RMV Mobil Sommer 2013 - traffiQ
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Düsenflieger durch die Häuserschluchten. Doch das war<br />
viele Jahre her, und nun waren die Treppen vergittert und<br />
verriegelt, die Türen verschlossen und mit Brettern versperrt.<br />
Die einzigen Lebewesen, die noch durch die grauen<br />
Gänge irrten, waren die Ratten.<br />
Und, allem Anschein nach, der Fremde. Fremde waren<br />
gefährlich, da war die Garde deutlich. Aufrührerisch und<br />
gefährlich, sagten sie, und manchmal, wenn er den Soldaten<br />
auf den verlassenen Straßen nicht ausweichen konnte,<br />
stellten sie ihm Fragen: Wie heißt du? Wo kommst du her?<br />
Ist dir schon einmal ein Fremder begegnet?<br />
Bisher hatte Loran immer guten Gewissens verneint, aber<br />
es bestand kein Zweifel daran, dass dieser Mann ein Fremder<br />
war. Seine Kleidung war bunt und eigenartig, sein Bauch<br />
zu rund, seine Wangen zu voll. Niemand, der sich mit den<br />
wöchentlichen Rationen der Garde durchschlagen musste,<br />
hatte so pralle Hüften.<br />
Vielleicht war er jemand Wichtiges, wo er her kam. Loran<br />
konnte es sich vorstellen. Nur gefährlich – nein, so sah er<br />
nicht aus. „Hey,“ sagte der Fremde. Er hakte seine Finger<br />
in das Gitter und rüttelte daran – so laut, dass Loran meinte,<br />
die Garde schon um die nächste Ecke stampfen zu hören.<br />
„Du hast nicht zufällig einen Schlüssel oder so?“<br />
Loran trat einen Schritt zurück. Vielleicht sah der Fremde<br />
nicht gefährlich aus, aber Loran konnte es kaum riskieren.<br />
Er hatte eine Mission zu erfüllen, so hoffnungslos sie auch<br />
war. Denn Sanna hatte Samen aufgetan, kleine Tütchen,<br />
die beim Schütteln prasselten wie der saure Regen auf den<br />
Wellblechdächern. Und trotz ihrer Freude waren alle Versuche,<br />
die Pflanzen zum Leben zu erwecken, kläglich gescheitert.<br />
Cerr hatte bereits vorgeschlagen, einfach die Samen zu<br />
essen, auch wenn das das Todesurteil ihrer Visionen wäre.<br />
Doch solange sie für ihre Nahrungsmittel auf die Garde<br />
angewiesen waren, waren sie auch an die Stadt gebunden.<br />
Waren sie an deren Regeln gebunden. Und das konnten sie<br />
alle nicht mehr ertragen.<br />
Und so kehrte er sich entschieden von dem Fremden ab<br />
und der kleinen Pflanze wieder zu. Warum wuchs sie, um<br />
alles in der Welt, hier? Was hatte diese Pflanze bewegen<br />
können, mitten im Asphalt ihre Wurzeln zu schlagen, während<br />
in den Blumenbeeten in Lorans heruntergekommener<br />
Wohnung nur leblose Erde auf ihn wartete?<br />
„Echt jetzt?“, sagte der Fremde hinter ihm. Der Gitterzaun<br />
rasselte – so, als habe jemand sich dagegen fallen lassen.<br />
„Das wird ja immer besser hier. Erst die letzte S-Bahn verpasst,<br />
und dann auf dem Weg nach draußen irgendwie verirrt,<br />
und jetzt weiß ich zwar nicht, wo ich bin, aber das hier<br />
ist garantiert nicht die Hauptwache. Und ich habe mir noch<br />
gedacht, Mann, Olli, ob das so `ne gute Idee ist. Ich hätte<br />
ja auch bei meinem Kumpel auf der Couch pennen können,<br />
aber nein, ich musste ja unbedingt noch nach Hause.“<br />
Der Zaun rasselte erneut.<br />
„Und wenn ich endlich mal<br />
jemanden finde, ist dem ein<br />
mickriger Löwenzahn wichtiger<br />
als das hier.“<br />
Als Loran einen raschen Blick<br />
über seine Schulter warf, hatte<br />
der Fremde beide Hände in<br />
den Zaun gehakt, und rüttelte<br />
erneut, energisch, daran.<br />
Diesmal war es Loran egal.<br />
„Du kennst dich mit Pflanzen<br />
aus?“, fragte er, mit einem<br />
vorsichtigen Blick die Straße<br />
hinauf.<br />
Der Fremde schüttelte den Kopf. „Kenne ich mich mit Pflanzen<br />
aus? Mensch, Junge. Hab‘ ich Bio studiert oder nicht?“<br />
Als Loran ihn bloß anblinzelte ansah, stahl sich ein Lächeln<br />
auf sein Gesicht. „Schon gut,“ sagte er. „Ja, ich kenne mich<br />
mit Pflanzen aus.“<br />
Loran kam ein paar Schritte näher. Einen Schlüssel hatte er<br />
nicht, aber mit dem rostigen Messer, dass er sorgfältig vor<br />
der Garde versteckt hielt, konnte er das zerfressene Schloss<br />
aufhebeln. Das Gitter schob er beiseite, aber das Messer<br />
hielt er weiterhin in der Hand, und der Fremde hielt sich<br />
entschieden davon fern.<br />
„Danke,“ sagte er, deutlich leiser als zuvor. Er stockte einen<br />
Moment. „Du kannst mir nicht zufällig sagen, wo wir sind?“<br />
„In der Stadt,“ sagte Loran.<br />
Preisübergabe<br />
Die glücklichen Gewinnerinnen:<br />
Alexa Pukall (rechts) und<br />
Sarah Friedrich<br />
Der Fremde verzog das Gesicht. „Natürlich. Da hätte ich<br />
auch selbst drauf kommen können.“<br />
Loran stimmte dem insgeheim zu. Aber sie hatten schon<br />
genug getrödelt. Die Garde war nie fern, und Loran<br />
konnte nicht riskieren, dass sie den Fremden in die Finger<br />
bekamen. Es wäre schon schlimm genug, wenn sie misstrauisch<br />
wurden und genauere Nachforschungen über Loran<br />
und seine Freunde anstellten – aber nun, da der Fremde wie<br />
ein himmelsgesandter Retter in seinem Leben erschienen<br />
war, weigerte sich Loran, ihn wieder aufzugeben.<br />
„Komm mit,“ sagte er, und fasste den Fremden am Arm. Zufall,<br />
Schicksal, wen kümmerte das schon? Wenn der Fremde<br />
ihnen mit den Pflanzen helfen konnte, dann würden sie<br />
schon bald nicht mehr auf die Garde angewiesen sein, und<br />
dann hielt sie nichts mehr in dieser gottverlassenen Stadt.<br />
Vielleicht war dieser Fremde die Antwort auf Lorans Fragen.<br />
Vielleicht war noch nicht alles zu spät.<br />
<strong>RMV</strong>mobil 9