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Orthographieerwerb ? kognitive Grundlagen Teil ... - Guido Nottbusch

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<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 1<br />

<strong>Orthographieerwerb</strong> – <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />

<strong>Teil</strong> 04: Graphomotorik I.<br />

Vom Malen zum Schreiben<br />

Welche Kenntnisse über Schrift und Schreiben haben Kinder schon vor den<br />

ersten formalen Schreibinstruktionen?<br />

• eine (diffuse) Vorstellung davon, was Schrift ist<br />

• Schriftvorstellung: sie sehen gedruckte Schrift auf Verpackungen,<br />

Schildern, in der Werbung usw. aber auch in konventionellen<br />

Umgebungen wie Büchern, Zeitschriften, Zeitungen<br />

• durch Malen und Zeichnen sind grundsätzliche motorische Fähigkeiten<br />

vorhanden<br />

• darüber hinaus besitzen Vorschulkinder bereits ausgeprägte mündliche<br />

Sprachfähigkeiten<br />

Phonologische und metalinguistische Kenntnisse<br />

• Was ist ein Wort?<br />

• Warum ist Bleistift ein Wort? Weil er schreibt! Verwechslung von Wort<br />

und Bedeutung -> Konfusion bei Verben und vor allem Funktionswörtern<br />

• Zerlegen eines Wortes in seine Phoneme (phonological awareness)<br />

• Wissen über Segmentierungen<br />

• Lautunterscheidungen<br />

• Zusammenhang zwischen Dauer der Aussprache und der Anzahl der<br />

Zeichen<br />

• Untersuchungen zur Entwicklung der Schreibfähigkeit von<br />

Vorschulkindern (3-6 Jahre)<br />

De Góes & Martlew (1983): Young Children‘s Approach to<br />

Literacy<br />

Methode<br />

34 Vorschulkinder im Alter von 3-6 Jahren wurden gebeten zu 'schreiben':<br />

• frei von Vorgaben<br />

• freie Aufgabenstellung: wenn den Kindern nichts einfiel, sollten sie ihren<br />

Vornamen schreiben<br />

• diktierte Nominalphrasen ("one dress", "two books")<br />

• Abschreiben von Einzelwörtern<br />

• erst vorlesen, Kinder wiederholen mündlich und kopieren schließlich die<br />

Buchstaben<br />

• Wiederholung der abgeschriebenen Einzelwörter<br />

<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld


<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 2<br />

Ergebnisse<br />

Die Autoren sortierten die Produkte der Kinder in sieben aufeinander<br />

aufbauende Kategorien:<br />

1. kein Unterschied zwischen den Kritzeleien, die zu den verschiedenen<br />

Aufgaben produziert wurden: wichtig war hier der ‚Schreibakt‘ selbst (die<br />

Geste); keine Ähnlichkeiten zu den Objekten<br />

2. Tendenz zu Pseudo-Buchstaben, aber keine Verbindung zu den Wörtern;<br />

nicht alle Buchstaben wurden abgeschrieben<br />

3. noch kein Unterschied zwischen Malen und Schreiben: nach Diktat werden<br />

häufig Piktogramme gezeichnet, das Abschreiben stellt noch eine Folge<br />

von Strichen dar<br />

4. wie 3., aber mehr Buchstaben im freien Schreiben und stärkere<br />

Orientierung an der eigenen Kopie bei der Wortwiederholung<br />

5. Unterschied zwischen Malen und Schreiben verstanden, fast ausschließlich<br />

Buchstaben werden verwendet, jedoch noch keine Lautorientierung<br />

6. wie 5., jedoch verweigerten die Kinder teilweise die Schreibung nach<br />

Diktat: dies interpretieren die Autoren als Einsicht in die Konvention und<br />

das System der Schrift; Erkenntnis: Ich weiß, dass ich nichts weiß<br />

7. erste rudimentäre Anwendung von Phonem-Graphem-Korrespondenzen<br />

Die Einteilung der Kinder in die sieben Kategorien korreliert mit ihrem Alter.<br />

Vergleichbare Ergebnisse bei: Ferreiro et al. 1979 (Spanisch); Pontecorvo &<br />

Zucchermagglio, 1988 (Italienisch); Tolchinsky et al. 1985, 1987 (Hebräisch),<br />

grundsätzlich auch Gombert & Fayol (Französisch).<br />

Gombert & Fayol (1992) Writing in preliterate Children<br />

Gombert & Fayol bringen den graphischen und den inhaltlichen Aspekt in einem<br />

