Zeit - Katholische Akademie Schwerte
Zeit - Katholische Akademie Schwerte
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In diesen Tagen ko men führende Politiker<br />
von CDU, CSU und SPD zusa men, um ihr<br />
31. Oktober 2013<br />
Von Hans-Joachim Neubauer<br />
men forderte, auf die Symbole des alten in Köln geboren evangelische Fotograf brisant und aktue l. Deshalb öffnen wir kotheken und Halbwelt-Clubs besucht.<br />
Rom: Glanz und Reichtum, Besitz und genauso in der politischen Sphäre wie in diese Ausgabe von Christ & Welt für Immer wieder stieß er auf ähnliche Muster,<br />
auf Gesten und Gesichter der Macht,<br />
om ist groß, und Cäsar ist Status. Aber die Spitze der katholischen den Welten des rheinischen Katholizismus.<br />
Soeben ist sei neues Buch „Wahl<br />
auf religiös anmutende Ausdrucksfor-<br />
Bernd Arnolds faszinierenden Fotoe say.<br />
Rom. Sichtbar inszenieren Hierarchie wi l ei neues Rom. Die Gläubigen<br />
im Bistum auch.<br />
Kampf Ritual“ in der Edition Panorama<br />
men, auf Rituale, die eine Gruppe zu-<br />
Weltreiche ihren Rang un den<br />
ihrer Führer. Macht braucht Rituale,<br />
um zu wirken. Sonst wäre sie bloß len der Macht un der Macht der Rituale <strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong> seine Au ste lung<br />
ren. Macht ist „auf Handeln gerichtetes<br />
Seit 1987 ist Bernd Arnol den Ritua-<br />
erschienen. Nun zeigt die katholische<br />
sammenhalten oder Hierarchien markie-<br />
rohe Gewalt. Das wi sen auch Diktatoren:<br />
Sie nutzen Rituale, um ihrer Wi lkür<br />
auf der Spur. Dabei bewegt sich der 1961 „Macht und Ritual“. Arnolds Thema ist<br />
Handeln“, sagt Michel Foucault.<br />
den Anschein von Legitimität zu geben.<br />
gelenk geht über in die ausgestreckte<br />
Ritual ist Ordnung.<br />
Hand. Vier Finger sind zu sehen, am<br />
Ringfinger prangt der Bischofsring. Arnold<br />
hat Joachim Kardinal Meisner 1989<br />
fotografiert, bei de sen Einführung ins<br />
Erzbistum Köln. Im Bild vereinen sich die<br />
Insignien kirchlicher Macht mit dem<br />
weltlichen Statu symbol des Wagens zu<br />
einer Meditation über Abstand und Nähe:<br />
Seht, hier kommt der neue Chef, seht seinen<br />
Ring! Kü st ihn und unterwerft euch!<br />
„Rituale scha fen auch Distanz“, sagt Arnold,<br />
„sie bauen eine Hierarchie auf.“<br />
Regierungsprogramm zu verhandeln. Es<br />
geht, wie immer, um Macht. Doch diese<br />
Wochen zwischen Wahl und Regierungsbildung<br />
bilden eine Zäsur im politischen<br />
nimmt er seinen Aufnahmen etwas von<br />
Leben der Demokratie. Minister und<br />
ne hä ten.<br />
dem augenscheinlich Normalen. Schon<br />
Kanzler sind nur „geschäftsführend“, Verhandler<br />
sind noch Funktionäre ihrer Parfremdet:<br />
„Farbe ist ein Stück Realität“,<br />
die Entscheidung für Schwarz-Weiß vertei<br />
und zugleich schon potenzie le Minister.<br />
Alles ist im Flu s, und in der Pre se<br />
dern. Indem ich bestimmte Anschni te<br />
sagt Arnold, „das entziehe ich den Bil-<br />
blühen die Spekulationen: Wer steht wofür?<br />
Wer setzt sich durch? Wer wird was<br />
schne len Erklärungsversuch des Betrach-<br />
ja kaum nach, ein armer Wicht ist das.<br />
setze, entziehe ich die Bilder dem ersten<br />
sein? Erst Rituale beglaubigen das Ergebnis:<br />
Die Kanzlerin wird ihren Amtseid<br />
die Bischöfe am Altar zu Monumenten<br />
ters.“ Das Bild wird grafisch. So werden<br />
leisten, die Ministeri nen und Minister<br />
des Rituals, so mutiert P er Steinbrück<br />
werden ihre Urkunden erhalten. Danach<br />
zum Denkmal seines Strebens nach<br />
werden sie andere sein, und erst da n<br />
Macht. Und so zeigt die Hand im Autofenster<br />
die Macht un das Geheimnis des<br />
kö nen sie ihre Macht spürbar und sichtbar<br />
einsetzen.<br />
Kardinals. Rom ist groß, Rom ist heilig;<br />
langsam ro lt der Wagen weiter.<br />
<strong>Katholische</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong>,<br />
3. November 2013 bis 12. Januar 2014.<br />
ww.akademie-schwerte.de<br />
und Johann Michael Möller im Wechsel.<br />
Bernd Arnold wi l nicht einfach die Wirklichkeit<br />
zeigen, wie sie sich darste lt. Gezielt<br />
Bernd Arnold: „Macht und Ritual“.<br />
Unterwerft euch!<br />
W O C H E N Z E I T U N G F Ü R G L A U B E , G E I S T , G E S E L S C H A F T<br />
RITUALE DER MACHT, MACHT DER RITUALE Religion und Politik gleichen einander. Der Fotograf Bernd Arnold sucht nach religiösen Spuren in der<br />
Politik und nach Zeichen weltlicher Macht in der Religion. Christ & Welt druckt Arnolds Fotoessay zu einem brisanten Thema<br />
R<br />
Signal: Mit Kreuz, Stab und Mitra verneigen sich Bischöfe im Kölner Dom. Im Altarkuss inszenieren sie Ehrerbietung al sichtbares Zeichen.<br />
Rom ist heilig, un der Papst ist der<br />
Heilige Vater. Religion braucht Rituale.<br />
In ihnen versichert sie sich ihrer Tradition,<br />
in ihnen inszeniert sie ihre Botschaft<br />
als gemeinschaftlich erlebbares Zeichen.<br />
Ohne den Ritus wäre Religion bloße Vernunft<br />
oder reine Unvernunft. Ritual ist<br />
Geheimnis.<br />
In Limburg zeigt sich, wi eng Macht<br />
und Religion, Politik und Ritual zusammenhängen.<br />
Der Limburger Bischof hat<br />
die Zeichen aus dem Vatikan schlicht<br />
nicht verstanden. Beha rlich setzte er,<br />
währen der Papst eine Kirche der Ar-<br />
B R I E F A N D I E B U N D E S K A N Z L E R I N<br />
B E T R . : M O B I L T E L E F O N<br />
Liebe Angela Merkel,<br />
„Das Visue le ähnelt sich“, sagt Arnold.<br />
Mit seiner Kamera entdeckt er Verwandtschaften<br />
zwischen unterschiedlichen<br />
Welten: Außer kirchlichen und politischen<br />
Orten hat er Fernsehstudios, Dis-<br />
dem Bischof von Limburg wird es ganz recht sein, dass die Medien ein neues oder den Roten Halbmond zu unterstützen. Die He ren Opperma n, Ströbele<br />
Objekt für eine Empörungswe le gefunden haben: den amerikanischen Präsidenten,<br />
de sen Geheimdienst nicht nur E-Mails und Telefonate te rorgeneigter um für die Nachrichtendienste sitzen, so lten die Dienste also nicht für die Erfül-<br />
und Gro se-Brömer, die für ihre Parteien im parlamentarischen Kontrollgremi-<br />
Bundesbürger abgehört hat, sondern auch Ihr persönliches Handy. Das ist unfein,<br />
klar, wer wi l schon abgehört werden. Aber wie naiv mu s man eigentlich lich zu erfü len. Wir wo len a les wi sen, auch aus den Mobiltelefonen von<br />
lung ihres Auftrages zeihen, sondern sie dazu geradezu au fordern, ihn bestmög-<br />
sein, um noch an das Recht der informatione len Selbstbestimmung zu glauben? He rn Obama und He rn Putin. Die Welt ist ebe nicht so gut, wie wir sie ger-<br />
Selbst wir in Deutschland haben es an a len Ecken und Enden untergraben, unsere<br />
Dienste und St atsanwaltschaften hören ja selbst Handys ab und speichern Es wäre also vernünftig, sich abzuregen und unsere technischen Abhörmöglichkeiten<br />
zu verfeinern. We n nämlich a le a les voneinander wissen, sind wir<br />
Verbindungen, überwachen E-Mails, schnü feln in Ban konten, bauen Überwachungskameras<br />
auf, die Behörden verkaufen unsere privaten Daten weltweit. dem Frieden vermutlich am nächsten. So gesehen kocht auch He r Obama nur<br />
Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung kommt mit seinen Protesten mit dem gewöhnlichen Wa ser gewöhnlicher Regierungstechniken. Das wird jene<br />
(insbesondere in der deutschen Journai le) en täuschen, die ihn seinerzeit<br />
Wenn Sie He rn Putin oder dem chinesischen St atschef begegnen, werden zum politischen Messias ausriefen, der nunmehr die ganze Welt moralisch reinigen<br />
werde. Das hat er weder je gewo lt, noch hä t er es geschafft.<br />
Sie die beiden j auch nicht für Reinkarnationen des heiligen Kasimir halten, der<br />
für seine ungewöhnliche Si tenreinheit in die Kirchengeschicht einging. Nein, Zwar hat Wi liam Gladston einst gesagt: „Was moralisch falsch ist, ka n<br />
Geheimdienste so len spionieren und alle Informationen sammeln, die man im nicht politisch richtig sein.“ Für eine freiheitliche Demokratie gilt das Umgekehrte<br />
aber auch: Was politisch richtig ist, kann moralisch nicht ganz falsch sein.<br />
Umgang mit den guten und bösen Mächten der Welt brauchen ka n. Und es<br />
würde mich zutiefst beunruhigen, wenn diese Kunst, die im politischen Weltringen<br />
ja eine große Tradition hat, nur den Ru sen und Chinesen beka nt wäre,<br />
unserem amerikanischen Freund aber nicht.<br />
Und beunruhigen würd es mich auch, we n wir Mi teleuropäer – also die<br />
Deutschen, Franzosen, Briten – hier nur auf den Zuschaue rängen säßen. Nein,<br />
wir sind mi tenmang dabei, un das ist wirklich gut so. In unseren Botschaften<br />
rund um die Welt sitzen Vertreter des BND ja nicht, um Kindergärten zu bauen<br />
Michael Rutz ist Publizist und lebt in Berlin und Hamburg. Die Briefe an die Akteure<br />
der Bundespolitik schreiben die politischen Publizisten Michael Rutz, Nikolaus Brender<br />
FOTOS: BERND ARNOLD; JOSÉ GIRIBÁS/ROPI/PICTURE A LIANCE<br />
Auf Arnolds wohl beka ntestem Bild<br />
ist de rechte Arm eines Bischofs zu sehen.<br />
Er ruht im hinteren Fenster einer Limousine,<br />
auf de rechten Seite. Dort sitzt<br />
der Chef. De sen Gesicht bleibt im Dunkeln,<br />
das Foto zeigt bloß den Arm, den<br />
Ärmel des bischöflichen Gewands; ein<br />
Stück der Mansche te ragt hervor, mit einem<br />
losen Faden. Das beh arte Hand-<br />
JEDE JETZT WOCHE<br />
MIT<br />
NEUEN MIT 6 SEITEN<br />
CHRIST & WELT<br />
31. OKTOBER 2013 N<br />
o 45<br />
PREIS DEUTSCHLAND 4,50 €<br />
DIE ZEIT<br />
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR<br />
Christ & Welt<br />
IN DIESER AUSGABE<br />
VON CHRIST & WELT<br />
Viel Rauch<br />
um viel<br />
Wer in Limburg als Journalist<br />
recherchiert, muss<br />
mit Drohungen rechnen<br />
Christ & Welt Seite 3<br />
Wir waren zu naiv:<br />
Die deutsch-amerikanischen<br />
Beziehungen brauchen jetzt<br />
eine realistische Grundlage<br />
VON HEINRICH WEFING, HELMUT SCHMIDT,<br />
JOSEF JOFFE UND ANDEREN SEITE 2–5<br />
Goodbye, Freunde!<br />
Die Kontrollen<br />
funktionieren<br />
Martin Dutzmann über<br />
evangelische Macht und<br />
Transparenz<br />
Christ & Welt Seite 5<br />
STROMPREISE<br />
Ach, die Kohle<br />
Die Große Koalition muss keine fossilen Brennstoffe schützen –<br />
sie muss die Leute mit der Energiewende versöhnen VON BERND ULRICH<br />
WENN ROCKSTARS STERBEN<br />
Die letzte Tour<br />
Mit dem Tod von Lou Reed neigt sich die Ära der rockenden<br />
Jugendverschwender endgültig ihrem Ende zu VON THOMAS GROSS<br />
Leben nach<br />
Luther<br />
Das protestantische<br />
Pfarrhaus zwischen<br />
Mythos und Wirklichkeit<br />
Christ & Welt Seite 6<br />
Titelbild: Smetek für DIE ZEIT<br />
Bei der Klimapolitik kommt es immer<br />
darauf an, ob man sie von der Gegenwart<br />
her denkt oder von der<br />
Zukunft. Hannelore Kraft zum Beispiel,<br />
die Vertreterin des Mutti-<br />
Prinzips in Nordrhein-Westfalen,<br />
denkt sie vom Jetzt aus. Ihr geht es mit der Energiewende<br />
zu schnell voran, sie fürchtet, dass Industriearbeitsplätze<br />
– insbesondere solche an Rhein<br />
und Ruhr – verloren gehen könnten. Dabei muss<br />
sie das gar nicht fürchten, denn es ist ganz gewiss:<br />
Bei einem Umbau dieser Größenordung gehen<br />
garantiert Arbeitsplätze verloren, dafür werden<br />
andere geschaffen. Krafts Warnung vor der Eile<br />
bedeutet offenbar: Die Energiewende darf schon<br />
sein, nur spüren soll man sie möglichst nicht. Schön<br />
langsam, bitte.<br />
Denkt man die Energiewende von morgen<br />
her, so sieht es mit dem Tempo gleich ganz anders<br />
aus. Wenn sich die Erde bis 2100 nicht allzu<br />
sehr erwärmen soll, wenn man vermeiden<br />
will, dass es Abermillionen Klimaflüchtlinge<br />
gibt und dass die Natur in Europa unter einen<br />
brutalen und zerstörerischen Veränderungsstress<br />
gesetzt wird, dann müsste die Energiewende ab<br />
sofort noch viel schneller gehen. Sagen wir, doppelt<br />
so schnell.<br />
