Orthographieerwerb: kognitive Grundlagen - Guido Nottbusch
Orthographieerwerb: kognitive Grundlagen - Guido Nottbusch
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<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 1<br />
<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
Teil 13: Leseerwerb<br />
Lesen: Für Erwachsene so einfach – für Kinder so schwer!<br />
• Phonologische Bewusstheit<br />
• Vokale einfacher zu identifizieren als Konsonanten (Dauer,<br />
Kontextabhängigkeit)<br />
• Graphem-Phonem-Korrespondenzen<br />
• 1-n Beziehung<br />
Ein Kind, dass das Lesen lernt, lernt, dass das Schriftsystem die gesprochene<br />
Sprache systematisch abbildet.<br />
• Einerseits ist es für viele Kinder schwer, den Zusammenhang zwischen<br />
Graphemen und Phonemen ohne den expliziten Hinweis zu erkennen.<br />
• Andererseits zeichnen sich die erfolgreichen Leser genau dadurch aus,<br />
dass die den Zusammenhang selbst erschließen.<br />
Ausgangsfragen<br />
• Welche Voraussetzungen müssen für einen erfolgreichen Leseerwerb erfüllt<br />
sein?<br />
• Wie vollzieht sich der Prozess des Lesenlernens?<br />
• Wie sieht der Prozess beim kompetenten Leser aus?<br />
Voraussetzungen<br />
Gedächtnisfertigkeiten<br />
Allgemeine Intelligenz<br />
• IQ-Messungen korrelieren nur sehr schwach und unspezifisch mit den<br />
Lesefähigkeiten in den ersten beiden Schuljahren.<br />
• Der Anteil hoch intelligenter Kinder in der Gruppe der 'frühen' Leser ist<br />
zwar hoch, jedoch ist diese Gruppe insgesamt so heterogen, dass kein<br />
Zusammenhang angenommen werden kann.<br />
• Innerhalb der Gruppe der Kinder mit Leseschwierigkeiten ist der Anteil der<br />
überdurchschnittlich intelligenten Kinder relativ hoch.<br />
Spanne des verbalen Arbeitsgedächtnisses<br />
• Die Aufrechterhaltung des bisher erlesenen Teil des Wortes ist zentraler<br />
Bestandteil des Erlesens von Wörtern.<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld
<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 2<br />
Geschwindigkeit des Gedächtnisabrufs<br />
• starke Zusammenhänge zwischen dem Benennen von nicht-schriftlichen<br />
Stimuli und der Leseleistung<br />
Interpretationen:<br />
1. geringe Geschwindigkeit ist Folge eines nicht ausreichend ausgebildeten<br />
phonologischen Kodes (zentrales phonologisches Verarbeitungsdefizit),<br />
2. geringe Geschwindigkeit ist Ausdruck eines allgemeinen Defizits beim<br />
Zugriff auf Gedächtnisrepräsentationen<br />
Für 2. spricht, dass Maße der phonologischen Bewusstheit nicht mit der<br />
Abrufgeschwindigkeit korrelieren. Stattdessen korreliert schnelles Benennen<br />
mit dem Lesen von bekannten Wörtern, phonologische Bewusstheit mit dem<br />
Lesen von unbekannten Wörtern.<br />
Phonologische Bewusstheit<br />
Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne:<br />
• Aufgabe erfordert die Analyse lautlicher Aspekte der gesprochenen<br />
Sprache<br />
• Reimen, Silben segmentieren, Lautassoziationen, Vokale im Anlaut<br />
erkennen<br />
Phonologische Bewusstheit im engeren Sinne:<br />
• Aufgabe erfordert den bewussten Umgang mit Phonemen<br />
• Lautsegmentierung, Phonemisolierung, Phonemersetzung,<br />
Phonemsynthese.<br />
Zwei unterschiedliche Annahmen:<br />
• Phonologischen Bewusstheit ist die Voraussetzung für den<br />
Schriftspracherwerb<br />
• trifft zu auf die PB im weiteren Sinne<br />