Entwicklungsmodell zusammen.<br />

Repräsentationsmodell (die Eigenschaften des Stimulus sind in den Zeichen<br />

repräsentiert)<br />

Gilt etwa ab der Stufe 4/5 des vorigen Modells: Der Unterschied zwischen<br />

Malen und Schreiben wurde verstanden; es werden hauptsächlich Buchstaben<br />

produziert.<br />

• Objekte; die produzierte Zeichenfolge ist länger, je mehr Objekte in der<br />

diktierten Phrase vorkamen (unabhängig davon, wie viele Handlungen<br />

vorkommen)<br />

• Objekte und Handlungen; je mehr Objekte/Handlungen, desto länger die<br />

Zeichenfolge<br />

• phonologische Länge des Stimulus; Anpassung der Länge der Zeichenfolge<br />

an die phonologische Länge der diktierten Phrase<br />

• phonologische Länge und Art des Stimulus; zusätzlich gleiche Zeichen für<br />

gleiche Stimuli<br />

<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld


<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 3<br />

Es gibt also zwei verschiedene Ebenen der Entwicklung: 1. was wird produziert<br />

und 2. was repräsentiert das "Geschriebene".<br />

Methode<br />

48 Vorschulkinder (unterteilt in drei Altersgruppen) wurden gebeten, diktierte<br />

Wörter und Sätze erst zu 'schreiben', dann zu malen.<br />

1. Einzelwortpaare, bestehend aus einem kurzen und einem langen Nomen, bei<br />

denen das kürzere <strong>Teil</strong> des längeren ist (/Sa/ - /Sapo/ (Katze – Hut)). Hieran<br />

kann überprüft werden, ob<br />

a. sich Unterschiede der phonologische Länge in der Zeichenfolge<br />

niederschlagen<br />

b. gleiche Silben gleich verschriftet werden<br />

2. Sätze mit steigender Nomenanzahl<br />

a. "Pierre" (1)<br />

b. "Pierre et Jean" (2)<br />

c. "Pierre et Jean mangent un gateau" (3)<br />

d. "Pierre et Jean mangeant un gateau et une pomme" (4)<br />

hieran kann überprüft werden ob sich die Anzahl der Nomen in der<br />

Zeichenfolge niederschlägt<br />

3. Sätze mit steigender (Ad-)Verbanzahl<br />

a. "Une fille" (0)<br />

b. "Une fille chante" (1)<br />

c. "Une fille chante et danse" (2)<br />

d. "Une fille chante et danse très bien" (3)<br />

hieran kann überprüft werden ob sich die Anzahl der Verben (+Adverb) in<br />

der Zeichenfolge niederschlägt<br />

Ergebnisse<br />

Die sukzessiven Stadien der Schreibentwicklung wurden bestätigt und<br />

erweitert:<br />

1. Kritzeleien<br />

2. wellige Linien; häufigste Form der 3-4-jährigen<br />

3. Zeichnungen; Zeichnungen wurden bei nur zwei Kindern festgestellt;<br />

Zeichnen als Stufe wird abgelehnt, da es als Abweichung von der Instruktion<br />

gesehen wird.<br />

4. Kreise; Die Kreise bilden meiner Meinung nach nur eine Untergruppe der<br />

Pseudobuchstaben<br />

<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld


<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 4<br />

5. Pseudo-Buchstaben; nicht sehr häufig (4 bzw. 3 Kinder von 48)<br />

6. Buchstaben aus dem eigenen Vornamen; häufigste Form der 4-5-jährigen<br />

7. zusätzliche Buchstaben; häufigste Form der 5-6-jährigen, kommt bei<br />

jüngeren Kindern nicht vor<br />

8. Weigerung zu Schreiben; kommt fast nur bei älteren Kindern vor<br />

Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Entwicklungsstufe und dem<br />

Unterschied zwischen Schreibung und Zeichnung: Bis zur Entwicklungsstufe 4<br />

ergibt sich meistens kein Unterschied (bei 13 von 18 Kindern). Ab der Stufe 5<br />

unterscheiden sich beide Formen (bei 23 von 26 Kindern).<br />

Grundsätzlich ist die Fähigkeit Pseudo-Schrift zu produzieren meistens schon<br />