Es gilt, daran kann auch Hannelore Kraft<br />
nichts ändern, das Grundprinzip ökologischer<br />
Politik: Je mehr <strong>Zeit</strong> man sich heute lässt, desto<br />
weniger hat man morgen. Wir verschieben die<br />
Eile gewissermaßen nur in die Zukunft.<br />
Energiepolitik wird vor allem von<br />
Geologie und Geografie gemacht<br />
Operativ wird es wenig bewirken, wenn die<br />
nordrhein-westfälische SPD nun versucht, die<br />
Interessen des Braunkohletagebaus und einiger<br />
Energiekonzerne zu verteidigen. Zwar leitet<br />
Hannelore Kraft die Arbeitsgruppe Energie bei<br />
den Koalitionsverhandlungen, doch das lässt sie<br />
mächtiger erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist.<br />
Nicht nur weil es da ja auch noch die Union auf<br />
der anderen Seite des Verhandlungstisches gibt,<br />
sondern weil sie nicht einmal die gesamte SPD<br />
vertritt. Denn, so hat es die Natur nun mal eingerichtet,<br />
Niedersachsen ist windig und profitiert<br />
daher von der Windenergie, weswegen Stephan<br />
Weil, der sozialdemokratische Ministerpräsident<br />
dieses flachen Flächenlandes, schon aufpassen<br />
wird, dass es Frau Kraft nicht zu dolle treibt.<br />
Das eben gehört zu den Besonderheiten der<br />
Energiepolitik: Sie wird weniger von SPD und<br />
CDU gemacht als von Geologie und Geografie.<br />
Die Südländer Baden-Württemberg und Bayern<br />
beispielsweise sind weder flach, noch haben sie<br />
Kohle, ergo ist ihr gemeinsames schwarz-grünrotes<br />
Interesse: Solar.<br />
Gefahren für die Energiewende gehen darum<br />
weniger von den operativen Details in den Berliner<br />
Koalitionsverhandlungen aus, sie sind eher<br />
politisch-mentaler Art. Mit dem Subtext ihrer<br />
Warnung vor zu viel Eile steht Hannelore Kraft<br />
nämlich nicht allein da. Längst schon ist die<br />
Energiewende zu etwas geworden, was die Politik<br />
und die Konzerne gefälligst endlich hinbekommen<br />
sollen, ohne dass die Bürgerinnen<br />
und Bürger davon allzu sehr gestört werden. Sei<br />
es durch höhere Strompreise, durch neue Trassen,<br />
durch all die Solardächer, die neuerdings so<br />
unromantisch auf den Scheunen kleben, oder<br />
die berüchtigten Windräder, die plötzlich überall<br />
in der Landschaft stehen.<br />
Als die Energiewende vor zweieinhalb Jahren<br />
in einem faktischen Allparteienkonsens beschlossen<br />
wurde, da gab es für den Moment so<br />
ein ökologisches Wirtschaftswundergefühl, man<br />
dachte, alle zusammen schaffen wir das; wer ein<br />
Land wieder aufbauen kann, der kann es auch<br />
wieder umbauen. Dieser Geist ist ein wenig verloren<br />
gegangen, stattdessen heißt es: bloß keine<br />
Eile, bloß keinen Ärger.<br />
Die nun kommende Große Koalition steht auf<br />
allen Politikfeldern in der Gefahr, die Bürgerinnen<br />
und Bürger zu paternalisieren, schon durch ihre<br />
schiere Größe. Wer so viel Macht hat, der scheint<br />
auch verpflichtet, alles zu regeln. Auf die Energiewende<br />
wirkt sich das besonders fatal aus. Denn<br />
nur von oben wird es nicht gehen. Wenn die Leute<br />
nicht mitmachen, wenn sie nicht sparen und<br />
dämmen und solarbedachen und andere Autos<br />
kaufen oder mehr Fahrräder, dann wird es sehr,<br />
sehr schwer mit dieser ganzen Wende.<br />
Allerdings gibt es einen Punkt, an dem sich<br />
die neue Koalition wirklich um die Energiewende<br />
verdient machen könnte. Und das ist der Strompreis.<br />
Nicht die schiere Tatsache, dass er steigt, ist<br />
hier das Problem, sondern das Tempo. Und der<br />
– durchaus zutreffende – Eindruck, dass mit dem<br />
EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz), einer Art<br />
Coca-Cola-Formel der Energiewende, irgendwas<br />
nicht stimmt.<br />
Dass die regenerativen Energien immer mehr<br />
gefördert, viele Industriebetriebe geschont werden<br />
und dass Strom an der Börse grotesk viel billiger<br />
ist als der aus der heimischen Steckdose –<br />
das kommt den meisten widersinnig vor. Und<br />
wenn dann noch die gewöhnlichen Verbraucher<br />
gar nicht so schnell hinterhersparen können, wie<br />
ihnen der Strompreis davonrennt, dann muss<br />
man sich nicht wundern, wenn sie von mittuenden<br />
Subjekten der Energiewende zu bockigen<br />
Ökountertanen mutieren.<br />
Eine der ganz großen Aufgaben der neuen<br />
Regierung ist die Versöhnung. Jedoch nicht die<br />
von Braunkohle und Wind, auch nicht die von<br />
SPD und CDU oder von flachen und bergigen<br />
Bundesländern. Das große innenpolitische Projekt<br />
ist die Versöhnung der Bürger mit ihrer<br />
Energiewende. Und in diesem Punkt besteht aller<br />
Grund zur Eile. Denn bislang läuft der Kampf<br />
gegen den Klimawandel in Deutschland viel zu<br />
langsam. Von morgen her gedacht.<br />
www.zeit.de/audio<br />
Zu schade, dass er es nicht mehr auf<br />
Tour geschafft hat. Es hätte gut<br />
gepasst zu diesem Jahr, in dem sie<br />
alle noch einmal vorbeigezogen<br />
kamen, der heilige Neil, der olympische<br />
Leonard, der sakrosankte<br />
Bob, ein umjubeltes, wenngleich schon spürbar<br />
von Abschiedswehmut umflortes Stelldichein der<br />
Veteranen – als hätten sich Young, Cohen und<br />
Dylan abgesprochen, vor dem endgültigen Abtreten<br />
eine vielleicht letzte Runde zu drehen. Auf<br />
seine Weise aber war es folgerichtig, dass er fehlte:<br />
An Verabredungen gleich welcher Art hat Lou<br />
Reed sich nie gehalten.<br />
»Schreibt einfach, John Cale war der Unbekümmerte,<br />
und Lou Reed war das Arschloch«,<br />
höhnte er seinen Biografen schon vor Jahrzehnten<br />
entgegen, als Rock noch eine existenzielle<br />
Angelegenheit war und stündlich mit der Meldung<br />
seines Ablebens gerechnet wurde. Reed<br />
schien für das Schicksal des Rock-’n’-Roll-Toten<br />
prädestiniert wie kein anderer, er hat nichts ausgelassen,<br />
was in fünf Jahrzehnten an lebens- und<br />
wahrnehmungssteigernden Substanzen kursierte.<br />
Doch statt der Nachwelt den Gefallen zu tun,<br />
als schöne Leiche zu enden, streute er in der Rolle<br />
des schlecht gelaunten Überlebenden immer<br />
neues Gift unters Volk.<br />
Es war die Vision der Rockmusik für<br />
Erwachsene, die ihn vorantrieb<br />
Sparen wir uns falsche Demutsgesten, er hätte sie<br />
selbst nicht gemocht: Lou Reed war ein Stinkstiefel<br />
allererster Güte. Legendär seine Wutausbrüche,<br />
berüchtigt seine Manier, sich nullsilbig<br />
hinter dunklen Augengläsern zu verschanzen.<br />
Reed hasste den Rockbetrieb mit einer Inbrunst,<br />
die ihm im Lauf seiner Karriere zur zweiten Natur<br />
geworden war. Von John Cale, dem ewigen<br />
Zweiten bei Velvet Underground, stammt das<br />
Bonmot, der Missbrauch von Amphetaminen<br />
habe die Muskelstruktur seines Gesichts so irrever<br />
si bel verändert, dass Reed nicht mehr lächeln<br />
könne. Gerade sein Querulantentum machte ihn<br />
einzig. Wo die meisten sich einrichteten, blieb<br />
Reed unbequem bis hin zur Bösartigkeit.<br />
Es ist der Stachel der Negativität, den er mit<br />
anderen Vertretern der Protestgeneration gemeinsam<br />
hat und den er doch mit seltener Radikalität<br />
hervorkehrte. »I have made a big decision,<br />
I’m gonna try to nullify my life« (»Ich habe eine<br />
wichtige Entscheidung getroffen, ich werde versuchen,<br />
mein Leben auszulöschen«), die berühmte<br />
Zeile aus seiner Fixer-Hymne Heroin gehört<br />
nicht nur zu den abgründigsten Zeilen der Rockgeschichte,<br />
sie beschreibt einen Klassenverrat:<br />
Lewis Allan Reed, Sohn einer jüdisch-mittelständischen<br />
Familie aus Long Island, streift die Fesseln<br />
seiner Herkunft ab und begibt sich hinab in<br />
den Sumpf der Großstadt. In New York begegnet<br />
er den Figuren, die seine Songs bevölkern: Holly<br />
aus Miami, die im Schutz der Nacht zur Frau<br />
wird, Candy, die es in den Hinterzimmern mit<br />
allen treibt, Little Joe, dem kleinen Zuhälter.<br />
»Hey babe, take a walk on the wild side ...«<br />
Dass die Exkursionen im Medium der Rockmusik<br />
stattfanden, steht für den großen künstlerischen<br />
Aufschwung der zweiten Hälfte des<br />
20. Jahrhunderts: Wer etwas auf sich hielt, nahm<br />
Abschied von den Kriegsteilnehmern und gründete<br />
eine Band. »You can’t beat two guitars, bass<br />
and a drum«, auch diesem zweiten Leitsatz seiner<br />
Laufbahn ist Reed sein Leben lang treu geblieben,<br />
von den Aufnahmen mit Velvet Underground,<br />
jener nach einem Groschenroman benannten<br />
Zusammenrottung genialer Dilettanten,<br />
bis hin zu den wüsten Klanggewittern seiner<br />
Experimentalalben. Die Lakonie seiner Texte<br />
aber entstammt der Literatur: Reeds Berichte aus<br />
dem Herzen Babylons be erben die schwarze Romantik<br />
Baude laires genauso wie den Po li zeirepor<br />
ter ton Raymond Chandlers.<br />
Es war die Vision einer Rockmusik für Erwachsene,<br />
die ihn vorantrieb. Reed, der ewige<br />
Avantgardist, war Punk avant la lettre, er hat den<br />
Glamrock miterfunden und die Verwirrung der<br />
Geschlechterrollen vorausgelebt, in seinen urbanen,<br />
wie aus den Mundwinkeln gequengelten<br />
Kurzgeschichten klingen sämtliche Themen an,<br />
die uns Großstädter hier und heute bewegen.<br />
Nicht mitgemacht hat er den Marsch durch die<br />
Institutionen. Sobald der Mainstream erreicht<br />
war, flüchtete er sich in eine weitere seiner vielen<br />
Metamorphosen: vom poète maudit zum Lederschwulendarsteller<br />
zum rockenden Oberlehrer,<br />
der sein Publikum mit bösen Blicken abstrafte,<br />
als wolle er sagen: Euer Beifall kotzt mich an.<br />
Heute, da der Rock ’n’ Roll brav geworden<br />
ist, geht die Sehnsucht um. Man möchte sie ein<br />
letztes Mal erleben, die Helden, bevor die Ära<br />
der rockenden Jugendverschwender sich endgültig<br />
ihrem Ende zuneigt – gerade die Nachgeborenen<br />
plagt der Phantomschmerz wie das Jucken<br />
eines Körperteils, der ihnen vor der Geburt entfernt<br />
wurde. Dass Lou Reed nun mit 71 Jahren<br />
ausgeschieden ist bei diesem letzten Abenteuer<br />
des öffentlichen Verlöschens, ist schade, aber in<br />
seinem Sinn. Die Trauerarbeit hat er bereits vor<br />
einem Vierteljahrhundert mit drei meisterlichen<br />
Alben geleistet. Der Rest lässt sich als Versuch<br />
verstehen, seinen Klassikerstatus zu sabotieren.<br />
Was ihm verwehrt und erspart blieb, ist die<br />
Heiterkeit, mit der die anderen Überlebenden<br />
des Heldenzeitalters ihr Spätwerk begingen und<br />
bis heute begehen: Neil Young als ewiger Hippie<br />
und Propagandist grünen Ideen guts, Bob Dylan<br />
als stoischer Wandersmann, der einsam seine<br />
Bahnen zieht, Leonard Cohen als Erotiker von<br />
Welt, dem noch im Greisenalter die Herzen junger<br />
Frauen zufliegen, obwohl der Anzug schon<br />
um die Knochen schlackert. Im Kreise dieser<br />
Herren blieb Lou Reed der Unversöhnte. Jetzt<br />
müssen wir ohne ihn schlecht gelaunt sein.<br />
www.zeit.de/audio<br />
KREUZ & QUER<br />
Big in Bamberg<br />
Franziskus pflegt die Anrede »Liebe<br />
Brüder und Schwestern«. Der Klerus<br />
kennt nur Brüder. Daher war<br />
es bloß eine Frage der <strong>Zeit</strong>, bis Big<br />
Brother die Geistlichkeit erreichte.<br />
Wie big sind Bischöfe? Sie sind<br />
small, glaubt man dem Erzbistum<br />
Bamberg. Erzbischof Ludwig<br />
Schick ließ ein Kamerateam in seine<br />
Wohnung. Die Bilder stehen auf<br />
der Home page. Wer nicht durchs<br />
Schlafzimmerschlüsselloch gucken<br />
will, liest im Begleittext: »Wie alle<br />
Räume in Erzbischof Schicks<br />
Privatwohnung ist auch das Schlafzimmer<br />
recht bescheiden eingerichtet.«<br />
Da viele Diskussionen am<br />
Badewannenrand enden, meldet<br />
die Pressestelle: »Die Badewanne<br />
des Erzbischofs ist ein normales<br />
Modell.« Ob Schick je Big Brother<br />
gesehen hat? Wenn er es wollte,<br />
müsste er seinen »Röhrenfernseher«<br />
einschalten. Für Amtsbrüder<br />
mit Flachbildschirmen wird es<br />
jetzt ganz eng. CHRISTIANE FLORIN<br />
Kleine Fotos (v.o.n.u.): Bernd Arnold; Andreas<br />