• gilt vor allem zu Beginn des Schriftspracherwerbs<br />
• positive Effekt des Trainings auf Lesen und Rechtschreiben nur zu<br />
Beginn des Schriftspracherwerbs oder davor<br />
• Phonologischen Bewusstheit ist eine Folge des Schriftspracherwerbs<br />
• trifft zu auf die PB im engeren Sinne<br />
• kann nur im Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb vermittelt<br />
werden (Studien mit Analphabeten, Einfluss auf Dialekte,<br />
Langzeitstudien mit Erstklässlern, Studien mit nicht-alphabetischen<br />
Schriftsystemen)<br />
• Bedeutung nimmt im Verlauf des Schriftspracherwerb zu<br />
• isoliertes Training nach dem Ende des ersten Schuljahres bewirkt keine<br />
nachhaltigen Effekte.<br />
• Die Beziehung zwischen der phonologischen Bewusstheit und dem<br />
Schriftspracherwerb ist somit reziprok.<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld
<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 3<br />
weiterführende Literatur: Mannhaupt, G. (2001),<br />
zur Lektüre besonders empfohlen: Rayner, et al. 2001<br />
Modelle des Leseerwerbs/Schriftspracherwerbs<br />
Erwerbsmodell von Frith (1985)<br />
Integration von Lese- und Rechtschreibentwicklung<br />
• Eine reine Sequenz ist unwahrscheinlich. Verschiedene Stufen können sich<br />
überlappen und parallel entwickeln.<br />
• Die Stufen gehen nicht immer in der nächst höheren Stufe auf.<br />
• Die logographische Phase ist sicherlich nicht obligatorisch.<br />
• Bezug nur auf das Lesen und Schreiben einzelner Wörter. Höhere<br />
Lesestrategien (Wiederholen, Verfolgen und Überprüfen von semantischen<br />
und syntaktischen Zusammenhängen) werden nicht berücksichtigt.<br />
• Nur bedingt auf den deutschen Sprachraum übertragbar. Hier eher eine<br />
parallele Entwicklung.<br />
• Es wird nicht auf die grundlegenden Gedächtnisrepräsentationen<br />
eingegangen.<br />
• Die alphabetische und die orthographische Entwicklungsstufe können als<br />
gesichert gelten.<br />
• Für den Einstieg in die alphabetische Phase ist phonologische Bewusstheit<br />
eine Voraussetzung.<br />
Erwerbsmodell von Ehri (1991)<br />
Integrierte Entwicklung der Schriftsprachnutzung<br />
• "Verschmelzungstheorie"<br />
• Eine orthographische Repräsentation, auf die sowohl beim Lesen als auch<br />
beim Schreiben zugegriffen wird.<br />
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• Ebenen der Repräsentation:<br />
• Buchstabenwissen<br />
• Systemwissen (implizit): GPK, PGK, phonographische und<br />
morphographemische Regularitäten<br />
• wortspezifische Repräsentationen (Zeichenfolgen, visuelle<br />
Repräsentation, aber auch phonologische Repräsentation und sogar<br />
motorische Schreibroutinen)<br />
• Annahme eines einzigen orthographischen Lexikons<br />
Exkurs: Ein Lexikon oder getrennte Input- und Output-Lexika?<br />
Phonologische Lexika<br />
• Neurologische Fälle des "pure word deafness": Patienten mit völlig<br />
normalem Gehör können Wörter zwar lesen und auch artikulieren,<br />
verstehen aber das gesprochene Wort nicht.<br />
• Daneben gibt es vergleichbare Patienten, die selektive Schwierigkeiten bei<br />
der Verbindung des Gehörten mit der Bedeutung haben.<br />
• Alternative Interpretationen:<br />
• Es gibt voneinander unabhängige Repräsentationen für den Input und<br />
den Output.<br />
• Das Defizit betrifft einem einzigen Lexikon vorgeschaltete Operationen,<br />