ab dem dritten Lebensjahr vorhanden.<br />

Repräsentationen des Geschriebenen<br />

Wie erwartet zeigten Kinder der Schreibstufen 1-3 stimulusunabhängige<br />

Ausführungen.<br />

• Jedoch waren Produktionen dieser Art auch bei Kindern höherer<br />

Schreibstufen noch präsent (immer mind. 25%).<br />

• Die Anzahl der Einheiten (Objekte, Handlungen) schlägt sich nur in den<br />

Produktionen der weit entwickelten Kinder nieder.<br />

• Phonologische Merkmale zeigten sich nur bei fünf von 48 Kindern.<br />

• Die untersuchten Kinder zeigten keine Unterschiede zwischen in den<br />

Stimuli vorkommenden Objekten und Handlungen.<br />

• Bei den Schreibungen gibt es kein 1:1-Matching, bei dem jedem<br />

Nomen/Verb eine Zeichengruppe entspricht<br />

• Es scheint eher einen Mechanismus zu geben, der besagt: Je mehr es zu<br />

beschreiben gibt, desto mehr schreiben die Kinder.<br />

Schließlich postulieren die Autoren eine neue dreiphasige Entwicklung:<br />

1. Ab dem dritten Lebensjahr versuchen Kinder erwachsenes Schreiben zu<br />

imitieren. Nach und nach kommen Merkmale wie Linearität, Rechtsläufigkeit<br />

und diskrete Einheiten hinzu.<br />

2. Weitere Anpassung an das Schreiben der Erwachsenen: Pseudobuchstaben,<br />

Menge der Zeichen wird an Dauer des Stimulus angepasst.<br />

3. Einsatz von Buchstaben, beginnend mit denen aus ihrem Vornamen;<br />

Niederschlag phonologischer Merkmale; evtl. Schreibverweigerung aufgrund<br />

der Erkenntnis eines noch nicht beherrschten Regelsystems.<br />

Kinder versuchen die Schrift der Erwachsenen zu imitieren und werden in ihren<br />

Versuchen immer besser. Sie müssen viele Eigenschaften der Schrift, die für<br />

Erwachsene selbstverständlich sind, erst erkennen. Das "Aufzeichnen von<br />

Sprache" trägt in einem hohen Maße dazu bei, dass das Kind sich mit den<br />

Eigenschaften von Schrift auseinandersetzt, den Unterschied zwischen Form<br />

und Inhalt erkennen lernt<br />

<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld


<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 5<br />

Dynamische Einheiten der Handschrift<br />

stetiger Wechsel zwischen Schriftzug (Schreibspur, die vom Aufsetzen bis zur<br />

folgenden Abhebung des Stiftes produziert wird) und Luftsprung (Pause<br />

zwischen zwei Schriftzügen)<br />

• Luftsprunghäufigkeit variiert zwischen Vpn sehr stark, hängt von deren<br />

Schrifttyp ab<br />

• demzufolge produzieren Erwachsene ca. 0,8 bis 2,9 Buchstaben pro<br />

Schriftzug (Mittel: ca. 1,5; stark variabel)<br />

Die Erfassung der Daten erfolgt mit einem Grafik-Tablett (Digitizer). Mit 100 Hz<br />

werden die X- und Y-Koordinaten sowie der Druck des Stiftes auf dem Papier<br />

gemessen, d.h. pro Sekunde werden die genannten Werte 100 mal<br />

aufgezeichnet.<br />

Auf das Tablett wird ein normales Blatt Papier geklebt. Der von einem<br />

normalen Kugelschreiber kaum unterscheidbare Stift enthält mehrere<br />

Magneten, deren Position von den unter der Tablettoberfläche verdrahteten<br />

Sensoren erfasst wird. So ergibt sich eine annähernd natürliche<br />

Schreibsituation.<br />

Im Idealfall hat die Geschwindigkeitskurve ein Geschwindigkeitsmaximum in<br />

der Mitte (ballistische Bewegung).<br />

<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld


<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 6<br />

(erwachsener Schreiber, geglättete Geschwindigkeitskurve, aus dem Wort<br />

) Die Daten werden in Auf- und Abstriche (die kleinsten motorischen<br />

Einheiten) zergliedert.<br />

(Kind, 5. Klasse, rechtschreibschwach, geglättete Geschwindigkeitskurve, aus<br />

dem Wort )<br />

Was ist ein Motor-Programm?<br />

Schreiben Sie bitte die Buchstaben: A, M, S, a, m, s auf ein Blatt Papier.<br />

• Nehmen Sie nun den Stift in die Faust und schreiben Sie die Buchstaben<br />

noch einmal.<br />

• Nehmen Sie nun den Stift in die schwächere Hand und schreiben Sie die<br />

<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld


<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 7<br />

Buchstaben noch einmal.<br />

Unterschiede zwischen mit der gleichen Hand produzierten Buchstabenformen<br />

ist geringer als im Vergleich gleicher Bedingungen zwischen verschiedenen<br />

Händen.<br />

Literatur<br />

De Goes, C., & Martlew, M. (1983). Young children's approach to literacy. In<br />

Martlew, Margaret, The Psychology of Written Language (217-236).<br />

England: John Wiley and Sons.<br />

Gombert, J., & Fayol, M. (1992). Writing in preliterate children. Learning and<br />

instruction, 2, 23-41.<br />

<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld

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