Schoelzel/epd/imago; Fabian Klusmeyer<br />
ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;<br />
ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de<br />
<strong>Zeit</strong>verlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,<br />
20079 Hamburg<br />
Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:<br />
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N o 45<br />
68.JAHRGANG C 7451 C<br />
4 190745 104500 4 5
31. Oktober 2013<br />
WOCHENZEITUNG FÜR GLAUBE, GEIST, GESELLSCHAFT<br />
Unterwerft euch!<br />
RITUALE DER MACHT, MACHT DER RITUALE Religion und Politik gleichen einander. Der Fotograf Bernd Arnold sucht nach religiösen Spuren in der<br />
Politik und nach Zeichen weltlicher Macht in der Religion. Christ & Welt druckt Arnolds Fotoessay zu einem brisanten Thema<br />
Signal: Mit Kreuz, Stab und Mitra verneigen sich Bischöfe im Kölner Dom. Im Altarkuss inszenieren sie Ehrerbietung als sichtbares Zeichen.<br />
FOTOS: BERND ARNOLD; JOSÉ GIRIBÁS/ROPI/PICTURE ALLIANCE<br />
Von Hans-Joachim Neubauer<br />
Rom ist groß, und Cäsar ist<br />
Rom. Sichtbar inszenieren<br />
Weltreiche ihren Rang und den<br />
ihrer Führer. Macht braucht Rituale,<br />
um zu wirken. Sonst wäre sie bloß<br />
rohe Gewalt. Das wissen auch Diktatoren:<br />
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den Anschein von Legitimität zu geben.<br />
Ritual ist Ordnung.<br />
Rom ist heilig, und der Papst ist der<br />
Heilige Vater. Religion braucht Rituale.<br />
In ihnen versichert sie sich ihrer Tradition,<br />
in ihnen inszeniert sie ihre Botschaft<br />
als gemeinschaftlich erlebbares Zeichen.<br />
Ohne den Ritus wäre Religion bloße Vernunft<br />
oder reine Unvernunft. Ritual ist<br />
Geheimnis.<br />
In diesen Tagen kommen führende Politiker<br />
von CDU, CSU und SPD zusammen, um ihr<br />
Regierungsprogramm zu verhandeln. Es<br />
geht, wie immer, um Macht. Doch diese<br />
Wochen zwischen Wahl und Regierungsbildung<br />
bilden eine Zäsur im politischen<br />
Leben der Demokratie. Minister und<br />
Kanzler sind nur „geschäftsführend“, Verhandler<br />
sind noch Funktionäre ihrer Partei<br />
und zugleich schon potenzielle Minister.<br />
Alles ist im Fluss, und in der Presse<br />
blühen die Spekulationen: Wer steht wofür?<br />
Wer setzt sich durch? Wer wird was<br />
sein? Erst Rituale beglaubigen das Ergebnis:<br />
Die Kanzlerin wird ihren Amtseid<br />
leisten, die Ministerinnen und Minister<br />
werden ihre Urkunden erhalten. Danach<br />
werden sie andere sein, und erst dann<br />
können sie ihre Macht spürbar und sichtbar<br />
einsetzen.<br />
In Limburg zeigt sich, wie eng Macht<br />
und Religion, Politik und Ritual zusammenhängen.<br />
Der Limburger Bischof hat<br />
die Zeichen aus dem Vatikan schlicht<br />
nicht verstanden. Beharrlich setzte er,<br />
während der Papst eine Kirche der Armen<br />
forderte, auf die Symbole des alten<br />
Rom: Glanz und Reichtum, Besitz und<br />
Status. Aber die Spitze der katholischen<br />
Hierarchie will ein neues Rom. Die Gläubigen<br />
im Bistum auch.<br />
Seit 1987 ist Bernd Arnold den Ritualen<br />
der Macht und der Macht der Rituale<br />
auf der Spur. Dabei bewegt sich der 1961<br />
BRIEF AN DIE BUNDESKANZLERIN<br />
BETR.: MOBILTELEFON<br />
in Köln geborene evangelische Fotograf<br />
genauso in der politischen Sphäre wie in<br />
den Welten des rheinischen Katholizismus.<br />
Soeben ist sein neues Buch „Wahl<br />
Kampf Ritual“ in der Edition Panorama<br />
erschienen. Nun zeigt die katholische<br />
<strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong> seine Ausstellung<br />
„Macht und Ritual“. Arnolds Thema ist<br />
Liebe Angela Merkel,<br />
dem Bischof von Limburg wird es ganz recht sein, dass die Medien ein neues<br />
Objekt für eine Empörungswelle gefunden haben: den amerikanischen Präsidenten,<br />
dessen Geheimdienst nicht nur E-Mails und Telefonate terrorgeneigter<br />
Bundesbürger abgehört hat, sondern auch Ihr persönliches Handy. Das ist unfein,<br />
klar, wer will schon abgehört werden. Aber wie naiv muss man eigentlich<br />
sein, um noch an das Recht der informationellen Selbstbestimmung zu glauben?<br />
Selbst wir in Deutschland haben es an allen Ecken und Enden untergraben, unsere<br />
Dienste und Staatsanwaltschaften hören ja selbst Handys ab und speichern<br />
Verbindungen, überwachen E-Mails, schnüffeln in Bankkonten, bauen Überwachungskameras<br />
auf, die Behörden verkaufen unsere privaten Daten weltweit.<br />
Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung kommt mit seinen Protesten<br />
ja kaum nach, ein armer Wicht ist das.<br />
Wenn Sie Herrn Putin oder dem chinesischen Staatschef begegnen, werden<br />
Sie die beiden ja auch nicht für Reinkarnationen des heiligen Kasimir halten, der<br />
für seine ungewöhnliche Sittenreinheit in die Kirchengeschichte einging. Nein,<br />
Geheimdienste sollen spionieren und alle Informationen sammeln, die man im<br />
Umgang mit den guten und bösen Mächten der Welt brauchen kann. Und es<br />
würde mich zutiefst beunruhigen, wenn diese Kunst, die im politischen Weltringen<br />
ja eine große Tradition hat, nur den Russen und Chinesen bekannt wäre,<br />
unserem amerikanischen Freund aber nicht.<br />
Und beunruhigen würde es mich auch, wenn wir Mitteleuropäer – also die<br />
Deutschen, Franzosen, Briten – hier nur auf den Zuschauerrängen säßen. Nein,<br />
wir sind mittenmang dabei, und das ist wirklich gut so. In unseren Botschaften<br />
rund um die Welt sitzen Vertreter des BND ja nicht, um Kindergärten zu bauen<br />
brisant und aktuell. Deshalb öffnen wir<br />
diese Ausgabe von Christ & Welt für<br />
Bernd Arnolds faszinierenden Fotoessay.<br />
„Das Visuelle ähnelt sich“, sagt Arnold.<br />
Mit seiner Kamera entdeckt er Verwandtschaften<br />
zwischen unterschiedlichen<br />
Welten: Außer kirchlichen und politischen<br />
Orten hat er Fernsehstudios, Diskotheken<br />
und Halbwelt-Clubs besucht.<br />
Immer wieder stieß er auf ähnliche Muster,<br />
auf Gesten und Gesichter der Macht,<br />
auf religiös anmutende Ausdrucksformen,<br />
auf Rituale, die eine Gruppe zusammenhalten<br />
oder Hierarchien markieren.<br />
Macht ist „auf Handeln gerichtetes<br />
Handeln“, sagt Michel Foucault.<br />
oder den Roten Halbmond zu unterstützen. Die Herren Oppermann, Ströbele<br />
und Grosse-Brömer, die für ihre Parteien im parlamentarischen Kontrollgremium<br />
für die Nachrichtendienste sitzen, sollten die Dienste also nicht für die Erfüllung<br />
ihres Auftrages zeihen, sondern sie dazu geradezu auffordern, ihn bestmöglich<br />
zu erfüllen. Wir wollen alles wissen, auch aus den Mobiltelefonen von<br />
Herrn Obama und Herrn Putin. Die Welt ist eben nicht so gut, wie wir sie gerne<br />
hätten.<br />
Es wäre also vernünftig, sich abzuregen und unsere technischen Abhörmöglichkeiten<br />
zu verfeinern. Wenn nämlich alle alles voneinander wissen, sind wir<br />
dem Frieden vermutlich am nächsten. So gesehen kocht auch Herr Obama nur<br />
mit dem gewöhnlichen Wasser gewöhnlicher Regierungstechniken. Das wird jene<br />
(insbesondere in der deutschen Journaille) enttäuschen, die ihn seinerzeit<br />
zum politischen Messias ausriefen, der nunmehr die ganze Welt moralisch reinigen<br />
werde. Das hat er weder je gewollt, noch hätte er es geschafft.<br />
Zwar hat William Gladstone einst gesagt: „Was moralisch falsch ist, kann<br />
nicht politisch richtig sein.“ Für eine freiheitliche Demokratie gilt das Umgekehrte<br />
aber auch: Was politisch richtig ist, kann moralisch nicht ganz falsch sein.<br />
Michael Rutz ist Publizist und lebt in Berlin und Hamburg. Die Briefe an die Akteure<br />
der Bundespolitik schreiben die politischen Publizisten Michael Rutz, Nikolaus Brender<br />
und Johann Michael Möller im Wechsel.<br />
Auf Arnolds wohl bekanntestem Bild<br />
ist der rechte Arm eines Bischofs zu sehen.<br />
Er ruht im hinteren Fenster einer Limousine,<br />
auf der rechten Seite. Dort sitzt<br />
der Chef. Dessen Gesicht bleibt im Dunkeln,<br />
das Foto zeigt bloß den Arm, den<br />
Ärmel des bischöflichen Gewands; ein<br />
Stück der Manschette ragt hervor, mit einem<br />
losen Faden. Das behaarte Handgelenk<br />
geht über in die ausgestreckte<br />
Hand. Vier Finger sind zu sehen, am<br />
Ringfinger prangt der Bischofsring. Arnold<br />
hat Joachim Kardinal Meisner 1989<br />
fotografiert, bei dessen Einführung ins<br />
Erzbistum Köln. Im Bild vereinen sich die<br />
Insignien kirchlicher Macht mit dem<br />
weltlichen Statussymbol des Wagens zu<br />
einer Meditation über Abstand und Nähe:<br />
Seht, hier kommt der neue Chef, seht seinen<br />
Ring! Küsst ihn und unterwerft euch!<br />
„Rituale schaffen auch Distanz“, sagt Arnold,<br />
„sie bauen eine Hierarchie auf.“<br />
Bernd Arnold will nicht einfach die Wirklichkeit<br />
zeigen, wie sie sich darstellt. Gezielt<br />
nimmt er seinen Aufnahmen etwas von<br />
dem augenscheinlich Normalen. Schon<br />
die Entscheidung für Schwarz-Weiß verfremdet:<br />
„Farbe ist ein Stück Realität“,<br />
sagt Arnold, „das entziehe ich den Bildern.<br />
Indem ich bestimmte Anschnitte<br />
setze, entziehe ich die Bilder dem ersten<br />
schnellen Erklärungsversuch des Betrachters.“<br />
Das Bild wird grafisch. So werden<br />
die Bischöfe am Altar zu Monumenten<br />
des Rituals, so mutiert Peer Steinbrück<br />
zum Denkmal seines Strebens nach<br />
Macht. Und so zeigt die Hand im Autofenster<br />
die Macht und das Geheimnis des<br />
Kardinals. Rom ist groß, Rom ist heilig;<br />
langsam rollt der Wagen weiter.<br />
Bernd Arnold: „Macht und Ritual“.<br />
<strong>Katholische</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong>,<br />
3. November 2013 bis 12. Januar 2014.<br />
www.akademie-schwerte.de
C&W 2 GLAUBE<br />
C HRIST & WELT | 45/2013<br />
CHRIST & WELT<br />
Knapp davongekommen<br />
EDITORIAL Limburg, Limburg, Limburg: Muss das<br />
eigentlich sein?<br />
FOTO: BERND ARNOLD<br />
Sonntagnachmittag auf der<br />
A 3: tiefschwarze Wolken,<br />
dichter Regen, Sturm, in einer<br />
Senke hat sich Nebel festgesetzt.<br />
Die Rücklichter des<br />
voranfahrenden Autos verschwinden<br />
im wabernden<br />
Weiß, keine Leitplanke ist<br />
mehr zu sehen. Die Autobahn<br />
ist voll an diesem Herbstferienwochenende,<br />
und irgendwo<br />
müsste auch eine Baustelle<br />
sein. Blindflug. Die Kinder haben<br />
sich seit Stunden um die<br />
Beinfreiheit gestritten, jetzt<br />
werden sie ganz still. Meine<br />
Hände zittern am Lenkrad.<br />
Auf dem letzten Autobahnschild,<br />
das ich noch erkennen<br />
konnte, stand die Abfahrt „Limburg-<br />
Süd“. Ausgerechnet. Sollen wir unser<br />
Leben in Limburg lassen?, schießt es mir<br />
durch den Kopf. Ich bremse, die anderen<br />
Autos um uns herum auch. Wir schlingern<br />
dem Fetzen Blau am Horizont entgegen.<br />
„Guckt mal, da vorn wird es<br />
schon wieder heller“, sage ich den Kindern.<br />
Das ist genau jene Sorte von billigem<br />
Trost, vor dem alle Erziehungsratgeber<br />
warnen. Aber die Kinder glauben<br />
Lärm und Krach<br />
Von Volker Resing<br />
Der argentinische Erzbischof und<br />
Papstvertraute Victor Manuel Fernández<br />
glaubt, dass sich konservative<br />
Kräfte in der Kirche zunehmend von<br />
Franziskus bedroht fühlen.<br />
Wohl zu Recht, wie er andeutet.<br />
„Dieser Papst ist ein<br />
Mann, der sich immer mit<br />
Wagemut anderen Wegen,<br />
dem Wandel und Neuigkeiten<br />
gegenüber aufgeschlossen<br />
zeigt“, erläuterte Fernández.<br />
Ein weiterer enger Freund<br />
ist der honduranische Kardinal Óscar<br />
Andrés Rodríguez Maradiaga. Er ist<br />
schon Leiter der päpstlichen Reformkommission.<br />
Nun hat er gemutmaßt,<br />
der Papst könne ein neues Laien-Ministerium<br />
gründen, mit deutlich mehr<br />
Macht als der bisherige Laienrat. Es<br />
gibt Gerüchte in Rom, nach denen<br />
Rodríguez Präfekt der neuen Kongregation<br />
werden könnte.<br />
Wir schlingern<br />
in einen<br />
Fetzen Blau,<br />
dem<br />
Horizont<br />