z.B. Phonemunterscheidung.<br />
• Also entweder getrennte Lexika oder getrennte Zugriffsprozeduren.<br />
Orthographische Lexika<br />
• Analog zu den oben beschriebenen Fällen gibt es Patienten, die eine<br />
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<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 5<br />
• selektive Störung beim Lesen von Wörtern bei gleichzeitig intakten<br />
Schreibfähigkeiten,<br />
• selektive Störung beim Schreiben von Wörtern bei gleichzeitig intakten<br />
Lesefähigkeiten (gemeinsam: doppelte Dissoziation)<br />
• Es gibt also mindestens unabhängige Prozeduren für den Lesezugriff und<br />
den Schreibzugriff. Im Modell werden daher funktional unterschiedliche<br />
Input- und Output-Lexika aufgetragen.<br />
Integrierte Entwicklung der Schriftsprachnutzung (Ehri)<br />
• Verarbeitungseinheit auch im Stadium der Automatisation eine zerlegbare<br />
Einheit, statt eine visuell-lexikalische Einheit.<br />
• Ehri unterscheidet vier Lesestrategien:<br />
• Erlesen nach Graphem-Phonem-Korrespondenzen<br />
• Lesen durch Analogie<br />
• Lesen durch Vorhersage<br />
• Sichtwortlesen<br />
1. Präalphabetische Phase: Lesen erfolgt über visuelle Hinweise. Grundlage<br />
ist paarassoziatives Lernen.<br />
2. teilweise alphabetisches Lesen: Leseanfänger erinnern sich an Teile oder<br />
Buchstaben und ordnen diesen aber Phoneme und Laute zu.<br />
3. vollständig alphabetisches Lesen: Es werden vollständige Verbindungen<br />
zwischen Schrift und Aussprache ausgebildet und die orthographischen<br />
Informationen verschmelzen mit den anderen im Gedächtnis.<br />
4. konsolidiert alphabetisches Lesen: Es werden größere als<br />
Buchstabeneinheiten zum Lesen genutzt.<br />
Vgl. Mannhaupt (2001: 71)<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld
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Erwerbsmodell von Scheerer-Neumann (1998)<br />
Übertragung der Stufenmodelle auf den Rechtschreiberwerb des Deutschen<br />
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<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 7<br />
• Wissensquellen<br />
• Wissen über PGK, orthographische und morphologische Regularitäten<br />
• gesprochene Sprache<br />
• Speicherung im mentalen Lexikon<br />
Erwerbsmodell von LaBerge & Samuels (1974)<br />
• Konnektionistischer Ansatz: Jede Verbindung, die ein Leser zwischen<br />
Zeichen und Lauten oder einer Bedeutung herstellt, schlägt sich auf deren<br />
Repräsentation nieder.<br />
• D.h.: Jeder Leseversuch ist gleichzeitig ein Leselernversuch.<br />
• Schrittweise Anpassung:<br />
1 Ausbildung der Verbindungen zwischen <strong>kognitive</strong>n Systemen (visuelles,<br />
phonologisches und semantisches System).<br />
2 Mit jedem weiteren Auftreten des Graphems und der Verbindung mit<br />
einem Phonem wird die direkte Verbindung gestärkt.<br />
3 Verbindung ist korrekt ausgebildet, muss aber noch bewusst hergestellt<br />
werden.<br />
4 Verbindung wird schrittweise automatisiert.<br />
5 Die Verbindung kann zur Bildung von zusammengesetzten Elementen<br />
höherer Ordnung genutzt werden.<br />
• Die beschriebenen Verbindungen werden in bereits bestehende<br />
Vernetzungen integriert (grammatisches Wissen, Weltwissen).<br />
Merkmale des Erwerbs<br />
• Statt einzelner Stufen des Erwerbs stellen neuere Arbeiten (Share, 1999;<br />
