Orthographie - Guido Nottbusch
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<strong>Orthographie</strong> 1<br />
<strong>Orthographie</strong><br />
Systematik der <strong>Orthographie</strong> des Deutschen<br />
In diesem Kapitel soll die Entstehung der deutschen <strong>Orthographie</strong> zunächst historisch betrachtet<br />
werden, um hieraus die Systematik der <strong>Orthographie</strong> des Deutschen abzuleiten.<br />
Demotisierung durch Alphabetschriften<br />
• Mit der Einführung der Alphabetschriften erfolgte auch eine Demotisierung 1 der Schrift, d.h.<br />
Die geringe Anzahl von Schriftzeichen erhöhte die Lernbarkeit der Schrift und damit ihre<br />
Verbreitung (vgl. {Maas 1992 #62}: 4f.).<br />
• Diese Entwicklung darf aber nicht unabhängig von der zu verschriftenden Sprache gesehen<br />
werden.<br />
Die Demotisierung betreffend ist es aber nicht hinreichend ein leicht(er) lernbares Schriftsystem<br />
einzuführen:<br />
• Die Schrift bis ins späte Mittelalter wenigen Spezialisten vorbehalten und setzte sich erst<br />
nach und nach mit der Erfindung der Druckerpresse durch.<br />
• Das Beispiel China zeigt, dass ein Schriftsystem mit wenigen Zeichen kein notwendiges<br />
Kriterium für eine hohe Alphabetisierungsrate ist (2000: 90,9% 2 ).<br />
Osmose und Adaption<br />
• Sprachlichen Strukturen werden selten neu entwickelt, sondern werden vorgefunden.<br />
• Das Erlernen solcher Strukturen erfolgt im Hineinwachsen in die Kultur.<br />
• Der Kontakt zwischen den Kulturen macht deren Strukturen partiell durchlässig.<br />
Schriftliche Verbreitungsräume folgten weniger sprachlichen (typologischen) Verhältnissen als<br />
religiösen Systemen:<br />
• Christen: griechisches und lateinisches Schriftsystem<br />
• Muslime: arabisches Schriftsystem<br />
• Konfuzianismus: chinesisches Schriftsystem<br />
• Buddhismus: Devanagarı<br />
• Zunächst Fixieren und Erlesen von Texten in der vorgegebenen "heiligen" Sprache.<br />
• Adaptierung an die Randbedingungen der gesprochenen Sprache.<br />
• In Deutschland etwa seit dem 8. Jahrhundert.<br />
• Wechselseitige Beziehung: z.B. /ʃemiː/ /çemiː/ /kemiː/<br />
• "Die Reform der Schriftkultur ist älter als ihre orthographische Etablierung." (Maas, 2001)<br />
1 von gr. »dẽmos« = Volk, Gemeinde<br />
2 World Development Indicators (WDI) der Weltbank (http://publications.worldbank.org/WDI/):<br />
Alphabetisierungsrate aller Einwohner über 15 Jahren<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Paderborn
<strong>Orthographie</strong> 2<br />
Regeln und Regularitäten<br />
Terminologie<br />
• Graphie: Alle beobachtbaren Schreibungen. Die Analyse von Graphien (Graphematik) zeigt<br />
die darin liegenden Regularitäten.<br />
• Alle nicht-zufälligen Verteilungen einer beobachtbaren Erscheinung sind Regularitäten <br />
systematische Beobachtung!<br />
• <strong>Orthographie</strong> (Rechtschreibung) impliziert eine normative und willkürliche Bewertung von<br />
Graphien.<br />
• Regeln sind explizit festgestellt.<br />
• Regelsysteme können nach den folgenden Kritierien beurteilt werden:<br />
• Komplexität<br />
• Widerspruchsfreiheit<br />
• Interaktion mit anderen Regelsystemen<br />
• Die Kodifizierung sucht die Regularitäten der <strong>Orthographie</strong> festzustellen und stellt dazu<br />
Regeln auf.<br />
• Regeln (mit einem generellen Anspruch) und eine spezifischen Regelung der einzelnen<br />
Wortschreibung im Wörterverzeichnis führen zu einer "doppelten Kodifizierung".<br />
• Im Zweifelsfalle ist das Wörterverzeichnis ausschlaggebend.<br />
Entwicklung der deutschen <strong>Orthographie</strong><br />
• Bis zur frühen Neuzeit (ca. 16. Jhdt.) Entwicklung der aus der Praxis, hauptsächlich das<br />
Lateinische betreffend (z.B. Gutenberg-Bibel, 1455).<br />
• Im Barock (1600-1750) begann die (mehr oder minder erfolgreiche) Kodifizierung der Norm<br />
durch Sprachdidaktiker.<br />
• Das Urmodell der modernen Rechtschreibung liegt in dem Adelungschen Rechtschreibwerk<br />
(1788) vor, das in Preußen schon einen quasi-offiziellen Status hatte.<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Paderborn
<strong>Orthographie</strong> 3<br />
• Anfänge der deutschen Schreibpraxis im<br />
lateinischen Modell<br />
• Erste Systematisierungen der Graphien für das<br />
Deutsche, ohne gesellschaftliche Bedeutung<br />
• Vereinheitlichungen der Schreibpraxis innerhalb<br />
von Kanzleien, Scriptorien, aber nicht zwischen<br />
diesen<br />
• Anfänge des Buchdrucks; seit der Reformation<br />
Massendrucke für das deutschsprachige<br />
Publikum<br />
• Regionale orthographische Anleitungen für die<br />
Kanzleischreiber; erste <strong>Orthographie</strong>didaktiken<br />
• Stabilisierung der orthographischen Praxis bei<br />
den Druckern im nationalen Raum<br />
• Orthographische Reformdebatte / Regelwerke<br />
• Erste obrigkeitliche (landeseinheitliche)<br />
orthographische Regelungen<br />
• 1788 Adelung, Orthographische Anleitung<br />
• Mitte d. Jhd.: Regionale Schul- und<br />
Kanzleiorthographien<br />
• 1876 Erste Orthographische Konferenz<br />
(reformerdominiert)<br />
• 1901 Zweite Orthographische Konferenz<br />
(Kompromißregelung)<br />
• 1940-41 Radikales staatliches Reformprojekt -<br />
nicht verwirklicht<br />
• nach 1945 Neuregelung im internationalen<br />
Verbund angestrebt<br />
• 1955 KMK-Vereinbarung in der BRD zugunsten<br />
des DUDEN (-West)<br />
• 1993-1996 eine umfassende amtliche Regelung in<br />
Verbindung mit Reformvorschlägen in einer<br />
offiziellen Kommission vorbereitet.<br />
• 1996 Verabschiedung der reformierten amtlichen<br />
Regelung<br />
• 2006 Neuregelung durch den Rechtschreibrat<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Paderborn
<strong>Orthographie</strong> 4<br />
Systematik der <strong>Orthographie</strong> des Deutschen<br />
• Das deutsche Schriftsystem ist im Kern ein alphabetisches System. Dies bedeutet: Die<br />
einzelnen Schriftzeichen beziehen sich primär auf die Laute der Sprache.<br />
• Darin erschöpft sich das Schriftsystem allerdings nicht: Es bezieht sich systematisch auf<br />
auch weitere Aspekte der Sprache und dabei nicht nur auf solche der Lautstruktur.<br />
1. Phonologisches Prinzip<br />
1.1 Segmental<br />
• Verschriftung elementarer lautlicher Einheiten der Sprache: Phonem-<br />
Graphemkorrespondenzen.<br />
• Phoneme: kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten einer Sprache.<br />
• Grapheme: kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten des Schriftsystems (a, b, ch, d,<br />
e, ...sch).<br />
1.2 Suprasegmental: Silbisch<br />
• Verschriftung suprasegmentaler lautlicher Einheiten.<br />
• Betonte, unbetonte Silbe, Reduktionssilbe.<br />
• Offene, geschlossene Silbe, Silbengelenk.<br />
1.2.1 Schärfung<br />
• Geltungsbereich: betonte Silbe<br />
1.2.2 Dehnung<br />
• eingeschränkt; Geltungsbereich: betonte Silbe<br />
1.2.3 Markierung der Silbengrenze<br />
• Silbeninitiales h: , <br />
1.2.4 Worttrennung<br />
• , , <br />
2. Morphemisches Prinzip<br />
• Verschriftung nicht der Wortformen, sondern der Wortparadigmen<br />
• Konstantschreibung: D/S <br />
• Auslautverhärtung <br />
• Umlaute <br />
3. Syntaktisches Prinzip<br />
• Graphische Auszeichnung der syntaktischen Funktionen von Wörtern, Wortgruppen und<br />
Teilsätzen.<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Paderborn
<strong>Orthographie</strong> 5<br />
3.1 Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
• Unterscheidung zwischen Wort und Wortgruppe. Wörter werden durch Spatien<br />
voneinander getrennt:<br />
Wir wollen heute blaumachen. vs. Wir wollen das Auto blau machen.<br />
3.2 Groß-/ Kleinschreibung<br />
• Graphische Auszeichnung von Nomen durch satzinterne wortinitiale Großbuchstaben.<br />
Mein labiles Ich dreht mal wieder durch. vs. Mal wieder drehe ich durch.<br />
3.3 Graphische Trennung paralleler Konstituenten<br />
Das große, schöne Auto rast langsam um die Ecke.<br />
3.4 Graphische Trennung satzwertiger Konstituenten<br />
4. Pragmatisches Prinzip<br />
Das Haus, das einen Giebel hat, ist grün.<br />
• Graphische Kennzeichnung der kommunikativen Funktion von Sätzen<br />
Du kommst. - Du kommst? - Du kommst!<br />
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<strong>Orthographie</strong> 6<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Paderborn