entgegen.<br />
mir. Sie nehmen ihren Streit<br />
wieder auf. Nach einer halben<br />
Stunde ist der Nebel vorbei,<br />
der Regen lässt nach, aus dem<br />
Fetzen ist ein blauer Himmel<br />
geworden. Wir leben noch,<br />
und die vor und hinter uns<br />
auch. War da was? Erst<br />
abends hören die Hände auf<br />
zu zittern.<br />
Am Morgen danach, in der<br />
Redaktionskonferenz, überlegen<br />
wir uns den Arbeitstitel<br />
für die Großaufnahme. Nicht<br />
„War da was?“, sondern<br />
„War’s das jetzt mit Limburg?“.<br />
Franziskus hat sich<br />
fürs Abwarten entschieden,<br />
aber der ist ja auch kein Journalist.<br />
Wir beschließen: Nein, das war’s<br />
nicht, wir bleiben dran. Es gibt noch genug<br />
Nebel, kalte Schauer und verschwundene<br />
Leitplanken, über die es<br />
sich zu schreiben lohnt. „Schreiben Sie<br />
doch mal, was in der Kirche gut läuft“,<br />
sagt ein Leser am Telefon. Machen wir,<br />
verspreche ich. Und denke: Wer streitet,<br />
lebt noch; wer sich zofft, hofft auf den<br />
Fetzen Blau. Das habe ich in Limburg-<br />
Süd gelernt.<br />
Christiane Florin<br />
Im Interview mit dem Jesuiten Antonio<br />
Spadaro beschreibt sich der<br />
Papst in der Rolle des Propheten, dessen<br />
Aufgabe es sei, „Lärm und Krach“<br />
zu machen für das Evangelium. Zugleich<br />
ordnet er diese Funktion ein:<br />
„Das bedeutet nicht, dass man<br />
sich gegen die hierarchische<br />
Seite der Kirche stellt, wenn<br />
die prophetische Funktion<br />
und die hierarchische Struktur<br />
nicht übereinstimmen.“<br />
Der Papst demnach als erster<br />
Widersacher der kirchlichen<br />
Hierarchie – und zugleich<br />
als Stütze. Ein ungewöhnlicher Gedanke.<br />
Johannes Paul II. sagte, wenn es<br />
ernst in Glaubensdingen wurde:<br />
„Fragt besser den Ratzinger.“ Franziskus,<br />
so scheint es, wird noch einiges<br />
an- und umstoßen. Doch wenn es<br />
ernst wird, könnte auch er an die<br />
Glaubenskongregation verweisen:<br />
„Fragt besser den Müller.“<br />
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Limousine: Im Februar 1989 wird Erzbischof Joachim Kardinal Meisner in sein Kölner Bistum eingeführt. Ring und Wagen zeigen: Hier kommt der Chef.<br />
Bishop of Bling<br />
AUSSENWIRKUNG Wie die Limburg-Welle über den Großen Teich schwappte: Dank Franz-Peter Tebartz-van Elst<br />
staunen auch amerikanische Medien über die katholische Kirche in Deutschland<br />
Von Katja Ridderbusch, Atlanta<br />
Die Vereinigten Staaten interessieren<br />
sich nur dann für<br />
Nachrichten aus dem Ausland,<br />
wenn das Land, seine<br />
Politiker oder seine Bürger unmittelbar<br />
betroffen sind – wie bei der NSA-Affäre<br />
zum Beispiel. Eine jüngste Ausnahme<br />
sind jedoch die Ereignisse rund um den<br />
Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van<br />
Elst. Kaum ein großes amerikanisches<br />
Medium, von der „New<br />
York Times“ über das „Time Magazine“<br />
bis zu CNN, ließ sich die Geschichte<br />
über den schillernden Kirchenfürsten<br />
entgehen, der für knapp 43 Millionen<br />
Dollar seine Residenz renovieren ließ.<br />
Einer der treffendsten Spitznamen für<br />
den Geistlichen wurde in den USA kreiert,<br />
mit französischer Hilfe: „Bishop of<br />
Bling“, wörtlich: Glitzerbischof.<br />
Als Übersetzung für „Prunkbischof“<br />
wurde der Name angeblich vom US-<br />
Büro der Nachrichtenagentur AFP zum<br />
ersten Mal verwendet. „Bling“ – das<br />
steht in Amerika für zur Schau getragenen<br />
Wohlstand in Form von auffälligem<br />
– und oft ordinär-protzigem –<br />
Schmuck, sei es die Gürtelschnalle aus<br />
Gold und Perlmutt oder die diamantenbesetzte<br />
iPhone-Hülle.<br />
Vor allem ist die Bischofsaffäre Anlass<br />
für US-Medien, sich näher mit dem<br />
Finanzierungsmodell der Kirchen in<br />
Deutschland zu beschäftigen. Die „Huffington<br />
Post“ erklärt die Empörung der<br />
deutschen Kirchenvertreter, Medien<br />
und Gläubigen über den Lebensstil des<br />
Bischofs – und in der Folge über die<br />
prall gefüllten Kassen der katholischen<br />
Kirche – mit dem Erbe der Reformation:<br />
„In einem Land, in dem Martin<br />
Luther vor fünf Jahrhunderten die Reformation<br />
als Antwort auf Ausschweifung<br />
und Korruption innerhalb der<br />
Kirche in Gang brachte, ist die Entrüstung<br />
besonders groß.“<br />
Hinzu kommen die intransparenten Strukturen<br />
der etablierten Kirchen in<br />
Deutschland, schreibt die „New York<br />
Times“. Kirchen in Deutschland seien<br />
zum großen Teil „von Steuern finanziert,<br />
die von der Regierung eingetrieben<br />
werden“. Das ist tatsächlich ein<br />
Unding in Amerika, wo, zumindest<br />
formal, eine strenge Trennung von<br />
Kirche und Staat gilt und Kirchen sich<br />
allein von den Spenden ihrer Mitglieder<br />
finanzieren. Die fallen dann aber<br />
häufig recht großzügig aus.<br />
Die renommierte Tageszeitung<br />
„Christian Science Monitor“ veröffentlichte<br />
in ihrer Online-Ausgabe einen<br />
Beitrag unter der Schlagzeile „Warum<br />
ist die katholische Kirche in Deutschland<br />
so reich?“. Und liefert auch gleich<br />
die Antwort: Neben dem mehr als 200<br />
Jahre alten System der Kirchensteuer<br />
sei es vor allem die Tatsache, dass „die<br />
deutsche Verfassung religiöse Institutionen<br />
vor staatlicher Aufsicht<br />
schützt … Diese Freiheit und Un-<br />
durchsichtigkeit haben über die Jahre<br />
zu vielen Skandalen geführt.“<br />
Wie jeder Skandal, so lieferte auch<br />
dieser Futter für Kabarettisten. Zwar<br />
widmete der bekannteste Fernsehkomiker<br />
der USA, Jon Stewart, in „The<br />
Daily Show“ dem Bishop of Bling<br />
(noch) keine Aufmerksamkeit, doch<br />
der öffentliche amerikanische Rundfunk<br />
NPR jubelte vor einigen Tagen im<br />
Spätprogramm, für Kabarettisten komme<br />
der Glitzerbischof wie ein vorgezogenes<br />
Weihnachtsgeschenk – „a gift<br />
from sweet baby Jesus“, ein Geschenk<br />
vom Christkind.<br />
Von den Kirchen selbst gab es in den<br />
USA indes kaum Stellungnahmen zur<br />
Affäre um den beurlaubten Kirchenmann.<br />
Einer der Gründe für das<br />
Schweigen der Kleriker mag die Tatsache<br />
sein, dass die katholische Kirche in<br />
Amerika in den vergangenen Jahren<br />
selbst immer wieder in Skandale über<br />
ihre Ausgaben verwickelt war. So geriet<br />
die Erzdiözese Boston, das viertgrößte<br />
Bistum in den USA, 2012 in Erklärungsnot,<br />
weil sie ihren höchsten weltlichen<br />
Angestellten Jahresgehälter in<br />
sechsstelliger Höhe gezahlt hatte: Die<br />
Superintendentin verdiente 351 000<br />
Dollar, der Rechtsanwalt der Diözese<br />
wurde mit 326 000 Dollar für seine<br />
Dienste belohnt – und der Pressesprecher<br />
bekam immerhin 193 000 Dollar.<br />
Überhaupt gilt Luxus unter Kirchenvertretern,<br />
nicht nur bei Katholiken, in<br />
den USA nicht als unanständig oder anstößig.<br />
Viele freikirchliche Prediger, die<br />
sich den Pfingstkirchen verbunden fühlen,<br />
sowie Pastoren in den Megachurches<br />
haben einen Lebensstil, der den<br />
Bishop of Bling wie einen Bettelmönch<br />
erscheinen lässt. Sie alle folgen dem<br />
Wohlstandsevangelium, jener im Kern<br />
auf Calvins Prädestinationslehre zurückgehenden<br />
Auffassung, dass Erfolg<br />
sichtbarer Beweis für Gottes Gunst ist.<br />
Seit Kurzem widmet das US-Fernsehen<br />
den Wohlstandspredigern eine<br />
Reality-TV-Show: „Preachers of L. A.“<br />
folgt sechs evangelikalen Glamour-Pastoren<br />
durch ihren Luxusalltag mit<br />
schnellen Autos, schönen Frauen und<br />
dicken Diamantklunkern. „Das sind<br />
die wahren Bishops of Bling“, schrieb<br />
die „Washington Post“ in Anspielung<br />
auf Tebartz-van Elst. Allerdings gehen<br />
deren Ausschweifungen nicht auf Kosten<br />
der Steuerzahler – und die Gemeindemitglieder<br />
spenden freiwillig.<br />
Tatsächlich gebe es in den USA eine starke<br />
Nachfrage nach der Wohlstandstheologie,<br />
schreibt Kate Bowler, Professorin<br />
für Kirchengeschichte an der Duke<br />
University in North Carolina, auf<br />
CNN.com. „Millionen von amerikanischen<br />
Christen wenden sich dem<br />
Wohlstandsevangelium zu, weil sie sich<br />
wünschen, dass Gott sich in ihr tägliches<br />
Leben einmischt. Sie wollen einen<br />
Gott, der sich um ihre Gesundheit, ihre<br />
Hypothekenzahlungen und ihre Gehaltserhöhung<br />
kümmert.“
C HRIST & WELT | 45/2013<br />
GROSSAUFNAHME C&W 3<br />
FOTO: BERND ARNOLD<br />
Weihrauch: Auf einer Fronleichnamsprozession erinnern Messdiener an die leibliche Gegenwart Jesu im Sakrament der Eucharistie; Kölner mit Kinderwagen schauen zu.<br />
Viel Rauch um viel<br />
LIMBURG Die Stadt hat sich mit dem Skandal arrangiert. Die Touristen füllen nun die Kassen.<br />
Wer aber als Journalist recherchiert, muss mit Drohungen rechnen<br />
Von Hannes Leitlein<br />
Hauptsache viel, Hauptsache,<br />
dick belegt – die „Bischofspizza“<br />
im Ristorante Don Camillo<br />
gehört zu den exklusivsten<br />
Verschwendungen, die die Limburger<br />
Gastroszene dieser Tage zu bieten hat.<br />
Viel Gambas, viel Käse, viele Cocktailtomaten<br />
und Muscheln, und das auch noch<br />
für viel Geld. Dabei ist die Bischofs -<br />
pizza, verglichen mit den 31 Millionen,<br />
die der Limburger Bischofssitz gekostet<br />
hat, beinahe ein Schnäppchen. Nur 24,70<br />
Euro kostet das First-Class-Fastfood. Seit<br />
zwei Wochen hat Don Camillo den<br />
Edelsnack nun als kleines Leckerli für<br />
Touristen im Programm.<br />
Die strömen in Massen in das Lahnstädtchen,<br />
seitdem die Affäre um Tebartzvan<br />
Elst das Land bewegt. Don Camillo<br />
hat den Skandaltouristen nun die passende<br />
Pizza gebacken: sündhaft teuer und lecker.<br />
Die Mehreinnahmen sollen einem<br />
Altenheim und einem Kindergarten zugute<br />
kommen. So nah liegen in Limburg<br />
in diesen Tagen Profit, Protz und die große<br />
Geste beieinander.<br />
Der Betreiber der Pizzeria Don Camillo<br />
freut sich über den Zulauf. „20 bis 30<br />
Prozent mehr Touristen kommen zu uns<br />
ins Restaurant“, sagt der Sohn des Hauses.<br />
Die Stadt profitiere vom Skandal.<br />
Am Sonntag nach der Papst-Entscheidung,<br />
dem Bischof eine Pause zu gönnen, dreht<br />
sich in Limburg alles um die Grenzen des<br />
guten Geschmacks. Nicht nur das Bistum,<br />
auch die Stadt habe ein Imageproblem,<br />
glauben die meisten. Äußerst geschmacklos<br />
sei es, schimpft eine Taxifahrerin,<br />
eine protzige Residenz für den Bischof<br />
zu bauen und auf der anderen Seite<br />
Kindergärten zu schließen. „Kirchengemeinden<br />
kratzen mit Mühe und Not<br />
die nötigen Mittel zusammen, um ihre<br />
Kirche zu erhalten, und der Bischof stellt<br />
sich eine Wanne für 17 000 Euro ins<br />
Bad?“ Wie viele Menschen in Limburg<br />
macht auch sie die offensichtliche Ungerechtigkeit<br />
wütend. Der Bischof könne<br />
bleiben, wo der Pfeffer wächst, sagt sie.<br />
Die drei älteren Herren, die vor dem<br />
Dom Platz genommen haben, sehen das<br />
ähnlich. Die alte Gartenanlage, die dem<br />
Bischofshaus samt teurem Privatgarten<br />
weichen musste, war in ihren Augen viel<br />
schöner. „Dieser neumodische Design -<br />
kram ist furchtbar hässlich. Allein für diese<br />
komischen Rasenquadrate hat der<br />
780 000 Euro aus dem Fenster geworfen.“<br />
„Der“, damit ist Bischof Franz-Peter<br />
Tebartz-van Elst gemeint. Offensichtlich<br />
hat der oberste Limburger Katholik in<br />
seinem Bistum mit dem guten Namen<br />
auch den eigenen Namen verloren. Mittlerweile<br />
nennen viele Menschen ihn nur<br />
noch „Protzbischof“, „Skandalbischof“,<br />
„Bishop of Bling“ oder kurz „der“. Nur in<br />
den Fürbitten während des Hochamtes<br />
ist der Ton familiärer. Da nennt ihn Helmut<br />
Wanka, Personaldezernent und Mitglied<br />
des Domkapitels, „Bischof Franz-<br />
Peter“ und betet für ihn. Mehr hat er<br />
über Franz-Peter nicht zu sagen.<br />
Manche Gläubige im Limburger Dom<br />
finden das geschmacklos. „Zumindest eine<br />
kurze Stellungnahme des Bistums“,<br />
klagen zwei ältere Damen, „hätte schon<br />
sein müssen.“ Sie haben genug von der<br />
Geheimniskrämerei. Alles soll auf den<br />
Tisch. So weit ist es mit Limburg gekommen:<br />
Die Limburger gönnen ihrer Kirche<br />
nicht mehr das kleinste Geheimnis. Wie<br />
ein übervorsichtiger Gast, der sich jeden<br />
Konservierungsstoff vom Kellner aufzählen<br />
lässt, wollen sie wissen, wofür sie zahlen.<br />
Doch leicht verliert man da den Appetit.<br />
Genuss braucht halt Vertrauen.<br />
Prälat Wanka, der beim Hochamt die Vertretung<br />
des Bischofs übernimmt, ist an diesem<br />
Sonntag wenig gewillt, verlorenes Vertrauen<br />
durch Transparenz zurückzugewinnen.<br />
Man freue sich, sagt er, am Weltmissionssonntag<br />
Gäste aus Indien begrüßen<br />
zu dürfen. Indien, mag sich da der eine<br />
oder andere fragen, war da nicht mal<br />
was? Ein Bischofsflug mit Erster-Klasse-<br />
Geschmacksverstärker etwa? Was wohl<br />
die indischen Gäste, die da willkommen<br />
geheißen werden, über den abwesenden<br />
Bischof denken? Sind auch sie erster Klasse<br />
geflogen, und wenn nicht, ist man in<br />
Indien genauso wütend wie in Limburg?<br />
Vielleicht haben die Inder ja Gott getroffen<br />
in der Economy Class. Denn dass der<br />
nicht in der ersten Klasse nächtigt, hat<br />
jüngst sogar der Papst gesagt. O Gott, hat<br />
der Papst etwa gar Bischof Franz-Peter<br />
gemeint?<br />
Über den Indien-Flug und die erste<br />
Klasse erfahren die beiden sich Aufklärung<br />
erhoffenden Damen an diesem<br />
Sonntag nichts. „Ein Gottesdienst ist kein<br />
Ort für Politik“, sagt Wanka auf Anfrage<br />
von Christ & Welt. Er sei auch keine<br />
„Pressekonferenz und kein Ort, um die<br />
neuesten Informationen zu bekommen.<br />
Wenn Sie über den Gottesdienst berichten“,<br />
droht er, „wird das Konsequenzen<br />
haben. Das sollte Ihnen bewusst sein.“<br />
Dann rät er dem Journalisten noch, erst<br />
mal ordentlich Theologie zu studieren.<br />
Im Gottesdienst spricht Wanka statt<br />
über die Lage des Bistums lieber über die<br />
Frage, wie Gott aussieht, und dass wir<br />
uns diese Frage angesichts des um sich<br />
greifenden Atheismus alle stellen sollten.<br />
Mit dieser Frage werden die beiden Damen<br />
entlassen und stehen, nachdem sie<br />
die Tore des Doms durchschritten haben,<br />
unmittelbar vorm Bischofshaus. Wie<br />
sieht Gott denn nun aus? So etwa?<br />
Passend zu Wankas Predigt über den<br />
Propheten Elia, der Gott im Säuseln des<br />
Windes wahrgenommen hat, pfeift der<br />
Wind um den Dom. Es ist kalt geworden<br />
in Limburg. Mit den Uhren wurde in der<br />
Stadt auch das Wetter auf Winter umgestellt.<br />
Laub weht über den Domplatz. Die<br />
kahlen Bäume und die dunklen Wolken<br />
passen zur Stimmung der Gläubigen.<br />
Nach dem Gottesdienst wartet draußen<br />
ein Kamerateam. Journalisten belagern<br />
die Gläubigen im kleinsten Bistum<br />
der Republik. Sie gieren nach Laien und<br />
Klerikern. Auch Touristen sind gekommen,<br />
um sich ein Bild vom Bischofsprunk<br />
zu machen. Viel zu fotografieren gibt es<br />
nicht. Das umstrittene Bischofshaus ist<br />
von einer Mauer umgeben. Angeblich<br />
wird im Limburger Klerus bereits diskutiert,<br />
was mit dem Haus nach der Ära<br />
Tebartz geschieht. Ein Flüchtlingsheim<br />
oder eine Suppenküche sollen rein. Es<br />
wäre sicher die teuerste Suppenküche,<br />
die das Abendland je gesehen hat.<br />
Auf der anderen Seite des mit Kopfstein gepflasterten<br />
Weges befindet sich ein Stand<br />
mit Devotionalien. Rosenkränze, Kreuze<br />
und Postkarten gibt’s hier zu kaufen.<br />
„Immer wieder musste ich hier alles abbauen,<br />
damit die mit ihren Baufahrzeugen<br />
durchkommen“, berichtet der Händler.<br />
Ihm war der Bau von Anfang an suspekt.<br />
„Wer eine Baustelle verhüllt und<br />
mit Wachpersonal vor unerwünschtem<br />
Besuch schützen muss, der hat etwas zu<br />
verheimlichen.“ Allein schuldig sei der Bischof<br />
aber nicht. „Der hat ja nicht jede<br />
Überweisung selbst unterschrieben.“<br />
Wiederkommen könne der Bischof<br />
aber auf gar keinen Fall. Würde Tebartzvan<br />
Elst in seinem Bistum wieder die<br />
Kommunion spenden, bliebe sie einigen<br />
sicher im Halse stecken. Falls überhaupt<br />
noch jemand zum Mahl der Versöhnung<br />
kommt. In Scharen treten die Limburger<br />
seit dem Beginn der Affäre aus der Kirche<br />
aus. Der Skandal hat den Limburgern<br />
auch den Appetit auf die Eucharistie<br />
verdorben. Nur selten sind noch Stimmen<br />
zu hören, die sich den Bischof zurückwünschen.<br />
Selbst die, die ihm gewogen<br />
sind, haben nur wenig Hoffnung.<br />
„Die Leute würden ihn auspfeifen, wenn<br />
er wiederkommt“, befürchtet ein Paar.<br />
Dabei haben sie den Bischof in guter Erinnerung<br />
und würden ihn gerne wieder<br />
in Limburg willkommen heißen. Schließlich<br />
sind sie mit ihm nach Israel gewallfahrt.<br />
„Das Haus hätte sowieso restauriert<br />
werden müssen“, sagt der Mann.<br />
Der Bischof habe nur alles ordentlich hergerichtet.<br />
Vielleicht hätte es Tebartz-van Elst<br />
Don Camillo gleichtun müssen: Luxus<br />
tut niemandem weh, vorausgesetzt, die<br />
Gemeinschaft profitiert davon, ist die<br />
Botschaft der „Bischofspizza“. Immerhin<br />
gibt es vom Kölner U-Bahn-Bau bis zum<br />
Berliner Flughafen viele aus dem Ruder<br />
laufende Bauvorhaben, für die sich niemand<br />
interessiert. Sie alle geben ein Versprechen<br />
an die Zukunft ab, sie geloben<br />
Wachstum, obwohl sie in Wahrheit Verschwendung<br />
mit sich bringen. Nur die<br />
katholische Kirche in Limburg glaubt anscheinend<br />
nicht an Wachstum. Dabei duftet<br />
doch schon die ganze Stadt nach Pizza.<br />
Gleich mehrere andere Restaurants<br />
griffen Don Camillos Idee mittlerweile<br />
auf. Ein Gast rät dem Besitzer sogar, auf<br />
seinem Plakat lieber das Wort „Spende“<br />
großzuschreiben und nicht das Wort „Bischof“.<br />
„Damit ließe sich der Umsatz bestimmt<br />
noch verbessern.“ Der Bischof<br />
komme ja nicht mehr so gut an. „Der<br />
schreckt doch bloß die Kundschaft ab.“<br />
Eine Baracke muss es ja nicht sein<br />
VATIKAN Franziskus hat die Entscheidung über die Zukunft des Bischofs von Limburg vertagt. Viele, die mit dem neuen Papst fremdeln, sehen in<br />
Tebartz-van Elst das erste Opfer einer Abrechnung mit Benedikt XVI.<br />
Von Andrea Tornielli, Rom<br />
Es gibt Geistliche in Rom, die dem Limburger<br />
mehr Geschick gewünscht hätten,<br />
damit er seine Mission erfüllen kann. Ein<br />
wichtiger Prälat aus der näheren Umgebung<br />
von Joseph Ratzinger, der anonym<br />
bleiben will, bemerkte zum Umgang der<br />
deutschen Medien mit Franz-Peter Tebartz-van<br />
Elst: „Mit dieser Vorgehensweise<br />
könnte man jeden Bischof vor die Tür<br />
setzen.“ Warum traf es dann ausgerechnet<br />
den Bischof von Limburg? Die Anhänger<br />
Ratzingers in der römischen Kurie<br />
sind der Meinung, dass Tebartz-van Elst<br />
nicht nur für seine eigenen Fehler an den<br />
Pranger gestellt wird, sondern auch dafür,<br />
dass er von Benedikt XVI. zum Nachfolger<br />
von Franz Kamp haus ernannt wurde,<br />
dem fortschrittlichsten Bischof, den<br />
Deutschland je hatte.<br />
In den Kreisen, die dem emeritierten<br />
Papst am nächsten sind, erinnert man<br />
sich an diesen Vorfall: Als der sehr junge<br />
Tebartz-van Elst zum Bischof ernannt<br />
wurde, erhielt er das Mandat, seine Diözese,<br />
die „dem Protestantismus nach 25<br />
Jahren Kamphaus-Ära angeblich zu nahe<br />
gerückt“ war, wieder „katholisch“ zu machen.<br />
Es geht also aus Sicht des Vatikans<br />
in Limburg um sehr viel mehr als ein aus<br />
dem Ruder gelaufenes Bauprojekt: Der<br />
Fall Limburg wäre nicht zu dem Skandal<br />
geworden, der er ist, wenn sich hinter der<br />
Kritik an den übermäßigen Ausgaben<br />
nicht noch eine schwerwiegendere Auseinandersetzung<br />
verborgen hätte.<br />
Direkt nach der Audienz mit Bergoglio<br />
verbreiteten die Anhänger des umstrittenen<br />
Bischofs im Vatikan die Nachricht,<br />
das Treffen mit Papst Franziskus sei „positiv<br />
verlaufen“. Tebartz-van Elst selbst beschrieb<br />
auf der Homepage der Diözese<br />
einige Stunden nach dem Treffen die<br />
Stimmung als „ermutigend“. Warum<br />
„positiv“, warum „ermutigend“? Weil<br />
wohl die Möglichkeit im Raum stand,<br />
Franziskus könne den Bischof ersuchen,<br />
auf das Amt zu verzichten, so wie es in<br />
Deutschland viele Kritiker wünschten.<br />
Doch diesem Wunsch hat der Papst, trotz<br />
allem, nicht entsprochen.<br />
In Deutschland wurde die Papst-Entscheidung<br />
derweil als das gedeutet, was<br />
sie keineswegs ist: eine Beseitigung von<br />
Tebartz-van Elst aus dem Amt.<br />
Zu dieser Mehrdeutigkeit hat auch die<br />
Kommunikationsstrategie des Vatikans<br />
beigetragen, oder genauer das Fehlen einer<br />
Kommunikationsstrategie: So wurde<br />
die Pressemitteilung erst am späten Vormittag<br />
veröffentlicht, als die Nachrichtensender<br />
ihre Sendungen bereits im Kasten<br />
hatten. Hintergrundinformationen gab es<br />
nicht.<br />
Obwohl Tebartz-van Elst nach Meinung<br />
der meisten Vatikan-Insider kaum<br />
nach Limburg zurückkehren kann, war<br />
der Beschluss des Papstes in Wirklichkeit<br />
ein Spiel auf <strong>Zeit</strong>. Zu Recht. Immerhin<br />
gibt es eine Kommission der Deutschen<br />
Bischofskonferenz, die mit der Prüfung<br />
Die Anhänger Ratzingers in der<br />
Kurie meinen, dass Tebartz-van<br />
Elst nicht nur für seine eigenen<br />
Fehler an den Pranger gestellt<br />
wird, sondern auch dafür, dass<br />
ihn Benedikt XVI. ernannte.<br />
der Vorgänge betraut ist und gerade erst<br />
die Arbeit aufgenommen hat. Es wäre<br />
unangebracht, Entscheidungen zu treffen,<br />
ohne das Ergebnis der Untersuchung<br />
zu kennen. Auch aus Rücksicht auf die<br />
Ortskirchen und den deutschen Episkopat<br />
konnte der Papst keine andere Entscheidung<br />
treffen. Gleichzeitig will der<br />
Vatikan wohl das Urteil des Hamburger<br />
Gerichts im Strafverfahren wegen einer<br />
angeblichen Falschaussage von Franz-Peter<br />
Tebartz-van Elst abwarten.<br />
Franziskus wie auch dem Heiligen<br />
Stuhl missfällt es, drastische Entscheidungen<br />
unter dem Druck der Medien zu treffen.<br />
Das war auch schon unter Benedikt<br />
so. „Es ist deshalb nötig, dass sich die Wogen<br />
glätten, dass ein bisschen Ruhe einkehrt“,<br />
wiederholen Stimmen aus dem<br />
Vatikan, „und es ist nötig, dass der Limburger<br />
Bischof sich eine Auszeit nimmt<br />
für Entspannung und Reflexion. Danach,<br />
wenn die Ergebnisse der Kommission bekannt<br />
geworden sind, wird man sehen.“<br />
Ein wichtiges Detail sollte dabei nicht<br />
außer Acht gelassen werden: Die Akte<br />
über Tebartz-van Elst ist von der Bischofskongregation<br />
verwaltet worden,<br />
die wiederum führt der kanadische Bischof<br />
Marc Ouellet. Der Papst und der<br />
Heilige Stuhl gehen davon aus, dass der<br />
Limburger Bischof zurzeit nicht imstande<br />
ist, seine Diözese zu führen. Ein Sachverhalt,<br />
den Tebartz-van Elst gegenüber<br />
Ouellet selbst zugegeben hat. Daher<br />
muss etwas geschehen. Der Bischof muss<br />
Hilfe annehmen und sich ändern. Sonst<br />
ist eine Rückkehr unmöglich.<br />
Der Jesuit Pater Bernd Hagenkord, Direktor<br />
der deutschsprachigen Redaktion<br />
von Radio Vatikan, hält die Pressemitteilung<br />
für ein Zeichen des Vertrauens gegenüber<br />
der Deutschen Bischofskonferenz.<br />
Sie sei absichtlich so formuliert<br />
worden, dass sie alle Möglichkeiten offenlässt<br />
in Erwartung der Untersuchung in<br />
Limburg. Aber Hagenkord fügte auch<br />
hinzu: „Die letzten Wochen waren von<br />
Emotionen und Verstörung gezeichnet.<br />
Das Vertrauen (in den Bischof von Limburg,<br />
Anm. d. Red.) hat gefehlt, auch<br />
vonseiten der engsten Mitarbeiter. Die<br />