Perfetti, 1992) den Erwerb individueller Wörter in der Vordergrund.<br />
• Vertraute (hochfrequente) Wörter werden anders gelesen als neue Wörter.<br />
• Unvertraute Wörter werden phonologisch rekodiert und tragen somit zur<br />
Selbstorganisation des Lexikons bei.<br />
• trivial, aber völlig richtig: "Lesen lernt man durch Lesen!"<br />
• Erhöhung der Zahl der automatisch abrufbaren Wörter,<br />
• Festigung der Verbindungen zwischen phonologischen Formen und den<br />
jeweiligen orthographischen Formen,<br />
• Automatisierung ist eine Eigenschaft spezifischer Wörter und nicht des<br />
Lesens allgemein oder des Lesers.<br />
• Lesefähigkeiten am Ende des ersten Schuljahres sind ein guter Prädiktor<br />
für das Leseverhalten in der elften Klasse.<br />
Self-teaching hypothesis (Share, 1999)<br />
• Schüler der zweiten Klasse speichern die Schreibung von Pseudowörter<br />
nach vier- bis sechsmaligem lautem Lesen, so dass sie die gleichen Wörter<br />
drei Tage später korrekt aus verschiedenen homophonen Schreibungen<br />
auswählen können.<br />
• Der Effekt ist schwächer, wenn die Wörter nur gelesen, aber nicht laut<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld
<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 8<br />
gesprochen werden.<br />
• Versuche unter der Bedingung rein visueller Wahrnehmung (sinnlose<br />
Zeichenkombinationen) führten nicht zu vergleichbaren Ergebnissen.<br />
• "A cardinal assumption about self-teaching is that the ability to derive the<br />
pronunciation of a novel printed word independently on the basis of<br />
sublexical correspondences between orthography and phonology<br />
constitutes the only effective means of acquiring the orthographic<br />
knowledge on which skilled word recognition depends." (Share, 1999: 124)<br />
Literatur<br />
Ehri, L.C. (1991). Learning to read and spell words. In L. Rieben & C.A. Perfetti<br />
(eds.), Learning to read. Basic research and its implication (pp.57-73).<br />
Hillsdale, N.J.: Erlbaum.<br />
Frith, U. (1985). Beneath the surface of developmental dyslexia. In K.E.<br />
Patterson, J.C. Marshall & M. Coltheart (eds.), Surface Dyslexia (pp. 300-<br />
330). London: Erlbaum.<br />
LaBerge, D. & Samuels, S.J. (1974). Towards a theory of automatic<br />
information processing in reading. Cognitive Psychology, 6: 293-323.<br />
Mannhaupt, G. (2001). Lernvoraussetzungen im Schriftspracherwerb. Zur<br />
Entwicklung der Schriftsprache im Vor- und Grundschulalter. Kölner<br />
Studien Verlag.<br />
Perfetti, C. (1992). The representation problem in reading acquisition. In P.B.<br />
Gough, L.C.Ehri, & R. Treiman (eds.), Reading acquisition (pp. 145-174).<br />
Hilldale, NJ: Erlbaum.<br />
Rayner, K., Foorman, B.R., Perfetti, C.A., Pesetzky, D. & Seidenberg, M.S.<br />
(2001). How Psychological Science informs the Teaching of Reading.<br />
Psychological Science in the Public Interest, 2(2), 31-74<br />
Scheerer-Neumann, G. (1998). Schriftspracherwerb: "The State of the Art" aus<br />
psychologischer Sicht. In Huber, Ludwika; Kegel, Gerd; Speck-Hamdan,<br />
Angelika, Einblicke in den Schriftspracherwerb (31-46). Braunschweig:<br />
Westermann.<br />
Share, D. (1999). Phonological Recoding and Orthographic Learning: A Direct<br />
Test of the Self-Teaching Hypothesis. Journal of Experimental Child<br />
Psychology, 72: 95-129.<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld