absolventen - Akademisches Gymnasium
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Seite 4<br />
ABSOLVENTEN<br />
mit dem fortgeschrittenen menschlichen Alter gibt.<br />
Augenscheinlich gemacht wird das durch neue Filme,<br />
in denen alte Menschen ihr wechselseitiges erotisches<br />
Erbarmen erkennen lassen. Wie schwer derlei nicht nur<br />
filmisch sondern auch sprachlich darzustellen ist, merkt<br />
man gerade an den Größten dieses Metiers, die mehr<br />
durch Andeutung und Aussparung gestalten als durch<br />
platten Naturalismus. Wenn , bei glücklichen oder tragischen<br />
Altersbegegnungen, die zeiträumliche Tiefe der<br />
Erinnerung aufleuchtet und selbst noch den allerletzten<br />
Flucht- und Schutzraum des höchsten Alters erhellt,<br />
dann werden wohl dadurch auch äußerste Enthüllungen<br />
und Entblößungen geheiligt.<br />
Da aber in der aktuellen zeitgenössischen Literatur<br />
und bildenden Kunst so ziemlich alle Positionen menschlicher<br />
Verirrung und Perversität bereits angesprochen<br />
wurden, hat auch die allgemeine Freiheit ihren höchsten<br />
Grad erlangt, Regeln selbstherrlich aufzustellen und sofort<br />
wieder zu zerbrechen.<br />
Es bleibt der professionellen Kritik ein Rest von<br />
Ahnungslosigkeit erhalten, wie man denn heute, in Zeiten<br />
absolutistischer Natur- und vor allem Hirn-Wissenschaft,<br />
so veralteten Restphänomenen wie Metaphysik,<br />
Religion, Spiritualität, überhaupt dem Unterbewusstsein<br />
in Phantasie und Mythos zu begegnen habe. Dabei<br />
löst selbstverständlich an erster Stelle die wertfreie<br />
und beliebige Zurschaustellung der Sexualität in allen<br />
nur denkbaren Spielarten fallweise Widerwillen und<br />
Missbehagen aus, weil darüber der Sinn für das innere<br />
Gleichgewicht der Bedeutungen, die in einem Text wohnen<br />
, mitunter empfindlich gestört wird. Als Erreger von<br />
Angst, Verwunderung, Obsession und Überraschung<br />
findet sich so die kontinuierliche Atomisierung des Geschlechtlichen<br />
durch Zerreden und Zerschreiben. Dabei<br />
kommt , höchst werbe- und verkaufswirksam, das<br />
Waschzettelgewerbe für neu erschienene Bücher, Bestseller<br />
insgesamt, in den Regalfluchten der Supermärkte<br />
zur Geltung. Die Moderationen und Besprechungen dieser<br />
zumeist in aktuellen Lizenzübersetzungen angelieferten<br />
Massenauflagen erhalten im Fließbandverfahren<br />
ihre platt nacherzählten Besprechungen mit Inseratwirkung<br />
für die verkaufenden Verlage. Das österreichische,<br />
durchwegs subventionsabhängige Kleinverlagswesen<br />
darf sich glücklich schätzen, wenn es, selten genug,<br />
im dann auch noch öffentlich geförderten Medienpool<br />
wahrgenommen wird.<br />
Die Literaturkritik kann ihren jeweils von Einzelpersönlichkeiten<br />
ausgehenden ästhetischen Standpunkt nicht<br />
für allgemeinverbindlich erklären. Sie muss aber sehr<br />
wohl Stellung beziehen, wenn es um die Darstellung von<br />
Rechts- und Moralverletzung, überhaupt von Tabubrüchen<br />
jeglicher Art geht. Sie hat dann die Wahl, entweder<br />
völlig wertfrei im Immoralischen, in der Freiheit von jeglichem<br />
Zwang und jeder Einengung zu verbleiben oder<br />
eindeutig zu bekennen, dass sie nach allgemeinverbindlichen<br />
sittlichen Regeln, weit über das rein Textliche am<br />
Kunstwerk hinaus, dessen Ganzheitlichkeit im gesellschaftlichen<br />
Konnex analysiert.<br />
Meine These lautet : Der Rezensent hat auch ein<br />
Gewissen .Er hat, im Sinne Kants, Goethes und Schillers,<br />
Moralist zu sein. Wohl ihm, wenn er Kunstwerke findet,<br />
die bei allen Verletzungen, die sie zufügen, auch bei aller<br />
Abgründigkeit des Existenziellen, der sie nicht aus dem<br />
Weg gehen wollen, diese unsichtbare, tragende Struktur<br />
nachweisen können, die dem Werk gleichsam Flügel verleiht,<br />
um über den Zeitgeist hinweg in die Zeitlosigkeit<br />
des Zukünftigen vorzudringen.<br />
Eine gänzlich wertfreie, nur auf die Absolutsetzung<br />
von Sprachkörper, Komposition und Stilistik beschränkte<br />
Literatur, mit ihr die auf sie eingeschworene Kritik,<br />
relativiert und richtet sich selbst Ebenso ist die rein<br />
voyeuristische Wiedergabe von zeitgeschichtlichen Absonderlichkeiten<br />
der Gesellschaft fragwürdig. Sie bleibt<br />
ohne Haltung und Stellungnahme des Kritikers bloßer<br />
Befindlichkeitsreport, nach Doderer „Privatjournalismus“<br />
So ergibt sich zuletzt ein mit der europäischen<br />
Spätantike vergleichbares Bild der Unentschiedenheit<br />
und Beliebigkeit, inmitten einer Unzahl von damals existierenden<br />
Kulten, Mysterien und Philosophenschulen;<br />
daraus entspringend aber eine alles relativierende Freizügigkeit<br />
der Bräuche und Sitten, somit auch der abhanden<br />
gekommene Beurteilungsmaßstab einer allgemeinverbindlichen<br />
Ästhetik.<br />
Die Einheit in der Vielheit, die Vergleichbarkeit und, konträr<br />
dazu auch, eine für sich stehende Unvereinbarkeit<br />
von künstlerischen Stilen und Ästhetiken konnte nicht<br />
mehr einheitlich argumentiert und dargestellt werden.<br />
Paradoxerweise fand gerade die zerklüftete Kunst<br />
der Völkerwanderungszeit Jahrhunderte später zu einer<br />
völkerverbindenden neuen europäischen Hochblüte, die<br />
sich als tragend für das gesamte christliche Mittelalter<br />
erwies.<br />
Das Sprachkunstwerk liegt wie ein bewusstloser Körper<br />
auf dem Operationstisch. Aber anzutreten hat dort nicht<br />
der zerlegende, zerteilende Sezierer, sondern der Arzt,<br />
der analysierend und geistig zusammenfügend dem<br />
Körper zu einem zweiten, neuen Leben verhilft. Der Kritiker<br />
steht in der Mittlerrolle eines Geburtshelfers oder<br />
Maieutikers, wie auch der alte, für immer junge Sokrates<br />
bei allem Unverständnis und aller Empörung, die er<br />
bei seiner Zeitgenossenschaft hervorrief, seine Rolle als<br />
Philosoph und Verständlichmacher des Sittlichen und<br />
des Schönen verstanden haben mag.<br />
Peter Kraft - Linz, Jänner/Februar 2013<br />
Peter Kraft, geboren 1935 in Wien, Matura 1954 am heutigen<br />
Akademischen <strong>Gymnasium</strong>, Dr.phil ( Germanistik, Romanistik),<br />
seit 1958 journalistisch für Tageszeitungen in Österreich tätig,<br />
Kulturredakteur der OÖN von 1963 bis 1972, im Presseamt der<br />
Stadt Linz von 1973 bis 1995, zuletzt als Abteilungsleiter mit<br />
speziellen Aufgaben für den Kulturbereich. Weiterhin freier<br />
Publizist, Autor und Herausgeber .Langjähriger journalistischer<br />
Mitarbeiter der „Salzburger Nachrichten“ und der oö.Landeskultur.<br />
Buchveröffentlichungen zuletzt im Verlag „Bibliothek der Provinz“<br />
( Leitung: Richard Pils )