Dinge können so nicht weitergehen.“ Das<br />
sei klar. „Es ist schmerzhaft, besonders<br />
für die Menschen in Limburg. Aber auch<br />
bei uns quillt das E-Mail-Postfach über<br />
mit E-Mails von Menschen, die enttäuscht,<br />
frustriert und wütend sind.“<br />
Andrea Tornielli ist Vatikanexperte<br />
der Tageszeitung „La Stampa“.<br />
Übersetzung: Anna Plassmann
C&W 4 GROSSAUFNAHME<br />
C HRIST & WELT | 45/2013<br />
Freude 1: Im Kölner Dom feiern Gläubige die heilige Messe.<br />
Freude 2: Im Bundestagswahlkampf 1998 feiern CDU-Mitglieder passende Worte.<br />
Deflationsgefahr!<br />
KURSBESTIMMUNG Eine Wahrheit gegen die Inflation der Wahrheiten – dieser katholische Kurs ist gescheitert, meint der Salzburger Theologe Hans-Joachim Sander.<br />
Er rechnet vor, was Limburg die katholische Kirche wirklich kostet<br />
Von Hans-Joachim Sander<br />
Die katholische Kirche hat die<br />
Wahrheit gepachtet. Hätte sie<br />
keine Wahrheit gepachtet, wäre<br />
sie belanglos. Aber damit<br />
fangen ihre Probleme erst an. Wer etwas<br />
gepachtet hat, ist nicht Eigentümer des<br />
Gepachteten. Ein Zins ist zu zahlen. Für<br />
die kirchliche Wahrheit gilt das auch. Kirche<br />
muss zusehen, dass sie mehr an Wert<br />
auf dem Markt erzielt, als sie an Pacht zu<br />
zahlen hat. Die Kirche glaubte in den<br />
letzten Jahren allerdings, die Währung, in<br />
der sie ihren Glauben anbietet, würde<br />
verfallen, während sie in Wahrheit derzeit<br />
nicht mehr in der Lage ist, mit den Preisen,<br />
die sie auf dem Markt für ihre Produkte<br />
erzielt, ihre Investitionen hereinzuholen.<br />
Sie will Inflation bekämpfen<br />
und verschärft damit nur die Deflation, in<br />
der ihr Wahrheitsangebot steckt. Ihr<br />
Glaubwürdigkeitsproblem wird dadurch<br />
größer und der Kredit immer teurer, den<br />
sie benötigt. Der Kredit kommt von den<br />
Menschen, die ihr glauben müssen, was<br />
sie vertritt, und auch von Gott, der die<br />
Wahrheiten verpachtet, die sie anbietet.<br />
Eine Heilsökonomie ist nicht in jeder<br />
Hinsicht wie jede andere Ökonomie verhandelbar.<br />
Die Frage nach der Gewinnmaximierung<br />
stellt sich anders, es gibt<br />
nur einen Markt, den religiösen, und man<br />
hat auch nur eine Währung, die Gegenwart<br />
Gottes. Aber wichtige ökonomische<br />
Regeln gelten in der Heilsökonomie verschärft.<br />
Heil kann im Wert verfallen,<br />
wenn die Kirche falschen Einschätzungen<br />
folgt. Das ist in den vergangenen beiden<br />
Pontifikaten auf breiter Front geschehen.<br />
Sie glaubten, die Wahrheit Gottes singularisieren<br />
zu können, um dem Plural anderer<br />
Wahrheiten zu entgehen. Aber<br />
menschliches Wissen kennt viele Wahrheiten,<br />
nicht nur theologische, und die<br />
kirchliche Wahrheit muss sich ihnen aussetzen.<br />
Sonst kann sie die göttliche Wahrheit<br />
nicht mehren, wie Jesu Gleichnis von<br />
den Talenten es verlangt. Stattdessen<br />
stemmte sich die offizielle Kirche nach<br />
außen gegen eine Diktatur des Relativismus,<br />
während die Diktaturen der Relativierung<br />
innen im eigenen Zentrum fröhliche<br />
Urständ feierten.<br />
Anstatt ehrlich zu diskutieren, warum die<br />
Hierarchie so lange den sexuellen Missbrauch<br />
in der Kirche verschwieg, wurden<br />
Einflüsterungen von einigen primär an<br />
Macht interessierten Gründerfiguren charismatischer<br />
Bewegungen als spirituell<br />
vorbildlich hingestellt. Statt mit Protestanten<br />
über 500 Jahre Reformation und<br />
den Kirchenlehrer Luther zu reden, wurde<br />
mit den Piusbrüdern über die Relativierung<br />
des Zweiten Vatikanischen Konzils<br />
verhandelt. Anstatt sich mit der<br />
Wahrheit einer verbreiteten Homosexualität<br />
im Klerus zu befassen, wurde das<br />
von einem Kardinalstaatssekretär zur Ursache<br />
des sexuellen Missbrauchs durch<br />
Priester erklärt. Anstatt sich über die Ursachen<br />
der Finanzkrise des Kapitalismus<br />
Gedanken zu machen, wurden die internationalen<br />
Regeln gegen Geldwäsche von<br />
der Vatikanbank ferngehalten.<br />
Diese falsche Strategie hängt am fehlenden<br />
heilsökonomischen Sinn für die<br />
Autorität der Wahrheiten der anderen.<br />
Die Kirchenspitze glaubte gegen die Pluralität<br />
der heutigen Wahrheiten das Ideal<br />
der eigenen Wahrheit schützen zu müssen.<br />
Sie hat versucht, einer Inflationierung<br />
der göttlichen Wahrheit entgegenzutreten,<br />
indem sie diese erhaben über<br />
die anderen Wahrheiten stellte. Diese Inflationsbekämpfung<br />
wurde am Ende von<br />
Benedikt XVI. sogar in die Kirche selbst<br />
hinein als Entweltlichung ausgerufen.<br />
Aber es ist gerade diese Strategie, die<br />
zu Irrlichtern wie dem Bau von Limburg<br />
führt. Hier ist ein Bischof entweltlicht<br />
mit einem Geld verfahren, das ihm nicht<br />
gehört, sondern lediglich von früheren<br />
für kommende Generationen zu treuen<br />
Händen geliehen ist. Mehr noch, er durfte<br />
sich als von der eigenen Kirchenspitze<br />
ausersehener Repräsentant in die erhabene<br />
Lage versetzt fühlen, die elementaren<br />
Regeln der heutigen Welt für Versicherungen<br />
an Eides statt einfach nicht beachten<br />
zu müssen. Wenn weltlich vorgesehen<br />
ist, nicht die Unwahrheit zu sagen,<br />
sobald der Eid bemüht wird, dann ist das<br />
entweltlicht nicht von Belang.<br />
Aber die gegenwärtigen <strong>Zeit</strong>en vertragen<br />
aufgeblasene Selbstdemonstrationen<br />
erhabener Wahrheiten nicht mehr. Auch<br />
Menschen, deren Existenz mit dem<br />
christlichen Glauben innerlich verbunden<br />
ist, können sich woanders nach bescheideneren<br />
Wahrheiten umsehen; der Markt<br />
hält genügend davon bereit. Das Angebot<br />
hat sich enorm ausgeweitet, es liegen<br />
schon längst nicht mehr Ramschwaren<br />
an den Ständen aus. Der Preis für die Angebote<br />
an Wahrheiten sinkt, der Wert der<br />
Währung verfällt jedoch nicht.<br />
Deshalb läuft der antiinflationäre Impetus<br />
der offiziellen katholischen Kirche<br />
beim Ausschluss wiederverheirateter Geschiedener<br />
von den Sakramenten, bei der<br />
Überhöhung der Priester gegen andere<br />
hauptberufliche Seelsorgerinnen und<br />
Seelsorger, bei der Verweigerung des sakramentalen<br />
Diakonats für Frauen, bei<br />
der Sakralisierung des Zölibats als einer<br />
angeblich von Gott für die Verbreitung<br />
seiner Wahrheit gewollten Lebensform<br />
unweigerlich und immer sichtbarer ins<br />
Leere. Die Entstehungskosten dieser Investitionen<br />
sind so hoch, dass sie nicht<br />
mehr zurückkommen. Sie gehören zwar<br />
nicht zur luxuriösen Innenausstattung<br />
der bischöflichen Stadt in Limburg, aber<br />
auch ihnen hängt derselbe stechende Geruch<br />
entweltlichter Inflationsbekämpfung<br />
an. Das wirkt sich aus: Der sakramentale<br />
Ausschluss wiederverheirateter<br />
Geschiedener führt nicht zu mehr kirchlichen<br />
Eheschließungen. Die sichtbare Privilegierung<br />
des Klerus führt nicht zu<br />
mehr Priesterweihen. Der deutlich zur<br />
Schau getragene mangelnde Respekt für<br />
den Wert der Ökumene lässt die katholische<br />
Wahrheit des Glaubens nicht heller<br />
strahlen. Und vom fehlenden Kredit heutiger<br />
Menschen für die katholischen Moralangebote<br />
muss man nicht mehr viel sagen.<br />
Deren Verfallsdatum ist so weit<br />
überschritten, dass auch Sonderangebote<br />
wie die „Pille danach“ wenig helfen.<br />
Menschen haben heute eine viel größere<br />
Reserve gegenüber dem kirchlichen<br />
Wahrheitsangebot als früher. Sie können<br />
sich das leisten. Niemand drängt sie, ihre<br />
Existenz in das zu investieren, was die<br />
Kirche aus ihrer gepachteten Wahrheit<br />
macht. Ebenso wenig sind Staaten bereit,<br />
der Kirche Kreditprivilegien über die hinaus<br />
zu gewähren, die sie von früher hat;<br />
bei Fragen nach der Ehefähigkeit gleichgeschlechtlicher<br />
Partnerschaften ist das<br />
deutlich zu erkennen. Menschen sind die<br />
Gläubigerinnen und Gläubiger der Religionsgemeinschaften.<br />
Die Ausweitung des<br />
religiösen Marktes hat ihre Lage deutlich<br />
verbessert. Entsprechend muss eine Kirche<br />
glaubwürdiger sein als jemals früher.<br />
Glaubwürdigkeit ist ein prekäres Gut in <strong>Zeit</strong>en<br />
kirchlichen Autoritätsverfalls; entweltlichte<br />
Macht hält das nicht auf. Die Kirche<br />
steht vor der heilsökonomischen Situation<br />
einer Deflation. Sie muss ihre<br />
Kreditwürdigkeit erhöhen, nicht Wahrheiten<br />
Gottes vor weltlichem Wertverfall<br />
bewahren. In der Normalökonomie bekämpft<br />
man Deflation mit Zinssenkungen<br />
und Erhöhung der Geldmenge. In<br />
der Heilsökonomie kommen Zinssenkungen<br />
für die Pacht nicht infrage. In die<br />
Liquiditätsfalle wird Gott seine Wahrheit<br />
nicht laufen lassen; sie muss an andere<br />
weitergegeben werden. Dafür gibt es sie,<br />
und keine Kirche kann sich vorübergehend<br />
daraufsetzen. Es bleibt also die<br />
Ausdehnung der Geldmenge. Das ist gar<br />
nicht so schwierig, wenn man zugrunde<br />
legt, dass die Währung der Heilsökonomie<br />
Gottes Präsenz ist. Er ist von sich<br />
her da unter den Menschen, und darauf<br />
verweist die christliche Heilsökonomie.<br />
In den vergeblichen Versuchen, eine Inflation<br />
zu bekämpfen, die gar nicht da ist,<br />
hat die Kirche diese Präsenz unter den<br />
Menschen heute verkleinern wollen. Das<br />
muss sie zurücknehmen. Das Zweite Vatikanum<br />
hat vorgemacht, wie es geht. Es<br />
hat die bleibende Gegenwart Gottes bei<br />
anderen Religionen, in anderen Konfessionen,<br />
bei allen Menschen guten Willens,<br />
ja sogar bei den Gegnern der Kirche,<br />
respektiert und zur Sprache gebracht.<br />
Es ist hohe <strong>Zeit</strong>, dass die katholische<br />
Kirche zur Ökonomie des Heils zurückkehrt,<br />
welche die Wahrheit verlangt, die<br />
sie gepachtet hat. Andernfalls wird die<br />
Deflation sie Zug um Zug handlungsunfähig<br />
machen, pastoral und politisch,<br />
religiös und spirituell lähmen. Wenn<br />
Franziskus mit seiner spirituellen Option<br />
für die Armen wenigstens das Gespür für<br />
die Gefahr steigern könnte, dass der Wert<br />
des Heils verfallen kann, wenn falsche<br />
Produkte angeboten werden wie die Privilegierung<br />
kirchlicher Eliten, dann wäre<br />
schon viel gewonnen.<br />
Hans-Joachim Sander ist Professor für<br />
Systematische Theologie der Universität<br />
Salzburg.<br />
Der Matrose Gottes<br />
GENERALVIKAR Wolfgang Rösch leitet das Bistum Limburg während der Auszeit des Chefs. Ein kurzes Treffen mit dem Schlichter wider Willen<br />
Von Laura Díaz<br />
Auf dem obersten der elf Klingelschilder<br />
steht lediglich ein Nachname: Rösch.<br />
Kein Vorname, kein Titel. Hier, in einer<br />
kleinen Gasse nur wenige Schritte von<br />
der Wiesbadener St.-Bonifatius-Kirche<br />
entfernt, lebt der neue Limburger Generalvikar<br />
Wolfgang Rösch. Seit Montag leitet<br />
er offiziell die Amtsgeschäfte ebenjener<br />
Diözese, die seit Wochen wegen des<br />
millionenschweren Baus des Bischofssitzes<br />
in den Schlagzeilen ist. Rösch soll, solange<br />
Franz-Peter Tebartz-van Elst pausiert,<br />
in seiner neuen Funktion als kommissarischer<br />
Leiter wieder für Ruhe im<br />
Bistum Limburg sorgen. Doch kann der<br />
54-jährige ehemalige Wiesbadener Stadtdekan<br />
die Aufgabe meistern, die ihm<br />
Papst Franziskus auferlegt hat? Ist er der<br />
richtige Kandidat, um die Wogen zu glätten<br />
und Vertrauen zu gewinnen?<br />
Samstagnachmittag in Wiesbaden.<br />
Wolfgang Rösch steht im Esszimmer der<br />
Geistlichen-WG, in der er lebt, und telefoniert.<br />
Er wirkt angespannt, geht ständig<br />
auf und ab und hat nur wenig <strong>Zeit</strong>.<br />
Gleich muss er weiter. Erst vor wenigen<br />
Tagen hat der ehemalige Stadtdekan erfahren,<br />
dass er sofort das Amt des Generalvikars<br />
übernehmen soll. Da war er mit<br />
dem Fahrrad noch in Spanien unterwegs.<br />
Das Fahrrad, nicht der Dienstwagen, ist<br />
Röschs liebstes Transportmittel. Er sei<br />
mit dem Rad sogar schon einmal von<br />
Wiesbaden nach Rom gefahren, heißt es.<br />
Dieses Mal ist er zusammen mit seinem<br />
Bruder und seinem Neffen auf dem Jakobsweg<br />
unterwegs gewesen, von Sevilla<br />
nach Santiago de Compostela. „Rösch ist<br />
ein richtiger Familienmensch“, erzählt<br />
Thomas Schüller, Kirchenrechtler an der<br />
Universität Münster und ehemaliger persönlicher<br />
Referent des ehemaligen Limburger<br />
Bischofs Franz Kamphaus. Schüller<br />
kennt Rösch seit 20 Jahren. Sie begegneten<br />
sich Anfang der Neunziger zum<br />
ersten Mal, als Rösch noch ein junger<br />
Pfarrer im Raum Limburg war. „Rösch ist<br />
jemand, der aus dem eigenen Umfeld<br />
weiß, wie Familien heutzutage funktionieren.“<br />
Er habe durch den engen Kontakt<br />
zu Geschwistern, Neffen und Nichten<br />
eine „normale Sicht auf die Welt“.<br />
Wolfgang Rösch war bisher Stadtdekan von<br />
Wiesbaden. Er wuchs im Rheingau auf.<br />
Rösch wuchs mit seinen drei Brüdern im<br />
Rheingau auf. Eine gläubige Großfamilie seien<br />
die Röschs gewesen. In den Gottesdiensten<br />
habe er sich als Kind früher gelangweilt,<br />
erzählte er mal. Nach dem Abitur<br />
studierte er Maschinenbau. Dort sei<br />
er durch Besuche in Bibelkreisen zu dem<br />
Wunsch gekommen, sich der Kirche zuzuwenden.<br />
In Frankfurt und Rom studierte<br />
er Theologie. 1990 wurde er zum<br />
Priester geweiht, kurze <strong>Zeit</strong> später folgte<br />
die erste Pfarrstelle im Limburger Raum.<br />
1997 wurde er Regens des Priesterseminars.<br />
Danach war er als Pfarrer in Königstein<br />
und Kronberg tätig. 2010 wurde er<br />
zum Stadtdekan ernannt und zum Vorsitzenden<br />
der Caritas Wiesbaden.<br />
Jetzt muss er ins Bistum Limburg,<br />
zwei Monate früher als ursprünglich geplant.<br />
Seiner Pfarrei St. Bonifatius wird er<br />
trotz der neuen Aufgabe erhalten bleiben,<br />
sagt Rösch im Hinausgehen. An den Wochenenden<br />
will er in Wiesbaden Gottesdienste<br />
halten. Unter der Woche Krisenmanager<br />
in Limburg, an den Sonntagen<br />
Seelsorger in Wiesbaden. Die knapp 50<br />
Kilometer zwischen den beiden Städten<br />
will er pendeln. Der Neue in Limburg<br />
wohnt also weiterhin im Pfarrhaus der<br />
Wiesbadener St.-Bonifatius-Kirche, in einer<br />
Altbauwohnung mit hohen weißen<br />
Decken, großen Fenstern und schickem<br />
Holzboden. Esszimmer und Küche teilt<br />
sich Wolfgang Rösch mit seinen Mitbewohnern.<br />
Ein Kaplan, ein Pfarrer und<br />
ein Diakon in Ausbildung leben unter<br />
demselben Dach. Die Wiesbadener Geistlichen-WG<br />
ist damit schon jetzt der Gegenentwurf<br />
zum Limburger Ein-Mann-<br />
Palast des Franz-Peter Tebartz-van Elst.<br />
Oben wird gewohnt, unten gekocht<br />
und gebetet. „Rösch ist ein Mensch, der<br />
Freude an Gemeinschaft hat“, sagt Pfarrer<br />
Stephan Gras. Seit zwei Jahren leben<br />
die beiden zusammen im Pfarrhaus. Gras<br />
beschreibt den neuen Generalvikar als jemanden,<br />
der abends für das ganze Haus<br />
am Herd steht. Wolfgang Röschs Spezialität:<br />
italienische Küche. Hier in Wiesbaden<br />
fühlt sich Rösch wohl. Von den Gemeindemitgliedern<br />
wird er geschätzt. Einige<br />
sind traurig, dass ihr Stadtdekan nun<br />
schon wieder gehen muss. „Um die Probleme<br />
in Limburg zu lösen, die der Bischof<br />
da geschaffen hat“, ärgert sich eine<br />
Frau auf dem Wochenmarkt. Rösch gilt<br />
als Schlichter, aber eben auch als treu, still<br />
und loyal. Als die Affäre um Tebartz-van<br />
Elst eskalierte, fiel er nicht wie sein<br />
Frankfurter Kollege Johannes zu Eltz als<br />
Bischofskritiker auf, auch deshalb wurde<br />
er nun vorzeitig zu Höherem berufen.<br />
Aus acht Innenstadtgemeinden formte<br />
der Stadtdekan 2012 eine Großpfarrei.<br />
Der Fusionsprozess wurde heiß diskutiert.<br />
Wo Kirchen geschlossen und Stellen<br />
gestrichen werden, entstehen naturgemäß<br />
Konflikte. Doch glaubt man den<br />
Berichten der Gemeindemitglieder, konnte<br />
Rösch die Ängste mildern. „Er ist ein<br />
Teamplayer“, sagt Schüller. Ein nüchterner<br />
Typ, „very british“, dazu typisch<br />
deutsch, also sehr diszipliniert. Gerhard<br />
Müller, stellvertretender evangelischer<br />
Stadtdekan aus Wiesbaden, hat Rösch vor<br />
allem im ökumenischen Miteinander<br />
kennengelernt. „Ich schätze Rösch als einen<br />
verlässlichen Kollegen, dem die Seelsorge<br />
sehr wichtig ist“, sagt Müller. In seiner<br />
neuen Funktion wird Rösch jedoch<br />
künftig häufiger am Schreibtisch sitzen<br />
als im Beichtstuhl und eher verwalten als<br />
predigen. In einer schwierigen Lage muss<br />
er dem neuen (oder alten) Bischof den<br />
Stuhl warm halten, und das in einer<br />
Stadt, in der sich die Laien so sehr an den<br />
Aufstand gewöhnt haben, dass sie<br />
schwerlich zu besänftigen sein werden.<br />
Ein Himmelfahrtskommando.<br />
Kann er das, will er das übernehmen? Eine<br />
seiner besten wie schlechtesten Eigenschaften,<br />
heißt es, sei sein Gehorsam.<br />
Wenn der Bischof ruft, folgt er. Wenn der<br />
Papst verordnet, fügt er sich. Er ist ein<br />
Matrose Gottes, kein Meuterer. Als solcher<br />
kann er viel bewegen in Limburg.<br />
Oder gar nichts.<br />
Kritiker werfen Rösch vor, dass er zu<br />
farblos sei, zu passiv, zu sehr sanfter Seelsorger,<br />
ein Zurückhalter, der sich zu wenig<br />
einbringe und wenig habe von Franz<br />
Kamphaus, dem Lieblingsbischof der<br />
Limburger. „Rösch ist nicht der Typ, der<br />
sich in den Vordergrund spielt, das mag<br />
sein, aber wenn er etwas sagt, dann hat es<br />
immer Gewicht“, so Gerhard Müller.<br />
Ein Arbeitstier soll er sein, fleißig,<br />
strukturiert. „Ich erinnere mich an einen<br />
Abend“, erzählt Simon Schade, „als Wolfgang<br />
für 20 ehrenamtliche Helfer ein Sieben-Gänge-Menü<br />
vorbereitet hat, er war<br />
extrem durchorganisiert, alles hat auf die<br />
Minute gepasst.“ Der Kaplan aus Wiesbaden<br />
kennt Wolfgang Rösch seit Jahren.<br />
Schade ist sich sicher: Rösch schafft das.<br />
Nur ist die Befriedung eines Bistums eben<br />
kein Abendessen mit Freunden. Dennoch:<br />
Die Voraussetzungen, unter denen<br />
Rösch im Jahr 2010 Stadtdekan wurde,<br />
waren ähnlich ungünstig wie die heute<br />
beim Wechsel nach Limburg. Längst<br />
wusste die Kirchengemeinde damals<br />
von den Fusionsplänen, es fehlte nur<br />
noch ein Kirchenmanager, der sie umsetzte.<br />
Vielleicht wollte Bischof Franz-<br />
Peter Tebartz-van Elst Rösch deswegen<br />
zum Januar kommenden Jahres als neuen<br />
Generalvikar.<br />
Rösch sei damals von der Entscheidung<br />
sehr überrascht gewesen. Auch kirchenintern<br />
gab es Verwunderung. „Da<br />
fragt man sich, wie viel Menschenkenntnis<br />
Tebartz-van Elst überhaupt besitzt“,<br />
spottet man im Limburg. Es heißt, Rösch<br />
und Tebartz-van Elst könnten unterschiedlicher<br />
nicht sein. Der eine gilt als<br />
abgehoben, als Alleingänger, der andere<br />
dagegen als gesellig und bescheiden.<br />
Röschs Lebensmotto laute in Anlehnung<br />
an die Apostelgeschichte: „Gold und Silber<br />
haben wir nicht, aber das, was wir haben,<br />
geben wir.“ Es heißt, er wäre lieber<br />
in Wiesbaden geblieben. Doch wie sagte<br />
Wolfgang Rösch neulich in einem Fernsehinterview:<br />
„Neue Ämter sind wie<br />
neue Kinder, manchmal ungeplant, aber<br />
zum Schluss liebt man sie.“<br />
FOTOS: BERND ARNOLD (2); FREDRIK VON ERICHSEN/DPA/PICTURE ALLIANCE
C HRIST & WELT | 45/2013<br />
GESELLSCHAFT C&W 5<br />
FOTOS: BERND ARNOLD (2); EPD/IMAGO<br />
Mettmann 2013: In der Nähe von Düsseldorf wartet Peer Steinbrück auf seinen Einsatz im Wahlkampf.<br />
Mitte-Mann 1998: Gerhard Schröder wirbt in Aachen um Wählerstimmen. Seine Gestik ergänzt die Mimik des Schmerzensmanns.<br />
„Die Kontrollen funktionieren gut“<br />
EVANGELISCHE KIRCHE Kommende Woche tagt in Düsseldorf die Synode der EKD, das Parlament der kirchlichen Selbstverwaltung.<br />
Martin Dutzmann, Berliner Bevollmächtigter der EKD, über Macht, Transparenz und die Lehren aus Limburg<br />
Christ & Welt: Haben Sie schon mal<br />
davon geträumt, Katholik zu sein?<br />
Martin Dutzmann: Nein. Was mich aber nie<br />
daran gehindert hat, mit den katholischen<br />
Geschwistern vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.<br />
C & W: Bewundern Sie den<br />
katholischen Umgang mit Macht?<br />
Dutzmann: In der evangelischen Kirche<br />
wird Macht immer kollegial und zeitlich<br />
begrenzt ausgeübt. Das halte ich aus<br />
theologischen Gründen für geboten.<br />
C & W: Vom Landessuperintendenten<br />
der Lippischen Landeskirche sind<br />
Sie zum Bevollmächtigten der EKD<br />
geworden. Ein Abstieg?<br />
Dutzmann: Keineswegs. Für uns Protestanten<br />
ist auch das Bischofsamt, so leidenschaftlich<br />
gern wir es ausüben mögen, eine<br />
Funktion, die zeitlich begrenzt ist. Ich<br />
übernehme mit meinem neuen Amt eine<br />
nicht minder anspruchsvolle und interessante<br />
Aufgabe, sodass es mir auch nicht<br />
schwerfiel, diesen Wechsel zu vollziehen.<br />
C & W: Welche Macht haben Sie?<br />
Dutzmann: Ich hoffe, es ist die Macht des<br />
Arguments.<br />
C & W: Sehr protestantische Antwort!<br />
Dutzmann: Was haben Sie erwartet? Wir<br />
haben keinerlei Machtbefugnisse, sondern<br />
pflegen den Austausch und das Gespräch.<br />
Und wir hoffen, überzeugen zu<br />
können.<br />
C & W: Hermann Kunst, der erste Bevollmächtigte<br />
des Rates der EKD, war<br />
„Diplomat im Lutherrock“. Sehen Sie<br />
sich auch so? Oder sind Sie der oberste<br />
Lobbyist der evangelischen Sache?<br />
Dutzmann: Ich bin ausgebildet als Pastor,<br />
und als solcher möchte ich auch in Berlin<br />
und Brüssel wirken. Nicht weniger wichtig<br />
ist es aber, diplomatische Aufgaben im<br />
Sinne des Gemeinwohls zu übernehmen.<br />
Für ureigene kirchliche Belange setze ich<br />
mich ein, sofern das nötig ist, damit die<br />
Kirche ihren Auftrag erfüllen kann.<br />
»Bei uns Protestanten<br />
herrscht Transparenz im<br />
Blick auf unsere Finanzen.<br />
Wir haben das Prinzip der<br />
Haushaltswahrheit und<br />
Haushaltsklarheit. Jeder<br />
Synodale und jedes Gemeindeglied<br />
kann wissen, wo das<br />
Geld seiner Kirche herkommt,<br />
wo es sich befindet<br />
und wofür es ausgegeben<br />
oder angelegt wird.«<br />
Martin Dutzmann ist der neue Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche<br />
in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union.<br />
Der 57-jährige Theologe ist zugleich Militärbischof.<br />
C & W: Die katholische Kirche erlebt<br />
gerade einen enormen Vertrauens verlust<br />
durch die Tebartz-van-Elst- Affäre.<br />
Betrifft das die evangelische Kirche mit?<br />
Dutzmann: Die Unruhe betrifft uns mit,<br />
weil viele Menschen nicht zwischen evangelischer<br />
und katholischer Kirche unterscheiden.<br />
Sie meinen, die Finanzen der<br />
Kirche seien per se undurchschaubar.<br />
Hier lege ich Wert darauf, dass genau<br />
hingesehen wird: Bei uns Protestanten<br />
herrscht – wie in einigen katholischen<br />
Bistümern – Transparenz im Blick auf<br />
unsere Finanzen. Wir haben das Prinzip<br />
der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.<br />
Jeder Synodale und jedes Gemeindeglied<br />
kann wissen, wo das Geld<br />
seiner Kirche herkommt, wo es sich befindet<br />
und wofür es ausgegeben oder angelegt<br />
wird.<br />
C & W: Was raten Sie denn Ihren<br />
katholischen Kollegen in der Causa<br />
Limburg?<br />
Dutzmann: Ich glaube nicht, dass sie unseren<br />
Rat brauchen.<br />
C & W: Ist die evangelische Kirche gefeit<br />
vor ähnlichen Skandalen?<br />
Dutzmann: Bei uns gab es auch Probleme.<br />
Aber insgesamt funktionieren die Kontrollen<br />
gut.<br />
C & W: Manche Politiker stellen das<br />
bestehende Staatskirchenrecht infrage.<br />
Wie müsste das Verhältnis zwischen<br />
dem Staat und den Religionen zeitgemäß<br />
geregelt sein – auch mit Blick auf die<br />
