Schweiz vor, so kann die Klage auf Prosequierung<br />
des Arrestes am schweizerischen Arrestort erhoben werden.<br />
Das LugÜ seinerseits hat in Art. 3 Abs. 2 LugÜ alle exorbitanten Gerichtsstände<br />
seiner Vertragsstaaten in einer Liste zusammengefasst.<br />
Art. 3 LugÜ<br />
1 Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, können vor den<br />
Gerichten eines anderen Vertragsstaats nur gemäss den Vorschriften des 2. bis 6. Abschnitts verklagt<br />
werden.<br />
2 Insbesondere können gegen diese Personen nicht geltend gemacht werden<br />
- in Belgien: Artikel 15 des Zivilgesetzbuchs (Code civil – Burgerlijk Wetboek) sowie Artikel 638<br />
der Zivilprozessordnung (Code judiciaire – Gerechtelijk Wetboek);<br />
- in Dänemark: Artikel 246 Absätze 2 und 3 der Zivilprozessordnung (Lov omrettens pleje);<br />
- in der Bundesrepublik Deutschland: § 23 der Zivilprozessordnung;<br />
- in Griechenland: Artikel 40 der Zivilprozessordnung (Κϖδικαζ Πολιτικηζ δικονοµιαζ);<br />
- in Frankreich: Artikel 14 und 15 des Zivilgesetzbuchs (Code civil);<br />
- in Irland: Vorschriften, nach denen die Zuständigkeit durch Zustellung eines das Verfahren<br />
einleitenden Schriftstücks an den Beklagten während dessen vorübergehender Anwesenheit<br />
in Irland begründet wird;<br />
- in Island: Artikel 77 der Zivilprozessordnung (lög um medferd einkamála i héradi);<br />
44
- in Italien: Artikel 2 und Artikel 4 Nummern 1 und 2 der Zivilprozessordnung (Codice di procedura<br />
civile);<br />
- in Luxemburg: Artikel 14 und 15 des Zivilgesetzbuchs (Code civil);<br />
- in den Niederlanden: Artikel 126 Absatz 3 und Artikel 127 der Zivilprozessordnung (Wetboek<br />
van Burgerlijke Rechtsvordering);<br />
- in Norwegen: § 32 der Zivilprozessordnung (tvistemålsloven);<br />
- in Österreich: § 99 der Jurisdiktionsnorm;<br />
- in Portugal: Artikel 65 Absatz 1 Buchstabe c, Artikel 65 Absatz 2 und Artikel 65a Buchstabe c<br />
der Zivilprozessordnung (Código de Processo Civil) und Artikel 11 der Arbeitsprozessordnung<br />
(Código de Processo de Trabalho);<br />
- in der Schweiz: der Gerichtsstand des Arrestortes/for du lieu du séquestre/foro del luogo del<br />
sequestro gemäss Artikel 4 des Bundesgesetzes über das internationale <strong>Privatrecht</strong>/loi<br />
fédérale sur le droit international privé/ legge federale sul diritto internazionale privato;<br />
- in Finnland: Kapitel 10 § 1 Sätze 2, 3 und 4 der Prozessordnung (oikeudenkäymiskaari/rättegångsbalken);<br />
- in Schweden: Kapitel 10 Artikel 3 Satz 1 der Prozessordnung (Rättegångsbalken);<br />
- im Vereinigten Königreich: Vorschriften, nach denen die Zuständigkeit begründet wird durch<br />
a) die Zustellung eines das Verfahren einleitenden Schriftstücks an den Beklagten während<br />
dessen vorübergehender Anwesenheit im Vereinigten Königreich,<br />
b) das Vorhandensein von Vermögenswerten des Beklagten im Vereinigten Königreich oder<br />
c) die Beschlagnahme von Vermögen im Vereinigten Königreich durch den Kläger.<br />
Gemäss Art. 4 Abs. 2 LugÜ kann sich eine Person mit Wohnsitz in einem Vertragsstaat<br />
auf sämtliche dieser exorbitanten Gerichtsstände des LugÜ berufen.<br />
Art. 4 LugÜ<br />
1 Hat der Beklagte keinen Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats, so bestimmt sich,<br />
vorbehaltlich des Artikels 16, die Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Vertragsstaats nach seinen<br />
eigenen Gesetzen.<br />
2 Gegenüber einem Beklagten, der keinen Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat,<br />
kann sich jede Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, in diesem<br />
Staat auf die dort geltenden Zuständigkeitsvorschriften, insbesondere auf die in Artikel 3 Absatz 2<br />
angeführten Vorschriften, wie ein Inländer berufen, ohne dass es auf ihre Staatsangehörigkeit ankommt.<br />
IV.<br />
Prioritätsprinzip<br />
1. Internationale Zuständigkeit<br />
Das Prioritätsprinzip steht im Zusammenhang mit den Begriffen „Forum Shopping“<br />
(der Kläger kann zwischen den Gerichtsständen wählen) und „Forum running“<br />
(massgeblich ist, welche der beiden Parteien zuerst in einem Staat Klage erhebt).<br />
Die Regelungen zum Prioritätsprinzip finden sich in Art. 21 LugÜ und Art. 9 IPRG.<br />
Sie dienen der Vermeidung eines Zuständigkeitschaos. Kommen prinzipiell mehrere<br />
Gerichte in Betracht, kann trotzdem letztendlich nur eines dieser Gerichte den Fall<br />
entscheiden. Es geht nicht an, dass der Fall von mehreren Gerichten entschieden<br />
wird, was zu mehreren unterschiedlichen Entscheiden führen wird.<br />
Der Nachteil des Prioritätsprinzips ist, dass auf die Parteien Druck ausgeübt wird,<br />
möglichst rasch zu entscheiden, in welchem Staat sie die Klage erheben sollen. Das<br />
nimmt man jedoch hin, da man prinzipiell von der Gleichheit der Verfahren oder der<br />
Rechte ausgeht, bzw. man betrachtet gewisse Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen<br />
überwiegend als tolerabel.<br />
45
a) Art. 21 LugÜ<br />
Art. 21 LugÜ<br />
1 Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen<br />
denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren<br />
von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.<br />
2 Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene<br />
Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.<br />
Im Rahmen des Art. 21 LugÜ geht man von der Hängigkeit eines Rechtsstreites<br />
zwischen denselben Parteien und über denselben Anspruch aus. Die Hängigkeit ist<br />
dabei jedoch in verschiedenen Vertragsstaaten gegeben. Es geht also nicht um die<br />
interne Zuständigkeitsregelung zwischen den Behörden, sondern um die internationale<br />
Zuständigkeit.<br />
Der Begriff des Streitgegenstandes – derselbe Anspruch – ist dabei grosszügig auszulegen.<br />
Es geht also darum, dass im Kern derselbe Sachverhalt betroffen ist. Andererseits<br />
muss die Hängigkeit endgültig sein. Die Einreichung einer Klage etwa vor<br />
dem Friedensrichter genügt somit nicht nach IPR.<br />
Die Anerkennungsprognose ist nicht erforderlich. Es kommt nur auf die Identität der<br />
Parteien und des Anspruchs an, sowie dass Hängigkeit in einem anderen Vertragsstaat<br />
gegeben ist. Es kommt aber nicht darauf an, dass das Schweizer Gericht zum<br />
Schluss kommt, derselbe Anspruch sei bereits in einem anderen Staat rechtshängig<br />
gemacht worden und der Entscheid des betreffenden Gerichts sei dann in der<br />
Schweiz anerkennungsfähig.<br />
Im Rahmen des LugÜ geht man davon aus, dass unter den Vertragsstaaten nur<br />
solche Staaten sind, deren gerichtliche Entscheide man in der Schweiz vorbehaltlos<br />
anerkennen kann. Die IPRG ist daher strenger. Man rechnet im Rahmen des IPRG<br />
eher mit Entscheiden, welche unter Umständen – etwa weil sie diskriminierend sind –<br />
nicht anerkannt werden können. Daher kann bereits im Voraus gesagt werden, der<br />
entsprechende Entscheid werde voraussichtlich nicht anerkennungsfähig sein und<br />
die Schweizer Gerichte seien in der Sache ebenfalls als zuständig zu erachten.<br />
Rechtsfolge des Art. 21 LugÜ:<br />
- Aussetzung<br />
Das Schweizer Gericht setzt seine Entscheidung aus. Es tritt erst dann auf die<br />
Sache ein, wenn seine Zuständigkeit definitiv feststeht.<br />
- Unzuständigkeit<br />
b) Art. 9 IPRG<br />
Art. 9 IPRG<br />
1 Ist eine Klage über denselben Gegenstand zwischen denselben Parteien zuerst im Ausland hängig<br />
gemacht worden, so setzt das schweizerische Gericht das Verfahren aus, wenn zu erwarten ist,<br />
dass das ausländische Gericht in angemessener Frist eine Entscheidung fällt, die in der Schweiz<br />
anerkennbar ist.<br />
2 Zur Feststellung, wann eine Klage in der Schweiz hängig gemacht worden ist, ist der Zeitpunkt der<br />
ersten, für die Klageeinleitung notwendigen Verfahrenshandlung massgebend. Als solche genügt<br />
die Einleitung des Sühneverfahrens.<br />
46
3 Das schweizerische Gericht weist die Klage zurück, sobald ihm eine ausländische Entscheidung<br />
vorgelegt wird, die in der Schweiz anerkannt werden kann.<br />
Voraussetzung ist also die bereits bestehende Rechtshängigkeit eines Rechtsstreites<br />
zwischen denselben Parteien über denselben Streitgegenstand in einem anderen<br />
Staat. Die Hängigkeit beginnt hier bereits mit der Einleitung eines Sühneverfahrens.<br />
Rechtsfolge:<br />
- Aussetzung bei positiver Anerkennungsprognose<br />
- Unzuständigkeit bei Vorlage einer anerkennbaren ausländischen Entscheidung<br />
Wie bereits erwähnt, ist im Rahmen von Art. 9 IPRG die Anerkennungsprognose ein<br />
wichtiger Bestandteil der Zuständigkeitserklärung.<br />
2. örtliche Zuständigkeit<br />
Hier ist die innere, schweizerische Zuständigkeit betroffen. Das IPRG regelt dies für<br />
internationale Sachverhalte mit. Bestehen also ausnahmsweise mehrere Gerichtsstände<br />
in der Schweiz, gilt auch hier das Prioritätsprinzip.<br />
V. Rechtswegprinzip<br />
Das Rechtswegprinzip betrifft in besonderem Masse das bereits angesprochene<br />
Thema der Notzuständigkeit. Innerstaatlich besagt die Rechtsweggarantie, dass es<br />
nicht nur darum geht Recht zu haben, sondern auch Recht zu bekommen. Es handelt<br />
sich dabei um ein Grundrecht. Man nennt diesen Anspruch, dass Recht gesprochen<br />
wird „Justizgewährungsanspruch“. Der Anspruch beinhaltet aber auch den<br />
Anspruch auf den gesetzlichen Richter, also dass dessen Zuständigkeit im Voraus<br />
feststeht.<br />
Diese beiden Prinzipien sollen ebenfalls im IPR bei internationalen Zuständigkeitsfragen<br />
gewahrt werden.<br />
Inhalt:<br />
- Vermeidung negativer Kompetenzkonflikte (z.B. Art. 3 IPRG)<br />
Falls sich weltweit niemand als zuständig erachtet, sieht das Schweizer IPRG<br />
die Notzuständigkeit der Schweizer Gerichte vor<br />
- Zumutbarkeit eines Verfahrens im Ausland<br />
- Gewährung vorsorglicher Massnahmen im Inland unabhängig von der Hauptzuständigkeit<br />
(z.B. LugÜ 24, IPRG 10)<br />
Vorsorgliche Massnahmen können nach Art. 10 IPRG auch von einem<br />
Schweizer Gericht unabhängig von der Hauptzuständigkeit gewährt werden.<br />
47
VI.<br />
Grundsatz der perpetuatio fori<br />
Im Rahmen der perpetuatio fori wird ein einmal begründeter Gerichtsstand weiterhin<br />
aufrechterhalten. Der massgebliche Zeitpunkt für die Zuständigkeitsbegründung wird<br />
im IPRG nur sehr rudimentär geregelt.<br />
Problem:<br />
- <strong>Teil</strong>weise Wandelbarkeit des Anknüpfungspunktes im Laufe der Zeit<br />
- Erfordernis der Bestimmung des massgeblichen Anknüpfungszeitpunkts<br />
Lösung des Problems:<br />
Grundsätzliche Massgeblichkeit des Zeitpunkts der Einleitung des Verfahrens.<br />
Ausnahme:<br />
Es genügt, wenn die Zuständigkeit des Schweizer Gerichts noch vor der Entscheidfällung<br />
des andern Gerichtes begründet wird.<br />
Erweiterung des Grundsatzes durch die perpetuatio fori:<br />
Die ursprüngliche Zuständigkeit bleibt erhalten, unabhängig davon, was danach<br />
passiert. Der Gerichtsstand perpetuiert sich, auch wenn sich die massgeblichen<br />
Umstände, welche die Zuständigkeit begründen, ändern sollten.<br />
Die perpetuatio fori ihrerseits wird ebenfalls durch Ausnahmen, wie beispielsweise im<br />
Rahmen des Kindeswohls eingeschränkt.<br />
Fall 7 (nach BGE 124 III 436 ff.): Am 3. März 1989 gewährte die D-AG mit Sitz in<br />
Zürich der A-Corp. mit Sitz im Sultanat Oman ein Darlehen. D liess dieses Darlehen<br />
bei der italienischen SACE, die nach italienischem Recht als Kaufmann gilt, gegen<br />
politische und kommerzielle Risiken versichern. In der vom 22. Februar 1989 datierten<br />
Versicherungspolice trafen die Parteien eine Rechtswahl zugunsten des italienischen<br />
Rechts und vereinbarten Rom als Gerichtsstand für alle Streitigkeiten aus dem<br />
Vertragsverhältnis. Nach italienischem IPR hat die SACE ihren Sitz in Italien. Nach<br />
einiger Zeit kam die A-Corp. mit der Darlehensrückzahlung in Verzug. Die D-AG<br />
nahm daher die SACE aus dem Versicherungsvertrag in Anspruch. Diese weigerte<br />
sich aber zu zahlen und erhob bei einem römischen Gericht Klage auf Feststellung,<br />
dass sie der D-AG aus dem Versicherungsvertrag nichts schuldet. Die Klage ist seit<br />
dem 10.09.1996 in Rom rechtshängig.<br />
Daraufhin erhob die D-AG beim Handelsgericht des Kantons Zürich aufgrund des mit<br />
der SACE geschlossenen Versicherungsvertrages Leistungsklage. Nach der ZPO-<br />
ZH besteht die Rechtshängigkeit der Klage in Zürich seit dem 24. September 1996.<br />
Wie wird das HGer ZH eintscheiden?<br />
Welche Regelungen des Prioritätsgrundsatzes sind nun anwendbar? Welches Gericht<br />
muss sich für unzuständig erklären – Rom oder Zürich?<br />
Was ist vorrangig: LugÜ oder IPRG? LugÜ<br />
a. Sachliche Anwendbarkeit (+)<br />
Art. 1 LugÜ privatrechtliche Streitigkeit<br />
48
. Zeitlicher Anwendungsbereich (+)<br />
LugÜ seit 1992 in Kraft<br />
c. Räumlich-persönliche Anwendbarkeit (+)<br />
Art. 21 LugÜ verschiedene Vertragsstaaten<br />
Nachdem nun die Anwendbarkeit des LugÜ prinzipiell bejaht wurde, sind nun die<br />
spezifischen Fragen von Art. 21 LugÜ zu behandeln.<br />
Weitere Voraussetzungen des Art. 21 LugÜ:<br />
- derselbe Anspruch?<br />
Einerseits geht es um eine negative Feststellungsklage, andererseits um eine<br />
Leistungsklage. Der EuGH hat dies in seiner Rechtsprechung als denselben<br />
Anspruch qualifiziert. Das Bundesgericht hat diese Rechtsprechung übernommen<br />
(BGE 105 II 229 verneinte dies noch)<br />
- dieselben Parteien<br />
Die vertauschten Parteirollen spielen keine Rolle, es sind dieselben Parteien.<br />
Muss sich das Gericht zur Frage der Zuständigkeit des Gerichtes in Rom äussern?<br />
Nein, denn die SACE hat ihren Sitz in Rom. Die Sache ist seit 1996 in Rom rechtshängig.<br />
Das Schweizer Gericht muss im Rahmen des LugÜ keine Anerkennungsprognose<br />
stellen. Es reicht, dass die Klage in Rom anhängig gemacht wurde.<br />
Die Voraussetzungen des Art. 21 LugÜ sind gegeben. Das Gericht in Zürich wird<br />
seinen Entscheid aussetzen, bis Rom die Frage der Zuständigkeit geklärt hat. Bei<br />
Zuständigkeitserklärung des Römer Gerichts, weist das Gericht in Zürich die Klage<br />
definitiv ab.<br />
49
D. objektive Zuständigkeitsanknüpfungen<br />
Im Rahmen der objektiven Zuständigkeitsanknüpfungen unterscheidet man im Wesentlichen<br />
die folgenden Zuständigkeiten:<br />
- Personale Zuständigkeiten<br />
- Streitgegenständliche also sachlich begründete Zuständigkeiten<br />
- Zuständigkeiten kraft Sachzusammenhangs<br />
- Notzuständigkeiten<br />
- Zuständigkeiten für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen<br />
- exorbitante Gerichtsstände<br />
I. Personale Zuständigkeiten<br />
1. Wohnsitz bzw. Sitz<br />
a) Bedeutung<br />
aa) Begründung des allgemeinen Regelgerichtsstandes<br />
Der Wohnsitz bildet den wichtigsten Beklagtengerichtsstand nach Art. 2 IPRG sowie<br />
Art. 2 LugÜ. Das Schweizer Recht geht traditionell vom Wohnsitzprinzip aus. Dies<br />
steht beispielsweise im Gegensatz zum deutschen Recht, welches vom Staatsangehörigkeitsprinzip<br />
ausgeht.<br />
Der Beklagte ist somit prinzipiell an seinem Wohnsitz zu verklagen, man spricht in<br />
diesem Zusammenhang auch vom „Beklagtenforum“.<br />
bb) Begründung besonderer Gerichtsstände<br />
- Personenrecht: Art. 33 I, 38 I und 41 I IPRG<br />
- Familienrecht: Art. 43 I, 46, 66, 71 I, 75 I und 79 I IPRG<br />
- Erbrecht: Art. 86 IPRG<br />
- Immaterialgüterrecht: Art. 109 IPRG<br />
- Vertragsrecht: Art. 112 und 115 I IPRG<br />
- Bereicherungsrecht: IPRG 127<br />
- Deliktsrecht: Art. 129 IPRG<br />
- Gesellschaftsrecht: Art. 151 I und II IPRG<br />
b) Bestimmung<br />
aa) LugÜ<br />
In den Art. 52 und 53 LugÜ werden die Wohn- und Sitzfragen geregelt. Dies sind<br />
jedoch Regeln, welche auf die nationalen IPRG weiter verweisen. In der Prüfung ist<br />
zwar der Vorrang des LugÜ zu berücksichtigen, dem Verweis in den genannten Bestimmungen<br />
ist jedoch zu folgen und so gelangt man auf die Bestimmungen des<br />
IPRG.<br />
Ob nun eine Partei in einem Staat, dessen Gerichte angerufen werden ihren Wohnsitz<br />
hat, bestimmt das jeweilige Gericht nach seinem eigenen IPRG. Das angerufene<br />
50
Gericht beurteilt seine Wohnsitzzuständigkeit also nach seinem eigenen Recht –<br />
nach der lex fori.<br />
Ist also ein Gericht in Basel angerufen, entscheidet es nach Schweizer IPRG (Art.<br />
20) die Wohnsitzfrage.<br />
Der Wohnsitz wird also nicht durch das LugÜ autonom bestimmt, sondern es verweist<br />
auf das jeweilige nationale Recht.<br />
bb) IPRG<br />
- natürliche Personen Art. 20 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 IPRG)<br />
Art. 20 IPRG<br />
1 Im Sinne dieses Gesetzes hat eine natürliche Person:<br />
a. ihren Wohnsitz in dem Staat, in dem sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens<br />
aufhält;<br />
b. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat, in dem sie während längerer Zeit lebt,<br />
selbst wenn diese Zeit zum vornherein befristet ist;<br />
c. ihre Niederlassung in dem Staat, in dem sich der Mittelpunkt ihrer geschäftlichen Tätigkeit<br />
befindet.<br />
2 Niemand kann an mehreren Orten zugleich Wohnsitz haben. Hat eine Person nirgends einen<br />
Wohnsitz, so tritt der gewöhnliche Aufenthalt an die Stelle des Wohnsitzes. Die Bestimmungen<br />
des Zivilgesetzbuches über Wohnsitz und Aufenthalt sind nicht anwendbar.<br />
Es geht also nach Schweizer IPRG um die Absicht des dauernden Aufenthalts.<br />
Dabei handelt es sich um ein subjektives Element<br />
Eine Person hat immer nur einen Wohnsitz. Bei Verschollenheit gilt der letztbekannte<br />
Wohnsitz als Wohnsitz.<br />
- Gesellschaften und (andere) juristische Personen (Art. 21 IPRG)<br />
Bei Gesellschaften gilt grundsätzlich der statutarische Sitz, also der Sitz, welcher<br />
in den Statuten bestimmt wurde. Fehlt eine solche statutarische Bezeichnung,<br />
ist der Ort der tatsächlichen Verwaltung massgeblich.<br />
Art. 21 IPRG<br />
1 Bei Gesellschaften gilt der Sitz als Wohnsitz.<br />
2 Als Sitz einer Gesellschaft gilt der in den Statuten oder im Gesellschaftsvertrag bezeichnete<br />
Ort. Fehlt eine solche Bezeichnung, so gilt als Sitz der Ort, an dem die Gesellschaft tatsächlich<br />
verwaltet wird.<br />
3 Die Niederlassung einer Gesellschaft befindet sich in dem Staat, in dem sie ihren Sitz oder<br />
eine Zweigniederlassung hat.<br />
2. gewöhnlicher Aufenthalt<br />
Hat eine Person keinen Wohnsitz, so tritt an dessen Stelle der gewöhnliche Aufenthalt<br />
(Art. 20 Abs. 2 S. 2 IPRG). Den gewöhnlichen Aufenthalt hat eine Person in dem<br />
Staat, in welchem sie für längere Zeit lebt, selbst wenn diese Zeit im Vorhinein befristet<br />
ist.<br />
51
a) Bedeutung<br />
- Begründung eines subsidiären allgemeinen Gerichtsstandes (Art. 2 i. V. m.<br />
Art. 20 Abs. 2 S. 2 IPRG)<br />
Der Aufenthaltsort begründet einen subsidiären Gerichtsstand, wenn kein<br />
Wohnsitz feststellbar ist. Es handelt sich um einen allgemeinen Gerichtsstand,<br />
weil er subsidiär an die Stelle des anderen allgemeinen Gerichtsstandes des<br />
Wohnsitzes tritt.<br />
- Begründung besonderer alternativer (z.B. Art. 67, 71 I und 79 I IPRG) oder<br />
subsidiärer (z.B. Art. 98 I, 112 I, 127 und 129 IPRG) Gerichtsstände<br />
Der Gerichtsstand des Aufenthaltsorts kann aber auch in Einzelfällen zu einem<br />
besonderen Gerichtsstand werden und tritt dann alternativ – also auch<br />
als primärer Gerichtsstand – neben den Wohnsitzgerichtsstand.<br />
Ein Beispiel hierfür wäre Art. 67 IPRG für Kindesrechtsverhältnisse. Hier wird<br />
ausnahmsweise alternativ auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes abgestellt.<br />
b) Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts<br />
Der gewöhnliche Aufenthalt wird nach Art. 20 Abs. 1 lit. b IPRG bestimmt: Massgeblich<br />
ist der tatsächliche Mittelpunkt der Lebensführung. Es müssen also soziale Kontakte<br />
an diesem Ort bestehen wie beispielsweise Vereinsmitgliedschaften, Schule,<br />
Studium, etc.<br />
3. Niederlassung<br />
a) Bedeutung<br />
Die Niederlassung ist nur nach LugÜ ein genereller Gerichtsstand, nicht jedoch nach<br />
IPRG. Dort finden sich als genereller Gerichtsstand nur der Wohnsitz oder subsidiär<br />
der gewöhnliche Aufenthalt – nicht jedoch die Niederlassung.<br />
- Begründung eines generellen Gerichtsstandes (Art. 5 Ziff. 5 LugÜ)<br />
Art. 5 LugÜ<br />
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem<br />
anderen Vertragsstaat verklagt werden,<br />
[…]<br />
5. wenn es sich um Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur<br />
oder einer sonstigen Niederlassung handelt, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich diese<br />
befindet;<br />
[…]<br />
Somit kann neben dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagtenwohnsitzes<br />
(Art. 2 LugÜ) gemäss Art. 5 Ziff. 5 LugÜ alternativ – als besonderer Gerichtsstand<br />
– am Ort der Niederlassung geklagt werden. Dies ist jedoch nur für die<br />
in Art. 5 LugÜ genannten Sachverhalte möglich.<br />
52
- Begründung eines besonderen Gerichtsstandes (z.B. IPRG 112 II, 131)<br />
Im IPRG findet sich der Ort der Niederlassung ausserdem vereinzelt als besonderer<br />
Gerichtsstand – vor allem für vertragsrechtliche Streitigkeiten.<br />
Art. 112 IPRG<br />
1 […]<br />
2 Für Klagen aufgrund der Tätigkeit einer Niederlassung in der Schweiz sind überdies die Gerichte<br />
am Ort der Niederlassung zuständig.<br />
Dies gilt jedoch nur für Streitigkeiten, welche eine vertragliche Grundlage haben.<br />
Dort besteht nun neben dem gewöhnlichen Gerichtsstand des Wohnsitzes<br />
des Beklagten, der besondere Gerichtsstand am Ort der Tätigkeit einer<br />
Niederlassung. Der Rechtsstreit muss dann aber mit der Tätigkeit dieser Niederlassung<br />
zusammenhängen.<br />
b) Bestimmung<br />
aa) LugÜ<br />
Die Bestimmung des Ortes der Niederlassung erfolgt im LugÜ autonom. Es definiert<br />
diesen als Mittelpunkt der geschäftlichen oder beruflichen Tätigkeit von einiger Dauer<br />
als Aussenstelle eines Stammhauses. Die Niederlassung muss jedoch räumlich<br />
verselbständigt sein.<br />
Im Gegensatz zum IPRG kann es sich im LugÜ dabei auch um eine Tochtergesellschaft<br />
handeln, also um eine Organisationseinheit, welche auch rechtlich verselbständigt<br />
ist und als eigenes Rechtssubjekt im Rechtsverkehr auftritt.<br />
bb) IPRG<br />
Nach IPRG ist der Niederlassungsbegriff vom unternehmensrechtlichen, also vom<br />
gesellschaftsrechtlichen Niederlassungsbegriff zu unterscheiden.<br />
Der Begriff im IPR ist teils enger, teils aber auch weiter gefasst.<br />
aaa) Niederlassung natürlicher Personen<br />
Bei natürlichen Personen ist der Begriff der Niederlassung enger gefasst. Dort ist nur<br />
die Hauptniederlassung massgeblich. Zweigniederlassungen werden bei natürlichen<br />
Personen nicht erfasst.<br />
Art. 20 IPRG<br />
1 Im Sinne dieses Gesetzes hat eine natürliche Person:<br />
a. ihren Wohnsitz in dem Staat, in dem sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält;<br />
b. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat, in dem sie während längerer Zeit lebt, selbst<br />
wenn diese Zeit zum vornherein befristet ist;<br />
c. ihre Niederlassung in dem Staat, in dem sich der Mittelpunkt ihrer geschäftlichen Tätigkeit<br />
befindet.<br />
2 Niemand kann an mehreren Orten zugleich Wohnsitz haben. Hat eine Person nirgends einen<br />
Wohnsitz, so tritt der gewöhnliche Aufenthalt an die Stelle des Wohnsitzes. Die Bestimmungen des<br />
Zivilgesetzbuches über Wohnsitz und Aufenthalt sind nicht anwendbar.<br />
53
) Niederlassung von Gesellschaften und (anderen) juristischen Personen<br />
Bei diesen Personen wird der Niederlassungsbegriff weiter gefasst. Nach Art. 21<br />
Abs. 3 IPRG enthält der Begriff der Niederlassung<br />
- den statutarischen Sitz,<br />
- den Ort der Hauptniederlassung sowie<br />
- die Zweigniederlassung.<br />
Art. 21 IPRG<br />
1 Bei Gesellschaften gilt der Sitz als Wohnsitz.<br />
2 Als Sitz einer Gesellschaft gilt der in den Statuten oder im Gesellschaftsvertrag bezeichnete Ort.<br />
Fehlt eine solche Bezeichnung, so gilt als Sitz der Ort, an dem die Gesellschaft tatsächlich verwaltet<br />
wird.<br />
3 Die Niederlassung einer Gesellschaft befindet sich in dem Staat, in dem sie ihren Sitz oder eine<br />
Zweigniederlassung hat.<br />
Fall 8: Die Ehe von M und F ist gescheitert. Der marokkanische Staatsbürger M<br />
verlässt die gemeinsame Wohnung in Paris und macht sich auf den Weg nach Rabat,<br />
wo seine Familie wohnt. Dort beabsichtigt er den Rest seines Lebens zu<br />
verbringen. Die Schweizerin F löst die Wohnung in Paris auf und macht sich auf den<br />
Weg nach Genf, wo sie geboren wurde. Dort nimmt sie ein kleines Appartement, wo<br />
sie dauernd wohnen bleiben will. M weigert sich nach einigen Monaten, der schlecht<br />
verdienenden F einen Unterhalt zu bezahlen.<br />
Sind die Genfer Gerichte für die Unterhaltsklage der F gegen M international und<br />
örtlich zuständig?<br />
1. Um welchen Fragekreis geht es? Zuständigkeit (1. Fragekreis)<br />
2. Es geht um ein familienrechtliches Thema: Unterhaltszahlungen<br />
3. Art. 1 Abs. 2 IPRG: Sind irgendwelche Staatsverträge zu berücksichtigen?<br />
Antwort: Ja, das LugÜ.<br />
4. Sachlicher Anwendungsbereich des LugÜ gegeben?<br />
Ja; Zivil- und Handelssachen<br />
5. Einschränkungen gem. Art. 1 Abs. 2 LugÜ?<br />
Eingeschränkt nur für Güterstände, nicht für Unterhaltszahlungen<br />
6. Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich<br />
Grobe Subsumtion: Welche Vorschriften des LugÜ könnten anwendbar sein?<br />
a. Allgemeiner Beklagtengerichtsstand?<br />
führt nach Rabat<br />
b. Konkreter Gerichtsstand in Genf gegeben?<br />
Art. 5 Ziff. 2 LugÜ: Damit M gemäss Art. 5 Ziff. 2 LugÜ in der<br />
Schweiz verklagt werden kann, müsste er seinen Wohnsitz in einem<br />
anderen Vertragsstaat haben<br />
7. Wie wird nun der Wohnsitz bestimmt?<br />
Das LugÜ bestimmt den Wohnsitz nicht autonom, sondern es verweist auf nationales<br />
Recht.<br />
54
Art. 52 LugÜ<br />
1 Ist zu entscheiden, ob eine Partei im Hoheitsgebiet des Vertragsstaats, dessen Gerichte<br />
angerufen sind, einen Wohnsitz hat, so wendet das Gericht sein Recht an.<br />
2 Hat eine Partei keinen Wohnsitz in dem Staat, dessen Gerichte angerufen sind, so wendet<br />
das Gericht, wenn es zu entscheiden hat, ob die Partei einen Wohnsitz in einem anderen<br />
Vertragsstaat hat, das Recht dieses Staates an.<br />
In casu wurde das Genfer Gericht angerufen. Dieses prüft gemäss Art. 52<br />
Abs. 1 LugÜ nach seinem eigenen Recht, also nach Schweizer IPRG, ob M<br />
seinen Wohnsitz in der Schweiz hat.<br />
Der Wohnsitz wird im IPRG in Art. 20 Abs. 1 lit. a geregelt.<br />
Art. 20 IPRG<br />
1 Im Sinne dieses Gesetzes hat eine natürliche Person:<br />
a. ihren Wohnsitz in dem Staat, in dem sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens<br />
aufhält;<br />
[…]<br />
M hat die Absicht, in Marokko zu bleiben. Somit hat er seinen Wohnsitz nicht<br />
in der Schweiz.<br />
8. Hat M eventuell seinen Wohnsitz in einem Vertragsstaat?<br />
Kommt das Gericht nun zum Ergebnis, dass M keinen Wohnsitz in der<br />
Schweiz hat, so muss es gemäss Art. 52 Abs. 2 LugÜ prüfen, ob er eventuell<br />
in einem anderen Vertragsstaat seinen Wohnsitz hat. Die Bestimmung des<br />
Wohnsitzes, richtet sich dann nach dem Recht dieses Staates.<br />
Es ist nun zu vermuten, dass M seinen Wohnsitz in Marokko hat. Somit ist zu<br />
prüfen, ob Marokko Vertragsstaat des LugÜ ist.<br />
Marokko ist nicht Vertragsstaat. Der Wohnsitz bestimmt sich somit nicht<br />
nach Art. 52 Abs. 2 LugÜ.<br />
Da M seinen Wohnsitz nicht in einem Vertragsstaat hat, ist das LugÜ nicht anwendbar.<br />
Fazit: Da das LugÜ nicht zur Anwendung kommt, wendet im konkreten Fall das<br />
Schweizer Gericht sein IPRG an. Das Eherecht ist in den Art. 43 ff IPRG geregelt.<br />
Art. 46 IPRG<br />
Für Klagen oder Massnahmen betreffend die ehelichen Rechte und Pflichten sind die schweizerischen<br />
Gerichte oder Behörden am Wohnsitz oder, wenn ein solcher fehlt, diejenigen am gewöhnlichen<br />
Aufenthalt eines der Ehegatten zuständig.<br />
Der Wohnsitz bestimmt sich nach Art. 20 IPRG. F hat die Absicht, in der Schweiz zu<br />
bleiben. Sie hat also ihren Wohnsitz in der Schweiz. Gemäss Art. 46 IPRG sind die<br />
Gerichte am Wohnsitz eines der Ehegatten zuständig. F hat Ihren Wohnsitz in Genf,<br />
womit die Genfer Gerichte zuständig sind.<br />
55
Fall 9 (nach BGE vom 26.09.2002, 5C.139/2002): Die Ehe von A und B ist gescheitert.<br />
A bleibt in Basel wohnen. B beginnt ein Studium in Freiburg im Breisgau. Er hält<br />
sich dort während der Woche auf und hat eine eigene Wohnung. In Freiburg verfügt<br />
er – wenn auch in beschränktem Masse – über gewisse soziale Kontakte. An den<br />
Wochenenden kehrt er immer zu seiner Mutter nach Rheinfelden (Schweiz) zurück.<br />
Dort befindet sich auch der Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse: Er unternimmt<br />
viel mit Freunden und ist auch im örtlichen Tischtennisverein engagiert.<br />
Ist das von der A wegen möglicherweise gegenüber B bestehender Unterhaltsansprüche<br />
angerufene Basel-städtische Gericht örtlich zuständig?<br />
4. Staatsangehörigkeit<br />
a) Bedeutung der Staatsangehörigkeit<br />
Im Schweizer Recht ist die Staatsangehörigkeit nicht so bedeutsam – im Gegensatz<br />
beispielsweise zum deutschen Recht. Es ist grundsätzlich nur eine subsidiäre Zuständigkeit<br />
am Heimatgerichtsstand gegeben.<br />
Die Staatsangehörigkeit hat ausserdem nur Bedeutung für das nationale IPRG und<br />
keine Bedeutung für das LugÜ. Im LugÜ wird auf den Wohnsitz und nicht auf die<br />
Staatsangehörigkeit abgestellt.<br />
Die Staatsangehörigkeit ist ein alternativer und subsidiärer Gerichtsstand. Das IPRG<br />
spricht nicht von der Staatsangehörigkeit, sondern meistens vom Schweizer Bürgerrecht<br />
oder der Eigenschaft als Schweizer Bürger.<br />
Der Heimatgerichtsstand liegt am Heimatort. Dieser bestimmt sich nach den Kriterien,<br />
nach welchen sich auch die Staatsangehörigkeit bestimmt.<br />
aa) Begründung eines besonderen alternativen Gerichtsstands<br />
- Art. 43 Abs. 1 IPRG: Eheschliessung<br />
- Art. 80 IPRG: Wirkung des Kindesverhältnisses<br />
- Art. 59 lit. b: Scheidung und Trennung<br />
bb) Begründung eines besonderen subsidiären Notgerichtsstands<br />
Bei Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit eines Gerichtsstands im Ausland begründen<br />
beispielsweise die Artikel 47, 60, 67, 76 I oder 87 I IPRG einen subsidiären schweizerischen<br />
Heimatgerichtsstand.<br />
Vor allem bei den personen-, familien- und erbrechtlichen Fragen gibt es häufig Notgerichtsstände<br />
am Heimatort.<br />
b) Bestimmung<br />
aa) Einfache Staatsangehörigkeit<br />
Die Frage nach dem Recht, welches die Staatsangehörigkeit bestimmt, wird von den<br />
Art. 22 bis 24 IPRG beantwortet.<br />
56
Art. 22 IPRG<br />
Die Staatsangehörigkeit einer natürlichen Person bestimmt sich nach dem Recht des Staates, zu dem<br />
die Staatsangehörigkeit in Frage steht.<br />
Art. 22 IPRG ist immer dann anwendbar, wenn es um die Schweizer Staatsangehörigkeit<br />
geht.<br />
bb) mehrfache Staatsangehörigkeit<br />
Art. 23 IPRG regelt die Mehrstaatlichkeit. Gemäss Art. 23 Abs. 1 IPRG genügt zur<br />
Begründung des Heimatgerichtsstandes in der Schweiz einzig die Schweizer Staatsbürgerschaft.<br />
Es ist also ausreichend, dass die betreffende Person die Schweizer<br />
Staatsbürgerschaft besitzt.<br />
Art. 23 IPRG<br />
1 Besitzt eine Person neben der schweizerischen eine andere Staatsangehörigkeit, so ist für die<br />
Begründung eines Heimatgerichtsstandes ausschliesslich die schweizerische Staatsangehörigkeit<br />
massgebend.<br />
2 Besitzt eine Person mehrere Staatsangehörigkeiten, so ist, soweit dieses Gesetz nichts anderes<br />
vorsieht, für die Bestimmung des anwendbaren Rechts die Angehörigkeit zu dem Staat massgebend,<br />
mit dem die Person am engsten verbunden ist.<br />
3<br />
Ist die Staatsangehörigkeit einer Person Voraussetzung für die Anerkennung einer ausländischen<br />
Entscheidung in der Schweiz, so genügt die Beachtung einer ihrer Staatsangehörigkeiten.<br />
cc) Staatenlosigkeit<br />
Bei Staatenlosigkeit wird gemäss Art. 24 Abs. 3 IPRG hilfsweise an den Wohnsitz<br />
angeknüpft.<br />
5. Heimatort<br />
a) Bedeutung<br />
Es gibt weiter die Möglichkeit, dass eine Zuständigkeit am Heimatort begründet wird<br />
– unabhängig von der Staatsangehörigkeit.<br />
Sollten aus irgendwelchen Gründen die Staatsangehörigkeit und der Heimatort auseinander<br />
fallen, kann gemäss Art. 71 Abs. 1 IPRG am Heimatort der Mutter oder des<br />
Vaters eine Zuständigkeit begründet werden. Dies ist jedoch selten relevant.<br />
Art. 71 IPRG<br />
1 Für die Entgegennahme der Anerkennung sind die schweizerischen Behörden am Geburtsort oder am gewöhnlichen<br />
Aufenthalt des Kindes, sowie die Behörden am Wohnsitz oder am Heimatort der Mutter oder des Vaters<br />
zuständig.<br />
2 Erfolgt die Anerkennung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, in dem die Abstammung rechtserheblich<br />
ist, so kann auch der mit der Klage befasste Richter die Anerkennung entgegennehmen.<br />
3 Für die Anfechtung der Anerkennung sind die gleichen Gerichte zuständig wie für die Feststellung oder Anfechtung<br />
des Kindesverhältnisses (Art. 66 und 67).<br />
57
6. Geburtsort<br />
Art. 71 spricht weiter noch vom Geburtsort. Der ganze Artikel begründet verschiedenste<br />
Zuständigkeiten, welche ein reges Forum Shopping ermöglichen.<br />
II.<br />
Streitgegenständliche Zuständigkeiten<br />
1. Erfüllungsort<br />
a) Bedeutung<br />
Der Erfüllungsort ist ein besonderer, alternativer Gerichtsstand für Vertragsstreitigkeiten<br />
sowohl nach LugÜ, als auch nach IPRG. Für Vertragsstreitigkeiten ist also neben<br />
dem Wohnsitz des Beklagten alternativ der besondere Gerichtsstand am Erfüllungsort<br />
gegeben.<br />
Es ist zuerst jedoch der Anwendungsbereich zu bestimmen: Was sind also Vertragsstreitigkeiten<br />
und Erfüllungsort? Das LugÜ sowie das IPRG stellen diesbezüglich<br />
unterschiedliche Regelungen auf.<br />
aa) LugÜ 5 Ziff. 1<br />
Sofern der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Vertragsstaat hat, gilt Art 5 Ziff. 1<br />
LugÜ:<br />
Art. 5 LugÜ<br />
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen<br />
Vertragsstaat verklagt werden,<br />
1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden,<br />
vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;<br />
wenn ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag<br />
den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer<br />
gewöhnlich seine Arbeit verrichtet; verrichtet der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht<br />
in ein und demselben Staat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung befindet,<br />
die den Arbeitnehmer eingestellt hat;<br />
[…]<br />
Wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens<br />
bilden, ist das Gericht am Erfüllungsort alternativ zum Beklagtenwohnsitz zuständig.<br />
Ein Vertrag im Sinne des LugÜ ist sehr weit zu verstehen. Ein Vertrag ist eine gewillkürte<br />
schuldrechtliche Sonderverbindung, welche auf einer Willensbegründung oder<br />
einer bewussten Reflexion der Beteiligten beruht.<br />
Essentialia negotii sind:<br />
- vertragliche Primärverpflichtungen<br />
Bsp. Kaufvertrag: Lieferanspruch und Kaufpreiszahlung<br />
58
- vertragliche Sekundärverpflichtungen<br />
Bsp. Schadenersatzansprüche<br />
- vertragliche Rückabwicklungspflichten<br />
Das LugÜ sieht weiter als das Schweizer Recht die Rückabwicklungspflichten<br />
explizit vor. Somit sind auch die Rückabwicklungspflichten unter den Begriff<br />
der Vertragsstreitigkeiten zu subsumieren.<br />
- teilweise vorvertragliche Pflichten<br />
Bsp. c. i. c., Informationspflichten, Schutzpflichten im Zusammenhang mit einem<br />
möglichen Vertragsschluss<br />
bb) IPRG 113<br />
Im Rahmen des IPRG ist der Erfüllungsort nicht alternativer, sondern subsidiärer<br />
Gerichtsstand. Primärer Gerichtsstand ist gemäss den Art. 13 und 112 IPRG der<br />
Beklagtenwohnsitz.<br />
Art. 112 IPRG<br />
1 Für Klagen aus Vertrag sind die schweizerischen Gerichte am Wohnsitz des Beklagten oder, wenn<br />
ein solcher fehlt, diejenigen an seinem gewöhnlichen Aufenthalt zuständig.<br />
2 Für Klagen aufgrund der Tätigkeit einer Niederlassung in der Schweiz sind überdies die Gerichte am<br />
Ort der Niederlassung zuständig.<br />
Art. 113 IPRG<br />
Hat der Beklagte weder Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt, noch eine Niederlassung in der<br />
Schweiz, ist aber die Leistung in der Schweiz zu erbringen, so kann beim schweizerischen Gericht am<br />
Erfüllungsort geklagt werden.<br />
Damit Art. 113 IPRG einen subsidiären Gerichtsstand begründet, muss es sich jedoch<br />
um eine Vertragsstreitigkeit im Sinne des Art. 112 IPRG handeln. Im IPRG ist<br />
der Begriff der Vertragsstreitigkeit enger gefasst. Erfasst werden nur die ersten beiden<br />
Gruppen der Primär- und Sekundärleistungspflichten. Vertragliche Rückabwicklung<br />
und die vorvertraglichen Pflichten werden nur im Rahmen des LugÜ behandelt.<br />
b) Bestimmung<br />
aa) LugÜ<br />
- gesonderte Bestimmung für die einzelnen vertraglichen Hauptleistungspflichten<br />
Der Anlass für die Kaufpreiszahlung ist somit separat vom Anlass für den Lieferungsanspruch<br />
zu prüfen<br />
- Bestimmung nach der lex causae<br />
Der Erfüllungsort wird nach dem in der Sache hypothetisch anwendbaren materiellen<br />
Recht bestimmt.<br />
Beispiel: Verkäufer V klagt 2005 gegen den in München ansässigen Käufer K auf<br />
Kaufpreiszahlung in Basel.<br />
59
Der Basler Verkäufer verklagt also an einem Basler Gericht den Münchner Käufer. Ist<br />
das Basler Gericht zuständig?<br />
- Fragekreis: Zuständigkeit<br />
- Grobsubsumtion: Vertragsstreitigkeit, gewillkürte Sonderverbindung, besonderer<br />
Gerichtsstand am Erfüllungsort<br />
- Ist das LugÜ anwendbar?<br />
o Beklagter muss Wohnsitz in Vertragsstaat haben (+)<br />
o Kaufpreiszahlung ist Primärverpflichtung (+)<br />
- Art. 5 Ziff. 1 LugÜ ist einschlägig (+)<br />
- Zeitliche Anwendbarkeit: ab 1.1.1992 (+)<br />
- Wie wird nun der Erfüllungsort nach LugÜ bestimmt?<br />
o Das Basler Gericht wendet hypothetisch sein eigenes Recht an, es<br />
wendet also Schweizer IPRG an. In Art. 117 IPRG sind besondere Regelungen<br />
enthalten zur Bestimmung des anwendbaren materiellen<br />
Rechts. Art. 116 IPRG bestimmt, dass der Vertrag prinzipiell dem von<br />
den Parteien gewählten Recht untersteht. Fehlt eine solche Regelung,<br />
kommt Art. 117 IPRG zur Anwendung.<br />
Art. 117 IPRG<br />
1 Bei Fehlen einer Rechtswahl untersteht der Vertrag dem Recht des Staates, mit dem er am engsten<br />
zusammenhängt.<br />
2 Es wird vermutet, der engste Zusammenhang bestehe mit dem Staat, in dem die Partei, welche die<br />
charakteristische Leistung erbringen soll, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder, wenn sie den Vertrag<br />
aufgrund einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit geschlossen hat, in dem sich ihre Niederlassung<br />
befindet.<br />
3 Als charakteristische Leistung gilt namentlich:<br />
a. bei Veräusserungsverträgen die Leistung des Veräusserers;<br />
b. bei Gebrauchsüberlassungsverträgen die Leistung der Partei, die eine Sache oder ein<br />
Recht zum Gebrauch überlässt;<br />
c. bei Auftrag, Werkvertrag und ähnlichen Dienstleistungsverträgen die Dienstleistung;<br />
d. bei Verwahrungsverträgen die Leistung des Verwahrers;<br />
e. bei Garantie- oder Bürgschaftsverträgen die Leistung des Garanten oder des Bürgen.<br />
Der engste Zusammenhang bei vertragsrechtlichen Streitigkeiten ist also das massgebliche<br />
Kriterium für die Anknüpfung an das in der Sache anwendbare Recht. Es<br />
wird gemäss Abs. 2 vermutet, dass der engste Zusammenhang mit dem Staat bestehe,<br />
in welchem die Partei, welche die charakteristische Leistung erbringen soll,<br />
ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.<br />
Die charakteristische Leistung bei Kaufverträgen ist gemäss Art. 117 III lit. a IPRG<br />
die Leistung des Veräusserers. Geht es nun um die Zahlungsverpflichtung, ist trotzdem<br />
die massgebliche Leistung des Veräusserers massgeblich.<br />
Das Schweizer Recht ist somit anwendbar. Welche Vorschrift ist nun anwendbar für<br />
den Erfüllungsort für diese Zahlungsverpflichtung? Art. 74 II Ziff. 1 OR<br />
Der Erfüllungsort ist also Basel, was zu einer Zuständigkeit des Basler Gerichts führt.<br />
bb) IPRG<br />
Hat der Käufer nun seinen Wohnsitz nicht in einem Vertragsstaat, stellt sich die Frage<br />
der Bestimmung des Erfüllungsortes nach IPRG.<br />
Es ist streitig ob sich der Erfüllungsort nach der lex causae (BGE 126 III 334, 336) –<br />
also auch hypothetische Zuständigkeit des Schweizer Gerichts (Bestimmung nach<br />
Art. 117 IPRG) – oder nach der lex fori bestimmt. Gemäss Jung hat sich das Bun-<br />
60
desgericht für die erste Variante entschieden. Diese hat den Vorteil, dass sie sich an<br />
den Bestimmungen des LugÜ anlehnt, was eine einheitliche Anwendung dieser Bestimmung<br />
gewährleistet. Grolimund plädiert hingegen für die Bestimmung nach der<br />
lex fori, was von der herrschenden Lehre in der Schweiz befürwortet wird.<br />
2. Handlungs- und Erfolgsort<br />
a) Bedeutung<br />
Ein weiterer besonderer alternativer Gerichtsstand, liegt am Handlung- und Erfolgsort<br />
unerlaubter Handlungen, am sog. Forum delicti. Der Begriff der unerlaubten Handlung<br />
wird sowohl im LugÜ als auch im IPRG unterschiedlich definiert.<br />
aa) LugÜ (Art. 5 Ziff. 3)<br />
Nach LugÜ sind unerlaubte Handlung alle Handlungen, welche nicht auf der gewillkürten<br />
Sonderverbindung, also nicht auf vertraglicher Basis im Sinne des Art. 5 Ziff. 1<br />
LugÜ begründet sind. Für diese Handlungen wird nach Art. 5 Ziff. 3 LugÜ der besondere<br />
alternative Gerichtsstand am Handlungs- oder Erfolgsort begründet.<br />
Art. 5 LugÜ<br />
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen<br />
Vertragsstaat verklagt werden,<br />
1. […]<br />
2. […]<br />
3. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung<br />
gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des<br />
Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten<br />
ist;<br />
[…]<br />
Begriff der unerlaubten Handlung im LugÜ:<br />
- Unerlaubte Handlung im Sinne von Art. 41 OR<br />
- Persönlichkeitsverletzung<br />
- Kausal- und Gefährdungshaftungen (z.B. Produktehaftpflicht)<br />
- Wettbewerbsverstösse (KG, UWG)<br />
- Verletzungen von Immaterialgüterrechten<br />
- Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche des Grundeigentümers<br />
- Regressansprüche zwischen mehreren Schädigern<br />
bb) IPRG (Art. 129 II)<br />
Handlungs- und Erfolgsort sind nach Art. 129 II IPRG nur subsidiäre Gerichtsstände.<br />
Der Beklagtengerichtsstand ist nach IPRG wichtiger.<br />
Art. 129 II IPRG<br />
1 Für Klagen aus unerlaubter Handlung sind die schweizerischen Gerichte am Wohnsitz des Beklagten<br />
oder, wenn ein solcher fehlt, diejenigen an seinem gewöhnlichen Aufenthalt oder am Ort seiner<br />
Niederlassung zuständig.<br />
61
2 Hat der Beklagte weder Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt, noch eine Niederlassung in der<br />
Schweiz, so kann beim schweizerischen Gericht am Handlungs- oder am Erfolgsort geklagt werden.<br />
3 Können mehrere Beklagte in der Schweiz belangt werden und stützen sich die Ansprüche im wesentlichen<br />
auf die gleichen Tatsachen und Rechtsgründe, so kann bei jedem zuständigen Richter<br />
gegen alle geklagt werden; der zuerst angerufene Richter ist ausschliesslich zuständig.<br />
b) Bestimmung des Handlungs- bzw. Erfolgsortes<br />
aa) LugÜ<br />
Art. 5 LugÜ<br />
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen<br />
Vertragsstaat verklagt werden,<br />
1. […]<br />
2. […]<br />
3. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung<br />
gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des<br />
Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten<br />
ist;<br />
[…]<br />
Diese Bestimmung definiert bei genauer Betrachtungsweise nur den Erfolgsort. Allerdings<br />
legt der EuGH diese Bestimmung weit und dahingehend aus, dass damit<br />
auch der Handlungsort gemeint sei. Er definiert den Handlungsort als „…Ort des<br />
einer unerlaubten Handlung zugrunde liegenden ursächlichen Geschehens…“. Er ist<br />
der Ort, an dem sich eine unerlaubte Handlung abspielt, wo das Geschehen, welches<br />
dem Delikt zugrunde liegt ausgelöst wird und die Kausalkette ihren Lauf nimmt.<br />
Demgegenüber wird der Erfolgsort definiert als „…Ort des Erstschadens, d.h. Ort der<br />
konkreten ersten und unmittelbaren Rechtsgutsverletzung…“.<br />
Dies bedeutet weiter:<br />
- keine Berücksichtigung von Folgeschäden<br />
- keine Berücksichtigung von mittelbaren Schädigungen Dritter<br />
- mehrere Erfolgsorte bei Steuerdelikten<br />
Besonders zu beachten ist die Problematik der sog. Streuschäden.<br />
Wird beispielsweise eine Persönlichkeitsverletzung über die Medien in verschiedene<br />
Länder verbreitet, entstehen verschiedene Erfolgsorte in den jeweiligen Ländern.<br />
In diesen einzelnen Ländern kann jedoch nur anteilig vorgegangen werden. In der<br />
Schweiz, als einer der verschiedenen Erfolgsorte beispielsweise, kann nur der in der<br />
Schweiz entstandene Schaden geltend gemacht werden. Der Gesamtschaden der<br />
Rechtsgutverletzung kann ebenfalls nur am Beklagtenwohnsitz geltend gemacht<br />
werden.<br />
bb) IPRG<br />
Zur Bestimmung im IPRG ist nichts anderes zu sagen. Hier gilt dasselbe, wie das<br />
bereits zum LugÜ erläuterte.<br />
62
3. Belegenheitsort<br />
Auch der Belegenheitsort ist kein <strong>allgemeiner</strong>, sondern ein besonderer Gerichtsstand,<br />
vor allem für sachen- und erbrechtliche Fragestellungen.<br />
a) Bedeutung<br />
aa) unbewegliche Sachen<br />
Bei unbeweglichen Sachen ist der Belegenheitsort ausschliesslicher zwingender<br />
Gerichtsstand nach Art. 16 Ziff. 1 lit. a LugÜ, bzw. Art. 97 IPRG (forum rei sitae).<br />
Für Nachlassgrundstücke sind weiter die Art. 86 II und 88 IPRG zu berücksichtigen.<br />
Art. 16 LugÜ<br />
Ohne Rücksicht auf den Wohnsitz sind ausschliesslich zuständig<br />
1. a) für Klagen, welche dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen sowie die Miete<br />
oder Pacht von unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben, die Gerichte des<br />
Vertragsstaats, in dem die unbewegliche Sache belegen ist,<br />
b) für Klagen betreffend die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen zum vorübergehenden<br />
privaten Gebrauch für höchstens sechs aufeinander folgende Monate sind<br />
jedoch auch die Gerichte des Vertragsstaats zuständig, in dem der Beklagte seinen<br />
Wohnsitz hat, sofern es sich bei dem Mieter oder Pächter um eine natürliche<br />
Person handelt und weder die eine noch die andere Partei ihren Wohnsitz in dem<br />
Vertragsstaat hat, in dem die unbewegliche Sache belegen ist;<br />
2. für Klagen, welche die Gültigkeit, die Nichtigkeit oder die Auflösung einer Gesellschaft<br />
oder juristischen Person oder der Beschlüsse ihrer Organe zum Gegenstand haben, die<br />
Gerichte des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft oder juristische<br />
Person ihren Sitz hat;<br />
3. für Klagen, welche die Gültigkeit von Eintragungen in öffentliche Register zum Gegenstand<br />
haben, die Gerichte des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Register geführt<br />
werden;<br />
4. für Klagen, welche die Eintragung oder die Gültigkeit von Patenten, Warenzeichen,<br />
Mustern und Modellen sowie ähnlicher Rechte, die einer Hinterlegung oder Registrierung<br />
bedürfen, zum Gegenstand haben, die Gerichte des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet<br />
die Hinterlegung oder Registrierung beantragt oder vorgenommen worden ist oder<br />
aufgrund eines zwischenstaatlichen Übereinkommens als vorgenommen gilt;<br />
5. für Verfahren, welche die Zwangsvollstreckung aus Entscheidungen zum Gegenstand<br />
haben, die Gerichte des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Zwangsvollstreckung<br />
durchgeführt werden soll oder durchgeführt worden ist.<br />
Gemäss Art. 16 LugÜ kommt es nicht auf den Wohnsitz an, sondern der ausschliessliche<br />
Gerichtsstand befindet sich am Belegenheitsort, allerdings unter der Voraussetzung,<br />
dass die Gerichte eines Vertragsstaates angerufen worden sind und sich die<br />
unbewegliche Sache in diesem Vertragsstaat befindet.<br />
bb) bewegliche Sachen<br />
Der Gerichtstand des Belegenheitsortes einer beweglichen Sache ist prinzipiell unerheblich,<br />
denn es greift primär nach Art. 2 I LugÜ, bzw. Art. 98 I IPRG der Beklagtenwohnsitz.<br />
Es gibt jedoch Ausnahmen, bei welchen auch der Belegenheitsort einer beweglichen<br />
Sache einen subsidiären oder alternativen Gerichtsstand begründet:<br />
1. Art. 88 IPRG: die ausländischen Behörden weigern sich, sich mit dem beweglichen<br />
Nachlass in der Schweiz zu befassen<br />
63
2. Art. 98 II IPRG: Es bestehen kein Wohnsitz oder Aufenthaltsort in der<br />
Schweiz<br />
Art. 88 IPRG<br />
1 War der Erblasser Ausländer mit letztem Wohnsitz im Ausland, so sind die schweizerischen Gerichte<br />
oder Behörden am Ort der gelegenen Sache für den in der Schweiz gelegenen Nachlass zuständig,<br />
soweit sich die ausländischen Behörden damit nicht befassen.<br />
2 Befindet sich Vermögen an mehreren Orten, so sind die zuerst angerufenen schweizerischen Gerichte<br />
oder Behörden zuständig.<br />
Art. 98 IPRG<br />
1 Für Klagen betreffend dingliche Rechte an beweglichen Sachen sind die schweizerischen Gerichte<br />
am Wohnsitz oder, wenn ein solcher fehlt, diejenigen am gewöhnlichen Aufenthalt des Beklagten<br />
zuständig.<br />
2 Hat der Beklagte in der Schweiz weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt, so sind die schweizerischen<br />
Gerichte am Ort der gelegenen Sache zuständig.<br />
Für Kulturgüter stellt Art. 98a IPRG eine spezielle Vorschrift auf.<br />
Art. 98a IPRG<br />
Für Klagen auf Rückführung von Kulturgut nach Artikel 9 des Kulturgütertransfergesetzes vom 20.<br />
Juni 2003 ist das Gericht am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei oder am Ort, an dem das Kulturgut<br />
sich befindet, zuständig.<br />
III.<br />
Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs<br />
Dabei handelt es sich nicht um Gerichtsstände für spezielle, einzelne Sachbereiche,<br />
wie beispielsweise für das Erb- oder Sachenrecht, sondern um allgemeine Gerichtsstände,<br />
die alternativ neben den allgemeinen Gerichtsstand des Beklagtenforums<br />
treten.<br />
1. Widerklage<br />
Klage und Widerklage betreffen denselben sachlichen Zusammenhang und wollen<br />
auch von ein und demselben Gericht entschieden werden.<br />
Die entsprechenden Regelungen finden sich in Art. 6 Ziff. 3 LugÜ, bzw. Art. 8 IPRG.<br />
Art. 6 LugÜ<br />
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann auch verklagt<br />
werden,<br />
1. […]<br />
2. […]<br />
3. wenn es sich um eine Widerklage handelt, die auf denselben Vertrag oder Sachverhalt wie die<br />
Klage selbst gestützt wird, vor dem Gericht, bei dem die Klage selbst anhängig ist;<br />
4. […]<br />
64
Art. 8 IPRG<br />
Das Gericht, bei dem die Hauptklage hängig ist, beurteilt auch die Widerklage, sofern zwischen<br />
Haupt- und Widerklage ein sachlicher Zusammenhang besteht.<br />
Konnexität ist gegeben, wenn die Widerklage dasselbe Rechtsverhältnis betrifft wie<br />
die Klage, d.h. eine Identität des Sachverhalts gegeben ist. Das LugÜ sagt „…auf<br />
den selben Vertrag…“, meint damit aber ebenfalls denselben Sachverhalt oder dasselbe<br />
Rechtsverhältnis. Man spricht dabei von tatsächlicher Konnexität.<br />
Weiter können die beiden Sachverhalte zwar unterschiedlich sein, dennoch aber eine<br />
enge Beziehung der Rechtsfragen zueinander haben. In diesen Fällen spricht man<br />
von rechtlicher Konnexität.<br />
2. Passive Streitgenossenschaft<br />
Ein Gerichtsstand kann auch durch die passive Streitgenossenschaft begründet<br />
werden. Dabei wird einer der passiven Streitgenossen beklagt, womit das Beklagtenforum<br />
zur Anwendung gelangt. Wird die Klage nun auf die anderen Streitgenossen<br />
ausgedehnt, befindet sich auch für diese der Gerichtsstand am Ort des zuerst angerufenen<br />
Gerichtes.<br />
Art. 6 Ziff. 1 LugÜ<br />
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann auch verklagt<br />
werden,<br />
1. wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht, in dessen Bezirk einer<br />
der Beklagten seinen Wohnsitz hat;<br />
[…]<br />
Dieser Praxis ist jedoch nicht ganz unproblematisch, denn mit der Anerkennung des<br />
Gerichtsstandes der passiven Streitgenossenschaft entzieht die Schweiz unter Umständen<br />
einem Beklagten den ausdrücklichen Schutz des Gerichtsstandes an dessen<br />
Wohnort.<br />
Es kann also beispielsweise vorkommen, dass ein Schweizer in China verklagt wird,<br />
bloss weil er dort mit einem dort wohnhaften Beklagten in einer passiven Streitgenossenschaft<br />
steht.<br />
Voraussetzung für diesen heiklen Gerichtsstand ist der sachliche Zusammenhang<br />
zwischen den Klagen (notwendige und einfach Streitgenossenschaft).<br />
3. Streitverkündung<br />
Der Gerichtsstand der Streitverkündung spielt nur für vereinzelte Staaten eine Rolle.<br />
Es handelt sich bei Art. 6 Ziff. 2 LugÜ um den Gerichtsstand beim Gericht des<br />
Hauptprozesses, bei Bestehen von Gewährleistungs- oder Interventionsklagen. Dies<br />
sind Rechtsinstitute, welche das Schweizer Recht nicht kennt und welche nur noch in<br />
bestimmten romanischen Vertragsstaaten des LugÜ vorkommen.<br />
65
Art. 6 Ziff. 1 LugÜ<br />
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann auch verklagt<br />
werden,<br />
1. […]<br />
2. wenn es sich um eine Klage auf Gewährleistung oder um eine Interventionsklage handelt, vor<br />
dem Gericht des Hauptprozesses, es sei denn, dass diese Klage nur erhoben worden ist, um<br />
diese Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen;<br />
[…]<br />
IV.<br />
Notzuständigkeiten<br />
1. Allgemeiner Notgerichtsstand (Art. 3 IPRG)<br />
Art. 3 IPRG begründet eine Notzuständigkeit in den Fällen der Unmöglichkeit oder<br />
der Unzumutbarkeit der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens in einem ausländischen<br />
Staat.<br />
Art. 3 IPRG<br />
Sieht dieses Gesetz keine Zuständigkeit in der Schweiz vor und ist ein Verfahren im Ausland nicht<br />
möglich oder unzumutbar, so sind die schweizerischen Gerichte oder Behörden am Ort zuständig, mit<br />
dem der Sachverhalt einen genügenden Zusammenhang aufweist.<br />
Unmöglichkeit bezieht sich beispielsweise auf Bürgerkriegsverhältnisse, bei welchen<br />
jede Behörde ihre Zuständigkeit verneint, also ein negativer Kompetenzkonflikt vorliegt.<br />
Die zweite Regelung von Art. 3 IPRG betrifft die Unzumutbarkeit einer Gerichtsverhandlung,<br />
beispielsweise aufgrund<br />
- zu hoher Kosten,<br />
- zu langsamer Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nicht gewährleistet),<br />
- Bestechlichkeit der Richter oder<br />
- Gefahren für die Parteien<br />
im betreffenden Land.<br />
Die Unzumutbarkeit muss dabei durch die geltend machende Partei vor dem<br />
Schweizer Gericht dargelegt werden, beispielsweise durch eine Reisewarnung des<br />
EDA.<br />
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist dasjenige Gericht zuständig, welches<br />
„…einen genügenden Zusammenhang…“ aufweist. Dabei kommen beispielsweise<br />
der Wohnsitz einer Partei aber auch etwa ein sachlicher Zusammenhang in Betracht.<br />
2. Besondere Notgerichtsstände<br />
- Art. 47 IPRG<br />
- Art. 67 IPRG<br />
- Art. 76 IPRG<br />
- Art. 87 I IPRG<br />
66
V. Zuständigkeit für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen<br />
Die Zuständigkeit für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen ist, wie bereits ausgeführt,<br />
unabhängig von der Zuständigkeit der Hauptsache zu beurteilen.<br />
Die Art. 10 IPRG sowie Art. 24 LugÜ sind in diesem Zusammenhang die massgeblichen<br />
Bestimmungen.<br />
VI.<br />
Exorbitante Zuständigkeiten<br />
Die exorbitanten Gerichtsstände betreffend ist die „Sündenliste“ des Art. 3 Abs. 2<br />
LugÜ massgeblich. Die Schweiz kennt von diesen nur denjenigen des forum arresti,<br />
also am Belegenheitsort des arrestierten Vermögens gemäss Art. 4 IPRG.<br />
E. gewillkürte Zuständigkeiten<br />
Auch im IPR gilt der Grundsatz der Privatautonomie. Es besteht somit die Möglichkeit,<br />
eine Gerichtsstandsvereinbarung zu treffen. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten,<br />
von welchen die ausdrückliche Gerichtsstandsvereinbarung als vertragliche<br />
Vereinbarung im Vordergrund steht. Praktisch nicht weniger wichtig ist aber auch<br />
die vorbehaltlose oder rügelose Einlassung. Indirekt besteht weiter die Möglichkeit,<br />
über die Bestimmung des Erfüllungsortes die Zuständigkeit zu begründen. Dies in<br />
jenen Fällen, in welchen es in Bezug auf die Zuständigkeit auf den Erfüllungsort<br />
ankommt.<br />
I. Gerichtsstandsvereinbarung<br />
1. Begriff und Wesen einer Gerichtsstandsvereinbarung<br />
Die Gerichtsstandsvereinbarung ist eine ausdrückliche, vertragliche Vereinbarung.<br />
Damit wird die staatliche Gerichtsbarkeit nicht vollständig abgedungen – dies im<br />
Gegensatz zur Schiedsgerichtsvereinbarung, durch welche von der staatlichen Gerichtsbarkeit<br />
abgewichen wird.<br />
Die Gerichtsstandsvereinbarung ist zunächst ein Prozessvertrag, denn sie regelt die<br />
prozessuale Zuständigkeit. Die eigentlich zuständigen Gerichte sind nicht zuständig<br />
oder umgekehrt wird das benannte Gericht zuständig.<br />
Weiter ist diese Vereinbarung auch ein schuldrechtlicher Vertrag, dessen Nichteinhaltung<br />
vertragliche Haftungsfolgen nach sich ziehen kann.<br />
67
2. Anerkennungsvoraussetzungen<br />
a) Anerkennung von Gerichtsstandsvereinbarungen nach Art. 17 LugÜ<br />
Das LugÜ hat auch hier als Staatsvertrag gegenüber dem IPRG Vorrang. Die Voraussetzungen<br />
der Anwendbarkeit sind die folgenden:<br />
aa) Zivil- und Handelssache<br />
Das Erfordernis der Zivil- und Handelssache wurde oben bereits mehrfach erläutert.<br />
bb) Konkretes Rechtsverhältnis<br />
Ein konkretes Rechtsverhältnis besteht einerseits, wenn die Rechtsstreitigkeit bereits<br />
besteht. Die Parteien wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie einen konkreten<br />
Gerichtsstand vereinbart haben.<br />
Andererseits kann es sich um einen künftigen, absehbaren Rechtsstreit handeln. Für<br />
diesen wird dann das Rechtsverhältnis sachlich bestimmbar, z.B. „…für Streitigkeiten<br />
aus diesem Vertrag, sind die Gerichte in X zuständig…“.<br />
cc) Disposivität der derogierten Gerichtsstände<br />
Die sich nach objektivem Recht ergebenden Gerichtsstände müssen abdingbar sein,<br />
es muss sich also um dispositive Gerichtsstände handeln. Sie sind insbesondere in<br />
zwei Fällen nicht derogierbar:<br />
- Keine Derogation eines für künftige Rechtsstreitigkeiten zwingenden Gerichtsstandes<br />
(Art. 17 Abs. 3 i. V. m. 12, 15 und 17 Abs. 5 LugÜ)<br />
Bei künftigen Rechtsstreitigkeiten ist jeweils besonders aufzupassen. Es ist<br />
vorab zu prüfen, ob es sich überhaupt um ein genügend bestimmtes Rechtsverhältnis<br />
handelt, bzw. ob es genügend konkret ist.<br />
- Keine Derogation eines generell zwingenden Gerichtsstands (Art. 17 Abs. 3 i.<br />
V. m. 16 LugÜ)<br />
Gerichtsstände zum Schutz von besonders schutzwürdigen Personen sind<br />
vielfach zwingend und können daher nicht abbedungen werden.<br />
dd) Formwirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung<br />
Formanforderungen nach Art. 17 Abs. 1 LugÜ<br />
Hinter der Begründung der gesetzlichen Gerichtsstände steht eine gewisse Schutzüberlegung.<br />
Von diesem Schutz wird mit einer Gerichtsstandsvereinbarung jedoch<br />
bewusst abgewichen und er wird ausser Kraft gesetzt. Es drängt sich daher ein gewisser<br />
Übereilungsschutz auf. Weiter muss eine derartige Vereinbarung klar bewiesen<br />
werden können. Aufgrund dieser Überlegungen erfordert eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung<br />
eine schriftliche Vereinbarung. Art. 17 LugÜ stellt dabei<br />
geringere Anforderungen als das IPRG in Art. 5. Art. 17 Abs. 1 LugÜ verlangt einzig<br />
die einfache Schriftlichkeit. Es genügt im Gegensatz zum IPRG sogar lediglich die<br />
einseitige schriftliche Bestätigung nur einer der Vertragsparteien. Ausserdem kann<br />
ein Gerichtsstand auch durch die Gepflogenheiten zwischen den Parteien bestimmt<br />
werden (z.B. also auch durch E-Mails).<br />
68
Art. 17 LugÜ<br />
(1) Haben die Parteien, von denen mindestens eine ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines<br />
Vertragsstaats hat, vereinbart, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Vertragsstaats über eine<br />
bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis<br />
entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen, so sind dieses Gericht oder die Gerichte<br />
dieses Staates ausschliesslich zuständig. Eine solche Gerichtstandsvereinbarung muss geschlossen<br />
werden<br />
a) schriftlich oder mündlich mit schriftlicher Bestätigung;<br />
b) in einer Form, welche den Gepflogenheiten entspricht, die zwischen den Parteien<br />
entstanden sind, oder<br />
c) im internationalen Handel in einer Form, die einem Handelsbrauch entspricht, den die<br />
Parteien kannten oder kennen mussten und den Parteien von Verträgen dieser Art in dem<br />
betreffenden Geschäftszweig allgemein kennen und regelmässig beachten.<br />
Wenn eine solche Vereinbarung von Parteien geschlossen wurde, die beide ihren Wohnsitz nicht<br />
im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, so können die Gerichte der anderen Vertragsstaaten<br />
nicht entscheiden, es sei denn, das vereinbarte Gericht oder die vereinbarten Gerichte haben<br />
sich rechtskräftig für unzuständig erklärt.<br />
(2) Ist in schriftlich niedergelegten «trust»-Bedingungen bestimmt, dass über Klagen gegen einen<br />
Begründer, «trustee» oder Begünstigten eines «trust» ein Gericht oder die Gerichte eines Vertragsstaats<br />
entscheiden sollen, so ist dieses Gericht oder sind diese Gerichte ausschliesslich zuständig,<br />
wenn es sich um Beziehungen zwischen diesen Personen oder ihre Rechte oder Pflichten<br />
im Rahmen des «trust» handelt.<br />
(3) Gerichtsstandsvereinbarungen und entsprechende Bestimmungen in «trust»-Bedingungen haben<br />
keine rechtliche Wirkung, wenn sie den Vorschriften der Artikel 12 oder 15 zuwiderlaufen oder<br />
wenn die Gerichte, deren Zuständigkeit abbedungen wird, aufgrund des Artikels 16 ausschliesslich<br />
zuständig sind.<br />
(4) Ist eine Gerichtsstandsvereinbarung nur zugunsten einer der Parteien getroffen worden, so behält<br />
diese das Recht, jedes andere Gericht anzurufen, das aufgrund dieses Übereinkommens zuständig<br />
ist.<br />
(5) Bei individuellen Arbeitsverträgen haben Gerichtsstandsvereinbarungen nur dann rechtliche<br />
Wirkung, wenn sie nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen werden.<br />
ee) Sonstige materielle Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung<br />
Die sonstigen Voraussetzungen einer wirksamen Gerichtsstandsvereinbarung sind<br />
die normalen vertraglichen Voraussetzungen, wie sie in Art. 1 ff. OR auch genannt<br />
werden: Konsens, Handlungsfähigkeit, keine Willensmängel, etc.<br />
Die einzige Problematik in diesen Situationen sind die Beurteilungskriterien, nach<br />
welchen sich die Bestimmung des anwendbaren Rechts bezüglich dieser weiteren<br />
Voraussetzungen richten. Sind nun beispielsweise die Bestimmungen des OR anwendbar<br />
oder diejenigen des BGB?<br />
Das Bundesgericht hat sich in BGE 122 III 439 grundsätzlich für das auf den Hauptvertrag<br />
anwendbare Recht ausgesprochen. Es herrscht also eine Parallelität zwischen<br />
dem anwendbaren Recht aufgrund der Gerichtsstandsvereinbarung und dem<br />
Recht, welches auf den Hauptvertrag zur Anwendung gelangt. Der Beurteilungsmassstab<br />
richtet sich also grundsätzlich nach der lex causae. Ausnahmsweise kann<br />
jedoch nach dem Günstigkeitsprinzip auch die lex fori zur Anwendung gelangen,<br />
wenn damit die Gerichtsstandsvereinbarung wirksam wird.<br />
b) Anerkennung von Gerichtsstandsvereinbarungen nach Art. 5 IPRG<br />
Art. 5 IPRG<br />
1 Für einen bestehenden oder für einen zukünftigen Rechtsstreit über vermögensrechtliche Ansprüche<br />
aus einem bestimmten Rechtsverhältnis können die Parteien einen Gerichtsstand vereinbaren.<br />
69
Die Vereinbarung kann schriftlich, durch Telegramm, Telex, Telefax oder in einer anderen Form der<br />
Übermittlung, die den Nachweis der Vereinbarung durch Text ermöglicht, erfolgen. Geht aus der<br />
Vereinbarung nichts anderes hervor, so ist das vereinbarte Gericht ausschliesslich zuständig.<br />
2 Die Gerichtsstandsvereinbarung ist unwirksam, wenn einer Partei ein Gerichtsstand des schweizerischen<br />
Rechts missbräuchlich entzogen wird.<br />
3 Das vereinbarte Gericht darf seine Zuständigkeit nicht ablehnen:<br />
a. wenn eine Partei ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder eine Niederlassung im<br />
Kanton des vereinbarten Gerichts hat, oder<br />
b. wenn nach diesem Gesetz auf den Streitgegenstand schweizerisches Recht anzuwenden<br />
ist.<br />
aa) konkretes Rechtsverhältnis<br />
Es ist auf die bereits oben gemachten Ausführungen zu verweisen. Es geht also<br />
auch um einen bestehenden Rechtsstreit zwischen den Parteien.<br />
bb) Rechtsstreit über vermögensrechtliche Ansprüche<br />
- Entstehung aus einem vermögensrechtlichen Rechtsverhältnis<br />
Es geht einerseits um Geldansprüche aber auch andererseits um alle geldwerten<br />
Ansprüche wie beispielsweise Lieferansprüche oder Dienstleistungen.<br />
- Entstehung aus einem nicht-vermögensrechtlichen Rechtsverhältnis<br />
Die vermögensrechtlichen Ansprüche können auch aus einem nichtvermögensrechtlichen<br />
Rechtsverhältnis stammen, z.B. Unterhaltsansprüche.<br />
cc) Disposivität der derogierten Gerichtsstände<br />
Art. 114 II IPRG<br />
dd) Formwirksamkeit<br />
Anforderungen nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 IPRG:<br />
- Handelsbräuche oder Gepflogenheiten spielen keine Rolle, ein Gerichtsstand<br />
kann sich also nicht aus den Gepflogenheiten zwischen den Parteien ergeben.<br />
- Eine einseitige Verpflichtung ist im Rahmen des IPRG nicht möglich<br />
ee) Kein missbräuchlicher Entzug eines schweizerischen Gerichtsstandes (Art. 5<br />
Abs. 2 IPRG)<br />
Der Anwendungsbereich von Art. 17 LugÜ ist weiter als derjenige des Art. 5 IPRG.<br />
Zusätzlich muss es sich im Rahmen des Art. 5 IPRG explizit um einen Schweizer<br />
Gerichtsstand handeln.<br />
ff) sonstige materielle Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung<br />
Siehe oben unter 2a ee<br />
gg) Bezeichnung des örtlich zuständigen Gerichts<br />
Im Gegensatz zum LugÜ genügt im Anwendungsbereich des IPRG die Bestimmung<br />
der international zuständigen Gerichte nicht. Die Gerichtsstandsvereinbarung muss<br />
explizit das örtlich zuständige Gericht nennen.<br />
70
Die blosse Berufung der Schweizer Gerichte beispielsweise hat im Anwendungsbereich<br />
des IPRG die Ungültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung zur Folge.<br />
3. Rechtsfolgen<br />
a) Prorogationseffekt<br />
Die Rechtsfolge des Prorogationseffektes tritt immer ein. Vorausgesetzt die Gerichtsstandsvereinbarung<br />
ist gültig, ist das bezeichnete Gericht auf jeden Fall zuständig.<br />
b) Derogationseffekt<br />
Die gesetzlichen, dispositiven Gerichtsstände werden abbedungen. Diese Abbedingung<br />
muss aber zusätzlich von den Parteien auch gewollt sein. Das ist keineswegs<br />
selbstverständlich, denn es kann auch sein, dass die Parteien nur zusätzlich zum<br />
dispositiven einen alternativen Gerichtsstand vereinbaren wollten. Dabei handelt es<br />
sich um eine Auslegungsfrage, welche sowohl durch das LugÜ als auch durch das<br />
IPRG beantwortet wird. Im Zweifel besteht der Derogationseffekt (Art. 17 Abs. 1 S. 1<br />
am Ende LugÜ und Art. 5 Abs. 1 S. 3 IPRG), was die Ausschliesslichkeit des gewillkürten<br />
Gerichtsstands zur Folge hat.<br />
Art. 5 IPRG<br />
1 Für einen bestehenden oder für einen zukünftigen Rechtsstreit über vermögensrechtliche Ansprüche<br />
aus einem bestimmten Rechtsverhältnis können die Parteien einen Gerichtsstand vereinbaren.<br />
Die Vereinbarung kann schriftlich, durch Telegramm, Telex, Telefax oder in einer anderen Form der<br />
Übermittlung, die den Nachweis der Vereinbarung durch Text ermöglicht, erfolgen. Geht aus der<br />
Vereinbarung nichts anderes hervor, so ist das vereinbarte Gericht ausschliesslich zuständig.<br />
2 Die Gerichtsstandsvereinbarung ist unwirksam, wenn einer Partei ein Gerichtsstand des schweizerischen<br />
Rechts missbräuchlich entzogen wird.<br />
3 Das vereinbarte Gericht darf seine Zuständigkeit nicht ablehnen:<br />
a. wenn eine Partei ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder eine Niederlassung im<br />
Kanton des vereinbarten Gerichts hat, oder<br />
b. wenn nach diesem Gesetz auf den Streitgegenstand schweizerisches Recht anzuwenden<br />
ist.<br />
Art. 17 LugÜ<br />
(1) Haben die Parteien, von denen mindestens eine ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines<br />
Vertragsstaats hat, vereinbart, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Vertragsstaats über eine<br />
bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis<br />
entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen, so sind dieses Gericht oder die Gerichte<br />
dieses Staates ausschliesslich zuständig. […]<br />
71
c) Annahmepflicht der derogierten Gerichte<br />
Art. 17 LugÜ<br />
(1) Haben die Parteien, von denen mindestens eine ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines<br />
Vertragsstaats hat, vereinbart, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Vertragsstaats über eine<br />
bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis<br />
entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen, so sind dieses Gericht oder die Gerichte<br />
dieses Staates ausschliesslich zuständig.<br />
Art. 5 IPRG<br />
[…]<br />
3 Das vereinbarte Gericht darf seine Zuständigkeit nicht ablehnen:<br />
a. wenn eine Partei ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder eine Niederlassung im<br />
Kanton des vereinbarten Gerichts hat, oder<br />
b. wenn nach diesem Gesetz auf den Streitgegenstand schweizerisches Recht anzuwenden ist.<br />
Es besteht eine Annahmepflicht der Schweizer Gerichte, sofern ein Bezug besteht.<br />
Fehlt ein solcher, kann das angerufene Schweizer Gericht seine Zuständigkeit verweigern.<br />
Die Parteien sind zwar prinzipiell frei in ihrer Zuständigkeitsbegründung, sie riskieren<br />
aber, dass das Gericht die Annahme des Rechtsstreites mangels genügenden Bezugs<br />
verweigert.<br />
Das LugÜ kommt zur Anwendung, wenn eine Partei ihren Wohn- oder Sitz in einem<br />
Vertragsstaat des LugÜ hat. Das ist der räumlich-persönliche Zusammenhang, den<br />
das LugÜ verlangt. Nur dann besteht die Annahmepflicht des LugÜ.<br />
Nach dem IPRG besteht eine Annahmepflicht der Schweizer Gerichte, wenn eine<br />
Partei ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Kanton des angerufenen<br />
Gerichtes hat (Art. 5 III IPRG).<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine von den Parteien wirksam begründete<br />
Gerichtsstandsvereinbarung in der Regel – aber nicht zwingend – zu einer vom<br />
objektiven Recht abweichenden Zuständigkeit führt.<br />
4. Anwendung von LugÜ oder IPRG<br />
Die Anwendbarkeit des LugÜ richtet sich nach Art. 17 Abs. 1 LugÜ.<br />
Das LugÜ findet Anwendung, wenn:<br />
- sich beide Parteien in unterschiedlichen Vertragsstaaten befinden und die Zuständigkeit<br />
eines Gerichts eines Vertragsstaates vereinbaren.<br />
Dies ist ein Gesichtspunkt, der nicht direkt aus der Bestimmung hervorgeht.<br />
Das LugÜ will aber prinzipiell nur grenzüberschreitende Sachverhalte regeln.<br />
Die Gerichtsstandsvereinbarung muss also ein grenzüberschreitendes Element<br />
enthalten. Dieses kann sich dadurch ergeben, dass die Parteien der Gerichtsstandsvereinbarung<br />
ihren Wohnsitz in verschiedenen Staaten haben,<br />
oder dass<br />
- sich beide Parteien in demselben Vertragsstaat befinden, aber ein Gericht eines<br />
anderen Staates vereinbaren oder<br />
72
- sich nur eine Partei in einem Vertragsstaat befindet und die Partei ein Gericht<br />
dieses Vertragsstaates (strittig) oder eines anderen Vertragsstaates vereinbaren.<br />
Das LugÜ findet keine Anwendung, wenn:<br />
- keine Partei ihren Wohnsitz oder Sitz in einem Vertragsstaat hat (zu beachten<br />
ist lediglich noch die Sperrwirkung von Art. 17 Abs. 1 S. 3 LugÜ)<br />
- sich beide Parteien in demselben Vertragsstaat befinden und ein Gericht dieses<br />
Staates vereinbaren<br />
- die Parteien die Zuständigkeit des Gerichts eines Nichtvertragsstaates vereinbaren<br />
II.<br />
vorbehaltlose Einlassung<br />
Im Rahmen der vorbehaltlosen Einlassung geht es im Gegensatz zur ausdrücklichen<br />
Gerichtsstandsvereinbarung um konkludentes Verhalten der Parteien, ohne dass<br />
diese die Unzuständigkeit des Gerichtes rügen.<br />
1. Voraussetzungen<br />
a) Voraussetzungen nach Art. 18 LugÜ<br />
- Streitigkeit in Zivil- und Handelssachen<br />
- Anrufung des Gerichts eines Vertragsstaates<br />
- vorbehaltlose Einlassung<br />
- keine ausschliessliche Zuständigkeit eines anderen Gerichts nach Art. 16 LugÜ<br />
Da es sich um eine bereits bestehende Rechtsstreitigkeit handelt, kommen die Einschränkungen<br />
der Art. 12 und 15 LugÜ nicht zur Geltung. Nur die ausschliesslichen<br />
Gerichtsstände, insbesondere der Gerichtstand des Ortes der begebenen Sache,<br />
greifen gegen Art. 18 LugÜ durch.<br />
b) Voraussetzungen nach Art. 6 IPRG<br />
- vermögensrechtliche Streitigkeit<br />
- Anrufung eines schweizerischen Gerichts<br />
- Vorbehaltlose Einlassung<br />
- Keine Ablehnungsmöglichkeit, sondern Annahmepflicht des angerufenen Gerichts<br />
(Art. 6 i. V. m. 5 III IPRG)<br />
2. Rechtsfolge<br />
Im Rahmen der vorbehaltlosen Einlassung wird eine Zuständigkeit fingiert, bzw. es<br />
wird angenommen, das angerufene Gericht sei kraft objektiven Rechts zuständig.<br />
73
III.<br />
Vereinbarung des Erfüllungsortes<br />
Die Vereinbarung eines Erfüllungsortes ist die indirekte Möglichkeit, einen Gerichtsstand<br />
zu vereinbaren. Dies gilt logischerweise nur für Vertragsstreitigkeiten, bzw. für<br />
Sachverhalte, bei welchen der Erfüllungsort überhaupt eine Rolle spielt.<br />
!<br />
ACHTUNG<br />
Wenn bei der Vereinbarung des Erfüllungsortes nur die Abweichung<br />
der Zuständigkeit im Vordergrund steht, in den Erwägungen<br />
also nicht nur ein besonderer Erfüllungsort – abweichend<br />
von den gesetzlichen Regelungen – beabsichtigt worden ist, finden<br />
die Formvorschriften für Gerichtsstandsvereinbarungen entsprechend<br />
Anwendung.<br />
Es handelt sich dabei nicht um eine ausschliessliche Zuständigkeit, sondern es wird<br />
ein alternativer Gerichtsstand begründet.<br />
Fall 11 (nach BGE 124 III 436 ff.): Am 3. März 1989 gewährte die D-AG, die in ihren<br />
Statuten Zürich als Sitz angibt, der A-Corp. mit Sitz im Sultanat Oman ein Darlehen.<br />
D liess dieses Darlehen bei der italienischen SACE, die nach italienischem Recht als<br />
Kaufmann gilt, gegen politische und kommerzielle Risiken versichern. In der vom 22.<br />
Februar 1989 datierten Versicherungspolice trafen die Parteien eine Rechtswahl<br />
zugunsten des italienischen Rechts und vereinbarten Rom als Gerichtsstand für alle<br />
Streitigkeiten aus dem Vertragsverhältnis. Nach italienischem IPR hat die SACE<br />
ihren Sitz in Italien.<br />
Am 24. September 1996 erhob die D-AG beim Handelsgericht des Kantons Zürich<br />
Klage, da die A-Corp. sich mit der Darlehensrückzahlung in Verzug befinde. Die<br />
SACE erwiderte, dass das Handelsgericht Zürich aufgrund der zwischen den Parteien<br />
getroffenen Gerichtssandsvereinbarung nicht zuständig sei. Die Vertreter der D-<br />
AG machen geltend, dass durch die Gerichtsstandsvereinbarung keine ausschliessliche<br />
Zuständigkeit begründet werden sollte.<br />
Ist das Handelsgericht des Kantons Zürich für die Klage zuständig?<br />
Fallvariante: Ändert sich etwas, wenn die SACE Sitz in New York hat, nach dem<br />
einschlägigen US-Recht als Kaufmann zu behandeln ist und die Anwendung des in<br />
New York geltenden Rechts sowie New York als Gerichtsstand vereinbart wurde?<br />
1. Internationalität der Fragestellung<br />
Firmen haben Sitz in verschiedenen Staaten (+)<br />
2. Wurde das Gericht in der Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet?<br />
Nach der Gerichtsstandsvereinbarung soll ein Gericht in Rom zuständig sein.<br />
3. Staatsvertrag?<br />
Das LugÜ hat als Staatsvertrag Vorrang.<br />
4. sachliche Anwendbarkeit des LugÜ<br />
Art. 1 LugÜ: Zivil- und Handelssachen; Art. 7 LugÜ: Versicherungssachen<br />
74
Art. 17 LugÜ<br />
(1) Haben die Parteien, von denen mindestens eine ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines<br />
Vertragsstaats hat, vereinbart, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Vertragsstaats<br />
über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem<br />
bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen, so sind<br />
dieses Gericht oder die Gerichte dieses Staates ausschliesslich zuständig. Eine solche<br />
Gerichtstandsvereinbarung muss geschlossen werden<br />
a) schriftlich oder mündlich mit schriftlicher Bestätigung;<br />
b) in einer Form, welche den Gepflogenheiten entspricht, die zwischen den Parteien<br />
entstanden sind, oder<br />
c) im internationalen Handel in einer Form, die einem Handelsbrauch entspricht, den<br />
die Parteien kannten oder kennen mussten und den Parteien von Verträgen dieser<br />
Art in dem betreffenden Geschäftszweig allgemein kennen und regelmässig<br />
beachten.<br />
o Wohnsitz: D-AG ist in Zürich, SACE ist in Italien<br />
Art. 53 LugÜ: Sitz = Wohnsitz<br />
o Gericht in Zürich prüft gemäss Art. 53 I S. 2 LugÜ, ob Sitz der D-AG in<br />
der Schweiz ist<br />
20 f. IPRG: Sitz ist da, wo Statuten bestimmen; D-AG hat Sitz in<br />
Zürich<br />
Fazit: Zürich ist in der Schweiz, Schweiz ist Vertragsstaat. LugÜ ist anwendbar.<br />
5. räumlich-persönliche Anwendbarkeit<br />
Das Gericht eines Vertragsstaates; Rom wurde berufen, Italien ist LugÜ-<br />
Vertragsstaat. Somit wurde in der Gerichtsstandsvereinbarung ein Gericht eines<br />
Vertragsstaates berufen.<br />
6. bereits entstandene oder künftige Rechtsstreitigkeit?<br />
Die Gerichtsstandsvereinbarung bezieht sich auf eine künftige Rechtsstreitigkeit.<br />
7. Bestimmtheit des Rechtsverhältnisses?<br />
Erfasst sind Streitigkeiten aus dem Versicherungsvertrag, Bestimmtheit ist gegeben.<br />
8. Konsens<br />
Gerichtsstandsvereinbarung wurde in einem Vertrag vereinbart; Konsens gegeben<br />
(falls in Bezug auf den Konsens Probleme: italienisches Recht)<br />
9. Formvorschrift nach LugÜ<br />
Schriftform gegeben<br />
10. Gerichtsstandsvereinbarung überhaupt möglich?<br />
Welche Gerichtsstände kommen in Betracht und sind sie zwingend?<br />
Ist hier die Privatautonomie zum Schutz bestimmter Personen eingeschränkt?<br />
Art. 17 III LugÜ verweist auf zwingende, ausschliessliche Zuständigkeiten;<br />
SACE und D-AG sind keine Konsumenten, 15 LugÜ ist nicht massgeblich.<br />
Art. 16 LugÜ legt zwingende Gerichtsstände fest, ist aber nicht einschlägig.<br />
Fazit: Nach allgemeinem Recht wäre Gerichtsstandsvereinbarung wirksam.<br />
75
11. Zürich wird nur verdrängt, wenn der Gerichtsstandsvereinbarung ein ausschliesslicher<br />
Charakter zukommt. Nach Art. 17 I S. 1 LugÜ ist das Gericht<br />
ausschliesslich zuständig. Rom wird somit zum ausschliesslichen Gerichtsstand.<br />
12. Sonderregelungen?<br />
Art. 17 III nimmt auf Art. 12 LugÜ Bezug.<br />
Art. 12 LugÜ<br />
Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen<br />
werden,<br />
1. wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird;<br />
2. wenn sie dem Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten die Befugnis einräumt,<br />
andere als die in diesem Abschnitt angeführten Gerichte anzurufen;<br />
Der D-AG sollte mit Rom keine zusätzliche, sondern die einzige Möglichkeit<br />
gewährt werden. Es sollte also eine ausschliessliche Zuständigkeit bestimmt<br />
werden. Eine solche kann gemäss Ziff. 1 jedoch nur nach Entstehen der Streitigkeit<br />
bestimmt werden.<br />
Es ist nun also zu prüfen, ob die Vereinbarung „Rom“ von den Bestimmungen<br />
„…dieses Abschnitts…“ abweicht. Dies wäre gemäss Art. 12 nicht zulässig,<br />
wenn sie vor der Anhebung des Rechtsstreites getroffen wurde.<br />
Art. 8 LugÜ<br />
Der Versicherer, der seinen Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann<br />
verklagt werden<br />
1. vor den Gerichten des Staates, in dem er seinen Wohnsitz hat;<br />
2. in einem anderen Vertragsstaat vor dem Gericht des Bezirks, in dem der Versicherungsnehmer<br />
seinen Wohnsitz hat<br />
[…]<br />
Die Ziffer 2 gewährt dem Versicherungsnehmer einen Gerichtsstand an seinem<br />
Wohnsitz oder der Gesellschaft an deren Sitz. Dieser Gerichtsstand in<br />
Zürich kann gemäss Art. 17 III i. V. m. 12 Ziff.1 i. V. m. 8 I Ziff. 2 LugÜ dem<br />
Versicherungsnehmer nicht entzogen werden. Es handelt sich um einen zwingenden<br />
Gerichtsstand gegenüber Vereinbarungen ex ante.<br />
In casu liegt keine ex post, sondern eine ex ante Vereinbarung vor, womit eine<br />
ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarung nicht möglich ist.<br />
Das Gericht in Zürich ist somit zuständig.<br />
76
Fall 12 (nach BGE 126 III 334 ff.): Im April 1990 schlossen der in den USA wohnhafte<br />
A und der in Zürich wohnende X einen Darlehensvertrag, auf den Schweizer Recht<br />
Anwendung finden sollte. Ende der 90er Jahre kommt A mit der Rückzahlung des<br />
Darlehens in Verzug, woraufhin X (nach Durchführung eines Sühneverfahrens vor<br />
dem Friedensrichter) Klage zum Bezirksgericht Zürich erhebt. A rügt die Zuständigkeit<br />
des Bezirksgerichts und bestreitet den Abschluss eines Darlehensvertrags.<br />
Ist das Bezirksgericht Zürich international und örtlich zuständig?<br />
Fall 13 (nach BGE 122 III 249 ff.): K verlangt von B Rückzahlung von USD<br />
63'000.00 aufgrund eines diesem gewährten Darlehens. Nach Abschluss des Darlehensvertrages<br />
in Zürich vereinbarten K und B in Anwesenheit des X mündlich die<br />
Anwendbarkeit Schweizer Rechts und die Rückzahlung des Darlehens in Zürich.<br />
Hintergrund dieser Vereinbarung war, dass beide Parteien sich dort oft beruflich<br />
aufhileten und K ohnehin nach der Devise „nur Bares ist Wahres“ lebt.<br />
Nachdem der in London lebende B die Rückzahlung des Darlehens verweigert, erhebt<br />
K (nach ordnungsgemässer Durchführung eines Sühneverfahrens) Klage vor<br />
dem Bezirksgericht Zürich und beantragt, den B zur Zahlung von USD 63'000.00 zu<br />
verurteilen. B rügt die Zuständigkeit des Bezirksgerichts ZH und bestreitet sowohl<br />
den Abschluss eines Darlehensvertrages, als auch die Vereinbarung, dass die Rückzahlung<br />
der Darlehensvaluta in Zürich zu erfolgen habe. K benennt diesbezüglich<br />
den X als Zeugen.<br />
Ist das Bezirksgericht ZH international und örtlich zuständig?<br />
IV.<br />
Schiedsvereinbarung<br />
Fall 14: Im Jahr 2005 schliessen die K-AG mit Sitz in Genf und die B-SA mit Sitz in<br />
Paris einen Kaufvertrag über die Lieferung von 200 Möbelstücken. Auf den Vertrag<br />
soll nach der Vereinbarung der Parteien Schweizer Recht zur Anwendung kommen.<br />
Ferner wird Genf als Erfüllungsort festgelegt. Die Vertragsurkunde sieht vor, dass im<br />
Fall von Streitigkeiten zwischen den Parteien aus dem Vertragsverhältnis das<br />
Schiedsgericht der Zürcher Handelskammer zuständig sein soll.<br />
Nach der Lieferung der Möbel weigert sich die B-SA, den Kaufpreis zu bezahlen und<br />
beruft sich auf angebliche Mängel. „Alles Lüge“, denken sich die Vertreter der K-AG<br />
und erheben Klage bei einem Genfer Gericht. Gleich zu Beginn des Verfahrens<br />
macht der Prozessvertreter der B-SA geltend, dass zwischen den Parteien eine<br />
Schiedsvereinbarung besteht.<br />
Wie reagiert das Genfer Gericht?<br />
1. Begriff<br />
Eine Schiedsvereinbarung derogiert komplett die staatliche Gerichtsbarkeit. Die Fragen<br />
der internationalen Zuständigkeit sind dann gar nicht zu prüfen. Vor den zuständigen<br />
staatlichen Gerichten kann die Einrede der Schiedsvereinbarung erhoben<br />
werden und der staatliche Richter wird sich für unzuständig erklären.<br />
77
2. Arten<br />
Es gibt zwei Arten von Schiedsvereinbarungen:<br />
- Schiedsabrede<br />
Die Schiedsabrede wird auch Schiedsvertrag genannt. Diese ist eine gesonderte<br />
Vereinbarung.<br />
- Schiedsklausel<br />
Die Schiedsklausel ist <strong>Teil</strong> eines anderen Vertrages.<br />
Beispiel: „Alle vertraglichen und ausservertraglichen Rechte und Ansprüche,<br />
die sich aus dem vorvertraglichen, vertraglichen und nachvertraglichen Verhalten<br />
der Parteien dieses Vertrages ergeben, sind ausschliesslich von einem<br />
Schiedsgericht mit Sitz in Basel, nach der Schiedsordnung der internationalen<br />
Handelskammer in Paris, gemäss nationalem Schweizer Recht und nach dem<br />
Zivilprozessrecht des Kantons Basel-Stadt zu entscheiden.<br />
Schiedsabrede und Schiedsklausel haben gemeinsam, dass es darum geht, alle<br />
oder einzelne Streitigkeiten aus einem bestimmten Rechtsverhältnis zu regeln. Die<br />
Streitigkeiten werden einem Schiedsgericht zur abschliessenden Entscheidung unterworfen.<br />
3. Wirksamkeitsvoraussetzung<br />
a) Anwendbares Recht<br />
aa) objektive Wirksamkeitsvoraussetzungen<br />
Hier geht es um die Frage, welches Recht für den Abschluss einer Schiedsvereinbarung<br />
zur Anwendung gelangt. Darunter fallen etwa die Beurteilung des Konsenses,<br />
allfällige Willensmängel, etc. Man nennt dies das Schiedsvertragsstatut, also das in<br />
der Sache anwendbare Recht, wenn es darum geht, die eben genannten Beispiele<br />
zu beurteilen.<br />
Das Schiedsvertragsstatut wird angeknüpft an das sachlich anwendbare Recht. Nach<br />
Art. 178 Abs. 3 IPRG wird in zweierlei Form angeknüpft:<br />
- Rechtswahl: Vorrang der Parteivereinbarung<br />
Hier gilt die Privatautonomie. Auf diese Weise können auch zwingende Gerichtsstände<br />
abbedungen werden – im Gegensatz zur Gerichtsstandsvereinbarung.<br />
Sie können auch das für den Vertrag anwendbare Recht<br />
bestimmen.<br />
- Objektive Anknüpfung<br />
Ansonsten richtet sich die Schiedsvereinbarung nach dem auf den Hauptvertrag<br />
anwendbaren Recht.<br />
Art. 178 IPRG<br />
1 Die Schiedsvereinbarung hat schriftlich, durch Telegramm, Telex, Telefax oder in einer anderen<br />
Form der Übermittlung zu erfolgen, die den Nachweis der Vereinbarung durch Text ermöglicht.<br />
78
2 Die Schiedsvereinbarung ist im Übrigen gültig, wenn sie dem von den Parteien gewählten, dem auf<br />
die Streitsache, insbesondere dem auf den Hauptvertrag anwendbaren oder dem schweizerischen<br />
Recht entspricht.<br />
3 Gegen eine Schiedsvereinbarung kann nicht eingewendet werden, der Hauptvertrag sei ungültig<br />
oder die Schiedsvereinbarung beziehe sich auf einen noch nicht entstandenen Streit.<br />
bb) subjektive Voraussetzungen<br />
Geht es um subjektive Voraussetzungen, beispielsweise um die Handlungs- oder<br />
Rechtsfähigkeit, ist das sog. Personalstatut massgebend.<br />
Im Anwendungsbereich des IPRG sind für die Rechts- und Handlungsfähigkeit die<br />
Art. 34 ff IPRG massgebend.<br />
b) Voraussetzungen<br />
aa) Konsens<br />
Zur Erläuterung des Konsenses kann auf die Ausführungen oben verwiesen werden<br />
(E.2.).<br />
bb) Bestimmbarkeit des Streitgegenstandes und des Schiedsgerichts<br />
Auch hier kann auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen werden.<br />
Der Streitgegenstand muss bestimmbar sein. Es muss sich also um ein genügend<br />
konkretes Rechtsverhältnis handeln. Nur unter diesen Voraussetzungen sind die<br />
Schiedsgerichtsentscheide anerkenn- und vollstreckbar (Art. II Abs. 1 NYÜ; Art. 178<br />
III IPRG).<br />
cc) subjektive Schiedsfähigkeit<br />
Zur subjektiven Schiedsfähigkeit ist zu sagen, dass es unter den einzelnen Sachrechten<br />
besondere Voraussetzungen geben kann.<br />
dd) objektive Schiedsfähigkeit<br />
Der Gegenstand der Rechtsstreitigkeit muss ein möglicher Gegenstand der Schiedsgerichtsbarkeit<br />
sein. Das ist nur bei vermögensrechtlichen Ansprüchen der Fall.<br />
ee) Form<br />
Grundsätzlich bedarf eine Schiedsgerichtsklausel der Schriftform (Art. II Abs. 1, 2<br />
NYÜ, Art. 178 Abs. 1 IPRG). Diese Vorschriften erfahren jedoch zum <strong>Teil</strong> gewisse<br />
Erleichterungen, beispielsweise kann eine Schiedsvereinbarung auch in einer AGB-<br />
Klausel enthalten sein.<br />
!<br />
ACHTUNG<br />
Hinweis:<br />
Die Unwirksamkeit des Hauptvertrages lässt die Wirksamkeit des<br />
Schiedsvertrages grundsätzlich unberührt und umgekehrt (siehe<br />
auch Art. 178 Abs. 3 IPRG).<br />
79
4. Rechtsfolgen<br />
a) Verbindlichkeit der Schiedsvereinbarung<br />
Sind die obgenannten Voraussetzungen gegeben, ist die Schiedsvereinbarung verbindlich.<br />
aa) subjektive Reichweite<br />
- Bindung der Parteien<br />
- Bindung der Gesamt- und Sonderrechtsnachfolger<br />
- Bindung von Konkursverwaltern und persönlich haftenden Gesellschaftern<br />
bb) objektive Reichweite<br />
Massgeblichkeit der Parteivereinbarung<br />
cc) Verfahrensförderungspflicht<br />
b) Übertragung der Entscheidungskompetenz<br />
aa) Derogation und Prorogation<br />
Das Schiedsgericht hat die Kompetenz-Kompetenz. Dies bedeutet, dass es über<br />
seine eigene Kompetenz entscheiden kann. Genau wie ein staatlicher Richter über<br />
seine Zuständigkeit im Verfahren entscheidet, kann auch das Schiedsgericht über<br />
seine Zuständigkeit entscheiden.<br />
bb) Einrede der Schiedsvereinbarung<br />
Sollte eine der Parteien versuchen, vor einem staatlichen Gericht einen Streit anhängig<br />
zu machen, hat die andere Partei die Möglichkeit der Einrede der Schiedsvereinbarung.<br />
Das Gericht hat dann seine Unzuständigkeit festzustellen und die Klage<br />
abzuweisen (Art. II Abs. 3 NYÜ, Art. 7 IPRG).<br />
cc) Annahmepflicht<br />
Das Schiedsgericht muss den Fall behandeln, es besteht eine Annahmepflicht.<br />
80
F. <strong>Internationales</strong> Gerichtsverfahren<br />
I. Rechtsquellen<br />
Im staatlichen Verfahren gibt es eine Vielzahl von Staatsverträgen, welche vorrangig<br />
zur Anwendung gelangen.<br />
Die beiden wichtigsten Staatsverträge in diesem Zusammenhang sind die folgenden:<br />
- Haager Übereinkunft vom 1.3.1954 betreffend Zivilprozessrecht (HZPÜ; SR<br />
0.274.12)<br />
- Haager Übereinkommen vom 15.11.1965 über die Zustellung gerichtlicher und<br />
aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen<br />
(HZustÜ; SR 0.274.131)<br />
Grundsatz: Anwendung der sog. lex fori processualis<br />
Die Schweizer Gerichte werden, unabhängig vom in der Sache anwendbaren materiellen<br />
Recht, nach ihrem eigenen Zivilprozessrecht vorgehen. Man nennt dies den<br />
Grundsatz der lex fori processualis, weil es hier nicht um das Kollisionsrecht der lex<br />
fori geht, sondern um das Verfahrensrecht, beispielsweise nach welchem Recht<br />
Beweise erhoben und berücksichtigt werden.<br />
Probleme:<br />
- Abgrenzung zwischen Verfahrensrecht (lex fori processualis) und Sachrecht<br />
(kollisionsrechtliche Anknüpfung)<br />
Beispiel: Verjährung<br />
Nach Schweizer Recht ist die Verjährung materielles Recht, während es nach<br />
angelsächsischem Recht zum Verfahrensrecht gehört.<br />
Wird nun in New York geklagt, prüft das Gericht die Verjährungsfrage nach<br />
der lex fori processualis. In Basel wird es diese Frage nach seinem materiellen<br />
Recht beurteilen.<br />
- Anerkennungs- und Vollstreckungsprobleme im Ausland<br />
Die Parteivertreter müssen darauf achten, dass sie dem Richter allenfalls exotische<br />
Prozessvoraussetzungen vortragen.<br />
Beispiel: OLG Hamburg FamRZ 2001, 1007<br />
Geht es beispielsweise um die Scheidung eines afghanischen Paares in der<br />
Schweiz, sollten die Parteien dem Richter vortragen, dass in Afghanistan eine<br />
Scheidung nur möglich ist, wenn der Stammeshäuptling angefragt wurde und<br />
vermittelt hat. Andernfalls könnte die Scheidung in Afghanistan nicht anerkannt<br />
werden. Der Basler Richter muss also im Hinblick auf die Anerkennung<br />
der Scheidung in Afghanistan, einen afghanischen Häuptling hinzuziehen, bevor<br />
er nach seinem Recht die Scheidung ausspricht.<br />
81
II.<br />
Ausgewählte Verfahrensfragen<br />
1. Beteiligte<br />
Diese Problematik wurde in der Vorlesung nicht besprochen.<br />
2. Zustellung<br />
Fall 15: wurde in der Vorlesung nicht besprochen.<br />
Zürcher Kommentar zum IPRG, Vor Art. 11, Rn. 20 ff<br />
Siehr, das internationale <strong>Privatrecht</strong> in der Schweiz, S. 699 ff.<br />
a) Zustellung im Inland<br />
Die Zustellung im Inland geht nach den üblichen Zustellungsregelungen des Schweizer<br />
Zivilprozessrechts.<br />
b) Zustellung im Ausland<br />
Die ordnungsgemässe Zustellung ist eine Anerkennungsvoraussetzung. Sie leitet<br />
das Verfahren ein und ist daher ein wichtiger Gesichtspunkt aller Anerkennungsordnungen.<br />
Auch das LugÜ und das IPRG regeln die ordnungsgemäss Zustellung: Art.<br />
27 Ziff. 2 LugÜ und Art. 27 Abs. 2 lit. a IPRG.<br />
Hier gilt die lex fori, es ist ja eine prozessuale Frage. Das Schweizer Gericht wird<br />
nach Schweizer Prozessrecht zustellen. Es wird also nach seinem Recht entscheiden,<br />
wo, wie und durch wen es zustellen wird.<br />
Die Zustellung muss mittels Urkunde nachgewiesen werden, damit man sie im Anerkennungsverfahren<br />
ordnungsgemäss beweisen kann. Die Zustellung ist ein Hoheitsakt<br />
und bedarf deshalb der Rechtshilfe durch den ausländischen Staat.<br />
3. Beweisaufnahme<br />
Das Problem ist, festzustellen, was im jeweiligen Recht als Beweisrecht, Prozessrecht<br />
oder materielles Recht zu qualifizieren ist.<br />
Massgeblich ist jeweils die lex fori processualis.<br />
4. rechtliches Gehör<br />
Wurde in der Vorlesung nicht behandelt.<br />
82
G. internationale Schiedsgerichtsbarkeit<br />
I. Begriff<br />
1. Charakteristika und Abgrenzungen<br />
Wie bereits ausgeführt, finden sich die Regelungen zur Schiedsgerichtsbarkeit im<br />
Schweizer Recht in den Art. 176 ff. IPRG.<br />
2. Arten<br />
- ad-hoc-Schiedsverfahren<br />
Bei ad-hoc-Schiedsverfahren findet sich das Schiedsgericht zusammen im<br />
Zusammenhang mit einem konkreten Rechtsstreit.<br />
- institutionelle Schiedsverfahren<br />
Im Rahmen der institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit ist die ICC (international<br />
chamber of commerce) in Paris zu nennen. Dies ist eine internationale Organisation,<br />
welche eine weit verbreitete Schiedsgerichtsverfahrensregelung herausgegeben<br />
hat.<br />
II.<br />
Vor- und Nachteile<br />
1. Vorteile<br />
- Wahl von speziell qualifizierten Personen als Schiedsrichter<br />
- flexible Ausgestaltung des Schiedsverfahrens<br />
- Schnelligkeit des Verfahrens<br />
- Geringe Verfahrenskosten<br />
- Weltweite Vollstreckbarkeit<br />
2. Nachteile<br />
- Schnelligkeit des Verfahrens: Möglichkeit des Verschleppens<br />
Die Parteien wählen normalerweise einen Schiedsrichter und diese wählen dann<br />
einen dritten. Die Schiedsrichter werden von beiden Parteien bezahlt, haben aber im<br />
Schiedsverfahren neutral zu sein.<br />
III.<br />
Schiedsverfahren<br />
1. Rechtsquellen und anwendbares Recht<br />
Die Frage nach den Rechtsquellen und des anwendbaren Rechts befasst sich mit<br />
demjenigen Recht, welches bezüglich des Schiedsverfahrens zu berücksichtigen ist.<br />
83
Das betrifft, wie auch im staatlichen Verfahren, unter anderem die Bildung des<br />
Schiedsgerichts und wird in den Schiedsverfahrensordnungen geregelt. Hier treten<br />
also Organisations- und Verfahrensrecht in einer Schiedsordnung zusammen.<br />
Die Rechtsquellen sind schwer zu umschreiben, da es keine lex fori processualis<br />
gibt. Das Schiedsgericht schwebt sozusagen über den staatlichen Rechtsordnungen.<br />
Deshalb muss das Schiedsverfahrensrecht von den Parteien privatautonom geregelt<br />
werden. Hilfsweise kann dies auch ad hoc vom Schiedsgericht selbst bestimmt werden.<br />
a) Privatautonome Quellen des Schiedsverfahrensrechts<br />
aa) Schiedsvereinbarung<br />
Bei der Schiedsvereinbarung vereinbaren die Parteien selber, welches Schiedsverfahrensrecht<br />
zur Anwendung gelangen soll. Sie können entweder eine bestimmte<br />
Ordnung bestimmen oder selber Regeln aufstellen.<br />
Beispiele:<br />
- Vereinbarung von Verfahrensbestimmungen (vgl. Art. 182 Abs. 2 Hs. 1 Var. 1<br />
IPRG)<br />
- Direkte oder indirekte Bestimmung einer Schiedsordnung (Art. 182 I Hs. 1 Var.<br />
2)<br />
- Bestimmung des Sitzes des Schiedsgerichts (vgl. Art. 176 Abs. 3 IPRG)<br />
- Wahl eines bestimmten nationalen oder kantonalen Verfahrensrechts (Art. 176<br />
ABs. 2, 182 Abs. 1 Hs. 2 IPRG)<br />
bb) institutionelle Schiedsordnung<br />
Anwendbarkeit aufgrund:<br />
- vorrangiger Bestimmung durch die Parteien (vgl. Art. 182 Abs. 1 Hs. 1 Var. 2<br />
IPRG)<br />
- hilfsweiser Bestimmung durch das Schiedsgericht (vgl. Art. 182 Abs. 2 Var. 3<br />
IPRG)<br />
cc) ad-hoc-Schiedsverfahrensordnung (Art. 182 Abs. 2 Var. 1 IPRG)<br />
Das Schiedsgericht kann selber Bestimmungen aufstellen, nach welchen das Verfahren<br />
durchzuführen ist. Dies ist eventuell notwendig, wenn ein Punkt auftaucht, der<br />
nicht von den Parteien geregelt wurde.<br />
b) internationale Rechtsquellen<br />
aa) Staatsverträge<br />
Das LugÜ ist nicht einschlägig, denn es ist ein Abkommen über die staatliche Zuständigkeit<br />
und regelt keine prozessrechtlichen Fragen. Es ist gem. Art. 1 Abs. 1 Ziff.<br />
4 LugÜ sachlich nicht auf die Schiedsgerichtsbarkeit anwendbar.<br />
Einschlägig und wichtig ist jedoch die New Yorker UN-Konvention vom 10.6.1958<br />
über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (NYÜ, SR<br />
84
0.277.12). Für die Anwendbarkeit im Schweizer Schiedsverfahren ist der Art. 194<br />
IPRG massgeblich, welcher ausdrücklich auf diese Konvention verweist.<br />
Art. 194 IPRG<br />
Für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche gilt das New Yorker Übereinkommen<br />
vom 10. Juni 1958 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche.<br />
bb) UNCITRAL-Modellgesetz zur Internationalen Handelsgerichtsbarkeit von 1985<br />
Das UNCITRAL-Modellgesetz ist das klassische Modell für solche schiedsgerichtlichen<br />
Regelungen. Sie wurden vom Schweizer Gesetzgeber in Art. 176 IPRG berücksichtigt.<br />
c) Schweizer Rechtsquellen<br />
aa) <strong>Internationales</strong> Schiedsverfahrensrecht im IPRG (Art. 7, 177 ff. IPRG)<br />
Weil eine Schiedsvereinbarung die staatliche Zuständigkeit derogiert, ist dies bereits<br />
am Anfang des IPRG in Art. 7 entsprechend geregelt.<br />
Anwendbarkeit:<br />
- Rechtswahl (vgl auch Abwahl Art. 176 Abs. 2 IPRG)<br />
- Objektive Anknüpfung des Schiedsverfahrensstatuts an den Sitz des Schiedsgerichts<br />
(Art. 176 Abs. 1 IPRG)<br />
bb) Interkantonales Schiedsverfahrensrecht<br />
Das interkantonale Konkordat über die Schiedsgerichtsbarkeit vom 27.3.1969 (Anwendbarkeit<br />
Art. 176 Abs. 2, 182 Abs. 2 Var. 2 IPRG) enthält die massgeblichen<br />
Verfahrensregelungen innerhalb der Schweiz. Auf dieses Konkordat verweisen die<br />
einzelnen kantonalen Zivilprozessverfahrensordnungen.<br />
cc) Nationales und kantonales Recht<br />
Anwendbarkeit:<br />
- aufgrund vorrangiger Bestimmung durch die Parteien (Art. 182 Abs. 1 Hs. 2<br />
IPRG)<br />
- aufgrund hilfsweiser Bestimmung durch das Schiedsgericht (vgl. Art. 182 Abs.<br />
2 Var. 2 IPRG)<br />
- bei vorsorglichen Massnahmen oder Rechtshilfemassnahmen der staatlichen<br />
Gerichte (vgl. z.B. Art. 183 Abs. 2, 184 Abs. 2 IPRG)<br />
2. Mindestanforderungen<br />
Art. 182 Abs. 3 IPRG<br />
Unabhängig vom gewählten Verfahren muss das Schiedsgericht in allen Fällen die Gleichbehandlung<br />
der Parteien sowie ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in einem kontradiktorischen Verfahren gewährleisten.<br />
85
Die Grundsätze des Art. 6 EMRK über ein faires Verfahren, müssen auch in den<br />
Schiedsverhandlungen zur Geltung kommen. Bei aller Privatautonomie müssen<br />
diese Gerechtigkeitsgrundsätze gewahrt bleiben, damit der Schiedsspruch anerkennungsfähig<br />
ist.<br />
3. Ausgewählte Rechtsfragen<br />
a) Beteiligte<br />
b) Sitz des Schiedsgerichts<br />
Bestimmung (Art. 176 Abs. 3 IPRG)<br />
Bedeutung<br />
c) Bildung des Schiedsgerichts<br />
Art. 179 IPRG<br />
Abschluss von Schiedsverträgen<br />
Ablehnung eines Schiedsrichters bei Parteilichkeit (Art. 180 IPRG)<br />
d) Anwendbares Sachrecht<br />
Es gibt kein Kollisionsrecht, welches das Schiedsgericht anwenden kann. Hier sind<br />
die Parteien aufgefordert, eine Rechtswahl zu treffen. Sie müssen jedoch nicht unbedingt<br />
ein nationales Recht berufen, sondern können auch die Schiedsrichter ermächtigen,<br />
nach Billigkeit zu entscheiden.<br />
Liegt keine Rechtswahl vor, muss das Schiedsgericht ein anwendbares Sachrecht<br />
bestimmen. Das Schiedsgericht in der Schweiz wendet gemäss Art. 187 IPRG die<br />
Art. 176 ff. IPRG an.<br />
Art. 187 IPRG bestimmt, dass das Recht des engsten Zusammenhangs zur Anwendung<br />
gelangen soll.<br />
e) Rechtskraft des Schiedsspruchs<br />
Der Schiedsspruch erhält formelle und materielle Rechtskraft.<br />
f) Vollstreckung<br />
aa) Vollstreckung eines inländischen Schiedsspruchs im Inland (Art. 193 IPRG)<br />
bb) Vollstreckung eines ausländischen Schiedsspruchs im Inland (Art. 194 IPRG)<br />
Voraussetzungen (Art. 194 IPRG i. V. m. Art. III und V NYÜ):<br />
- Schiedsspruch ist formell rechtskräftig<br />
- Fehlen von Vertragsgründen (Art. V NYÜ)<br />
86
§ 3 KOLLISIONSRECHT<br />
A. Gegenstand des Kollisionsrechts<br />
Die kollisionsrechtlichen Normen haben eine vermittelnde Funktion. Sie teilen nicht<br />
ein Ergebnis mit, also wie ein konkreter Sachverhalt zu entscheiden ist, sondern sie<br />
bestimmen das in der Sache anzuwendende Sachrecht. Dieses anwendbare Recht –<br />
also der betreffende <strong>Teil</strong> der genannten Rechtsordnung – wird als Statut, lex causae<br />
oder auch als Wirkungsstatut bezeichnet.<br />
Das Kollisionsrecht ist verbindlich:<br />
- Prüfung von Amtes wegen (Verbindlichkeit i. e. S.)<br />
Die Kollisionsnormen sind von Amtes wegen zu berücksichtigen. Hat ein<br />
Sachverhalt einen internationalen Bezug, muss der angerufene Richter seine<br />
internationale Zuständigkeit prüfen. Ist er zuständig, muss er das anwendbare<br />
Recht von Amtes wegen bestimmen.<br />
- grundsätzlich zwingende Natur der Kollisionsnormen (Ausnahme: Anerkennung<br />
der Rechtswahl)<br />
In einem weiteren Sinne spricht man von der Verbindlichkeit des Kollisionsrechts<br />
im Zusammenhang mit dem Ausschluss einer Rechtswahl. Wenn also<br />
die Rechtswahl ausgeschlossen ist, haben die kollisionsrechtlichen Normen<br />
zwingenden Charakter.<br />
B. Interessen und Prinzipien des Kollisionsrechts<br />
I. Kollisionsrechtliche Interessen<br />
1. Parteiinteressen<br />
Das Kollisionsrecht hat die Parteiinteressen zu berücksichtigen, dass ihr vertrautes,<br />
bzw. gewähltes Recht zur Anwendung gelangt.<br />
2. Verkehrsinteressen<br />
Der Verkehr hat immer ein Interesse an Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Da<br />
die IPR-Normen jedoch einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen, führt dies eher zu<br />
grosser Rechtsunsicherheit. Man bemüht sich – zumindest im Interesse des Rechtsverkehrs<br />
– um eine einigermassen rechtssichere Handhabung des anwendbaren<br />
Rechts.<br />
87
3. Ordnungsinteressen<br />
- Entscheidungseinklang<br />
o innerer Entscheidungseinklang<br />
Man bemüht sich, innerhalb einer Rechtsordnung einen gewissen Entscheidungseinklang<br />
zu gewährleisten. Es soll eine möglichst widerspruchsfreie<br />
Lösung möglich sein. Das betrifft dann insbesondere die<br />
Abstimmung des privatrechtlichen Kollisionsrecht mit den anderen Kollisionsrechten<br />
(z.B. dem internationalen Steuerrecht, etc.).<br />
o äusserer Entscheidungseinklang<br />
Der äussere Entscheidungseinklang wird auch internationaler Entscheidungseinklang<br />
genannt. Hier geht es um die Einheitlichkeit der kollisionsrechtlichen<br />
Anknüpfungsmerkmale auf internationaler Ebene.<br />
Man versucht, unabhängig von der Zuständigkeit – beispielsweise eines<br />
deutschen oder Schweizer Gerichtes – denselben Anknüpfungspunkt<br />
zu bestimmen: z.B. beide Rechte knüpfen an den Wohnsitz an.<br />
Um unterschiedliche Anknüpfungen und somit unterschiedliche Ergebnisse<br />
in der Bestimmung des anwendbaren Rechts zu vermeiden, gibt<br />
es verschiedenste Instrumente: Staatsverträge (Übereinkommen, Abkommen)<br />
oder internationale Rechtsvergleichung.<br />
- Erzielung einer durchsetzbaren Entscheidung<br />
Letztlich geht es darum, möglichst ein Recht zu bestimmen, welches einen<br />
Bezug zum zu beurteilenden Sachverhalt aufweist.<br />
- Schutz bestimmter Personen (z.B. Kindeswohl, Konsumentenschutz)<br />
- Schutz bestimmter Institutionen (z.B. Wettbewerbsschutz, Umweltschutz)<br />
Der Wettbewerbsschutz ist letztlich ein Marktschutz. Beispielsweise wird der<br />
Schweizer Markt für Knäckebrot geschützt.<br />
II.<br />
Prinzipien des Kollisionsrechts<br />
1. Grundsatz der Privatautonomie<br />
Fall 16: X ist britisch-schweizerischer Doppelbürger. Am 6. März 2006 verstirbt er in<br />
Zug, seinem letzten Wohnsitz, wo er auch sein ganzes Leben verbracht hat. In England<br />
hielt er sich nur selten auf und hatte dort auch keine sozialen Kontakte. In seinem<br />
Testament wird seine Freundin F als Alleinerbin eingesetzt. Seine Tochter T soll<br />
leer ausgehen. Ferner ist im Testament bestimmt, dass der Nachlass englischem<br />
Recht untersteht. X besass keine Grundstücke. T erhebt Klage vor einem Zuger<br />
Gericht und fordert ihren Pflichtteil ein.<br />
Welches Recht ist für die Frage, ob Pflichtteilsansprüche bestehen, anwendbar (auf<br />
Ordre-public Fragen ist nicht einzugehen und von der Wirksamkeit des Testaments<br />
ist auszugehen)?<br />
88
In casu geht es also nicht um die Zuständigkeit, sondern nur um das anwendbare<br />
Recht. Relevant sind die Art. 86 ff. IPRG.<br />
Art. 90 IPRG<br />
1 Der Nachlass einer Person mit letztem Wohnsitz in der Schweiz untersteht schweizerischem Recht.<br />
2 Ein Ausländer kann jedoch durch letztwillige Verfügung oder Erbvertrag den Nachlass einem seiner<br />
Heimatrechte unterstellen. Diese Unterstellung fällt dahin, wenn er im Zeitpunkt des Todes diesem<br />
Staat nicht mehr angehört hat oder wenn er Schweizer Bürger geworden ist.<br />
Grundsätzlich hatte der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in Zug. Der Nachlass<br />
untersteht also schweizerischem Recht.<br />
Es ist nun zu prüfen, ob es dem Erblasser möglich war, in casu den Nachlass einem<br />
anderen Recht zu unterstellen. Gemäss Art. 90 Abs. 2 IPRG kann ein Ausländer<br />
seinen Nachlass einem anderen Recht unterstellen. Diese Bestimmung greift jedoch<br />
nur, wenn der Erblasser einzig eine ausländische Staatsangehörigkeit hatte. Wie ist<br />
nun der Fall zu beurteilen, wenn er Doppelbürger war?<br />
Massgeblich ist Art. 23 IPRG:<br />
Art. 23 IPRG<br />
1 Besitzt eine Person neben der schweizerischen eine andere Staatsangehörigkeit, so ist für die<br />
Begründung eines Heimatgerichtsstandes ausschliesslich die schweizerische Staatsangehörigkeit<br />
massgebend.<br />
2 Besitzt eine Person mehrere Staatsangehörigkeiten, so ist, soweit dieses Gesetz nichts anderes<br />
vorsieht, für die Bestimmung des anwendbaren Rechts die Angehörigkeit zu dem Staat massgebend,<br />
mit dem die Person am engsten verbunden ist.<br />
3 Ist die Staatsangehörigkeit einer Person Voraussetzung für die Anerkennung einer ausländischen<br />
Entscheidung in der Schweiz, so genügt die Beachtung einer ihrer Staatsangehörigkeiten.<br />
Nach Art. 23 II IPRG würde in casu auf die Schweizer Staatsbürgerschaft abgestellt.<br />
Eine Rechtswahl, wie sie im Sachverhalt geschildert wird, wäre somit nicht möglich.<br />
Auch Art. 90 II Satz 2 IPRG verweist auf die Schweizer Staatsangehörigkeit und<br />
verweist auf die Anknüpfung an das Schweizer Recht. Eine Rechtswahl zugunsten<br />
eines anderen Rechts ist auch nach dieser Bestimmung ausgeschlossen.<br />
Im konkreten Fall wendet das Zuger Gericht das Schweizer Recht an und stellt somit<br />
eine Pflichtteilsverletzung fest.<br />
Alle Grundsätze des Kollisionsrechts versuchen die kollisionsrechtliche Gerechtigkeit<br />
herzustellen. Es geht lediglich um die Bestimmung des räumlich besten Rechts und<br />
nicht um die Bestimmung des inhaltlich besten Rechts.<br />
Im Rahmen des Kollisionsrechts ist man daher strenger als im Rahmen der Zuständigkeit.<br />
Bei dieser gibt es, wie oben bereits dargelegt, oft alternative Zuständigkeiten.<br />
Man fasst einerseits die Privatautonomie weiter und hat andererseits eine weitere<br />
Auswahl an Zuständigkeiten.<br />
Dies gilt nicht im Rahmen des anwendbaren Rechts. Hier geht es um das räumlich<br />
geeignetsten Recht. Dieser Grundsatz findet sich in Art. 15 IPRG, der sog. Ausweichklausel.<br />
Diese Bestimmung ist weltweit einzigartig und sehr zurückhaltend<br />
anzuwenden.<br />
89
Art. 15 IPRG<br />
1 Das Recht, auf das dieses Gesetz verweist, ist ausnahmsweise nicht anwendbar, wenn nach den<br />
gesamten Umständen offensichtlich ist, dass der Sachverhalt mit diesem Recht in nur geringem, mit<br />
einem anderen Recht jedoch in viel engerem Zusammenhang steht.<br />
2 Diese Bestimmung ist nicht anwendbar, wenn eine Rechtswahl vorliegt.<br />
Grundsatz der Privatautonomie:<br />
- Zulassung einer Rechtswahl ex ante (z.B. Art. 90 Abs. 2, 91 Abs. 2, 116 Abs.<br />
1 IPRG)<br />
Der wichtigste Bereich ist derjenige des Vertragsrechts. Hierbei wird vor der<br />
Entstehung eines Rechtsstreits das anwendbare Recht bestimmt.<br />
- Zulassung einer Rechtswahl ex post (z.B. Art. 116 Abs. 3, 132 IPRG)<br />
Die Rechtswahl kann auch nach der Entstehung eines Rechtsstreits getroffen<br />
werden. Gemäss Art. 116 Abs. 3 IPRG ist es sogar möglich, bei bereits getroffener<br />
Rechtswahl nach Entstehung der Streitigkeit, ein günstigeres oder enger<br />
mit dem Sachverhalt in Verbindung stehendes Recht zu bestimmen.<br />
Ausnahmen (sog. Anknüpfungsschutz aufgrund besonderer Ordnungsinteressen)<br />
Im Zusammenhang mit den Ausnahmen geht es vor allem darum, Missbräuche zu<br />
verhindern<br />
- Ausschluss der Rechtswahl (Art. 120 Abs. 2 IPRG)<br />
Generell ist die Rechtswahl ausgeschlossen zum Schutz von Konsumenten.<br />
Die Rechtswahl ist sowohl ex ante als auch ex post ausgeschlossen.<br />
- Einschränkung der wählbaren Rechtsordnungen (Art. 37 Abs. 2, 52 Abs. 2, 90<br />
Abs. 2, 91 Abs. 2, 121 Abs. 3 und 132 IPRG)<br />
siehe Fall 16<br />
- Zeitliche Beschränkung der Gerichtsstandswahl (z.B. Art. 114 Abs. 2 IPRG)<br />
Rechtsfolge: Wirkung inter partes (vgl. z.B. Art. 104 Abs. 2 IPRG)<br />
Die Rechtswahl wirkt wie ein Vertrag nur zwischen den Parteien. Dritte werden teilweise<br />
explizit geschützt (Bsp. 104 II IPRG: „…Die Rechtswahl kann Dritten nicht<br />
entgegengehalten werden…“)<br />
2. Prinzip des engsten Zusammenhangs<br />
Im IPR wird differenziert: Einerseits gibt es eine Regelanknüpfung; man versucht,<br />
beispielsweise um die Einheit zu wahren, alle vertragsrechtlichen Fragen möglichst<br />
einem Vertragsstatut zu unterstellen (also möglichst grosse Zusammenfassung).<br />
Andererseits wird im Rahmen der sog. Sonderanknüpfung ausdifferenziert, um das in<br />
der Sache geeignetste Recht zu bestimmen.<br />
Bsp. Art. 116 ff IPRG: Vertragsrecht<br />
90
Art. 116 IPRG regelt die Rechtswahl. Fehlt diese, untersteht der Vertrag gemäss Art.<br />
117 IPRG dem Recht des Staates, mit dem er am engsten zusammenhängt<br />
= Regelanknüpfung.<br />
Art. 119 IPRG ist ein Beispiel für eine Sonderanknüpfung.<br />
a) Wohnsitzprinzip<br />
Auch für die Frage des anwendbaren Rechts ist – wie bei den Zuständigkeitsfragen –<br />
das Wohnsitzprinzip im schweizerischen Recht das zentrale Anknüpfungsprinzip. Es<br />
handelt sich dabei um ein personal-lokales Anknüpfungsmerkmal.<br />
b) Staatsangehörigkeitsprinzip<br />
Das Staatsangehörigkeitsprinzip hat nur subsidiäre Bedeutung. Es handelt sich dabei<br />
um eine sekundäre, rein personale Anknüpfung an das sog. Heimatrecht (z.B. Art. 61<br />
Abs. 2, 82 Abs. 2 IPRG).<br />
c) Inkorporationsprinzip<br />
Das Gründungsstatut ist das Recht, nach dem eine Gesellschaft gegründet wurde<br />
und welches sie in ihren Statuten bestimmt. Dieses soll auch das Fortbestehen und<br />
den weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Tätigkeit regeln.<br />
Zieht beispielsweise eine nach Schweizer Recht gegründete Firma um, behält sie ihr<br />
Gründungsstatut. Es ist sogar möglich, eine sog. formal-ausländische Gesellschaft<br />
zu gründen, also eine Gesellschaft, welche überhaupt keinen Bezug zu dem Land<br />
hat, in dem sie gegründet worden ist. Dies wird jedoch durch verschiedenste Sonderanknüpfungen<br />
eingeschränkt.<br />
d) Immatrikulationsprinzip<br />
Das Immatrikulations- oder Flaggenprinzip ist bei besonders wichtigen, beweglichen<br />
Sachen, also bei grösseren Vermögenswerten von Bedeutung: Schiffe, Flugzeuge,<br />
bei gewissen Kraftfahrzeugen, etc.<br />
Massgeblich ist das Recht des Staates, in welchem der Gegenstand in das jeweilige<br />
Verzeichnis eingetragen ist.<br />
e) Herkunftslandprinzip<br />
Im Deliktsrecht ist eine Handlung massgeblich für den Anknüpfungspunkt des anwendbaren<br />
Rechts. Der Handlungsort wird dabei gleich wie im Rahmen der Zuständigkeitsfragen<br />
bestimmt.<br />
91
f) Auswirkungsprinzip<br />
Das Auswirkungsprinzip ist das Gegenteil des Herkunftsprinzips. Hier geht es darum,<br />
wo eine Handlung spürbare Wirkungen zeigt. Dabei geht es nicht um irgendwelche<br />
unbedeutenden Nebenauswirkungen, sondern die Handlung muss spürbar sein, also<br />
eine gewisse Erheblichkeit erreichen.<br />
Das Auswirkungsprinzip ist besonders im Deliktsrecht – bezüglich Erfolgsort – massgeblich;<br />
es ist jedoch auch im Wettbewerbsrecht von Bedeutung. Hier stellt sich die<br />
entscheidende Frage, wo sich der Markt befindet, welcher massgeblich beeinflusst<br />
wird.<br />
3. Günstigkeitsprinzip<br />
Das klassische Beispiel für das Günstigkeitsprinzip findet sich in Art. 124 IPRG. Es<br />
handelt sich dabei um das sog. favor negotii. Man versucht dabei die Wirksamkeit<br />
eines Rechtsgeschäftes möglichst herzustellen, bzw. zu erhalten. In Art. 124 IPRG<br />
werden verschiedene, alternative Anknüpfungsmöglichkeiten geboten. Es wird auf<br />
irgendein Recht verwiesen, welches zwar einen vernünftigen Anknüpfungspunkt<br />
bietet, aber nicht unbedingt den engsten Zusammenhang aufweist.<br />
Art. 124 IPRG<br />
1 Der Vertrag ist formgültig, wenn er dem auf den Vertrag anwendbaren Recht oder dem Recht am<br />
Abschlussort entspricht.<br />
2 Befinden sich die Parteien im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses in verschiedenen Staaten, so<br />
genügt es, wenn die Form dem Recht eines dieser Staaten entspricht.<br />
3 Schreibt das auf den Vertrag anwendbare Recht die Beachtung einer Form zum Schutz einer Partei<br />
vor, so richtet sich die Formgültigkeit ausschliesslich nach diesem Recht, es sei denn, dieses lasse<br />
die Anwendung eines anderen Rechts zu.<br />
Die Formgültigkeit eines Vertrages bestimmt sich also nicht nur nach dem anwendbaren<br />
Recht, wie es sich nach Art. 116 ff IPRG ergibt (Rechtswahl gem. Art. 116<br />
Abs. 1 und. 3 IPRG oder engster Zusammenhang gem. Art. 117 Abs. 1 IPRG), sondern<br />
auch nach dem Recht am Abschlussort. Hier steht der Gutglaubensschutz der<br />
Parteien im Vordergrund, dass der Vertrag dem Recht unterstehe, welches an dessen<br />
Abschlussort gelte.<br />
Weiter eröffnen die Absätze 2 und 3 der genannten Bestimmung weitere Anknüpfungsmöglichkeiten,<br />
nach welchen die Formgültigkeit des Vertrages ebenfalls erhalten<br />
werden kann.<br />
4. Vertrauensprinzip<br />
Nach dem Vertrauensprinzip wird das Vertrauen Dritter in die Anwendbarkeit eines<br />
bestimmten Rechts geschützt, z.B. Art. 36 Abs. 1, 57 IPRG. Das sind dann zum <strong>Teil</strong><br />
sogar IPR Sachnormen.<br />
92
5. Schutzprinzip<br />
Schutz bestimmter materieller Ordnungsinteressen: Kindeswohl, Datenschutz, Konsumentenschutz<br />
oder Umweltschutz<br />
C. Methoden des Kollisionsrechts<br />
Im Kollisionsrecht gibt es zwei verschiedene Vorgehensweisen. Von Interesse ist vor<br />
allem die zweite Variante, die eigentliche kollisionsrechtliche Vorgehensweise: die<br />
Anknüpfungsmethode.<br />
Daneben gibt es die sog. statutistische oder statutarische Methode. Dabei geht man<br />
von der Norm aus und nicht vom Sachverhalt. Massgeblich ist der Anwendungswille<br />
der fraglichen Norm. Man fragt sich dabei, ob die betreffende Norm auf den konkreten<br />
Sachverhalt angewendet werden will. So wie im Rahmen der sachlichen Tatbestandsvoraussetzungen<br />
der sachliche Anwendungsbereich zu bestimmen ist, wird<br />
nach der statutistischen Methode der räumliche Anwendungsbereich einer Norm<br />
geprüft.<br />
I. Statutistische Methode<br />
1. Anwendungsbereich<br />
Die statutistische Methode findet ihre Anwendung vor allem im Wirtschaftsrecht:<br />
- Kartellrecht<br />
- Lauterkeitsrecht (UWG, etc.)<br />
- Wirtschaftsaufsichtsrecht:<br />
o Bankenaufsicht<br />
o Börsenaufsicht<br />
o Versicherungsaufsicht<br />
o Kapitalmarktaufsicht<br />
aber auch im Strafrecht, Steuerrecht oder Sozialversicherungsrecht.<br />
Beispiele:<br />
Art. 2 Kartellgesetz (KG)<br />
1bis<br />
1 Das Gesetz gilt für Unternehmen des privaten und des öffentlichen Rechts, die Kartell- oder<br />
andere Wettbewerbsabreden treffen, Marktmacht ausüben oder sich an Unternehmenszusammenschlüssen<br />
beteiligen.<br />
Als Unternehmen gelten sämtliche Nachfrager oder Anbieter von Gütern und Dienstleistungen im<br />
Wirtschaftsprozess, unabhängig von ihrer Rechts- oder Organisationsform.<br />
2 Das Gesetz ist auf Sachverhalte anwendbar, die sich in der Schweiz auswirken, auch wenn sie im<br />
Ausland veranlasst werden.<br />
Art. 2 Abs. 2 KG gibt einen Anknüpfungsort für das Auswirkungsprinzip. Es steht<br />
nicht ausdrücklich, die Auswirkungen müssen aber spürbar sein. Es wird einseitig<br />
93
vom Schweizer Gesetz festgelegt, dass dieses Gesetz auch für Sachverhalte Anwendung<br />
findet, deren Ursprung sich im Ausland befindet.<br />
2. Vorgehensweise<br />
a) genereller Ansatz<br />
Normativer Ausgangspunkt („vom Gesetz her“)<br />
b) Arten und Aufbau statutistischer Kollisionsnormen<br />
Es handelt sich dabei um einseitige Kollisionsnormen. In Frage steht dabei immer<br />
das Recht, um dessen Anwendbarkeit es geht. Es geht also immer um eine einseitige<br />
Verweisung auf das Schweizer Recht hinsichtlich der Frage, ob nach der statutistischen<br />
Methode eine Schweizer Norm anwendbar ist.<br />
Es geht nicht darum, welches Recht sonst anwendbar wäre. Die einseitige Kollisionsnorm<br />
beantwortet nur die Frage, ob Schweizer Recht anwendbar ist. Die Antwort<br />
lautet somit nur entweder ja oder nein.<br />
Typischer Aufbau einer statutistischen Kollisionsnorm am Beispiel von AFG 3 III:<br />
Wortlaut von AFG 3 III<br />
Ausländische Anlagefonds,<br />
deren Anteile in der Schweiz vertrieben<br />
werden,<br />
sind … den einschlägigen Bestimmungen<br />
dieses Gesetzte unterstellt<br />
Funktion<br />
konkreter Anknüpfungsgegenstand<br />
konkretes Anknüpfungsmerkmal<br />
Äusserung des Anwendungswillens in<br />
Form eines gesetzesbezogenen (konkreten)<br />
Anwendungsbefehls<br />
c) Auslegung einer statutistischen Kollisionsnorm<br />
Die Auslegung einer solchen statutistischen Kollisionsnorm ist relativ einfach. Sie<br />
erfolgt als Schweizer Gesetz nach den Schweizer Auslegungsregeln.<br />
3. Bewertung<br />
Vorteile:<br />
Nachteil:<br />
Einfachheit und Rechtssicherheit<br />
Einseitigkeit<br />
(extraterritoriale Wirkung und Möglichkeit der mehrfachen Rechtsanwendung)<br />
Gerade bei parallelen Zuständigkeiten können aufgrund des Auswirkungsprinzips<br />
z.B. verschiedene Kartellbehörden Verfahren einleiten. Jede leitet ihr Verfahren ein,<br />
jede beurteilt denselben Sachverhalt, jede spricht ihre Sanktion aus und der betroffe-<br />
94
ne wird für denselben Sachverhalt unter Umständen mehrfach sanktioniert. Diese<br />
Probleme entstehen, weil jede Behörde für sich schaut, ob ihr nationales Recht anwendbar<br />
ist. Dies kann sogar zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, da beispielsweise<br />
die Europäische Wettbewerbsbehörde keinen Verstoss feststellt, die<br />
Schweizer WECO dafür schon.<br />
II.<br />
Anknüpfungsmethode<br />
1. Anwendungsbereich<br />
Verweisungsrecht des IPRG<br />
2. Vorgehensweise<br />
a) genereller Ansatz<br />
Ausgehend vom Sachverhalt her wird die massgebliche Rechtsfrage formuliert. Es<br />
handelt sich dabei also um einen problembezogenen Ausgangspunkt („vom Sachverhalt<br />
her“). Die massgebliche Rechtsfrage ist beispielsweise, ob ein Vertrag formgültig<br />
zustande gekommen ist.<br />
Hinsichtlich dieser massgeblichen Rechtsfrage ist zu prüfen, ob ein internationaler<br />
Sachverhalt gegeben ist. Die Rechtsfrage ist also unter einen Tatbestand des IPRG<br />
zu subsumieren.<br />
Ablauf:<br />
Bestimmung des in der Sache anwendbaren Rechts durch Anknüpfung einzelner<br />
oder mehrerer Rechtsfragen (sog. Haupt- und <strong>Teil</strong>fragen als Anknüpfungsgegenstand;<br />
auch Verweisungsbegriff) an eine Rechtsordnung (sog. Statut; auch Wirkungsstatut<br />
oder lex causae) mit Hilfe bestimmter Merkmale (sog. Anknüpfungsmerkmale;<br />
auch: Anknüpfungsmoment, Anknüpfungspunkt oder Anknüpfungsbegriff), die in<br />
einer Person oder einem Gegenstand (sog. Anknüpfungssubjekte) zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt (sog. Anknüpfungszeitpunk) verwirklicht sind.<br />
IPR-Normen knüpfen an eine abstrakte Rechtsfrage im Sachverhalt an, beispielsweise<br />
an das Rechtsfrage-Bündel des Nachlasses und unterstellen diese einem bestimmten<br />
anwendbaren Recht. Die Rechtsfolge ist ebenfalls abstrakt und lautet nicht,<br />
dass Schweizer oder deutsches Recht anwendbar sei, sondern sie beruft beispielsweise:<br />
„…das Recht am Wohnsitz oder am Erfüllungsort…“ zur Anwendung.<br />
Nun ist diese abstrakte Rechtsfolge anhand bestimmter Anknüpfungsmerkmale zu<br />
konkretisieren. Es ist bspw. noch festzustellen, wo laut Sachverhalt der Wohnsitz<br />
liegt. Erst dies führt zu einer konkreten Rechtsfolge: deutsches Recht oder Schweizer<br />
Recht ist anwendbar.<br />
Der Gesetzgeber entscheidet also nicht aufgrund seines eigenen Anwendungswillen<br />
über die Anwendung der Norm, sondern es ist Sache des Kollisionsrechts, eine<br />
95
Rechtsordnung für anwendbar zu erklären. Dies kann gegebenenfalls sogar gegen<br />
deren eigenen Willen geschehen.<br />
Verweist das Schweizer IPR auf das deutsche Recht und der deutsche Gesetzgeber<br />
wollte seine Norm gar nicht auf einen derartigen Sachverhalt angewendet wissen,<br />
spielt dies im konkreten Fall überhaupt keine Rolle. Das Schweizer IPRG schreibt<br />
dem Schweizer Richter vor, auf jeden Fall deutsches Recht anzuwenden.<br />
Dies im Gegensatz zur statutarischen Methode, bei welcher es explizit auf diesen<br />
Anwendungswillen ankommt.<br />
b) Arten und Aufbau <strong>allgemeiner</strong> Kollisionsnormen<br />
aa) selbständige allgemeine Kollisionsnorm<br />
Die selbständigen Kollisionsnormen sind gewissermassen die Anspruchsgrundlagen<br />
des IPR. Es sind die Verweisungsnormen im eigentlichen Sinn, denn die Rechtsfolge<br />
einer selbständigen Kollisionsnorm ist der Verweis auf eine nationale Rechtsordnung.<br />
Die selbständigen Kollisionsnormen nennt man auch Verweisungsnormen im<br />
engeren Sinn.<br />
Unterarten:<br />
- Einseitige Kollisionsnorm<br />
Einseitige Kollisionsnormen berufen ein einziges, bestimmtes Recht. Schweizer<br />
IPRG beruft in der Regel das Schweizer Recht.<br />
z.B. Art. 34 Abs. 1, 44 Abs. 3 oder 159 IPRG<br />
typischer Aufbau einer einseitigen allgemeinen Kollisionsnorm am Beispiel von<br />
Art. 90 Abs. 1 IPRG:<br />
Wortlaut von Art. 90 Abs. 1 IPRG<br />
Der Nachlass<br />
einer Person<br />
mit letztem<br />
Wohnsitz in der Schweiz<br />
untersteht schweizerischem Recht<br />
Funktion<br />
Verkürte Beschreibung des Anknüpfungsgegenstandes<br />
(Rechtsfragebündel),<br />
der im übrigen noch näher durch<br />
Art. 92 Abs. 1 IPRG (Hilfsnorm zur Festlegung<br />
des sog. Erbstatuts) konkretisiert<br />
wird<br />
Anknüpfungssubjekt (aus der Systematik<br />
ergibt sich, dass der Erblasser gemeint<br />
ist); es könnte auch genauer umschrieben<br />
sein, z.B. Arbeitnehmer oder Konsument,<br />
Erblasser, etc.<br />
Anknüpfungszeitpunkt (also Todeszeitpunkt)<br />
Anknüpfungsmerkmal<br />
Konkrete Bezeichnung des anwendbaren<br />
Rechts (Erbstatut)<br />
96
- Allseitige Kollisionsnormen<br />
Die allseitigen Kollisionsnormen sind schwieriger aufgebaut, denn sie sind<br />
nicht nur auf der Tatbestandsseite auslegungsbedürftig, sondern – weil die<br />
Rechtsordnung nicht konkret benannt wird – auch auf der Rechtsfolgeseite.<br />
Es wird also nicht – wie bei einseitigen Kollisionsnomen – auf Schweizer<br />
Recht verwiesen, sondern auch auf ausländische Rechtsordnungen.<br />
Allseitige Kollisionsnomen funktionieren nur vor dem Hintergrund der Annahme,<br />
dass alle Rechtsordnungen in diesen Bereichen weitgehend gleichwertig<br />
sind.<br />
Charakteristikum: abstrakt-genereller Rechtsanwendungsbefehl<br />
z.B. Art. 48 Abs. 1, 68 Abs. 1, 95 Abs. 1 oder 154 Abs. 1 IPRG<br />
typischer Aufbau einer allseitigen Kollisionsnorm am Beispiel von Art. 68 Abs.<br />
1 i. V. m. 69 Abs. 1 IPRG:<br />
Wortlaut von Art. 68 Abs. 1 IPRG<br />
Die Entstehung des Kindesverhältnisses<br />
sowie dessen Feststellung oder Anfechtung<br />
unterstehen dem Recht<br />
am gewöhnlichen Aufenthalt<br />
des Kindes<br />
im Zeitpunkt der Geburt (Art. 69 Abs. 1<br />
IPRG)<br />
Funktion<br />
Verkürzte Beschreibung der Anknüpfungsgegenstände<br />
(Rechtsfragebündel)<br />
Abstrakte Rechtsfolgenanordnung<br />
Anknüpfungsmerkmal<br />
Anknüpfungssubjekt<br />
grundsätzlicher Anknüpfungszeitpunkt<br />
Viele Normen enthalten keinen ausdrücklichen Anknüpfungszeitpunkt. Nach nicht<br />
unumstrittener Praxis – aber wohl einzige Möglichkeit – des Bundesgerichtes ist in<br />
diesen Fällen der Zeitpunkt der Klageanhebung massgeblich.<br />
bb) Unselbständige allgemeine Kollisionsnormen<br />
Unselbständige allgemeine Kollisionsnormen sind die Hilfsnormen des IPRG. Sie<br />
enthalten Definitionen, also etwa die Antwort auf die Frage, was man unter dem<br />
Nachlass, Wohnsitz, etc. zu verstehen hat.<br />
Unselbständige allgemeine Kollisionsnormen enthalten aber auch Verweisnormen für<br />
unselbständige Anknüpfungen. Beispielsweise richtet sich die Stellvertretung nach<br />
dem Recht, das auf den Vertrag anzuwenden ist.<br />
Unterarten:<br />
- Begriffsdefinitionen: z.B. Art. 20 IPRG (Anknüpfungsmerkmale), Art. 150 IPRG<br />
(Anknüpfungsgegenstand)<br />
- Auslegungsnormen: z.B. Art. 92 Abs. 1 IPRG (Umfang des Erbstatuts)<br />
c) Auslegung <strong>allgemeiner</strong> Kollisionsnormen (sog. Qualifikation)<br />
Das Problem der Qualifikation ist ein klassisches IPR-Problem, welches bis heute<br />
ungelöst ist. Im Rahmen der Qualifikation ist zwischen der Qualifikation ersten und<br />
zweiten Grades zu unterscheiden.<br />
97
Bei der im IPRG massgeblichen Qualifikation ersten Grades geht es um die Auslegung<br />
von Kollisionsnormen, also um die Normen des IPRG. Die Qualifikation zweiten<br />
Grades beschäftigt sich dann mit der Auslegung des anwendbaren Rechts.<br />
aa) Gegenstand der Qualifikation<br />
Im IPR stellen sich verschiedene Auslegungsprobleme, weil die verschiedenen IPR-<br />
Normen sehr abstrakt formuliert sind. Wie sind beispielsweise die Begriffe „Nachlass“<br />
oder „Vertrag“ auszulegen? Bei der Qualifikation von zweiseitigen Normen sind sowohl<br />
Tatbestand als auch Rechtsfolge auszulegen; bei den einseitigen Normen nur<br />
der Tatbestand.<br />
Auf der Tatbestandsseite sind drei Auslegungsfragen relevant:<br />
Auslegung des Tatbestandes (Verweisungsbegriffs, Anknüpfungsgegenstandes):<br />
- Klärung des Begriffsinhalts<br />
z.B. Art. 37 IPRG: Wie ist der Begriff „Name“ zu verstehen? (Familienname,<br />
Vorname, Künstlername, Name einer Firma, etc.)<br />
- Klärung des Begriffsumfangs<br />
Welche Rechtsfragen sind <strong>Teil</strong> dieses Anknüpfungsgegenstandes?<br />
- Klärung von Begriffsabgrenzungen und -zuordnungen<br />
Was gehört noch zum Namensrecht, was ist schon Delikts- oder Vertragsrecht?<br />
<strong>Teil</strong>weise gibt es Hilfsnormen, welche einzelne dieser Fragen beantworten.<br />
Auch die Rechtsfolge ist auszulegen. Wie bereits erläutert, wird bei zweiseitigen<br />
Normen auch die Rechtsfolge abstrakt umschrieben. Die Auslegung der Rechtsfolge,<br />
also die Bestimmung des anwendbaren Sachrechts, ist die Anknüpfung im engeren<br />
Sinne. Auch hier sind drei Punkte wesentlich.<br />
Auslegung der abstrakt-generellen Rechtsfolge:<br />
- Auslegung des Anknüpfungsmerkmals<br />
Bsp. Wohnsitz (Art. 135 IPRG)<br />
- Auslegung des Anknüpfungssubjekts<br />
Bsp. Erblasser, Arbeitnehmer, etc.<br />
- Auslegung des Anknüpfungszeitpunkts<br />
Bsp. letzter Wohnsitz, Vertragsschluss, etc.<br />
bb) Qualifikationsstatut<br />
Das Qualifikationsstatut ist das Recht, welches über die Frage entscheidet, nach<br />
welchen Methoden ausgelegt werden soll.<br />
98
aaa) Relevanz des Qualifikationsstatuts<br />
- Begriffsunterschiede<br />
In den einzelnen Rechtsordnungen gibt es verschiedenste Begriffsunterschiede.<br />
Der Begriff „Gesellschaft“ beinhaltet im deutschen Recht beispielsweise<br />
auch den Verein, während dieser nach französischem Recht nicht zu den Gesellschaften<br />
gehört.<br />
- Methodenunterschiede<br />
Auch die Bindung von Präjudizien beispielsweise ist im angelsächsischen<br />
Recht völlig unterschiedlich im Vergleich zum Schweizer Recht.<br />
- Systemunterschiede<br />
Die Verjährung ist beispielsweise in der Schweiz eine Frage des materiellen<br />
Rechts, während diese im angelsächsischen Recht eine prozessuale Frage<br />
darstellt.<br />
bbb) Bestimmung des Qualifikationsstatuts<br />
Grundregel: IPR-Normen werden nach dem Methoden-, Begriffs- und Systemverhältnis<br />
des Normgebers ausgelegt. Das bedeutet dann:<br />
- schweizerische Auslegung von Normen des IPRG<br />
Das ist nicht unumstritten, ist jedoch die aktuelle Bundesgerichtspraxis<br />
- fremdrechtliche Auslegung ausländischer Kollisionsnormen<br />
Ausländische Kollisionsnormen sind nach dem Verständnis des jeweiligen<br />
ausländischen Normgebers zu interpretieren.<br />
- autonome Auslegung staatsvertraglicher Kollisionsnormen<br />
Staatsvertragliche Kollisionsnormen werden autonom ausgelegt.<br />
Vorteile<br />
Wenn der Schweizer Richter Schweizer Recht anwendet, hat dies den Vorteil, dass<br />
er kompetent ist, diese Normen anzuwenden. Er kennt das Schweizer Recht am<br />
besten, was zu einer breiten Rechtssicherheit führt.<br />
Nachteile<br />
Durch nationale Auslegung wird die Internationalität des Sachverhalts nicht immer<br />
berücksichtigt.<br />
Ergebnis (sog. kollisionsnormgerechte Auslegung)<br />
Das Ziel ist es, den Sachverhalt sog. kollisionsnormgerecht auszulegen. Dies bedeutet:<br />
- Beachtung des spezifisch kollisionsrechtlichen Normzwecks und<br />
- sog. weltoffene Auslegung<br />
99
Beispiel<br />
Art. 150 IPRG:<br />
1 Als Gesellschaften im Sinne dieses Gesetzes gelten organisierte Personenzusammenschlüsse und<br />
organisierte Vermögenseinheiten.<br />
2 Für einfache Gesellschaften, die sich keine Organisation gegeben haben, gilt das auf Verträge<br />
anwendbare Recht (Art. 116 ff.).<br />
Der Schweizer Gesetzgeber hat im Art. 150 IPRG den Begriff der Gesellschaft bewusst<br />
nicht im Sinne des Art. 530 Abs. 1 OR bestimmt, sondern in einer international<br />
möglichst kooperativen Art und Weise.<br />
Alternativen:<br />
- Qualifikation nach dem in der Sache anwendbaren Recht (lex causae)<br />
- rechtsvergleichende Qualifikation<br />
Durch Rechtsvergleichung wird eine Schnittmenge, also ein gemeinsames<br />
Begriffsverständnis gesucht.<br />
- autonom-teleologische Qualifikation<br />
Diese Qualifikation funktioniert nur bei Staatsverträgen.<br />
d) Durchführung der Anknüpfung in der Fallprüfung<br />
Fallbeispiel: Kurz vor Beginn der Fussball Weltmeisterschaft bestellt der 17-jährige<br />
Schweizer K aus Basel beim Verkäufer V in Lörrach einen Flachbildschirm. Obwohl<br />
die Eltern die Zustimmung zu dem Geschäft verweigerten, verklagt der V den K in<br />
Basel.<br />
1. Schritt: Bestimmung des Anknüpfungsgegenstandes<br />
Hier ist die Rechtsfrage genau einzukreisen. Welches sind die relevanten Rechtsfragen?<br />
Unterschritte:<br />
- Konkretisierung der Fallfrage<br />
V will von K Kaufpreiszahlung gestützt auf den Kaufvertrag.<br />
- Auffinden der einzelnen Rechtsprobleme<br />
Konsensfragen, Formfragen, Stellvertretung, etc?<br />
Der Fall wird nach der lex fori, also nach CH-Recht grob durchgelöst, um die<br />
relevanten Rechtsprobleme zu sondieren.<br />
In casu stellt sich das Problem, dass K noch nicht handlungsfähig ist.<br />
100
2. Schritt: Subsumtion der Rechtsfrage unter den Tatbestand einer Kollisionsnorm<br />
Unterschritte:<br />
- Rechtliche Kategorisierung des Problems im Hinblick auf bekannte IPR-<br />
Kategorien<br />
Ist der Vertrag gültig? Ist K vertragsfähig? Personenrecht?<br />
- Auffinden in Betracht kommender Kollisionsnormen und Klärung allfälliger<br />
Konkurrenzfragen<br />
Personenrecht: Art. 34 ff IPRG; Vertragsrecht: Art. 116 ff. IPRG<br />
Wegen des Spezialitätsprinzips ist zuerst das Vertragsrecht zu betrachten.<br />
Dort finden sich jedoch keine einschlägigen Regelungen zur Vertragsfähigkeit.<br />
Massgeblich ist somit Art. 35 IPRG: Die Handlungsfähigkeit untersteht dem<br />
Recht am Wohnsitz.<br />
Art. 35 IPRG ist die einschlägige Norm. Sie ist eine allseitige Kollisionsnorm,<br />
weil die Rechtsfolge abstrakt umschrieben wird – berufen wird das Recht am<br />
Wohnsitz.<br />
- Auslegung des Tatbestands der in Betracht kommenden Kollisionsnorm (Qualifikation<br />
auf der Tatbestandsseite)<br />
Was ist mit Handlungsfähigkeit gemeint?<br />
Normverständnis des Normgebers, somit ist die Handlungsfähigkeit des<br />
Schweizer ZGB gemeint: Art. 12 ZGB; Fähigkeit, durch seine Handlungen<br />
Rechte und Pflichten zu begründen.<br />
- Durchführung der eigentlichen Subsumtion<br />
Der Sachverhalt im Sinne des IPRG ist nun unter die betreffende Norm zu<br />
subsumieren. In casu ist die Rechtsfrage, ob K handlungsfähig ist, unter Art.<br />
35 IPRG zu subsumieren.<br />
Ob sich nun K verpflichten konnte, ist ein Frage der Handlungsfähigkeit im<br />
Sinne der Art. 35 IPRG i. V. m. Art. 12 ZGB.<br />
3. Schritt: Bestimmung der Rechtsfolge der einschlägigen Kollisionsnorm<br />
Unterschritte (bei allseitigen Kollisionsnormen)<br />
- Bestimmung der abstrakten Rechtsfolge mit Hilfe der einschlägigen kollisionsrechtlichen<br />
Regelung<br />
Anwendbarkeit des Rechts am Wohnsitz (Wohnsitz = 20 I IPRG)<br />
- Auslegung (Qualifikation auf der Rechtsfolgenseite) der nach der abstrakten<br />
Rechtsfolge massgeblichen Anknüpfungselemente (Anknüpfungsmerkmal,<br />
Anknüpfungssubjekt, Anknüpfungszeitpunkt)<br />
o Anknüpfungssubjekt: K<br />
o Anknüpfungszeitpunkt: Art. 35 S. 2 IPRG: Zeitpunkt der Handlung<br />
- Ermittlung der konkreten Rechtsfolge (sog. Verweisung auf das anwendbare<br />
Sachrecht) durch Subsumtion des (tatsächlichen) Sachverhalts unter die abstrakte<br />
Rechtsfolge<br />
Die Rechtsfolge ist die Verweisung auf ein konkret anwendbares Sachrecht.<br />
Jetzt wird nicht mehr die Rechtsfrage, sondern der tatsächliche Sachverhalt<br />
subsumiert.<br />
101
Anwendbarkeit des Rechts am Wohnsitz, d.h. an dem Ort, an welchem sich<br />
K als handelnde Person, mit der Absicht des dauernden Verbleibs, im Zeitpunkt<br />
des Vertragsschlusses aufhielt.<br />
K hielt sich in Basel auf, in Basel ist Schweizer Recht anwendbar.<br />
Fazit: Anwendbarkeit des Schweizer Rechts: Art. 12 ff. ZGB.<br />
17-jähriger kann sich nicht ohne Zustimmung seiner Eltern wirksam verpflichten.<br />
D. Elemente und Arten der Anknüpfung<br />
I. Elemente der Anknüpfung<br />
1. Anknüpfungsgegenstände<br />
Anknüpfungsgegenstände sind die Rechtsfragen und nicht die tatsächlichen Sachverhaltsfragen.<br />
Abstrakt formuliert sind es Einzelfragen und Fragekreise, die vom<br />
Tatbestand einer kollisionsrechtlichen Regelung erfasst werden und den Rechtsfolgen<br />
von Normen des Sachrechts entsprechen.<br />
Dabei wird unterschieden zwischen Hauptfragen und <strong>Teil</strong>fragen, wobei <strong>Teil</strong>fragen<br />
insbesondere Vorfragen sind.<br />
a) Hauptfragen<br />
Hauptfragen beinhalten jeweils geschlossene Anknüpfungsgegenstände (z.B. einen<br />
Vertrag) und alle sich damit verbindenden Fragekreise (z.B. Zustandekommen des<br />
Vertrages, Formgültigkeit, Vertragserfüllung, Beendigung, etc.).<br />
b) <strong>Teil</strong>fragen:<br />
Sonderfall: sog. Vorfragen (präjudizielle Rechtsverhältnisse)<br />
<strong>Teil</strong>fragen sind aus dem Fragekreis losgelöste, einzelne Fragen, welche einer spezielleren<br />
Anknüpfungsregel folgen: Lex specialis derogat legi generali. Insoweit sind<br />
die speziellen Kollisionsnormen heranzuziehen – nicht die allgemeinen Kollisionsnormen<br />
mit der Regelanknüpfung, sondern die speziellen mit der sog. Sonderanknüpfung.<br />
Beispielsweise ist bevor man sich mit den Ehewirkungen auseinander setzt, zuerst<br />
zu prüfen, ob überhaupt eine Ehe vorliegt. Weiter muss man sich fragen, welches<br />
Recht für die Definition der Ehe überhaupt anwendbar ist.<br />
Ist über eine Vorfrage rechtskräftig entschieden worden, stellt sich die Frage der<br />
Anerkennung dieser Entscheidung. Ist also eine Scheidung im Ausland ausgesprochen<br />
worden, stellt sich in der Schweiz die Frage nach der Anerkennung derselben.<br />
Besteht also die Ehe nicht mehr, weil man ein ausländisches Scheidungsurteil anerkannt<br />
hat, stellen sich die Frage der Wirkung einer Ehe, bzw. der Folgen der Scheidung.<br />
102
aa) Kollisionsrechtliche Vorfragen (sog. Erstfragen)<br />
Bei den kollisionsrechtlichen Vorfragen handelt es sich um Fragen im Zusammenhang<br />
mit der Anwendung inländischen Kollisionsrechts.<br />
Sonderanknüpfung von Erstfragen<br />
bb) Materiellrechtliche Vorfragen<br />
Dabei handelt es sich um Vorfragen im Zusammenhang mit der Anwendung ausländischen<br />
Kollisions- oder Sachrechts.<br />
Sonderanknüpfung materiellrechtlicher Vorfragen<br />
2. Anknüpfungsmerkmale<br />
Die Anknüpfungsmerkmale wurden bereits im Rahmen der Zuständigkeit besprochen.<br />
a) Personenbezogene Anknüpfungsmerkmale<br />
- Parteiwille<br />
- Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt<br />
- Staatsangehörigkeit<br />
- Gründungsort oder Sitz (inkl. Niederlassung) einer Gesellschaft<br />
b) Ergebnisbezogene Anknüpfungsmerkmale<br />
- Handlungsort<br />
- Erfolgsort<br />
- Auswirkungsort<br />
c) Gegenstandsbezogene Anknüpfungsmerkmale<br />
- Belegenheitsort<br />
- Immatrikulationsort<br />
d) Verfahrensbezogene Anknüpfungsmerkmale<br />
- Verfahrensort<br />
3. Anknüpfungssubjekt<br />
Die Anknüpfungssubjekte sind an sich unproblematisch. Es können sich jedoch einzelne<br />
spezielle Probleme ergeben (Arbeitnehmer, Konsument, etc.).<br />
4. Anknüpfungszeitpunkt<br />
Die Grundregel ist, dass jeweils der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts oder<br />
der Behörde massgeblich ist und nicht der Zeitpunkt der Klageerhebung.<br />
Ansonsten bestehen ausdrückliche oder implizite Sonderregelungen in den betreffenden<br />
Kollisionsnormen (z.B. Art. 95 Abs. 1, 100 Abs. 1 oder 52 Abs. 2 IPRG).<br />
Rechtsprechung: BGE 116 II 202, BGE 118 II 83 (Pra 81 Nr. 234)<br />
103
Fall 17 (nach BGE 129 III 288 ff.): Die Argentinierin A ist seit dem 25. Juli 1997 die<br />
Ehefrau des Schweizers C und die Mutter von B. B wurde am 18. August 1997 in<br />
Buenos Aires geboren. B reiste nach der Heirat am 25. Juli 1997 in die Schweiz und<br />
liess die schwangere A in Argentinien zurück. Vor der Eheschliessung besuchte A<br />
den B mehrmals (manchmal bis zu drei Monaten) in der Schweiz. Ihre Wohnung und<br />
ihre Arbeitsstelle in Argentinien gab A jedoch zunächst nicht auf. Sie wollte Argentinien<br />
vor der Geburt von B nicht verlassen, weil sie die Ärzte vor Ort kannte. Ferner<br />
konnte sie kein Deutsch sprechen und kannte in der Schweiz fast niemanden. In<br />
Argentinien hingegen hatte sie ihre Familie und Freunde. Allerdings wollte sie das<br />
Land schon länger verlassen. Im Oktober 1997 verliess A mit ihrem Sohn B ihr Heimatland<br />
und zog zu C in die Schweiz. Am 18. Oktober 2000 erhebt C bei einem<br />
Schweizer Gericht Klage mit dem Antrag festzustellen, dass zwischen ihm und B<br />
kein Kindsverhältnis bestehe. Nach argentinischem Recht ist die Klage auf Anfechtung<br />
der Vaterschaft verwirkt.<br />
Welches Recht findet auf die Klage Anwendung, wenn man die Zuständigkeit eines<br />
Schweizer Gerichts unterstellt?<br />
II.<br />
Arten der Anknüpfung<br />
1. Kategorisierung nach der Rechtsgrundlage<br />
a) Objektive Anknüpfung<br />
Bei der objektiven Anknüpfung sucht man ein Anknüpfungsmerkmal, welches sich<br />
aus dem objektiven Recht ergibt. Es handelt sich dabei also um Merkmale, die sich<br />
aus dem IPRG ergeben: Wohnsitz, Begebenheitsort, Inkorporationsort, etc.<br />
b) subjektive Anknüpfung<br />
Die subjektive Anknüpfung ist das Recht, welches sich aufgrund einer Rechtswahl<br />
ergibt. Dies ist insbesondere im Vertragsrecht von Bedeutung (vgl. Art. 116 Abs. 1<br />
und 3 IPRG).<br />
2. Kategorisierung nach dem Differenzierungsgrad<br />
a) Regelanknüpfung<br />
Ratio: Einheitliche Anknüpfung zusammengehörender Rechtsfragen<br />
Für einen Gesamtfragekreis gilt die Regelanknüpfung, also für eine Hauptfrage ist<br />
das Ziel, möglichst einheitlich anzuknüpfen. Dies sichert einen internationalen Entscheidungseinklang.<br />
104
) Sonderanknüpfung<br />
Andererseits ist zusätzlich der engste Zusammenhang eines Rechts zu einem Sachverhalt<br />
zu berücksichtigen. So werden <strong>Teil</strong>fragen an ein Recht angeknüpft, zu welchem<br />
diese <strong>Teil</strong>fragen einen besonders engen Bezug aufweisen.<br />
Vorrang der Sonderanknüpfung<br />
Für die Sonderanknüpfung gilt der Grundsatz: lex specialis derogat legi generali.<br />
Ratio:<br />
- Sicherung besonderer Schutzinteressen (z.B. Verkehrs- und Gläubigerschutz<br />
im Gesellschaftsrecht nach Art. 156 ff. IPRG)<br />
- Günstigkeitsprinzip (z.B. alternative Sonderanknüpfung zur Sicherung der<br />
Formwirksamkeit nach Art. 124 IPRG bzw. der Testierfähigkeit nach Art. 94<br />
Abs. 2 IPRG)<br />
- Berücksichtigung einer besonderen örtlichen Verbundenheit<br />
- Berücksichtigung in- und ausländischer Eingriffsnormen (Art. 18 und 19 IPRG)<br />
Beispiel<br />
Art. 154 IPRG<br />
1 Gesellschaften unterstehen dem Recht des Staates, nach dessen Vorschriften sie organisiert sind,<br />
wenn sie die darin vorgeschriebenen Publizitäts- oder Registrierungsvorschriften dieses Rechts erfüllen<br />
oder, falls solche Vorschriften nicht bestehen, wenn sie sich nach dem Recht dieses Staates<br />
organisiert haben.<br />
2 Erfüllt eine Gesellschaft diese Voraussetzungen nicht, so untersteht sie dem Recht des Staates, in<br />
dem sie tatsächlich verwaltet wird.<br />
Art. 156 IPRG<br />
Ansprüche aus öffentlicher Ausgabe von Beteiligungspapieren und Anleihen aufgrund von Prospekten,<br />
Zirkularen und ähnlichen Bekanntmachungen können nach dem auf die Gesellschaft anwendbaren<br />
Recht oder nach dem Recht des Staates geltend gemacht werden, in dem die Ausgabe erfolgt ist.<br />
Art. 154 Abs. 1 IPRG ist die Regelanknüpfung: Recht nach dem die Gesellschaft<br />
gegründet wurde (Gründungsstatut). Andererseits bieten die Art. 156 ff. IPRG mit<br />
dem Zweck des Gläubigerschutzes eine Sonderanknüpfung.<br />
3. Kategorisierung nach dem Anknüpfungsgegenstand<br />
a) selbständige Anknüpfung<br />
Dies betrifft die selbständigen, allgemeinen Kollisionsnormen, z.B. Art. 35 IPRG. Hier<br />
wird beispielsweise die Handlungsfähigkeit – obwohl sie <strong>Teil</strong> des Personenrechts ist<br />
– nicht durch Verweis akzessorisch auf das allgemeine Personalstatut angeknüpft,<br />
sondern es gibt eine eigene kollisionsnormenrechtliche Lösung: Recht am Wohnsitz.<br />
105
) Akzessorische Anknüpfung<br />
Bei der akzessorischen Anknüpfung ist dies nicht der Fall, sondern es gibt eine verweisende<br />
Hilfsnorm. Es ist zwar eine Sonderanknüpfung – aber eine, die verweist.<br />
Beispiel: Art. 126 Abs. 1 und 4 IPRG: Das Stellvertretungsrecht richtet sich nach dem<br />
Recht, welches auf den Vertrag anwendbar ist.<br />
Ein weiteres Beispiel ist Art. 34 Abs. 2 IPRG: Beginn und Ende der Persönlichkeit<br />
richten sich nach dem Recht des betroffenen Rechtsverhältnisses.<br />
Das ist die akzessorische Anknüpfung par excellence. Diese Fragen werden nicht<br />
selbständig angeknüpft, sondern es wird akzessorisch angeknüpft an das Recht des<br />
betroffenen Rechtsverhältnisses.<br />
Ratio: Da durch die Sonderanknüpfung die Einheit der Rechtsanwendung aufgebrochen<br />
wurde, soll diese durch die akzessorische Anknüpfung teilweise wieder hergestellt<br />
werden. Man will wieder einen Konnex zu dem Fragekreis schaffen, zu welchem<br />
diese <strong>Teil</strong>frage in einem engsten Zusammenhang steht. Dies soll die internationale<br />
Entscheidungseinheit ermöglichen.<br />
4. Kategorisierung nach dem Anknüpfungsmerkmal<br />
wurde oben bereits erläutert<br />
a) Personenbezogene Anknüpfung<br />
b) Ergebnisbezogene Anknüpfung<br />
c) Gegenstandsbezogene Anknüpfung<br />
d) Verfahrensbezogene Anknüpfung<br />
5. Kategorisierung nach der Veränderbarkeit der Anknüpfung<br />
a) Unwandelbare Anknüpfung<br />
Der Zeitpunkt der unwandelbaren Anknüpfung liegt ein für alle mal fest. Dieser Zeitpunkt<br />
soll erhalten bleiben. Beispielsweise ein Wohnsitzwechsel ändert daran nichts.<br />
Ein Beispiel hierfür ist Art. 55 Abs. 2 IPRG.<br />
b) Wandelbare Anknüpfung<br />
Das Gegenstück zur unwandelbaren Anknüpfung ist die wandelbare Anknüpfung<br />
(Beispiel Art. 55 Abs. 1 IPRG). Man bezeichnet dies als einen Statutenwechsel im<br />
engeren Sinne. Dabei wird das Statut durch eine tatsächliche Veränderung eines<br />
Anknüpfungsmerkmals rückwirkend geändert.<br />
106
6. Kategorisierung nach der Rechtsfolge<br />
a) Alternative Anknüpfung<br />
Bei der alternativen Anknüpfung erlaubt die Kollisionsnorm auf der Rechtsfolgeseite<br />
abstrakt oder konkret die Berücksichtigung mehrerer Rechtsordnungen zur Herstellung<br />
bestimmter materieller Ergebnisse.<br />
Ratio (Günstigkeitsprinzip):<br />
- favor validitatis (favor negotii, favor testamenti) zur Sicherung von Wirksamkeitsvoraussetzungen<br />
(z.B. Art. 124 IPRG und Art. 93 IPRG i. V. m. Haager<br />
Formübereinkommen)<br />
- favor infantis (Art. 77 Abs. 2 und 82 Abs. 1 IPRG)<br />
- favor laesi (Art. 135 und 139 IPRG)<br />
b) Kumulative Anknüpfung<br />
Die kumulative Anknüpfung, also die kumulative Berücksichtigung mehrer Rechtsordnungen<br />
ist eher selten (z.B. Art. 144 Abs. 1 oder 163c Abs. 1 IPRG).<br />
Ratio: Entscheidungseinklang<br />
Beispiel:<br />
Art. 144 IPRG<br />
1 Ein Schuldner kann auf einen anderen Schuldner unmittelbar oder durch Eintritt in die Rechtsstellung<br />
des Gläubigers insoweit Rückgriff nehmen, als es die Rechte zulassen, denen die entsprechenden<br />
Schulden unterstehen.<br />
[…]<br />
Bei mehreren Schuldnern gibt es möglicherweise mehrere Rechtsordnungen. Man<br />
versucht hier durch die kumulative Berufung dieser Rechte, einen Widerspruch zwischen<br />
den verschiedenen Solidaritätsregelungen zu vermeiden.<br />
c) Subsidiäre Anknüpfung<br />
Im Rahmen der subsidiären Anknüpfung gibt es keine Alternativität oder privatautonome<br />
Wahl, sondern eine Hierarchie der Anknüpfungen.<br />
Beispiel: Recht am Wohnsitz, hilfsweise das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt,<br />
hilfsweise das Recht der Staatsangehörigkeit, etc.<br />
Unterarten:<br />
- Ersatzanknüpfung<br />
Bei der Ersatzanknüpfung gibt es eine Haupt- und eine subsidiäre Ersatzanknüpfung.<br />
- Kaskadenanknüpfung (z.B. Art. 54 und 133 IPRG)<br />
Die Kaskadenanknüpfung bezeichnet drei und mehrere subsidiäre Anknüpfungsmöglichkeiten.<br />
107
E. Verweisung<br />
I. Begriff<br />
Bei der Verweisung geht es um die konkrete Rechtsfolge einer allgemeinen, nach<br />
der Anknüpfungsmethode formulierten Kollisionsnorm. Die Rechtsfolge ist dabei die<br />
Bestimmung des konkreten Sachrechts.<br />
Weitere, nicht in der Vorlesung behandelte Aspekte:<br />
- Regelung: Art. 13 ff. IPRG<br />
- Zeitbedingtheit der Verweisung<br />
- Gegenstand der Verweisung (Anwendungsbefehl, Berücksichtigungsbefehl)<br />
II.<br />
Arten<br />
1. Sachnormverweisung<br />
a) Begriff<br />
Eine Sachnormverweisung verweist nur auf das Sachrecht. Wird beispielsweise auf<br />
deutsches Recht verwiesen, wird auf das materielle Recht, also z.B. auf das BGB,<br />
und nicht auf das deutsche IPR verwiesen.<br />
Der Grundsatz, dass nur auf das materielle Recht eines andern Staates verwiesen<br />
wird, ist im Schweizer Recht in Art. 14 Abs. 1 IPRG festgehalten. Dies ergibt sich<br />
nicht direkt aus der Norm, sondern aus deren Umkehrschluss.<br />
Art. 14 IPRG<br />
1 Sieht das anwendbare Recht eine Rückverweisung auf das schweizerische Recht oder eine Weiterverweisung<br />
auf ein anderes ausländisches Recht vor, so ist sie zu beachten, wenn dieses Gesetz<br />
sie vorsieht.<br />
2 In Fragen des Personen- oder Familienstandes ist die Rückverweisung auf das schweizerische<br />
Recht zu beachten.<br />
Grundsätzlich wird also nur auf das materielle Recht eines Staates verwiesen und<br />
nicht auf dessen IPRG – ausser, wenn das Schweizer IPRG dies ausdrücklich vorsieht.<br />
Das ist beispielsweise in Art. 37 Abs. 1 IPRG der Fall.<br />
Art. 37 IPRG<br />
1 Der Name einer Person mit Wohnsitz in der Schweiz untersteht schweizerischem Recht; der Name<br />
einer Person mit Wohnsitz im Ausland untersteht dem Recht, auf welches das Kollisionsrecht des<br />
Wohnsitzstaates verweist.<br />
2 Eine Person kann jedoch verlangen, dass ihr Name dem Heimatrecht untersteht.<br />
Der Name einer Person mit Wohnsitz im Ausland untersteht also nicht dem Recht<br />
des Wohnsitzstaates, sondern dem Recht des Staates, auf welches das Kollisionsrecht<br />
des ausländischen Staates verweist.<br />
Ein weiteres Beispiel ist Art. 91 Abs. 1 IPRG.<br />
108
Die Ausnahmen der Art. 37 Abs. 1 und 91 Abs. 1 IPRG greift auch Art. 14 Abs. 2<br />
IPRG in der Form einer allgemeinen Regelung auf. Im Rahmen des Personen und<br />
Familienstandes handelt es sich jeweils um Gesamtverweisungen.<br />
b) Anwendungsbereich<br />
- Art. 14 IPRG<br />
- Staatsverträge<br />
2. Gesamtverweisung<br />
a) Begriff<br />
Wie bereits erläutert, handelt es sich bei der Verweisung auf ein ausländisches<br />
Recht grundsätzlich um eine Verweisung auf das materielle Recht. In gewissen Fällen<br />
ist die Verweisung aber weiter zu interpretieren, sodass nicht nur das ausländische<br />
materielle Recht, sondern auch das jeweilige Kollisionsrecht miterfasst wird.<br />
b) Anwendungsbereich<br />
- Sonderregelungen im IPRG-BT (z.B. Art. 14 Abs. 1 i. V. m. 37 Abs. 1 Hs. 2<br />
und 91 Abs. 1 IPRG)<br />
- Fragen des Personen- und Familienstands (Art. 14 Abs. 2 IPRG) wie Scheidung<br />
und Trennung, Abstammung, Anerkennung; umstritten bei Handlungsfähigkeit<br />
c) Problematik des Renvoi<br />
Liegt eine Gesamtverweisung vor, stellt sich die sog. Renvoi-Problematik.<br />
Das ausländische Recht hat drei Möglichkeiten, mit einer Gesamtverweisung umzugehen.<br />
Es kann die Verweisung annehmen, verweist also nicht zurück oder weiter<br />
und sagt, dass das eigene Kollisionsrecht zum selben Ergebnis kommt. Beispielsweise<br />
können beide IPRG dem Wohnsitzprinzip folgen. Dies führt zur Annahme einer<br />
Verweisung.<br />
aa) Entstehung eines Renvoi<br />
Ein Renvoi entsteht nur, wenn das ausländische Recht eine Gesamtverweisung nicht<br />
annimmt. Dies kann auf zwei Arten geschehen: Entweder verweist das ausländische<br />
Recht zurück auf das Ausgangsrecht (Rückverweisung) oder es verweist weiter auf<br />
das Recht eines Drittstaates (Weiterverweisung).<br />
Renvoi ist zusammengefasst die Nichtannahme einer Gesamtverweisung in den<br />
folgenden Formen:<br />
- Rückverweisung oder<br />
- Weiterverweisung an eine dritte Rechtsordnung<br />
109
) Entstehung von Gesamtverweisungsketten<br />
Es kann vorkommen, dass es zu einer erneuten Weiterverweisung kommt. Es stellt<br />
sich also die Frage, ob das ausländische Recht seine Verweisung ebenfalls als Gesamtverweisung<br />
versteht oder bloss auf das materielle Recht weiter verweist.<br />
Liegt eine Rückverweisung auf das materielle Recht vor, stellen sich keine weiteren<br />
Probleme und das Schweizer Gericht wendet dieses an.<br />
Ist es aber eine Gesamtverweisung, stellen sich weitere Probleme und es entsteht<br />
sozusagen ein Perpetum mobile.<br />
Beispiel:<br />
Das Schweizer Recht verweist auf das deutsche Recht, dieses verweist auf französisches<br />
Recht und dieses wiederum auf das Schweizer Recht.<br />
cc) Möglichkeiten zum Abbruch von Gesamtverweisungsketten<br />
- Behandlung der eigentlich als Gesamtverweisung gedachten Rück- oder Weiterverweisung<br />
als Sachverweisung durch das angerufene Gericht<br />
Die herrschende Meinung und diejenige des Bundesgerichts zu dieser Problematik<br />
ist, dass eine Rückverweisung auf das Schweizer Recht grundsätzlich<br />
als Verweisung auf das materielle Recht zu verstehen ist. Die Gesamtverweisung<br />
wird also ignoriert und als Sachnormverweisung interpretiert.<br />
- Erneute (Rück-) Verweisung an das ausländische Recht (sog. foreign court<br />
theory), das dann diese Verweisung entweder als blosse Sachnormverweisung<br />
annimmt oder nochmals (eine letzte) Rückverweisung auf das Sachrecht<br />
des Forumstaates vornimmt<br />
Diese Variante ist jedoch eine Mindermeinung. Gemäss dieser gibt es auch<br />
die Möglichkeit, die ausländische Gesamtverweisung als solche zu behandeln.<br />
Darauf folgt eine erneute Gesamtverweisung auf das ausländische Recht. Die<br />
Interpretation dieser erneuten Weiterverweisung wird dann dem ausländischen<br />
Recht entnommen.<br />
Beispiel: Das Schweizer Recht verweist gesamthaft auf das deutsche Recht.<br />
Dieses verweist zurück auf das Schweizer Recht. Nun folgt eine erneute Gesamtverweisung<br />
auf das deutsche Recht. Der Schweizer Richter hat dabei jedoch<br />
zu berücksichtigen, nach welchen Kriterien nun das deutsche Recht diesen<br />
Renvoi abbrechen würde. Diese Verweisung ist dementsprechend abzubrechen,<br />
was zur Anwendbarkeit des deutschen Sachrechts führt.<br />
Beispiel:<br />
Vor einem Schweizer Gericht geht es um die Namensänderung einer Schweizerin<br />
mit Wohnsitz in Deutschland.<br />
Hier wendet das Schweizer Gericht sein IPR an. Gemäss dem Wohnsitzprinzip in<br />
Art. 37 Abs. 1 IPRG wird auf das gesamte deutsche Recht verwiesen. Art. 37 Abs. 1<br />
IPRG ist eine Ausnahme im Sinne von Art. 14 Abs. 1 IPRG. Hier bestimmt das<br />
110
Schweizer IPRG ausdrücklich, dass es sich nicht um eine Sachnormverweisung,<br />
sondern um eine Gesamtverweisung handelt.<br />
Das Schweizer Gericht folgt der Gesamtverweisung auf das deutsche Recht. Zur<br />
Anwendung gelangt also dasjenige Recht, welches das deutsche Kollisionsrecht<br />
bestimmt.<br />
Das deutsche Recht folgt einem anderen Anknüpfungsprinzip. Es folgt nicht – wie<br />
das Schweizer Recht – dem Wohnsitzprinzip, sondern es folgt nach 10 I EGBGB für<br />
diese namensrechtlichen Fragen dem Staatsangehörigkeitsprinzip. Es verweist also<br />
zurück auf das Schweizer Recht.<br />
Es stellt sich nun die Frage, ob dies eine Sachnorm- oder Gesamtverweisung ist.<br />
Das deutsche Recht enthält aber eine Gesamtverweisung. Es handelt sich also um<br />
eine Rückverweisung auf das Schweizer IPRG.<br />
Nach der herrschenden Meinung in der Schweiz ist diese Rückverweisung nun als<br />
Sachnormverweisung zu interpretieren. Zur Anwendung gelangt somit Schweizer<br />
Recht.<br />
Variante: Es handelt sich um eine Französin, welche in Deutschland wohnt und in<br />
der Schweiz Klage erhebt. Die Zuständigkeit des Schweizer Gerichtes ist zu unterstellen.<br />
Wie bereits erläutert, verweist das Schweizer IPRG gesamthaft auf das deutsche<br />
Recht. Dieses wiederum verweist aufgrund des Staatsangehörigkeitsprinzips im<br />
Rahmen einer Gesamtverweisung auf das französische Recht.<br />
Der Schweizer Richter müsste nun überlegen, wie das französische Recht mit dieser<br />
Verweisung umgeht. Wir nehmen an, dass das französische Recht nach dem Wohnsitzprinzip<br />
gesamthaft zurück auf das deutsche Recht verweist.<br />
Es handelt sich also um eine Rückverweisung auf das ausländische Recht. Der<br />
Schweizer Richter versetzt sich nun in die Lage des deutschen Richters und behandelt<br />
diese Rückverweisung, wie sie nach deutschem Recht behandelt würde.<br />
Auch das deutsche IPR sieht eine derartige Rückverweisung in Form einer Gesamtverweisung<br />
als Sachnormverweisung an. Zur Anwendung gelangt somit das deutsche<br />
Namensrecht.<br />
Fall 18: Der unverheiratete Schweizer L, der Basel als Heimatort hat, wohnt in<br />
Deutschland. In einem Depot in St. Gallen hat L mehrere antike Möbelstücke eingelagert.<br />
Nach dem Tode des L will S als Sohn und einziger Nachkomme des L für die<br />
in der Schweiz belegenen Möbelstücke eine Erbbescheinigung erlangen. Die deutschen<br />
Gerichte verneinen unter Hinweis auf EGBGB 25 I und BGB 2369 ihre Zuständigkeit.<br />
Nach EGBGB 25 I unterliegt die Rechtsnachfolge von Todes wegen dem<br />
Recht des Staates, dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes angehörte. Nach<br />
EGBGB 4 I 1 ist dies als Gesamtverweisung aufzufassen. EGBGB 4 I 2 bestimmt,<br />
dass im Falle einer Rückverweisung das deutsche Recht diese als Sachnormverweisung<br />
auffasst.<br />
Ist die in Basel für die Erteilung von Erbbescheinigungen an sich zuständige Behörde<br />
auch in casu zuständig? Welches Recht wendet sie an, sofern sie ihre Zuständigkeit<br />
bejaht?<br />
111
Zuständigkeit:<br />
Art. 87 Abs. 1 IPRG begründet die Zuständigkeit einer Schweizer Behörde.<br />
Anwendbares Recht:<br />
Die Behörde in Basel wendet eigenes IPR an. In casu geht es um eine erbrechtliche<br />
Angelegenheit. Die einschlägige Norm ist Art. 91 Abs. 1 IPRG.<br />
Art. 91 IPRG<br />
1 Der Nachlass einer Person mit letztem Wohnsitz im Ausland untersteht dem Recht, auf welches das<br />
Kollisionsrecht des Wohnsitzstaates verweist.<br />
2 Soweit nach Artikel 87 die schweizerischen Gerichte oder Behörden am Heimatort zuständig sind,<br />
untersteht der Nachlass eines Schweizers mit letztem Wohnsitz im Ausland schweizerischem Recht,<br />
es sei denn, der Erblasser habe in der letztwilligen Verfügung oder im Erbvertrag ausdrücklich das<br />
Recht an seinem letzten Wohnsitz vorbehalten.<br />
Massgeblich ist der letzte Wohnsitz. L hatte seinen letzten Wohnsitz in Deutschland.<br />
Gemäss Art. 91 Abs. 1 IPRG wird das Recht berufen, auf welches das Kollisionsrecht<br />
des Wohnsitzstaates verweist.<br />
Was gehört nun zum Nachlass?<br />
Diese Frage wird durch eine IPR-Hilfsnorm beantwortet:<br />
Art. 92 IPRG<br />
1 Das auf den Nachlass anwendbare Recht bestimmt, was zum Nachlass gehört, wer in welchem<br />
Umfang daran berechtigt ist, wer die Schulden des Nachlasses trägt, welche Rechtsbehelfe und<br />
Massnahmen zulässig sind und unter welchen Voraussetzungen sie angerufen werden können.<br />
2 Die Durchführung der einzelnen Massnahmen richtet sich nach dem Recht am Ort der zuständigen<br />
Behörde. Diesem Recht unterstehen namentlich die sichernden Massnahmen und die Nachlassabwicklung<br />
mit Einschluss der Willensvollstreckung.<br />
Das Ausstellen des Erbscheins richtet sich nach dem Recht am Ort der zuständigen<br />
Behörde – also nach Schweizer Recht. Die Frage, ob S überhaupt Erbe geworden<br />
ist, richtet sich jedoch nach Abs. 1.<br />
Art. 91 Abs. 1 IPRG ist eine Gesamtverweisung. Dies steht ausdrücklich in der Bestimmung.<br />
Über Art. 14 Abs. 1 IPRG i. V. m. Art. 91 Abs. 1 IPRG (dies ist immer<br />
zusammen zu zitieren) gelangt man also zum deutschen IPR. Dieses beinhaltet in<br />
EGBGB 25 I wieder einen Rückverweis auf das schweizerische Recht. Aufgrund des<br />
Staatsangehörigkeitsprinzips wird zurückverwiesen. Es handelt sich dabei ebenfalls<br />
um eine Gesamtverweisung. Diese Rückverweisung wird nach herrschender Lehre<br />
und nach der Meinung des Bundesgerichtes in eine Sachnormverweisung umgedeutet,<br />
womit schliesslich Schweizer Sachrecht zur Anwendung gelangt.<br />
III.<br />
Korrektur der Regelverweisung<br />
!<br />
ACHTUNG<br />
Es geht hier nicht darum, die Sachrechtsanwendung zu korrigieren.<br />
Gelangt beispielsweise deutsches Sachrecht zur Anwendung<br />
und man hält dessen Ergebnis für unbillig (Verstoss gegen<br />
Ordre public), gelangt Art. 17 zur Anwendung und nicht Art. 15<br />
112
IPRG. Es handelt sich nur im Rahmen von Art. 17 um eine Korrektur<br />
der Sachrechtsanwendung – nicht aber bei Art. 15 IPRG.<br />
Eine kollisionsrechtliche Korrektur – um welche es hier geht – betrifft die Art. 15, 16,<br />
18 und 19 IPRG. Es geht also um die Korrektur einer Regelverweisung. Dabei wird<br />
das Verweisungsergebnis korrigiert.<br />
Hierzu gibt es vier Korrekturmöglichkeiten:<br />
- Ausnahmeklausel von Art. 15 IPRG<br />
Wegen des engsten Zusammenhangs wird ein anderes Recht angewendet<br />
- Eingriffsnormen von Art. 18 und 19 IPRG<br />
- Korrektur wegen Gesetzesumgehung (nicht besonders geregelt)<br />
- Korrektur, wenn der Inhalt des ausländischen Rechts nicht feststellbar ist.<br />
Dann kommt gemäss Art. 16 IPRG ersatzweise Schweizer Recht zur Anwendung.<br />
1. Ausnahmeklausel (Art. 15 IPRG)<br />
Art. 15 IPRG<br />
1 Das Recht, auf das dieses Gesetz verweist, ist ausnahmsweise nicht anwendbar, wenn nach den<br />
gesamten Umständen offensichtlich ist, dass der Sachverhalt mit diesem Recht in nur geringem, mit<br />
einem anderen Recht jedoch in viel engerem Zusammenhang steht.<br />
2 Diese Bestimmung ist nicht anwendbar, wenn eine Rechtswahl vorliegt.<br />
Im Einzelfall kann eine sich als unangemessen erweisende Verweisung korrigiert<br />
werden, weil die berufene Rechtsordnung einen geringeren Bezug zum betroffenen<br />
Sachverhalt aufweist, während eine andere Rechtsordnung einen besonders engen<br />
Bezug zu diesem hat.<br />
Es ist nochmals zu betonen, dass Art. 15 IPRG eine weltweite Besonderheit des<br />
Schweizer Rechts ist. Derartige Regelungen finden sich beispielsweise nur noch in<br />
den Rechtsordnungen des kanadischen oder des slowenischen Rechts.<br />
Die Ausweichklausel hat einen eigenständigen Anwendungsbereich und zwei Voraussetzungen:<br />
Anwendungsbereich:<br />
- Art. 15 IPRG gilt nur für das Kollisionsrecht<br />
Es handelt sich um eine Frage der kollisionsrechtlichen Korrektur. Es geht also<br />
nicht um Zuständigkeits- oder Anerkennungsfragen.<br />
- Art. 15 IPRG gilt nicht bei staatsvertraglichen Verweisungen<br />
Bei der Anwendbarkeit von Staatsverträgen wird Art. 15 IPRG als Regelung<br />
des nationalen Rechts sowieso verdrängt und kann nicht zur Anwendung gelangen.<br />
Eine derartige Korrektur müsste der Staatsvertrag selbst vorsehen. Da<br />
die meisten Rechtsordnungen dieser Welt eine vergleichbare Regelung jedoch<br />
nicht kennen, ist dies äusserst selten der Fall.<br />
113
- Art. 15 IPRG gilt nicht im Falle einer Rechtswahl (Art. 15 Abs. 2 IPRG)<br />
Bei einer Rechtswahl will Art. 15 Abs. 1 IPRG nicht angewendet werden. Die<br />
Rechtswahl der Parteien hat also Vorrang.<br />
Voraussetzungen:<br />
- viel engerer Zusammenhang mit der anderen Rechtsordnung<br />
- Offensichtlichkeit<br />
Der engere Zusammenhang der korrigierenden Rechtsordnung muss offensichtlich<br />
sein. Er muss also einen gewissen Grad erreicht haben.<br />
Unerheblichkeit:<br />
- materiellrechtliche Korrekturerwägungen (kein sog. better law approach)<br />
Materiellrechtliche Korrekturerwägungen sind bei der Beurteilung des engeren<br />
Zusammenhangs unerheblich. Es geht, wie bereits mehrmals gesagt, genau<br />
nicht um die Korrektur eines unbilligen Ergebnisses. Es geht nicht um materiellrechtliche,<br />
sondern um kollisionsrechtliche Gerechtigkeit.<br />
Dies ist gemäss Ivo Schwander (Einführung in das internationale <strong>Privatrecht</strong>, erster Band, <strong>allgemeiner</strong><br />
<strong>Teil</strong>, 3. Auflage) jedoch umstritten. Nebst der Korrektur durch den Ordre public (Art.<br />
17 IPRG) soll darüber hinaus, namentlich wenn die materielle lex fori zu einem unhaltbaren<br />
Ergebnis führt, Art. 15 Abs. 1 IPRG vorbehalten bleiben. Schwander betrachtet Art. 15 IPRG<br />
als eine Erweiterung des Ordre public. Er könne nicht einsehen, warum in der übrigen<br />
Rechtsordnung nur gerade nicht im IPR Ausnahmeentscheidungen zugunsten der betroffenen<br />
Privaten möglich sein sollen. Erinnert sei an die Postulate der Lehre zum Schutz des Schwachen<br />
im IPR und zur Wahrung der Menschenrechte in Form einer allgemeinen Härteklausel,<br />
welche gänzlich unbillige Lösungen abwenden soll. Innerhalb des IPRG sollte gemäss<br />
Schwander gerade bei der Handhabung der materiellrechtlich wertenden bzw. ergebnisbestimmten<br />
Kollisionsregeln darauf geachtet werden, dass der materiellrechtliche Zweck auch in<br />
Ausnahmesituationen erreicht wird.<br />
Allerdings birgt diese Argumentation m.E. die Gefahr einer willkürlichen Ausdehnung oder der<br />
Ausuferung des Ordre public Begriffs. Der Ordre public soll ja gerade nur in Ausnahmesituationen<br />
oder bei einem intolerablen Verstoss gegen allgemeine Rechtsgrundsätze zur Anwendung<br />
gelangen. Unterstellt beispielsweise ein Erblasser seinen Nachlass – die Legalität sie in<br />
diesem Beispiel gegeben – dem englischen Recht, würde eine Umgehung des Pflichtteilsschutzes<br />
nicht gegen den Schweizer Ordre public verstossen, unter umständen aber gegen<br />
Art. 15 IPRG?<br />
- Korrektur von Gesetzesumgehungen (dazu BGE 118 II 79)<br />
Wird von einer Partei durch Forum-Shopping gezielt ein bestimmtes Recht berufen,<br />
welches für sie besonders günstig ist, kann dies durch Art. 15 IPRG<br />
nicht korrigiert werden.<br />
Anwendungsfälle:<br />
- grosser zeitlicher oder örtlicher Abstand zum massgeblichen Anknüpfungsmerkmal<br />
(bei Unwandelbarkeit des Anknüpfungsmerkmals)<br />
Diese Situation kann nur auftreten, wenn das Anknüpfungsmerkmal unwandelbar<br />
ist. Wenn sich das Anknüpfungsmerkmal einem Statutenwechsel anpasst,<br />
sozusagen mitzieht, kann es eine räumliche Entfernung nicht geben.<br />
114
Nur wenn beispielsweise der Wohnsitz vor 20 Jahren in ein anderes Land verlegt<br />
wurde, der alte Wohnsitz aber trotzdem noch massgeblich ist, kann man<br />
von einem grossen zeitlichen, bzw. räumlichen Abstand sprechen.<br />
Bsp: Ein Schweizer will seinen Lebensabend in Schottland verbringen. Auf der<br />
Reise dorthin verunglückt er unterwegs tödlich. Er hatte zwar seinen letzten<br />
Wohnsitz in der Schweiz, sein wirklicher Wille wird aber berücksichtigt und Art.<br />
15 IPRG greift korrigierend ein: Der Schottische Wohnsitz wird fingiert und es<br />
gelangt schottisches Recht zur Anwendung.<br />
- untypisch verschobener Schwerpunkt des Sachverhalts<br />
- Herstellung kollisionsrechtlicher Entscheidungsharmonie (Aufhebung der getrennten<br />
Anknüpfung von Haupt- und <strong>Teil</strong>fragen)<br />
Hier werden Fragen der Zweckmässigkeit des IPR berücksichtigt. Beabsichtigt<br />
wird eine Entscheidungsharmonie im Sinne der Berufung eines Rechts für einen<br />
zusammenhängenden Fragekreis. Die Aufspaltung zwischen Handlungsund<br />
Erfolgsstatut wird dabei bewusst vermieden.<br />
- Korrektur eines nach Art. 14 IPRG massgeblichen Renvoi<br />
Art. 15 IPRG wäre eine Möglichkeit, eine Gesamtverweisungskette zu unterbrechen.<br />
- Berücksichtigung von Eingriffsnormen nach Art. 18 f. IPRG führt zu einer weitgehenden<br />
Verlagerung des Schwerpunkts<br />
Die Berücksichtigung von Eingriffsnormen (Art. 18 und 19 IPRG) kann rechtlich<br />
den Schwerpunkt des Sachverhalts in eine andere Rechtsordnung verlagern.<br />
Verweisen beispielsweise mehrere Sonderanknüpfungen auf ein ausländisches<br />
Recht und ist dennoch in gewissen <strong>Teil</strong>fragen Schweizer Recht<br />
anwendbar, kann argumentiert werden, es sei sinnvoller für das gesamte<br />
Rechtsverhältnis ausländisches Recht anzuwenden.<br />
Fall 19 (BGE 118 II 79 ff. = Pra 81, Nr. 233): Der ursprünglich deutsche Staatsangehörige<br />
M ist verheiratet mit der ursprünglich kanadischen Staatsangehörigen F. Beide<br />
Ehegatten liessen sich nach ihrer Eheschliessung in den USA einbürgern. Der<br />
erste eheliche Wohnsitz war in Texas, wo das Paar von 1960 bis 1962 lebte. Danach<br />
zog es elfmal um und hielt sich in fünf Ländern und drei Kontinenten auf. Im Mai<br />
1979 liess es sich in C. (Schweiz) nieder. Auf eine Ehekrise hin zog M im Jahre 1984<br />
nach Deutschland, kehrte aber anfangs 1990 wieder nach C. zurück. Am 4. Juli 1986<br />
klagte M in C. auf Scheidung.<br />
Welches Recht muss das Gericht in C., dessen Zuständigkeit zu unterstellen ist, auf<br />
die Scheidung anwenden? Das US-amerikanische IPR nimmt diesbezüglich Verweisungen<br />
an. Nach internem Kollisionsrecht ist texanisches Scheidungsrecht anwendbar.<br />
Das Scheidungsrecht ist im IPRG in den Art. 59 ff IPRG geregelt.<br />
115
Art. 61 IPRG<br />
1 Scheidung und Trennung unterstehen schweizerischem Recht.<br />
2 Haben die Ehegatten eine gemeinsame ausländische Staatsangehörigkeit und hat nur einer von<br />
ihnen Wohnsitz in der Schweiz, so ist ihr gemeinsames Heimatrecht anzuwenden.<br />
3 Ist die Scheidung nach dem gemeinsamen ausländischen Heimatrecht nicht oder nur unter ausserordentlich<br />
strengen Bedingungen zulässig, so ist schweizerisches Recht anzuwenden, wenn einer<br />
der Ehegatten auch Schweizer Bürger ist oder sich seit zwei Jahren in der Schweiz aufhält.<br />
4 Sind nach Artikel 60 die schweizerischen Gerichte am Heimatort zuständig, so wenden sie schweizerisches<br />
Recht an.<br />
Art. 61 Abs. 1 IPRG enthält eine einseitige Kollisionsnorm: Scheidung und Trennung<br />
unterstehen Schweizer Recht.<br />
Abs. 2 beinhaltet eine speziellere Anknüpfung, also eine Abweichung von der allgemeinen<br />
Regelanknüpfung für den Fall, dass die Ehegatten eine gemeinsame ausländische<br />
Staatsangehörigkeit haben.<br />
In casu sind beide US-Bürger. Gemäss Sachverhalt ist der M nach Deutschland<br />
gezogen und im Zeitpunkt der Einreichung der Scheidungsklage hatte nur F ihren<br />
Wohnsitz in der Schweiz. Gemäss Bundesgericht ist dieser Zeitpunkt der Klageerhebung<br />
massgeblich.<br />
Die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 61 Abs. 2 IPRG sind somit erfüllt. Als<br />
Rechtsfolge ist daher das gemeinsame Heimatrecht, also US-amerikanisches Recht<br />
anzuwenden.<br />
Es stellt sich schliesslich die Frage, ob auch Abs. 3 anwendbar ist. F erfüllt die Bedingung,<br />
dass sie sich seit zwei Jahren in der Schweiz aufhält. Die restlichen Bedingungen<br />
der zitierten Bestimmung sind jedoch nicht erfüllt. Die Scheidung ist nach<br />
US-amerikanischem Recht genauso möglich, wie nach Schweizer Recht.<br />
Art. 62 Abs. 2 IPRG verweist also in casu auf US-amerikanisches Recht, dieses<br />
verweist intern auf texanisches Recht, womit dieses anwendbar wird.<br />
Schliesslich ist Art. 15 Abs. 1 IPRG zu prüfen, weil die beiden Ehegatten keinen<br />
Bezug mehr haben zum texanischen Recht, denn der räumlich-zeitliche Abstand<br />
könnte zu gross geworden sein.<br />
Es liegt ein geringer Bezug zu dieser Rechtsordnung vor. Auf der andern Seite besteht<br />
ein enger Zusammenhang mit der Schweizer Rechtsordnung, da beide Ehegatten<br />
längere Zeit in der Schweiz gewohnt haben. Auch der letzte gemeinsame Wohnsitz<br />
der Eheleute liegt in der Schweiz.<br />
Dies hat die Folge, dass in casu schlussendlich Schweizer Recht zur Anwendung<br />
gelangt.<br />
2. Eingriffsnormen (lois d’application immédiate)<br />
Eingriffsnormen sind gewisse zwingende Bestimmung des Schweizer Rechts (Art. 18<br />
IPRG) oder eines ausländischen Rechts (Art. 19 IPRG), welche Anwendung verlangen,<br />
obwohl nach der kollisionsrechtlichen Verweisung ein anderes Recht berufen<br />
ist.<br />
116
a) Inländische Eingriffsnormen (Art. 18 IPRG)<br />
Im Rahmen von Art. 18 IPRG ist grundsätzlich ausländisches Recht anwendbar, es<br />
bleiben aber einzelne Bestimmungen des Schweizer Rechts zwingend anzuwenden.<br />
Art. 18 IPRG<br />
Vorbehalten bleiben Bestimmungen des schweizerischen Rechts, die wegen ihres besonderen Zweckes,<br />
unabhängig von dem durch dieses Gesetz bezeichneten Recht, zwingend anzuwenden sind.<br />
Dabei geht es nicht um alle zwingenden Normen, sondern um diejenigen, welche<br />
wegen ihres besondern Zwecks anzuwenden sind. Es ist also eine begrenzte Sonderanknüpfung,<br />
welche auf das Nötigste beschränkt wird.<br />
Im Rahmen der inländischen Eingriffsnormen des Art. 18 IPRG geht es also um<br />
Schweizer Normen, welche sich gegenüber ausländischem Sachrecht durchsetzen.<br />
Beispiel:<br />
Schweizer Recht bestimmt als Rechtsfolge von Art. 20 Abs. 1 OR Nichtigkeit des<br />
Vertrages. Was sich dann aber aus der Nichtigkeit ergibt (Rückabwicklung, etc.),<br />
richtet sich dann wieder nach dem ausländischen Recht.<br />
Anwendungsvoraussetzungen:<br />
1. Regelverweisung des IPRG auf ausländisches Recht<br />
Es muss nach kollisionsrechtlichen Regelungen ein ausländisches Sachrecht<br />
berufen sein.<br />
und<br />
2. Zwingender Charakter der Norm, d.h. die Bestimmung verlangt wegen ihrer<br />
ganz besonderen Zielsetzung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung<br />
gebieterisch Geltung (Abwägungsfrage)<br />
Die Bestimmung des Schweizer Rechts muss eine zwingende Bestimmung<br />
sein. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine zwingende Bestimmung im<br />
Sinne des Schweizer Rechts im Gegensatz zu den dispositiven Regelungen,<br />
sondern um qualifiziert zwingende Regelungen, welche wegen ihrer ganz besonderen<br />
Zielsetzung „gebieterisch“ Geltung verlangen. Es geht dabei um die<br />
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, wichtige öffentliche Interessen<br />
oder Schutzinteressen einer betroffenen Partei.<br />
Beispiel: BGE 116 II 634<br />
Anwendungsbereiche:<br />
- Wirtschaftsrecht<br />
Anwendungsbereiche finden sich vor allem im Wirtschafts-, bzw. Wirtschaftsaufsichtsrecht<br />
- Soziales Schutzrecht<br />
Bsp: Kindswohl, Konsumentenschutz, Arbeitsrecht, Mietrecht<br />
117
Fall 20 (vgl. BGE 128 III 201 ff.): Der in Lugano wohnende G hat gegen den in München<br />
wohnende S eine gewerbliche Darlehensforderung i. H. v. CHF 100'000.00. Auf<br />
den Darlehensvertrag findet nach der Abrede der Parteien deutsches Recht Anwendung.<br />
Nach deutschem BGB endet die Verjährungsfrist grundsätzlich am 16. Mai<br />
2006. Ab Januar 2006 wendet sich G wiederholt an S, verlangt die Rückzahlung des<br />
Darlehensbetrags und äussert, dass er kurz davor stehe, den Betrag klageweise<br />
geltend zu machen. S versichert wider besseres Wissen immer wieder, dass er das<br />
Geld bis Mai zurückzahlen werde. Spätestens Ende April erwarte er einen grösseren<br />
Geldeingang. S will durch dieses Verhalten erreichen, dass die Verjährungsfrist vor<br />
Klageerhebung verstreicht. Als S immer noch nicht zahlt, erhebt G am 18. Mai 2006<br />
Klage vor einem zuständigen Schweizer Gericht. Im Prozess beruft sich S auf die<br />
Verjährung der Forderung.<br />
Ist die Klage, deren Zulässigkeit zu unterstellen ist, begründet?<br />
Aufgrund der Rechtswahl gelangt man gemäss Art. 116 Abs. 1 IPRG zur Anwendbarkeit<br />
des deutschen Rechts. Nach dem deutschen Recht ist der Anspruch entstanden,<br />
es stellt sich jedoch die Frage, ob er auch durchsetzbar ist.<br />
Gemäss dem Kollisionsrecht gelangt man über die Art. 112 ff. IPRG zu den vertragsrechtlichen<br />
Regelungen und schliesslich am Ende, in den Art. 143 ff IPRG zu den<br />
gemeinsamen Bestimmungen und dabei im Rahmen des Art. 148 IPRG zur Verjährungsproblematik.<br />
Art. 148 IPRG<br />
1 Verjährung und Erlöschen einer Forderung unterstehen dem auf die Forderung anwendbaren Recht.<br />
2 Bei der Verrechnung untersteht das Erlöschen dem Recht der Forderung, deren Tilgung mit der<br />
Verrechnung bezweckt ist.<br />
3 Die Neuerung, der Erlass- und der Verrechnungsvertrag richten sich nach den Bestimmungen<br />
dieses Gesetzes über das auf Verträge anwendbare Recht (Art. 116 ff.).<br />
Der Untergang einer Forderung untersteht gemäss Art. 148 Abs. 1 IPRG dem Recht,<br />
dem auch die Forderung untersteht, massgeblich ist also das auf die Forderung<br />
anwendbare Recht.<br />
Wie bereits erwähnt, ist für die Forderung (gemäss Art. 116 IPRG) das deutsche<br />
Recht anwendbar. Art. 148 IPRG ist eine Sonderanknüpfung, hier geht es nicht um<br />
die Regelanknüpfung, sondern speziell um die Verjährung – unbeachtlich, ob es sich<br />
um die Verjährung aus einem vertraglichen Verhältnis oder einem gesetzlichen Verhältnis<br />
handelt. Diese ist also gesondert geregelt.<br />
Art. 148 IPRG ist einschlägig als allgemeine Regelung, es handelt sich dabei auch<br />
um eine akzessorische Anknüpfung. Sie ist nicht selbständig, sondern es wird Bezug<br />
genommen auf das auf die Forderung anwendbare Recht. Nach dem deutschen<br />
Recht ist die Forderung verjährt.<br />
Es stellt sich jetzt jedoch die Frage, wieso diese kollisionsrechtlichen Regelungen<br />
überhaupt noch zu prüfen sind, wenn doch am Schluss sowieso eine Schweizer<br />
Regelung zwingend Anwendung verlangt. Gemäss Bundesgericht kann man gleich<br />
zu Beginn die Anwendbarkeit des Art. 18 IPRG prüfen (anderer Ansicht: Fischer im<br />
Zürcher Kommentar).<br />
118
Art. 18 IPRG ist in diesen Fällen also vorrangig zu prüfen:<br />
1. Verweisung auf ausländisches Sachrecht: deutsches Recht (Art. 148 Abs. 1 i.<br />
V. m. 116 IPRG)<br />
2. handelt es sich um eine qualifiziert zwingende Norm: Einwand des Rechtsmissbrauchs<br />
(Art. 2 Abs. 2 ZGB). Gemäss Bundesgericht ist dies eine elementar<br />
zwingende Norm.<br />
S handelt rechtsmissbräuchlich, indem er trotz besseren Wissens behauptet,<br />
demnächst zu zahlen. Er kann sich somit nicht auf die Verjährung berufen.<br />
Das ausländische Recht wird also insofern ausgeschaltet, als dass es hier eine Verjährung<br />
annimmt. Für die übrigen Fragen bleibt es jedoch vollumfänglich anwendbar:<br />
Forderungsentstehung, Untergang, etc.<br />
Nur für die Frage der Durchsetzbarkeit kommt somit Art. 2 Abs. 2 ZGB zum Zug –<br />
dank der Verweisung in Art. 18 IPRG. Die Verjährungseinrede ist in casu also unzulässig.<br />
b) Ausländische Eingriffsnormen (Art. 19 IPRG)<br />
Grundsätzlich ist Schweizer Recht anwendbar aber ausländische Normen wollen<br />
ebenfalls zwingend angewendet werden. Die ausländischen Rechtsordnungen, welche<br />
einen engen Bezug zum Sachverhalt aufweisen, müssen trotzdem berücksichtigt<br />
werden. Es ist zu prüfen, ob es dort auch Normen gibt, welche in der Analogie zu Art.<br />
18 IPRG ebenfalls gebieterisch Geltung verlangen.<br />
Anwendungsvoraussetzungen:<br />
1. Regelverweisung des IPRG auf inländisches oder ein anderes ausländisches<br />
Recht<br />
2. Bestimmung ist zwingend i. S. v. Art. 19 IPRG und will selber angewendet<br />
werden<br />
3. nach Schweizer Rechtsauffassung gebieten schützenswerte und offensichtlich<br />
überwiegende Interessen zumindest einer Partei die Anwendung<br />
der Norm<br />
4. Sachverhalt weist einen engen Bezug zu der betreffenden Rechtsordnung<br />
auf<br />
Rechtsfolge:<br />
- Berücksichtigung der ausländischen Norm im Ermessen des Richters („kann“),<br />
wobei nach Art. 19 Abs. 2 IPRG ausnahmsweise auch materiellrechtliche Aspekte<br />
berücksichtigt werden (Herbeiführung einer nach schweizerischer<br />
Rechtsauffassung sachgerechten Entscheidung)<br />
- Berücksichtigung des ausländischen Rechts auch bei einer Rechtswahl zugunsten<br />
des inländischen oder eines anderen Rechts möglich<br />
Die Rechtsfolge ist somit – anders als bei Art. 18 IPRG – zwar die Verpflichtung, das<br />
ausländische Recht zu berücksichtigen, das Schweizer IPRG schränkt die Verpflichtung<br />
zu dessen Anwendung jedoch ein.<br />
119
Das ausländische Recht kommt gemäss Art. 19 IPRG nur zur Anwendung, wenn<br />
dies der Schweizer Richter als sachgerecht beurteilt. Hier kommen ausnahmsweise<br />
einmal Gerechtigkeitsüberlegungen in der Sachentscheidung des IPRG zum Zuge.<br />
Damit ist auch gewährleistet, dass sich eine ausländische Norm nicht gegen Schweizer<br />
Recht durchsetzen kann, falls sie zu einem ungerechten Ergebnis führen sollte.<br />
Der Schweizer Richter ist also nicht gezwungenermassen zur Anwendung der ausländischen<br />
Norm verpflichtet, es liegt vielmehr in seinem Ermessen, ob er die betreffende<br />
Norm anwenden will.<br />
Wichtig im Zusammenhang mit den Eingriffsnormen ist weiter, dass diese selbst bei<br />
einer Rechtswahl zur Anwendung gelangen. Dies ist ausdrücklich anders als im<br />
Rahmen des Art. 15 Abs. 2 IPRG, wo bei Vorliegen einer Rechtswahl eine kollisionsrechtliche<br />
Korrektur ausgeschlossen ist.<br />
Bei den Eingriffsnormen ist dies enger geregelt. Art. 18 und 19 IPRG berücksichtigen,<br />
wie bereits erläutert, objektive Regelungsinteressen oder besondere Schutzinteressen,<br />
welche die Rechtsordnung gewährleisten, bzw. durchsetzen will.<br />
Weiter ist bei der Anwendung von Art. 19 IPRG zu berücksichtigen, dass es sich<br />
beim kollisionsrechtlichen Verweis auch um ein ausländisches Recht handeln kann,<br />
welches dann durch ein drittes ausländisches Recht korrigiert wird.<br />
Beispiel 1:<br />
Berufen wird Schweizer Recht, welches durch eine deutsche Rechtsnorm korrigiert<br />
wird.<br />
Beispiel 2:<br />
Berufen wird deutsches Recht, welches durch eine französische Rechtsnorm korrigiert<br />
wird.<br />
Fall 21: Die H-AG mit Sitz in Deutschland stellt eine breite Palette von Bürobedarfsartikeln<br />
her und vertreibt auch Erzeugnisse anderer Hersteller, namentlich der P-AG<br />
mit Sitz in Zug. Der zwischen der H-AG und der P-AG geschlossene Vertriebsvertrag<br />
enthält u. a. folgenden Passus: „Die H-AG wird Artikel der P-AG ausschliesslich in<br />
der Bundesrepublik Deutschland vertreiben. Jeglicher Vertrieb über die Landesgrenzen<br />
hinaus ist der H-AG untersagt bzw. nur mit schriftlicher Erlaubnis durch die P-AG<br />
gestattet“. Auf den Vertrag ist nach einer weiteren Klausel schweizerisches Recht<br />
anwendbar. Als ausschliesslicher Gerichtsstand ist Zug vereinbart. Nach einiger Zeit<br />
wendet sich die V-BV, eine Gesellschaft niederländischen Rechts, an die H-AG und<br />
bittet um Lieferung von Produkten der P-AG. Die H-AG ist an diesem Geschäft interessiert<br />
und fragt bei ihrem Rechtsanwalt R nach, ob sie sich im Falle der Belieferung<br />
der V-BV Schadenersatzansprüchen von Seiten der P-AG ausgesetzt sehen könnte.<br />
Was wird R antworten? Die Vereinbarung zwischen der H-AG und der P-AG verstösst<br />
gegen EG 81 I. Die Zuständigkeit eines Schweizer Gerichts ist zu unterstellen.<br />
Auf den Vertrag war also Schweizer Recht anwendbar. Es stellt sich die Frage, ob<br />
diese Anwendbarkeit durch Art. 19 IPRG korrigiert werden kann. Dies ist in casu zu<br />
bejahen, der Vertrag ist unwirksam gemäss EG 81 I. Die Wirkungen dieser Kartellabsprachen<br />
zeigten sich vor allem in der EG, womit eine enge Beziehung zum EG<br />
Recht gegeben ist. EG 81 I ist weiter eine Norm, welche zwingend angewendet wer-<br />
120
den will. Sie beabsichtigt den Schutz des Marktes vor solchen „Hardcore-Kartellen“,<br />
welche Preisabsprachen und Marktaufteilungsabsprachen beinhalten.<br />
Der mögliche Schadenersatzanspruch nach Art. 97 Abs. 1 OR greift hier also nicht,<br />
weil es dafür als erste Voraussetzung eines wirksamen Vertrages bedarf. Dieser<br />
Vertrag ist aber in casu nicht wirksam.<br />
3. Korrektur bei Gesetzesumgehung<br />
Grundsätzlich wird eine Gesetzesumgehung nicht berücksichtigt. Das Forum-<br />
Shopping ist ja, wie bereits oben erläutert, eine gängige Praxis im Bereich des IPR.<br />
Damit kann ein bestimmtes Sachrecht zur Anwendung gebracht werden. Auch wenn<br />
es mit der Absicht der Gesetzesumgehung geschah, ist dies grundsätzlich zulässig.<br />
Die einzige Sondervorschrift in diesem Bereich ist jedoch Art. 45 Abs. 2 IPRG:<br />
Art. 45 IPRG<br />
1 Eine im Ausland gültig geschlossene Ehe wird in der Schweiz anerkannt.<br />
2 Sind Braut oder Bräutigam Schweizer Bürger oder haben beide Wohnsitz in der Schweiz, so wird<br />
die im Ausland geschlossene Ehe anerkannt, wenn der Abschluss nicht in der offenbaren Absicht<br />
ins Ausland verlegt worden ist, die Vorschriften des schweizerischen Rechts über die Eheungültigkeit<br />
zu umgehen.<br />
3 Eine im Ausland gültig geschlossene Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts wird in der<br />
Schweiz als eingetragene Partnerschaft anerkannt.<br />
Gemäss Art. 45 Abs. 2 IPRG ist eine derartige Gesetzesumgehung zum Zweck der<br />
Eheschliessung trotz eines Ungültigkeitsgrundes unzulässig.<br />
Indirekt über die allgemeinen Korrekturregelungen (Art. 15, 17 und 18 f. IPRG)<br />
BGE 130 III 723 (Pra 94 Nr. 89)<br />
4. Korrektur bei Nichtfeststellbarkeit des ausländischen Rechts (sog. Ersatzrechtsanwendung)<br />
Art. 16 IPRG<br />
1 Der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts ist von Amtes wegen festzustellen. Dazu<br />
kann die Mitwirkung der Parteien verlangt werden. Bei vermögensrechtlichen Ansprüchen kann der<br />
Nachweis den Parteien überbunden werden.<br />
2 Ist der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts nicht feststellbar, so ist schweizerisches<br />
Recht anzuwenden.<br />
Falls das eigentlich berufene ausländische Recht nicht feststellbar ist, wird ersatzweise<br />
das Schweizer Recht angewendet.<br />
Wird also beispielsweise ein afrikanisches Stammesrecht berufen und kann es auch<br />
das Institut Suisse de droit comparé in Lausanne nicht feststellen, kommt ersatzweise<br />
Schweizer Recht zur Anwendung.<br />
Diese Ersatzrechtsanwendung soll jedoch möglichst selten vorkommen, denn der<br />
Richter ist von Amtes wegen verpflichtet, die Kollisionsnormen zu beachten, somit<br />
121
auch die Verweisungsnormen zu berücksichtigen und das ausländische Recht festzustellen,<br />
zu ermitteln und korrekt anzuwenden – ganz nach dem Sinne iura novit<br />
curia. Davon kann er gemäss Abs. 2 nur abweichen, wenn ihm dies praktisch unmöglich<br />
oder unzumutbar ist.<br />
F. Anwendung des berufenen Sachrechts<br />
I. Anwendung inländischen Sachrechts<br />
Besonderheiten wegen eines Abstimmungsbedarfs mit ausländischem Recht:<br />
- kollisionsrechtliche Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen nach Art.<br />
19 IPRG<br />
Die weiteren, eng mit dem Sachverhalt zusammenhängenden Rechtsordnungen<br />
sind nach solchen Eingriffsnormen im Sinne des Art. 19 IPRG zu überprüfen.<br />
- sachrechtliche Anpassung zur Vermeidung von Normwidersprüchen oder eines<br />
Normenmangels (siehe unten)<br />
- Problem der sog. Substitution<br />
Beispiel: Ist eine Beurkundung in Deutschland einer Beurkundung in der<br />
Schweiz gleichzustellen?<br />
Grundsatz: Anerkennung bei Gleichwertigkeit<br />
II.<br />
Anwendung ausländischen Sachrechts (so genannte Fremdrechtsanwendung)<br />
1. Ermittlung<br />
Als erstes ist das ausländische Recht zu ermitteln, bevor es angewendet werden<br />
kann. Der Richter hat dies von Amtes wegen zu ermitteln (Art. 16 Abs. 1 S. 1: iura<br />
novit curia).<br />
Art. 16 IPRG<br />
1 Der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts ist von Amtes wegen festzustellen. Dazu<br />
kann die Mitwirkung der Parteien verlangt werden. Bei vermögensrechtlichen Ansprüchen kann der<br />
Nachweis den Parteien überbunden werden.<br />
2 Ist der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts nicht feststellbar, so ist schweizerisches<br />
Recht anzuwenden.<br />
Besonderheiten:<br />
- Gericht kann Mitwirkung der Parteien verlangen (Art. 16 Abs. 1 S. 2 IPRG)<br />
Dies ist jedoch nur in einem gewissen Rahmen zulässig und die Verweigerung<br />
der Parteien darf nicht sanktioniert werden. Das Gericht kann sich von den<br />
122
Parteien helfen lassen. Wenn die Parteivertreter sich jedoch nicht kooperativ<br />
zeigen, kann dies das Gericht nicht sanktionieren. Die einzige Rechtsfolge ist<br />
die Ersatzrechtsanwendung des Schweizer Rechts nach Art. 16 Abs. 2 IPRG.<br />
Das kann dazu führen, dass eine Partei ihre, aufgrund der ursprünglichen Anwendbarkeit<br />
einer ausländischen Rechtsordnung günstigere Position verliert,<br />
weil nun Schweizer Recht zur Anwendung gelangt.<br />
- Bei vermögensrechtlichen Ansprüchen kann der Partei, die aus dem ausländischen<br />
Recht den Anspruch ableitet, der Nachweis des ausländischen Rechts<br />
auferlegt werden (Art. 16 Abs. 1 S. 3 IPRG). Hier handelt es sich nicht sozusagen<br />
um eine Bitte, sondern um die Pflicht eines konkreten Nachweises der<br />
Rechtslage. Hier wird der Grundsatz von iura novit curia also eingeschränkt<br />
und den Parteien konkrete Mitwirkungspflichten auferlegt.<br />
Das Gericht hat dennoch von Amtes wegen zu versuchen, das anwendbare<br />
Recht festzustellen.<br />
- Bei Nichtfeststellbarkeit des ausländischen Rechts kommt es zur kollisionsrechtlichen<br />
Ersatzanwendung des Schweizer Rechts (Art. 16 Abs. 2 IPRG).<br />
Der Art. 16 Abs. 2 IPRG spielt vor allem bei vorsorglichen Massnahmen eine<br />
Rolle. Aufgrund der Effektivität des Verfahrens kommt man daher eher zur Ersatzrechtsanwendung,<br />
da es zu lange dauern kann, das betreffende ausländische<br />
Recht festzustellen.<br />
Fall 22 (vgl. dazu BGE 128 III 346, E. 3.2.1 und BGE 119 II 93 E. 2c bb): Der französische<br />
Geschäftsmann G, wohnhaft in St. Louis, gewährt seinem in Basel ansässigen<br />
schweizerischen Geschäftspartner P ein Darlehen in Höhe von CHF 200'000.00.<br />
Es wird die Anwendung französischen Rechts vereinbart. Nachdem P die Rückzahlung<br />
des Darlehens verweigert, erhebt G beim Zivilgericht in Basel Klage. Im Rahmen<br />
des Verfahrens legt der Prozessvertreter von G einschlägige Literatur zum französischen<br />
Darlehensrecht vor. Das Gericht überbindet dem Kläger den Nachweis,<br />
dass nach französischem Recht ein Anspruch auf Rückzahlung bestünde. Der verlangte<br />
Nachweis wird von G jedoch nicht erbracht. Der mit der Sache befasste Richter<br />
beauftragt den bei ihm beschäftigten Volontär Schlau herauszufinden, ob er die<br />
Klage abweisen oder wenigstens Schweizer Recht anwenden könne.<br />
Was wird Schlau bei seinen Recherchen herausfinden?<br />
Gemäss Art. 116 Abs. 1 IPRG ist französisches Recht anwendbar. Es stellt sich nun<br />
die Frage, ob die Klage abgewiesen werden kann, weil das französische Recht nicht<br />
dargelegt wurde.<br />
Grundsätzlich gilt iura novit curia. Der Richter muss also von Amtes wegen das anwendbare<br />
Recht ermitteln und feststellen. Eine Klageabweisung wäre jedoch nur<br />
gemäss Art. 16 Abs. 1 S. 3 möglich. Es ist also zu prüfen, ob die Voraussetzungen<br />
des Art. 16 Abs. 1 S. 3 IPRG gegeben sind und wenn ja, ob die Verweigerung der<br />
Mitwirkung der Parteien negative Konsequenzen hätte.<br />
Ist Art. 16 Abs. 1 S. 3 anwendbar?<br />
Vorausgesetzt ist eine vormögensrechtliche Streitigkeit, also eine auf Geld gerichtete<br />
Forderung. Diese ist grundsätzlich gegeben, dennoch führt der fehlende Nachweis<br />
der Parteien nicht automatisch zur Abweisung der Klage. Der Grundsatz iura novit<br />
curia wird zwar eingeschränkt, besteht aber grundsätzlich trotzdem noch. Sollten die<br />
123
Parteien ihre Mitwirkung verweigern, ist der Richter dennoch gehalten, eigene Ermittlungen<br />
vorzunehmen (Art. 16 Abs. 1 S. 1 IPRG). Eine Abweisung der Klage kommt<br />
also vorerst nicht in Frage.<br />
Ist gemäss Art. 16 Abs. 2 IPRG ersatzweise Schweizer Recht anwendbar?<br />
Dazu muss das ausländische Recht nicht feststellbar sein. Das ist eine Abwägungsfrage.<br />
Es muss ein unvernünftiger, unverhältnismässiger Aufwand nötig sein. Hierzu<br />
sind drei Kriterien massgeblich:<br />
- Interessen der Parteien in der Anwendung des ausländischen Rechts<br />
In casu gab es eine Rechtswahl zugunsten des französischen Rechts. Weiter<br />
hat ein Parteivertreter erste Ausführungen zum französischen Kreditrecht vorgebracht.<br />
Dies zeugt von einem besonderen Interesse der Parteien, für die<br />
Anwendung des französischen Rechts.<br />
- Dringlichkeit des Falles<br />
In casu ist keine Dringlichkeit gegeben.<br />
- Entfernung des ausländischen Rechts<br />
Von massgeblicher Bedeutung ist die Entfernung in räumlicher und zeitlicher<br />
Hinsicht. Beim französischen Recht ist diese Entfernung von geringer Bedeutung,<br />
da es sich um eine Nachbarrechtsordnung handelt.<br />
In casu kann man nicht sagen, dass es gerechtfertigt wäre, ersatzweise Schweizer<br />
Recht anzuwenden. Das ausländische Recht ist in casu in zumutbarer Weise feststellbar.<br />
2. Anwendung<br />
- Berücksichtigung aller Vorschriften, die nach dem ausländischen Recht auf<br />
einen Sachverhalt anwendbar sein sollen (Art. 13 IPRG)<br />
Das ausländische Recht ist grundsätzlich so anzuwenden, wie es selber angewendet<br />
werden will. Es ist also umfangmässig vollständig anzuwenden.<br />
Gemäss Art. 13 IPRG ist das ausländische Recht nicht nur teilweise anwendbar,<br />
sondern soweit die kollisionsrechtliche Verweisung reicht, umfassend anzuwenden.<br />
Art. 13 IPRG<br />
Die Verweisung dieses Gesetzes auf ein ausländisches Recht umfasst alle Bestimmungen,<br />
die nach diesem Recht auf den Sachverhalt anwendbar sind. Die Anwendbarkeit einer Bestimmung<br />
des ausländischen Rechts ist nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass ihr ein öffentlichrechtlicher<br />
Charakter zugeschrieben wird.<br />
- Berücksichtigung des tatsächlich wie durch ein Gericht bzw. eine Behörde des<br />
ausländischen Staates praktizierten Rechts<br />
Inhaltlich ist das ausländische Recht so anzuwenden, wie es der ausländische<br />
Richter auch anwenden würde, d.h. unter Berücksichtigung der herrschenden<br />
Lehre und der aktuellen Rechtsprechung.<br />
124
- Berücksichtigung innerstaatlicher Differenzierungen nach Raum, Person oder<br />
Zeit<br />
Innerstaatliche Differenzierungen sind ebenfalls zu berücksichtigen. Beispielsweise<br />
kennt die USA noch ein innerstaatliches Kollisionsrecht für die<br />
einzelnen <strong>Teil</strong>staaten. Auch intertemporale Regelungen sind zu berücksichtigen.<br />
- Geltung der ausländischen Methodenlehre<br />
3. Korrektur des Anwendungsergebnisses (Ordre-public-Vorbehalt)<br />
a) Überblick<br />
Art. 17 IPRG ist nicht mehr eine kollisionsrechtliche, sondern eine sachrechtliche<br />
Korrektur. Art. 15 IPRG berücksichtigt den engeren Zusammenhang, die Art. 18 und<br />
19 IPRG die zu berücksichtigenden Eingriffsnormen und Art. 17 IPRG betrifft die<br />
Gesetzesanwendung.<br />
Das ausländische Recht wird dabei für eine bestimmte Rechtsfrage ausnahmsweise<br />
punktuell nicht angewendet, weil es mit dem Schweizer Ordre public unvereinbar ist.<br />
Dieser wird in Art. 17 IPRG nur sehr begrenzt definiert. Es handelt sich um eine sehr<br />
weitläufige, generalklauselartige Formulierung.<br />
Art. 17 IPRG<br />
Die Anwendung von Bestimmungen eines ausländischen Rechts, ist ausgeschlossen, wenn sie zu<br />
einem Ergebnis führen würde, das mit dem schweizerischen Ordre public unvereinbar ist.<br />
Der Ordre-public-Vorbehalt nach Art. 17 IPRG ist ein generalklauselartiger Vorbehalt<br />
zur Sicherung der grundlegenden Wertvorstellungen des Schweizer Rechts.<br />
Negative Funktion: Abwehr einer krass ungerechten Fremdrechtsanwendung. Das ist<br />
eine Umschreibung für Strenge. So wie Art. 2 ZGB nicht zu früh herangezogen werden<br />
sollte, darf auch Art. 17 IPRG nicht voreilig angewendet werden. Das Ergebnis<br />
ist möglichst schon vorher durch die Art. 18 und 19 IPRG zu korrigieren, erst wenn<br />
alle Stricke reissen, kann auf Art. 17 IPRG zurückgegriffen werden. Schnyder spricht<br />
in diesem Zusammenhang von einer „abschliessenden Qualitätskontrolle“.<br />
Man nennt dies auch die Negativfunktion des Art. 17 IPRG: Er wehrt eine eigentlich<br />
gebotene Anwendung einer ausländischen Rechtsordnung punktuell ab und bringt<br />
stattdessen Schweizer Recht zur Anwendung.<br />
b) Voraussetzungen<br />
Der Ordre public ist der Kern der fundamentalen Grundsätze der inländischen<br />
Rechts- und Werteordnung. Im Zusammenhang mit den Voraussetzungen des Art.<br />
17 IPRG spricht man von der sog. Relativität der Vorbehaltsklausel:<br />
- Wandelbarkeit der Wertvorstellungen<br />
Diese erwähnten grundlegenden Wertvorstellungen des Schweizer Rechts<br />
sind wandelbar. Beispielsweise galt vor 100 Jahren ein Dirnenvertrag als Ordre<br />
public widrig, während er heute durchwegs anerkannt wird. Weiter wurde<br />
125
eine ausländische Vorschrift, welche die Durchsetzbarkeit von Spielschulden<br />
vorsah, in der Schweiz nicht angewendet, weil Glücksspiel in der Schweiz früher<br />
verboten war.<br />
- Anwendbarkeit ggf. abhängig vom Inlandsbezug des Sachverhalts (BGE 125<br />
III 443)<br />
Die Generalklausel des Art. 17 IPRG kann sich umso mehr durchsetzen, je<br />
stärker der Bezug zum Schweizer Recht ist. Zwar ist ein ausländisches Sachrecht<br />
zur Anwendung berufen – Art. 15 IPRG kommt aber beispielsweise<br />
nicht zum Zug, denn der Bezug zum Schweizer Recht ist nicht offensichtlich<br />
viel enger als zum ausländischen Recht – dennoch kann ein gewisser Bezug<br />
gegeben sein. Dies würde die Anwendbarkeit des Schweizer Ordre public<br />
eher rechtfertigt, als wenn der Sachverhalt gar keinen Bezug zur Schweiz<br />
aufweisen würde.<br />
Anerkannte Bestandteile des Ordre public sind Grundrechte, insbesondere Menschenrechte<br />
oder ein <strong>Teil</strong> der im Schweizer Recht intern zwingenden Normen.<br />
Einzelfälle:<br />
- erfasst sind:<br />
o Diskriminierung (BGE 95 II 115)<br />
o keine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften (BGE 119 II<br />
266)<br />
o Enteignung (BJM 1993 17, 28)<br />
o Registrierung eines Eigentumsvorbehalts (BGE 131 III 595)<br />
o Übertragung des Sorgerechts (BGE 129 III 250)<br />
- nicht erfasst:<br />
o Pflichtteilsschutz (BGE 102 II 136, 140 f.)<br />
Eine Verletzung des Pflichtteilsschutzes im Erbrecht ist nicht Ordre public<br />
widrig.<br />
o fristlose Vaterschaftsklage (BGE 118 II 468)<br />
o Art. 104 IPRG (BGE 125 III 443 E. 3 d)<br />
c) Rechtsfolgen<br />
Die Rechtsfolge einer Ordre public widrigen Norm ist die punktuelle Nichtanwendung<br />
des ausländischen Rechts. Diese Lücke wird aber nach Möglichkeit im Rahmen des<br />
ausländischen Rechts geschlossen, beispielsweise sind etwa die Bestimmungen des<br />
ausländischen Rechts über die <strong>Teil</strong>nichtigkeit zu berücksichtigen. Führt dies zu keinem<br />
befriedigenden Ergebnis sind zuletzt gemäss Art. 16 Abs. 2 IPRG die Bestimmungen<br />
des Schweizer Rechts zu berücksichtigen.<br />
126
Fall 23 (nach BGE 102 II 136 ff.): Am 20. Februar 2006 starb der in Zürich wohnhaft<br />
britische Staatsangehörige A. Er war in Deutschland geboren worden und in den<br />
30er Jahren nach Grossbritannien ausgewandert, weil er sich wegen seiner jüdischen<br />
Abstammung in Deutschland gefährdet fühlte. An seinem neuen Wohnort<br />
entfaltet er eine rege geschäftliche Tätigkeit. 1947 erwarb er die britische Staatsangehörigkeit.<br />
Nach seinem Rückzug aus dem Berufsleben siedelte er 1953 in die<br />
Schweiz über, wo er bis zu seinem Tod wohnte. Er war in zweiter Ehe mit E verheiratet.<br />
Am 5. März 1990 hatte A in Zürich ein öffentliche letztwillige Verfügung erichtet,<br />
die E darin als Alleinerbin eingesetzt und seinen Nachlass dem englischen Recht<br />
unterstellt. Aus der Ehe mit X, seiner ersten Ehefrau, stammt die gemeinsame Tochter<br />
T. die X war am 15. Mai 1995 gestorben. Das gesamte Vermögen des A befindet<br />
sich in der Schweiz.<br />
Wo besteht ein Gerichtsstand für ggf. vorhandene Pflichtteilsansprüche der T? Hat T<br />
Pflichtteilsansprüche gegen E?<br />
Fall 24 (nach BGE 126 III 534 ff. = Pra 90 (2001) Nr. 120): Der in Genf wohnhafte K<br />
besucht im Jahr 2005 in London ein Spielcasino, das von G betrieben wird. Nach<br />
mehreren Tagen mit Pech im Spiel (dafür Glück in der Liebe!) reist K ab, ohne seine<br />
Spielschulden i. H. v. £ 768'273,88 zu bezahlen. G erhebt daraufhin bei einem Genfer<br />
Gericht Klage mit dem Antrag, den K zu verurteilen, an sie £ 768'273.88 zu zahlen.<br />
Nach englischem Recht besteht ein Zahlungsanspruch.<br />
Ist die Klage, deren Zulässigkeit zu unterstellen ist, begründet?<br />
4. Überprüfung der Fremdrechtsanwendung<br />
a) Nichtermittlung oder unrichtige Ermittlung des ausländischen Rechts<br />
fehlerhafte Anwendung von Art. 16 IPRG<br />
Berufung und allenfalls Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 43a Abs. 1 lit. b und 68 Abs. 1<br />
lit. d OG) [wie ist das nach neuem Prozessrecht?. Beschwerde gemäss Art. 96 lit.<br />
a BGG]<br />
b) Fehlerhafte Anwendung des ausländischen Rechts<br />
Berufung bei nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten (Art. 43a II OG)<br />
Nichtigkeitsbeschwerde bei nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten (umstritten)<br />
In vermögensrechtlichen Streitigkeiten allenfalls staatsrechtliche Beschwerde<br />
127
G. Sonderprobleme des Kollisionsrechts<br />
I. Anpassung<br />
1. Begriff<br />
Anpassung bezeichnet eine Korrektur des Verweisungsergebnisses (kollisionsrechtliche<br />
Anpassung) oder des anwendbaren Sachrechts (sachrechtliche Anpassung) zur<br />
Vermeidung eines Normenwiderspruchs oder eines Normenmangels.<br />
2. Arten<br />
a) Klassifizierung nach der Ursache<br />
- Normenwiderspruch bei Normenhäufung<br />
- Normenmangel<br />
b) Klassifizierung nach der Korrekturmethode<br />
- Kollisionsrechtliche Anpassung (Art. 15 IPRG analog)<br />
- Sachrechtliche Anpassung (Einschränkung, Ergänzung oder Umbildung materieller<br />
Regelungen)<br />
3. Eindämmung des Problems der Anpassung<br />
- Vereinheitlichung des Kollisionsrechts<br />
- Weitreichende Regelanknüpfungen<br />
- Akzessorische Anknüpfungen<br />
- Unwandelbarkeit von Anknüpfungen<br />
- Gesamtverweisungen<br />
4. Ausgewählte Anpassungsprobleme und ihre Lösung<br />
a) Normenwiderspruch bei Normenhäufung<br />
Nach den IPR-Regeln können unter Umständen zwei Rechtsordnungen einschlägig<br />
sein und beide enthalten Regelungen zur Problematik. Sind diese identisch, entstehen<br />
keine Probleme – häufig weichen sie jedoch voneinander ab.<br />
Entstehungsgründe:<br />
- unterschiedliche Anknüpfungsmerkmale in den nationalen Kollisionsrechten<br />
- Überlagerung von Anknüpfungsgegenständen<br />
128
Beispiel: Zur Erbmasse eines kolumbianischen Erblassers gehört ein in der<br />
Schweiz belegenes Grundstück, das dem Sohn des Erblassers durch Vermächtnis<br />
zugewendet wurde.<br />
In casu ist kolumbianisches Erbrecht anwendbar. Dieses kennt das Vindikationslegat.<br />
Ein in der Schweiz gelegenes Grundstück geht somit mittels Singular-<br />
und nicht mittels Universalsukzession über.<br />
Das Schweizer Recht, welches berufen ist hinsichtlich des Grundstücks als lex<br />
rei sitae (Ort der gelegenen Sache), ist ebenfalls zuständig. Es stellt sich die<br />
Frage, was sich nun durchsetzt. Bezüglich des Grundstücks geht man von einer<br />
Nachlassspaltung aus. Die lex rei sitae setzt sich als speziellere Regelung<br />
durch, womit für das Grundstück das Schweizer Recht zur Anwendung gelangt.<br />
Die restlichen erbrechtlichen Fragen werden nach kolumbianischem<br />
Recht behandelt.<br />
Es gilt somit einerseits das Erbstatut des kolumbianischen Rechts und andererseits<br />
nach dem Spezialitätsgrundsatz für das Grundstück trotzdem das<br />
Schweizer Recht.<br />
- unterschiedliche Qualifikationen<br />
Beispiel: Ein schweizerisches und ein französisches Gericht haben Schadenersatzansprüche<br />
aufgrund der Verletzung vorvertraglicher Pflichten zu beurteilen<br />
- Wandelbarkeit von Qualifikationen<br />
Beispiel: Ein Deutscher heiratet eine Elsässerin an ihrem gemeinsamen<br />
Wohnsitz in Basel. Anschliessend ziehen die Eheleute nach Frankreich.<br />
- Kumulation von Anknüpfungen<br />
Beispiel: Art. 163c Abs. 1 IPRG und unterschiedliche Formvorschriften für den<br />
Fusionsvertrag in den anwendbaren Rechten<br />
b) Normenmangel<br />
Ursache: Das berufene Sachrecht verortet die Lösung einer Rechtsfrage in einem<br />
Bereich, der von der Verweisung nicht umfasst wird.<br />
Beispiel: Der Brasilianer Ignacio Tavares verstirbt in Brasilien mit schweizerischem<br />
Ehegüterstatut, das eine güterechtliche Versorgung der Ehefrau nicht vorsieht. Nach<br />
Art. 91 Abs. 1 IPRG ist brasilianisches Erbrecht anwendbar, wonach die Ehefrau<br />
ebenfalls nichts erhält, weil die Ehefrau nach brasilianischem Recht rein güterrechtlich<br />
versorgt wird. Die Frage der güterrechtlichen Folgen der Ehe richtet sich nach<br />
schweizerischem Recht. Andererseits besteht hinsichtlich der erbrechtlichen Fragen<br />
ein Verweis auf das brasilianische Erbrecht. Wenn ein Brasilianer in Brasilien stirbt,<br />
wird gemäss Art. 91 Abs. 1 IPRG das brasilianische Erbrecht berufen. In casu kommen<br />
also zwei verschiedene Rechte zur Anwendung. Würden nun beide eine güterrechtliche<br />
oder beide eine erbrechtliche Lösung vorsehen, entstünden keine Probleme.<br />
Das Schweizer Recht sieht hinsichtlich des Ausgleichs eine erbrechtliche – das<br />
brasilianische Recht eine güterrechtliche Lösung vor. Somit würde die Ehefrau gemäss<br />
beiden Rechten leer ausgehen.<br />
Die Lösung ist eine Korrektur des Verweises in Art. 91 Abs. 1 IPRG, der Schweizer<br />
Richter kann selber entscheiden, ob er diesem Verweis folgen will oder nicht.<br />
129
II.<br />
Statutenwechsel<br />
1. Begriff<br />
Beim Statutenwechsel handelt es sich um ein Wechsel des anwendbaren Sachrechts<br />
aufgrund verschiedener Ursachen:<br />
- tatsächliche Änderung eines massgeblichen Anknüpfungsmerkmals bei beweglicher<br />
Anknüpfung (Statutenwechsel i. e. S.) im Sachverhalt, z.B. Wohnsitzwechsel,<br />
Bringung einer beweglichen Sache ins Ausland, etc.<br />
Unterarten:<br />
o Eingangsstatutenwechsel<br />
Wechsel vom ausländischen Recht zum Schweizer Recht<br />
o Ausgangsstatutenwechsel<br />
Wechsel vom Schweizer Recht zum ausländischen Recht<br />
- rechtliche Änderung der Anknüpfung durch Änderung der internationalen Zuständigkeit<br />
und damit der lex fori (Statutenwechsel im weiteren Sinne)<br />
- rechtliche Änderung des Kollisionsrechts oder des anwendbaren Sachrechts<br />
(Frage des intertemporalen Rechts)<br />
2. Konsequenzen<br />
a) Rechtsbewahrung<br />
Das IPRG trifft für solche Statutenwechsel einige Regelungen in IPR-Sachnormen.<br />
Es regelt diese Fragen also sachrechtlich. Ansonsten geht es um den Schutz der<br />
sog. wohlerworbenen Rechte (z.B. Art. 35 S. 2 IPRG).<br />
b) Rechtsvernichtung<br />
im Ausnahmefall zur Sicherung des Ordre public (z.B. Art. 102 Abs. 3 IPRG)<br />
c) Rechtsvollendung<br />
Zusammenwirken von ausländischen und inländischen Tatsachen zur Vollendung<br />
eines zeitlich gestreckten Rechtserwerbs- bzw. Rechtsverlustvorgangs (z.B. Art. 102<br />
Abs. 1 IPRG)<br />
d) Rechtsverwirklichung<br />
Eröffnung neuer Gestaltungsmöglichkeiten<br />
130
§ 4 ANERKENNUNG UND VOLLSTRECKUNG AUSLÄNDISCHER ENT-<br />
SCHEIDE<br />
A. Einführung<br />
I. Problematik<br />
Bei der Anerkennung und Vollstreckung geht es um die sog. Akzeptation, d.h. die<br />
etwaige Übernahme der Wirkungen eines ausländischen Entscheids hinsichtlich<br />
seiner Rechtskraft und seiner Gestaltungswirkungen im Inland.<br />
Ein solcher Entscheid eines ausländischen Richters oder eine Behörde ist ein Hoheitsakt<br />
und als solcher bedarf er immer einer innerstaatlichen Ermächtigung. Diese<br />
Ermächtigung muss mittels Anerkennung oder Vollstreckbarerklärung durch ein inländisches<br />
Gericht oder eine inländische Behörde erfolgen.<br />
Es geht also um die Gleichbehandlung der ausländischen mit den inländischen Entscheidungen<br />
und um die Ermächtigung, innerstaatlich hoheitlich tätig zu werden. Im<br />
Zentrum steht die Überwindung des Territorialitätsprinzips durch einen Akt der Staatenkooperation.<br />
II.<br />
Rechtsgrundlagen<br />
1. Staatsverträge<br />
a) Multilaterale Abkommen<br />
- Art. 25 ff. LugÜ: Anerkennung<br />
- Art. 31 ff. LugÜ: Vollstreckung<br />
- Haager Übereinkommen über die Anerkennung von Eheschliessungen und<br />
Ehetrennungen (SR 0.211.212.01)<br />
- Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen<br />
(SR 0.211.213.02)<br />
- Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen<br />
auf dem Gebiet der Unterhaltspflicht gegenüber Kindern v.<br />
15.04.1958 (SR 0.211.221.432)<br />
b) bilaterale Abkommen<br />
Beispiel: Abkommen vom 25.04.1968 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft<br />
und dem Fürstentum Liechtenstein über die Anerkennung und Vollstreckung<br />
von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen in Zivilsachen (SR<br />
0.276.195.141)<br />
131
2. IPRG<br />
Art. 25 ff. IPRG und IPRG BT<br />
Im besonderen <strong>Teil</strong> des IPRG finden sich jeweils am Ende des betreffenden Kapitels<br />
die Regelungen zur Anerkennung und Vollstreckung.<br />
B. Gegenstand<br />
I. LugÜ<br />
Erfasst sind:<br />
- Gerichtliche Urteile, Beschlüsse und Vollstreckungsbefehle (Art. 25 LugÜ)<br />
Es geht um die Entscheidung eines Gerichts eines Vertragsstaates. Art. 25<br />
LugÜ liefert die Legaldefinition für den „Entscheid“ eines Gerichtes.<br />
Art. 25 LugÜ<br />
Unter «Entscheidung» im Sinne dieses Übereinkommens ist jede von einem Gericht eines<br />
Vertragsstaats erlassene Entscheidung zu verstehen ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung<br />
wie Urteil, Beschluss oder Vollstreckungsbefehl, einschliesslich des Kostenfestsetzungsbeschlusses<br />
eines Urkundsbeamten.<br />
- Gerichtliche Vergleiche (Art. 51 LugÜ)<br />
- Öffentliche Urkunden (Art. 50 LugÜ)<br />
- Vorsorgliche Massnahmen<br />
Nicht erfasst sind:<br />
- Schiedsgerichtsentscheide (Art. 1 Abs. 2 Ziff. 4 LugÜ)<br />
- Ausländische Exequaturentscheide<br />
II.<br />
IPRG<br />
Erfasst sind:<br />
- <strong>Privatrecht</strong>liche ausländische Urteile<br />
Art. 25 IPRG<br />
Eine ausländische Entscheidung wird in der Schweiz anerkannt:<br />
a. wenn die Zuständigkeit der Gerichte oder Behörden des Staates, in dem die Entscheidung<br />
ergangen ist, begründet war;<br />
b. wenn gegen die Entscheidung kein ordentliches Rechtsmittel mehr geltend gemacht<br />
werden kann oder wenn sie endgültig ist, und<br />
c. wenn kein Verweigerungsgrund im Sinne von Artikel 27 vorliegt.<br />
132
- Gerichtliche Vergleiche, sofern sie in dem Abschlussstaat wie eine gerichtliche<br />
Entscheidung behandelt werden (Art. 30 IPRG)<br />
- Urkunden und Entscheidungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Art. 31 IPRG)<br />
Nicht erfasst:<br />
- Schiedsgerichtsentscheide (dazu Art. 194 IPRG; New Yorker Übereinkommen)<br />
- Ausländische Exequaturentscheide<br />
- Vorsorgliche Massnahmen (umstritten)<br />
Fall 25 (nach Zivilgericht BS vom 01.02.1989, BJM 1991, S. 31 ff.): Die weltweit<br />
tätige, schweizerische T-AG führt für die in Kalifornien ansässige S-Inc. Transporte<br />
(vor allem nach England) durch. Dafür stellte die S-Inc. Holzkisten zur Verfügung. Im<br />
Laufe der Jahre zweigte die T-AG wissentlich zahlreiche Holzkisten der S-Inc. ab und<br />
veräussert diese sogar an Dritte. Das deswegen von der S-Inc. angerufene kalifornische<br />
Gericht sprach ihr in Anwendung des englischen Rechts (die Parteien hatten<br />
diesbezüglich eine Rechtswahl getroffen) einen Schadenersatzanspruch i. H. v. USD<br />
120'060.-- und USD 50'000.-- als sog. „punitive damages“ zu. Mit den „punitive damages“<br />
sollen einerseits ungerechtfertigte Bereicherungen ausgeglichen und andererseits<br />
der Schädiger und Dritte von einem solchen Verhalten abgeschreckt werden.<br />
In casu wurden diese v. a. wegen eines mutmasslichen Gewinns der T-AG aus der<br />
Weiterveräusserung der Kisten bejaht. Die T-AG drang im Verfahren mit ihrer Begründung,<br />
dass ihr wegen eigener Ansprüche gegen die S-Inc. ein Retentionsrecht<br />
an den Holzkisten zustehe, nicht durch. Das Urteil wurde rechtskräftig.<br />
Kann die S-Inc. das Urteil in der Schweiz vollstrecken lassen? Die T-AG behauptet,<br />
dass das kalifornische Gericht das englische Recht falsch angewendet hätte.<br />
133
C. Voraussetzungen der Anerkennung<br />
I. Anerkennungsvoraussetzungen nach Art. 25 ff. LugÜ<br />
Nach LugÜ bestehen drei Anerkennungsvoraussetzungen:<br />
1. Zuständigkeitsbejahung durch das Gericht eines Vertragsstaates<br />
Anders als nach Schweizer IPRG kommt es grundsätzlich nicht auf die Prüfung der<br />
indirekten Zuständigkeit des ausländischen Gerichts an. Es stellt sich also nicht die<br />
Frage, ob nach den Massstäben des Schweizer Rechts das ausländische Gericht in<br />
der Sache zuständig war. Es kommt nur darauf an, ob sich dieses Gericht – eventuell<br />
sogar unzutreffend – als zuständig erklärt hat.<br />
Von diesem Grundsatz gibt es jedoch Ausnahmen: Art. 28 Abs. 1 LugÜ.<br />
Art. 28 LugÜ<br />
Eine Entscheidung wird ferner nicht anerkannt, wenn die Vorschriften des 3., 4. und 5. Abschnitts des<br />
Titels II verletzt worden sind oder wenn ein Fall des Artikels 59 vorliegt.<br />
[…]<br />
Bei Versicherungs- und Konsumentenstreitigkeiten wird zum Schutz der Versicherungsnehmer<br />
und der Konsumenten eine Überprüfung der indirekten Zuständigkeit<br />
vorgenommen.<br />
Auch bei ausschliesslichen Zuständigkeiten nach Art. 16 LugÜ ist die Anerkennung<br />
einer ausländischen Entscheidung zu verweigern.<br />
2. Vollstreckbarkeit der ausländischen Entscheidung<br />
Die Entscheidung des Erststaates (Staat, in welchem die Entscheidung ergangen ist)<br />
muss im Zweitstaat vollstreckbar sein.<br />
Dies bedeutet:<br />
- Rechtskraft oder sonstige Endgültigkeit<br />
- vorläufige Vollstreckbarkeit ausreichend (allerdings noch Art. 30 Abs. 1 LugÜ<br />
zu beachten)<br />
Nach LugÜ reicht abweichend zum IPRG auch die vorläufige Vollstreckbarkeit.<br />
Wenn also ein Streit zwar noch mit ordentlichen Rechtsmitteln angefochten<br />
werden kann, spielt dies dann keine Rolle, wenn dieser Entscheid trotzdem als<br />
vorläufig vollstreckbar erklärt worden ist.<br />
Das Gericht des betroffenen Zweitstaates hat jedoch die Möglichkeit, gemäss<br />
Art. 30 Abs. 1 LugÜ die Vollstreckung vorläufig auszusetzen, bis in der Sache<br />
definitiv entschieden worden ist. Im Prinzip handelt es sich hierbei einfach um<br />
die Umkehrung der Regel.<br />
- vorsorgliche Massnahmen ausreichend<br />
134
3. Fehlen von Verweigerungsgründen<br />
a) Materielle Verweigerungsgründe<br />
aa) Grundsatz<br />
Materielle Verweigerungsgründe sind grundsätzlich unbeachtlich. Es gilt das sog.<br />
Verbot der révision au fond (Art. 29 LugÜ).<br />
Im Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren wird der Entscheid nicht noch einmal<br />
überprüft. Es gibt keine sachliche Nachprüfung.<br />
Art. 29 LugÜ<br />
Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.<br />
bb) Ausnahmen<br />
- Verstoss gegen den materiellen Ordre public des Zweitstaats (Art. 27 Ziff. 1<br />
LugÜ)<br />
Der Vorbehalt des Art. 27 Ziff. 1 LugÜ ist vergleichbar mit dem Art. 17 IPRG.<br />
Die ausländische Entscheidung darf also nicht gegen elementare Rechtsgrundsätze<br />
des Zweitstaates verstossen.<br />
Art. 27 LugÜ<br />
Eine Entscheidung wird nicht anerkannt,<br />
1. wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht<br />
wird, widersprechen würde; […]<br />
Die Anforderungen des Art. 27 LugÜ sind jedoch strenger als beim Art. 17<br />
IPRG. Der Einwand des Verstosses gegen den Ordre public kann nur unter<br />
zusätzlichen Voraussetzungen erhoben werden. Art. 27 LugÜ verlangt neben<br />
dem Verstoss gegen elementare Rechtsgrundsätze, eine gewisse Offensichtlichkeit.<br />
Die Einrede des Ordre public hat nicht dieselbe Durchschlagskraft wie<br />
im Kollisionsrecht. Es handelt sich immerhin um eine richterliche Entscheidung<br />
aus einem Mitgliedstaat des LugÜ, welche in jedem Fall berücksichtigt werden<br />
muss.<br />
- Sonderregelung in Art. 27 Ziff. 4 LugÜ<br />
Art. 27 LugÜ<br />
Eine Entscheidung wird nicht anerkannt,<br />
[…]<br />
4. wenn das Gericht des Ursprungsstaats bei seiner Entscheidung hinsichtlich einer Vorfrage,<br />
die den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche<br />
Vertretung einer natürlichen Person, die ehelichen Güterstände oder das Gebiet<br />
des Erbrechts einschliesslich des Testamentsrechts betrifft, sich in Widerspruch zu einer<br />
Vorschrift des internationalen <strong>Privatrecht</strong>s des Staates, in dem die Anerkennung<br />
geltend gemacht wird, gesetzt hat, es sei denn, dass die Entscheidung nicht zu einem<br />
anderen Ergebnis geführt hätte, wenn die Vorschriften des internationalen <strong>Privatrecht</strong>s<br />
dieses Staates angewandt worden wären;<br />
[…]<br />
135
Art. 27 Ziff. 4 LugÜ regelt gewisse Vorfragen für den personenrechtlichen Status<br />
eine Person. Diese Regelung wird jedoch voraussichtlich im Rahmen der<br />
nächsten Revision des LugÜ ersatzlos gestrichen.<br />
b) Formelle Verweigerungsgründe<br />
aa) ordnungsgemässe Verfahrensleitung<br />
Wurden die Schriftstücke zur Verfahrenseinleitung nicht ordnungsgemäss zugestellt,<br />
ist gemäss Art. 27 Ziff. 2 LugÜ von einer Anerkennung und Vollstreckung der ausländischen<br />
Entscheidung abzusehen.<br />
Art. 27 LugÜ<br />
Eine Entscheidung wird nicht anerkannt,<br />
[…]<br />
2. wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das dieses Verfahren<br />
einleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht ordnungsgemäss und nicht<br />
so rechtzeitig zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte;<br />
[…]<br />
bb) Kein Verstoss gegen wesentliche Verfahrensgrundsätze<br />
Ein Verstoss gegen wesentliche Verfahrensgrundsätze wie beispielsweise Art. 6<br />
EMRK ist ein Verstoss gegen den formellen Ordre public.<br />
Dieser Verstoss gegen den formellen Ordre public wird in Art. 27 Ziff. 1 LugÜ nicht<br />
ausdrücklich erwähnt, die Bestimmung spricht jedoch vom allgemeinen Ordre public<br />
und beschränkt sich somit nicht nur auf den sachrechtlichen Ordre public.<br />
c) Nichtbeachtung anderweitiger Rechtshängigkeit bzw. Rechtskraft<br />
- Art. 27 Ziff. 3 LugÜ (Unvereinbarkeit mit ergangener Entscheidung des Zweitstaates)<br />
- Art. 27 Ziff 5 LugÜ (Unvereinbarkeit mit ergangener Entscheidung eines Drittstaates)<br />
Hat in einem anderen Staat ein Parallelverfahren stattgefunden, bzw. ist bereits ein<br />
rechtskräftiger Entscheid ergangen, muss dies beachtet werden. Ein Verstoss gegen<br />
Art. 27 Ziff. 3 oder 5 LugÜ ist ein Grund für die Verweigerung der Vollstreckung oder<br />
Anerkennung des Entscheids im Drittstaat.<br />
II.<br />
Anerkennungsvoraussetzungen nach IPRG<br />
1. Indirekte Zuständigkeit<br />
Im Rahmen der indirekten Zuständigkeit wird nach Schweizer Recht geprüft, ob das<br />
ausländische Gericht zuständig war. Überprüft wird der Zuständigkeitsentscheid des<br />
ausländischen Gerichts nach Schweizer Recht.<br />
136
Die allgemeine Regelung findet sich in Art. 25 lit. a IPRG<br />
Art. 25 IPRG<br />
Eine ausländische Entscheidung wird in der Schweiz anerkannt:<br />
a. wenn die Zuständigkeit der Gerichte oder Behörden des Staates, in dem die Entscheidung<br />
ergangen ist, begründet war;<br />
b. wenn gegen die Entscheidung kein ordentliches Rechtsmittel mehr geltend gemacht werden<br />
kann oder wenn sie endgültig ist, und<br />
c. wenn kein Verweigerungsgrund im Sinne von Artikel 27 vorliegt.<br />
Nach Art. 26 lit. a IPRG ist die Zuständigkeit einer ausländischen Behörde begründet,<br />
wenn das Schweizer IPRG diese Zuständigkeit vorsieht oder der Beklagte seinen<br />
Wohnsitz im Urteilsstaat hat.<br />
Art. 26 IPRG<br />
Die Zuständigkeit ausländischer Behörden ist begründet:<br />
a. wenn eine Bestimmung dieses Gesetzes sie vorsieht oder, falls eine solche fehlt, wenn der<br />
Beklagte seinen Wohnsitz im Urteilsstaat hatte;<br />
b. wenn in vermögensrechtlichen Streitigkeiten die Parteien sich durch eine nach diesem Gesetz<br />
gültige Vereinbarung der Zuständigkeit der Behörde unterworfen haben, welche die Entscheidung<br />
getroffen hat;<br />
c. wenn sich der Beklagte in einer vermögensrechtlichen Streitigkeit vorbehaltlos auf den<br />
Rechtsstreit eingelassen hat;<br />
d. wenn im Falle einer Widerklage die Behörde, die die Entscheidung getroffen hat, für die<br />
Hauptklage zuständig war und zwischen Haupt- und Widerklage ein sachlicher Zusammenhang<br />
besteht.<br />
Beispiel aus dem besonderen <strong>Teil</strong>:<br />
Art. 50 IPRG<br />
Ausländische Entscheidungen oder Massnahmen über die ehelichen Rechte und Pflichten werden in<br />
der Schweiz anerkannt, wenn sie im Staat des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes eines<br />
der Ehegatten ergangen sind.<br />
2. Endgültigkeit<br />
Die ausländische Entscheidung muss rechtskräftig oder in anderer Weise endgültig<br />
sein (Art. 25 lit. b IPRG). Der Entscheid darf also nicht mehr mit ordentlichen<br />
Rechtsmitteln anfechtbar sein. Im IPRG ist somit im Gegensatz zum LugÜ die Endgültigkeit<br />
und nicht nur die Vollstreckbarkeit vorausgesetzt. Das bedeutet, dass im<br />
Gegensatz zum LugÜ grundsätzlich weder die vorläufige Vollstreckbarerklärung noch<br />
die vorsorglichen Massnahmen (Ausnahme: Art. 96 Abs. 3 IPRG) ausreichend sind.<br />
Vorsorgliche Massnahmen in diesem Sinn sind beispielsweise Massnahmen, welche<br />
vor Einleitung eines Hauptverfahrens zur Sicherung von Ansprüchen ausgesprochen<br />
werden.<br />
Hiervon gibt es jedoch ebenfalls Ausnahmen: Art. 96 Abs. 3 IPRG.<br />
Art. 96 IPRG<br />
1 Ausländische Entscheidungen, Massnahmen und Urkunden, die den Nachlass betreffen, sowie<br />
Rechte aus einem im Ausland eröffneten Nachlass werden in der Schweiz anerkannt:<br />
137
a. wenn sie im Staat des letzten Wohnsitzes des Erblassers oder im Staat, dessen Recht er<br />
gewählt hat, getroffen, ausgestellt oder festgestellt worden sind oder wenn sie in einem dieser<br />
Staaten anerkannt werden, oder<br />
b. wenn sie Grundstücke betreffen und in dem Staat, in dem sie liegen, getroffen, ausgestellt<br />
oder festgestellt worden sind oder wenn sie dort anerkannt werden.<br />
2 Beansprucht ein Staat für die in seinem Gebiet liegenden Grundstücke des Erblassers die ausschliessliche<br />
Zuständigkeit, so werden nur dessen Entscheidungen, Massnahmen und Urkunden<br />
anerkannt.<br />
3 Sichernde Massnahmen des Staates, in dem Vermögen des Erblassers liegt, werden in der Schweiz<br />
anerkannt.<br />
Die Sonderregelung ist jedoch eine Einzelvorschrift. Ansonsten gilt der Grundsatz,<br />
dass vorsorgliche Massnahmen in der Schweiz nicht anerkannt und vollstreckbar<br />
sind.<br />
3. Fehlen von Verweigerungsgründen<br />
a) materielle Verweigerungsgründe<br />
aa) Grundsatz<br />
Bei den materiellen Verweigerungsgründen gilt gemäss Art. 27 Abs. 3 IPRG ebenfalls<br />
der Grundsatz des sog. Verbots der révision au fond. Es gibt grundsätzlich keine<br />
Überprüfung der sachlichen Richtigkeit des ausländischen Entscheides.<br />
bb) Ausnahme<br />
Gemäss Art. 27 Abs. 1 IPRG ist von Amtes wegen zu prüfen, ob eine Verletzung des<br />
materiellen Ordre public gegeben ist.<br />
Wie bereits erläutert, bestehen hier erhöhte Anforderungen im Vergleich zum Kollisionsrecht:<br />
- Offensichtlichkeit<br />
- Sog. effet atténué: Da bereits ein ausländisches Gericht über seine Zuständigkeit<br />
entschieden hat, ist dieser Entscheid zumindest zu berücksichtigen<br />
und zu respektieren.<br />
Beispiele:<br />
- BGE 122 III 344 E. 4 (Privatscheidung);<br />
- Diskriminierung eines unehelichen Kindes<br />
b) formelle Verweigerungsgründe<br />
In Art. 27 Abs. 2 IPRG sind die formellen Verweigerungsgründe abschliessend geregelt<br />
(BGE 120 II 83 ff.). Diese formellen Verweigerungsgründe werden im Gegensatz<br />
zu den materiellen Verweigerungsgründen nicht von Amtes wegen berücksichtigt.<br />
Sie werden nur dann berücksichtigt, wenn sie durch die Parteien vorgetragen werden.<br />
138
Art. 27 IPRG<br />
1 Eine im Ausland ergangene Entscheidung wird in der Schweiz nicht anerkannt, wenn die Anerkennung<br />
mit dem schweizerischen Ordre public offensichtlich unvereinbar wäre.<br />
2 Eine im Ausland ergangene Entscheidung wird ebenfalls nicht anerkannt, wenn eine Partei nachweist:<br />
a. dass sie weder nach dem Recht an ihrem Wohnsitz noch nach dem am gewöhnlichen Aufenthalt<br />
gehörig geladen wurde, es sei denn, sie habe sich vorbehaltlos auf das Verfahren eingelassen;<br />
b. dass die Entscheidung unter Verletzung wesentlicher Grundsätze des schweizerischen Verfahrensrechts<br />
zustande gekommen ist, insbesondere dass ihr das rechtliche Gehör verweigert<br />
worden ist;<br />
c. dass ein Rechtsstreit zwischen denselben Parteien und über denselben Gegenstand zuerst in<br />
der Schweiz eingeleitet oder in der Schweiz entschieden worden ist oder dass er in einem<br />
Drittstaat früher entschieden worden ist und dieser Entscheid in der Schweiz anerkannt werden<br />
kann.<br />
3 Im Übrigen darf die Entscheidung in der Sache selbst nicht nachgeprüft werden.<br />
aa) fehlende rechtskonforme Vorladung<br />
Voraussetzungen der Rechtskonformität:<br />
- Effektivität der Vorladung<br />
Die Vorladung muss effektiv stattgefunden haben.<br />
- Einhaltung der einschlägigen Verfahrensvorschriften<br />
- Rechtzeitigkeit der Vorladung (BGE 116 II 625)<br />
Eine nicht rechtzeitig erfolgte Vorladung ist gemäss Bundesgericht keine gehörige<br />
Vorladung gemäss lit. a.<br />
bb) Verletzung wesentlicher Verfahrensgrundsätze (formeller Ordre public)<br />
Hauptfall der Verletzung wesentlicher Verfahrensgrundsätze gemäss Art. 27 Abs. 2<br />
lit. b IPRG ist die Verletzung des rechtlichen Gehörs (vgl. auch BGE 121 III 331 ff.).<br />
Ansonsten ist das Bundesgericht in Bezug auf diese wesentlichen Verfahrensgrundsätze<br />
relativ streng.<br />
c) Nichtbeachtung anderweitiger Rechtshängigkeit bzw. Rechtskraft gemäss Art.<br />
27 Abs. 2 lit. c IPRG<br />
Hier sind eigentlich keine Besonderheiten gegeben. Der Rechtsstreit darf also noch<br />
nicht zwischen den gleichen Parteien, hinsichtlich desselben Streitgegenstandes, in<br />
der gleichen Sache, von einer anderen Behörde entschieden worden sein. Dies wäre<br />
gegeben, wenn in der Schweiz bereits entschieden wurde – aber auch, wenn in einem<br />
Drittstaat bereits ein rechtskräftiges Urteil ergangen wäre.<br />
d) Gegenrechtserfordernis<br />
Ein vierter Verweigerungsgrund ist gegeben, wenn die Behörden des Erststaates die<br />
Schweizer Entscheidungen ihrerseits nicht anerkennen. Dies ist ein klassisches<br />
Druckmittel, welches im Anwendungsbereich des LugÜ ausgeschaltet ist.<br />
139
Im Anwendungsbereich des IPRG kommt diese Bestimmung jedoch ebenfalls nur<br />
äusserst selten zur Anwendung.<br />
Beispiel:<br />
Art. 166 IPRG<br />
1 Ein ausländisches Konkursdekret, das am Wohnsitz des Schuldners ergangen ist, wird auf Antrag<br />
der ausländischen Konkursverwaltung oder eines Konkursgläubigers anerkannt:<br />
a. wenn das Dekret im Staat, in dem es ergangen ist, vollstreckbar ist;<br />
b. wenn kein Verweigerungsgrund nach Artikel 27 vorliegt, und<br />
c. wenn der Staat, in dem das Dekret ergangen ist, Gegenrecht hält.<br />
2 Hat der Schuldner eine Zweigniederlassung in der Schweiz, so ist ein Verfahren nach Artikel 50<br />
Absatz 1 des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes39 bis zur Rechtskraft des Kollokationsplanes<br />
nach Artikel 172 dieses Gesetzes zulässig.<br />
Fall 26 (Grolimund/Bopp, ius.full 2004, 207, 214 f.): T, ein in der Schweiz wohnender<br />
Iraner muslimischen Glaubens, teilte seiner in Teheran lebenden Frau F per E-<br />
Mail mit, dass er sich von ihr scheide. Nach iranischem Recht ist die Scheidung damit<br />
rechtsgültig und unanfechtbar vollzogen und würde im Iran auch anerkannt werden<br />
(Ausnahme für den Fall). T will nun die entsprechende Änderung im Schweizer<br />
Zivilstandsregister beantragen. Wird die iranische Scheidung in der Schweiz anerkannt?<br />
1. Internationalität des Sachverhaltes? (+)<br />
2. Fragekreis? dritter Fragekreis: Anerkennung und Vollstreckung<br />
3. Ermittlung der massgeblichen Verfahrensart? Vollstreckung<br />
4. Ermittlung der massgeblichen Rechtsquelle: Ist der Iran Vertragsstaat irgendwelcher<br />
Staatsverträge? nein IPRG einschlägig<br />
5. Vorliegen einer privatrechtlichen ausländischen Entscheidung als tauglicher<br />
Gegenstand der Anerkennung Problematisch: Keine Entscheidung einer<br />
Behörde. Man ist jedoch in diesem Bereich grosszügig und stellt die Anerkennungs-<br />
und Vollstreckungsfrage auch, wenn die Verfügung im jeweiligen Staat<br />
ein herkömmliches Verfahren ist. in casu gegeben.<br />
6. Endgültigkeit/Vollstreckbarkeit der im Ausland ergangenen Entscheidung<br />
kein Rechtsmittel gegeben<br />
7. Indirekte Zuständigkeit Anpassung erforderlich, da keine staatliche Behörde<br />
verfügt hat. Dies wird auch hier grosszügig ausgelegt. Die indirekte Zuständigkeit<br />
ist als gegeben zu betrachten. Massgeblich ist Art. 26 lit. a in Verbindung<br />
mit Art. 65 IPRG nach dieser Regelung sind die Voraussetzungen für<br />
die Scheidung gegeben: Die Ehefrau hat ihren Wohnsitz in Teheran<br />
8. Fehlen von Verweigerungsgründen:<br />
a. Materielle Verweigerungsgründe: Privatscheidung als <strong>Teil</strong> des materiellen<br />
Ordre public ist gemäss BGer nicht anerkennungsfähig<br />
b. Formelle Verweigerungsgründe: Verweigerung des rechtlichen Gehörs<br />
Fazit: Die Scheidung ist in der Schweiz nicht anerkennungsfähig.<br />
140
D. Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung<br />
I. Anerkennung ausländischer Entscheide<br />
1. Anerkennung eines Entscheids bei Anwendbarkeit des LugÜ<br />
Gemäss Art. 26 Abs. 1 LugÜ erfolgt die Anerkennung ipso iure (kraft Gesetzes oder<br />
Staatsvertrages) und somit ohne gesondertes Anerkennungsverfahren.<br />
Ausnahmen bilden die Fragen, in welchen es nicht direkt um die Vollstreckung geht,<br />
sondern beispielsweise im Rahmen des Personenstandes nur um die Anerkennung.<br />
Dort besteht die Möglichkeit, diese Anerkennungsfrage gesondert zu thematisieren<br />
(vgl. Art. 26 Abs. 2 LugÜ).<br />
2. Anerkennung von Entscheiden bei Anwendbarkeit des IPRG<br />
a) Anerkennung im Vollstreckungsverfahren<br />
Im Anwendungsbereich des IPRG kommt es zu einem besonderen Anerkennungsverfahren.<br />
Die Anerkennung kann in einem Vollstreckungsverfahren eine Vorfrage<br />
sein, beispielsweise die Verwertung eines Grundstücks, welches in der Schweiz<br />
belegen ist. Im Zusammenhang mit diesem Vollstreckungsverfahren wird die Anerkennung<br />
des ausländischen Entscheids als Vorfrage relevant.<br />
aa) Vollstreckung einer Geld- oder Sachleistung<br />
Grundsätzlich gilt in der Schweiz die Anwendbarkeit des SchKG. Die Frage der Anerkennung<br />
stellt sich jeweils im Rechtsöffnungsverfahren.<br />
bb) Vollstreckung anderer Entscheidinhalte<br />
Bei anderen Entscheiden richtet sich die Anerkennung nach kantonalem Verfahrensrecht.<br />
b) gesonderte Anerkennungsverfahren<br />
Ein gesondertes Anerkennungsverfahren ausserhalb des Vollstreckungsverfahrens<br />
ist möglich, wenn es nach kantonalem Recht vorgesehen ist.<br />
II.<br />
Vollstreckbarerklärung ausländischer Entscheide<br />
1. Vollstreckbarerklärung bei Anwendbarkeit des LugÜ<br />
Im Anwendungsbereich des LugÜ kann die Vollstreckung nur verweigert werden,<br />
wenn die Anerkennung verweigert werden kann. Mit anderen Worten sind die Vollstreckungsvoraussetzungen<br />
jeweils die Anerkennungsvoraussetzungen (Art. 34 Abs.<br />
2 i. V. m. 27 f. LugÜ).<br />
141
Besonders zu erwähnen ist, dass gemäss Art. 34 Abs. 1 LugÜ keine Anhörung des<br />
Schuldners stattfindet.<br />
Art. 34 LugÜ<br />
Das mit dem Antrag befasste Gericht erlässt seine Entscheidung unverzüglich, ohne dass der Schuldner<br />
in diesem Abschnitt des Verfahrens Gelegenheit erhält, eine Erklärung abzugeben.<br />
Der Antrag kann nur aus einem der in den Artikeln 27 und 28 angeführten Gründe abgelehnt werden.<br />
Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.<br />
a) Vollstreckbarerklärung im Vollstreckungsverfahren<br />
aa) Vollstreckung einer Geld- oder Sachleistung<br />
Bei der Vollstreckung von Geld- oder Sachleistungen ist das SchKG anwendbar.<br />
Art. 81 Abs. 3 SchKG ermöglicht also auch hier die inzidente Entscheidung über die<br />
Vollstreckbarkeit der ausländischen Entscheidung.<br />
bb) Vollstreckung anderer Entscheidinhalte<br />
Wurde in der Vorlesung nicht behandelt.<br />
b) Gesonderte Vollstreckbarerklärung (Exequaturverfahren)<br />
Das Exequaturverfahren hat die besondere Vollstreckbarerklärung einer ausländischen<br />
Entscheidung zum Ziel – unabhängig von einer bereits erfolgten Betreibung.<br />
Es handelt sich dabei um ein Verfahren nach kantonalem Verfahrensrecht. Die Kantone<br />
müssen Regelungen zu diesem gesonderten Verfahren vorsehen.<br />
2. Vollstreckbarerklärung bei Anwendbarkeit des IPRG<br />
Im Rahmen des IPRG ist der Schuldner anzuhören (Art. 29 Abs. 2 IPRG) während<br />
das LugÜ auf Überraschung setzt. Im Anwendungsbereich des LugÜ ist von einer<br />
Ähnlichkeit der verschiedenen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten auszugehen.<br />
Dies gewährleistet ein mehr oder weniger faires Verfahren im Rahmen von Vollstreckungsmassnahmen.<br />
Im Anwendungsbereich des IPRG ist unter umständen ein Urteil zu vollstrecken,<br />
welches keine dem LugÜ ähnlichen Verfahrensgrundsätze kennt. Daher gibt man<br />
dem Schuldner nochmals die Möglichkeit, zu den Vollstreckungsmassnahmen Stellung<br />
zu nehmen.<br />
142