nichtchristlichen Religionen?<br />
Dutzmann: Der Staat muss im Rahmen des<br />
Staatskirchen- oder auch Religionsverfassungsrechts<br />
dafür sorgen, dass jeder Bürger<br />
die im Grundgesetz verankerte Glaubensfreiheit<br />
wahrnehmen kann. Das gilt<br />
natürlich auch für Muslime. Da die Muslime<br />
traditionell nur locker organisiert<br />
sind, haben sie Schwierigkeiten, den gleichen<br />
Rechtsstatus zu erlangen wie die<br />
beiden großen Kirchen. Möglich ist es<br />
aber, wie jüngst ein Beispiel aus Hessen<br />
zeigte. Hamburg und Bremen haben inzwischen<br />
Verträge mit muslimischen Gemeinschaften<br />
geschlossen. Ich bin auch<br />
als Militärbischof immer mal wieder gefragt<br />
worden, was ich von einer muslimischen<br />
Militärseelsorge halte. Ich kann dazu<br />
nur ermuntern. Der Artikel 4 des<br />
Grundgesetzes ist der Ast, auf dem auch<br />
wir sitzen.<br />
C & W: Der Bund beteiligt sich massiv<br />
am Lutherjubiläum 2017. Wem gehört<br />
Luther?<br />
Dutzmann: Luther „gehört“ den Menschen,<br />
und die sind oft beides: Glieder unserer<br />
Kirche und Staatsbürger. Da lasse<br />
ich mich nicht auf ein Entweder-oder ein.<br />
Der Staat beteiligt sich aus gutem Grund<br />
am Jubiläum. Der Deutsche Bundestag<br />
hat festgehalten, dass die Reformation ein<br />
Ereignis nationalen und europäischen<br />
Ranges ist, ein Ereignis mit vielen Dimensionen,<br />
religiösen, aber eben auch<br />
kulturellen und politischen.<br />
C & W: Wenn Sie bei den Koalitions -<br />
verhandlungen dabei wären: Was<br />
würden Sie ins Regierungsprogramm<br />
schreiben?<br />
Dutzmann: Es steht uns nicht zu, etwas ins<br />
Regierungsprogramm zu schreiben. Wir<br />
können aber deutlich machen, woran uns<br />
gelegen ist. Ein Beispiel: Nicht erst seit<br />
den jüngsten dramatischen Ereignissen<br />
vor Lampedusa erwarten wir eine Neuausrichtung<br />
in der europäischen Migrations-<br />
und Flüchtlingspolitik. Wenn bekannt<br />
ist, dass sich Menschen in Seenot<br />
befinden, müssen diese gerettet werden.<br />
Schutzsuchende müssen außerdem Zugang<br />
zu einem effektiven und fairen Asylverfahren<br />
bekommen. Auch hoffen wir,<br />
dass die Grundlagen der Dublin-III-Regelung<br />
reformiert werden, nach der Asylsuchende<br />
ihr Verfahren in dem Mitgliedsstaat<br />
durchlaufen müssen, in den sie bei<br />
Betreten Europas ihren Fuß gesetzt haben.<br />
Diese Regelung steht einer solidarischen<br />
Verteilung der Verantwortung unter<br />
allen Mitgliedsstaaten entgegen. Wir<br />
appellieren an die Bundesrepublik, sich in<br />
all diesen Fragen in Europa einzubringen<br />
und mehr Verantwortung zu übernehmen.<br />
C & W: Und wie steht es mit Europa<br />
in dieser Frage?<br />
Dutzmann: Gerade die Flüchtlingspolitik<br />
ist eine europäische Aufgabe. Die Agentur<br />
Frontex, die den Schutz der europäischen<br />
Grenzen koordiniert, muss in besonderer<br />
Weise zur Seenotrettung von<br />
Flüchtlingen verpflichtet werden. Zugleich<br />
ist darauf hinzuwirken, dass Bestimmungen<br />
der einzelnen Mitgliedsstaaten,<br />
die es etwa Fischern untersagen,<br />
Flüchtlingen in Seenot Hilfe zu leisten,<br />
aufgehoben werden.<br />
C & W: Ist Europa, ist Deutschland<br />
denn in der Lage, noch mehr Menschen<br />
aufzunehmen?<br />
Dutzmann: Davon bin ich überzeugt. Beispiel:<br />
Syrien. Zurzeit sind etwa sechs Millionen<br />
Syrer auf der Flucht, vier Millionen<br />
innerhalb des Landes, zwei Millionen<br />
in Nachbarländern. Wir nehmen 5000<br />
Menschen aus Syrien auf. Diese Maßnahme<br />
ist zu begrüßen, sollte aber noch<br />
nicht das Ende sein.<br />
C & W: Appellieren Sie denn auch<br />
an die Kirchen, da Unterstützung zu<br />
leisten?<br />
Dutzmann: Das tun sie schon in großem<br />
Ausmaß. An der Basis helfen sehr viele<br />
Haupt- und Ehrenamtliche.<br />
C & W: Sie wollen also keine Flüchtlinge<br />
auf kirchliche Kosten aufnehmen?<br />
Dutzmann: Mit den sozialen Diensten von<br />
Caritas und Diakonie bieten die Kirchen<br />
sowohl akute Hilfe als auch längerfristige<br />
Begleitung bei der Integration von<br />
Flüchtlingen und Migranten an. Die Kosten<br />
werden von den Kirchen zum großen<br />
Teil durch Eigenmittel getragen. Auch<br />
viele Gemeinden begleiten Flüchtlinge<br />
mit speziellen Angeboten, sei es durch<br />
ehrenamtlich erteilte Sprachkurse oder<br />
Arbeit mit Kindern, sei es durch praktische<br />
Unterstützung von Gemeinschaftsunterkünften<br />
in der Nachbarschaft oder<br />
Alltagshilfen. Die Aufnahme von Flüchtlingen<br />
aus dem Ausland zu finanzieren ist<br />
eine genuin staatliche Aufgabe, die die<br />
Kirchen nicht übernehmen sollten.<br />
C & W: Als Militärbischof begleiten Sie<br />
den Abzug der Bundeswehr aus<br />
Afghanistan. Soll Deutschland die<br />
afghanischen Mitarbeiter aufnehmen?<br />
Dutzmann: Bei diesem Thema erhoffe ich<br />
von der Bundesregierung Großzügigkeit.<br />
Wenn sich diese Menschen nun in Gefahr<br />
befinden, weil sie Deutschland bei der<br />
Wahrnehmung seiner Aufgaben unterstützt<br />
haben, sollte sich Deutschland verantwortlich<br />
zeigen.<br />
C & W: Aus humanitären Gründen?<br />
Dutzmann: Ja, aber auch aus sicherheitspolitischen<br />
Gründen. Die Bundeswehr<br />
musste und konnte sich auf die einheimischen<br />
Mitarbeiter verlassen. Viele davon<br />
fühlen sich nun bedroht. Wir müssen nun<br />
auch großzügig sein, um in vergleichbaren<br />
Situationen wieder Vertrauen gewinnen<br />
zu können. Wenn deutlich wird,<br />
dass die deutsche Bundeswehr Menschen<br />
Stimmen des Südens<br />
PERSONALENTWICKLUNG Der CSU-Mann Günther Beckstein hat gute Chancen, Präses<br />
der EKD-Synode zu werden. Die evangelische Kirche wird auch ansonsten bayerischer<br />
Von Benjamin Lassiwe<br />
und Wolfgang Thielmann<br />
In Bayern liegt die Zukunft der Protestanten.<br />
Das ist neu. Bisher kamen die<br />
Hoffnungsträger der evangelischen<br />
Kirche aus der nördlichen Hälfte<br />
Deutschlands. Oder aus Schwaben. Margot<br />
Käßmann zum Beispiel stammt aus<br />
Marburg, Wolfgang Huber ist schwäbischer<br />
Pfarrer. Katrin Göring-Eckardt<br />
wuchs in Friedrichroda in Thüringen auf.<br />
Joachim Gauck ist in Rostock geboren,<br />
Angela Merkel in Hamburg. Bayern war<br />
gut für Katholiken. Altötting zum Beispiel,<br />
das den letzten Papst geprägt hat.<br />
„Für Protestanten und Paarhufer verboten“,<br />
soll noch vor Jahrzehnten auf einem<br />
Schild am Marktplatz gestanden haben.<br />
Lächerlich. Als ob Protestanten freiwillig<br />
ins rappelkatholische Altötting gekommen<br />
wären.<br />
Doch jetzt kann der frühere bayerische Ministerpräsident<br />
Günther Beckstein der zweite<br />
Mann der Evangelischen Kirche in<br />
Deutschland (EKD) werden: Präses des<br />
140-köpfigen Parlaments, der Synode.<br />
Das ist doppelt neu. Zwar kommt er<br />
nicht so ganz aus Bayern, sondern aus<br />
dem fränkischen Hersbruck bei Nürnberg.<br />
Aber er gehört zur CSU. Früher hätte<br />
ihn das unwählbar in der evangelischen<br />
Kirche gemacht. Unter ihren Beschäftigten<br />
ist die Sympathie für die Grünen doppelt<br />
so hoch wie im Bevölkerungsschnitt.<br />
Vor vier Jahren waren die 140 EKD-<br />
Parlamentarier daher richtig stolz auf<br />
sich, dass ein Ruck durch die Synode gegangen<br />
war. Ein Rechtsruck. Beckstein<br />
für ihre Zwecke einspannt und sie dann<br />
ihrem Schicksal überlässt, wird das als<br />
Vertrauensmissbrauch empfunden werden.<br />
Und das kann nicht in unserem Sinne<br />
sein.<br />
C & W: Stichwort Arbeitsrecht: Auf<br />
der EKD-Synode in Düsseldorf wird<br />
auch über die Beteiligung der Gewerkschaften<br />
am Tarif- und Streikrecht<br />
diskutiert werden. Werden Sie das<br />
unterstützen?<br />
Dutzmann: Die Beteiligung der Gewerkschaften<br />
ist seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts<br />
verbindlich vorgesehen.<br />
Die EKD ist dabei, den gerichtlichen Vorgaben<br />
zu entsprechen, und wir tun das<br />
gern. Es gibt gute Gründe, an dem besonderen<br />
kirchlichen Weg im Arbeitsrecht<br />
festzuhalten.<br />
C & W: Welche?<br />
Dutzmann: Die Barmer Theologische Erklärung<br />
von 1934 sagt, dass die Kirche das<br />
Evangelium nicht nur durch ihre Predigt,<br />
sondern auch durch ihre Ordnung bezeugt.<br />
Der Dritte Weg und kirchengemäße<br />
Tarifverträge sind Versuche, die geistliche<br />
Dienstgemeinschaft der in der Kirche<br />
Tätigen auch rechtlich zu ordnen.<br />
Und ich kann nicht erkennen, dass es<br />
Menschen unter diesen Bedingungen<br />
schlechter geht als in anderen Arbeitsverhältnissen,<br />
im Gegenteil.<br />
durfte zum ersten Mal fürs Präsesamt<br />
kandidieren, das 20 Jahre in SPD-Hand<br />
gelegen hatte. Wie erwartet, unterlag er<br />
aber der grünen Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt<br />
und wurde Vize. Aus dieser<br />
grün-schwarzen Koalition hat er viel gemacht.<br />
Er ist unglaublich loyal und kompromissfähig.<br />
Das wiegt die Sorge der Synodalen<br />
vor den Plenarsitzungen auf, die<br />
er leitet und in denen er schon mal den<br />
Überblick verliert.<br />
Jetzt ist Göring-Eckardt ein halbes Jahr<br />
vor dem Ende ihrer kirchlichen Wahlperiode<br />
gegangen; es muss nachgewählt werden.<br />
Und siehe da, Beckstein kandidiert<br />
als Präses, wenn sich die Synode nächste<br />
Woche in Düsseldorf versammelt. Die<br />
Agenturen melden, Becksteins Wahl gelte<br />
als ziemlich sicher. Das heißt: Die Gruppen<br />
der Synode haben sich auf ihn verständigt.<br />
Es sei denn, er bekommt einen<br />
Gegenkandidaten.<br />
Noch sicherer ist der Einzug seines<br />
Landesbischofs Heinrich Bedford-Strohm<br />
in den 15-köpfigen Rat der EKD. Da sind<br />
bis zur regulären Wahl in einem Jahr zwei<br />
Plätze frei geworden. Viele sehen Bedford-Strohm<br />
am Beginn einer evangelischen<br />
Führungskarriere. Der Pfarrerssohn<br />
und Professor für Sozialethik<br />
kommt aus dem oberschwäbischen<br />
Memmingen. Souverän erklärt er auf<br />
Facebook am Beispiel einer bedrängten<br />
Christin aus Syrien, die er getroffen hat,<br />
was die christliche „Option für die Armen“<br />
bedeutet. Oder wie er sich einen<br />
verantwortlichen Umgang mit Geld vorstellt.<br />
Überhaupt, Facebook: Bedford-<br />
Strohm regiert mit Postings, Likes und<br />
C & W: Was könnte denn<br />
Ihrer Meinung nach die<br />
evangelische Kirche von der<br />
katholischen lernen?<br />
Dutzmann: Wir haben zum Beispiel gelernt,<br />
das gottesdienstliche Ritual wertzuschätzen<br />
und nicht alles auf die Predigt<br />
abzustellen. Der Gottesdienst mit seinen<br />
»Es gibt gute Gründe, am<br />
kirchlichen Arbeitsrecht festzuhalten<br />
… Ich kann nicht<br />
erkennen, dass es Menschen<br />
schlechter geht als in anderen<br />
Arbeitsverhältnissen.«<br />
Liedern und Gebeten und vor allem dem<br />
heiligen Abendmahl ist auch dann ein<br />
heilsames Geschehen, wenn die Predigt<br />
die Herzen ihrer Hörer weniger erreicht.<br />
C & W: Sind Sie stolz, Protestant zu sein?<br />
Dutzmann: Ich bin in ein evangelisches Elternhaus<br />
hineingeboren und in der evangelischen<br />
Kirche getauft, das ist meine<br />
Tradition. Ich lebe gerne in ihr und freue<br />
mich, dass es auch noch andere gibt.<br />
Das Gespräch führte<br />
Hans-Joachim Neubauer.<br />
der Handykamera. Wer wissen will, was<br />
ein Bischof tut, kann da fast lückenlos<br />
verfolgen, wen er besucht, wo er Vorträge<br />
hält und was ihm durch den Kopf<br />
geht. „Padford“ nennen ihn Freunde, weil<br />
er mit seinem Tablet schneller agiert als<br />
seine Pressestelle. Er ist Schüler von<br />
Wolfgang Huber, wissenschaftlich dekoriert,<br />
aber zugleich präsent in den Gemeinden.<br />
Und er macht die freundlichere<br />
Figur, wenn er neben seinem katholischen<br />
Partner steht, dem Münchner<br />
Erzbischof Reinhard Marx in der mächtigen<br />
purpurfarbenen Bauchbinde um den<br />
schwarzen Rock, die Distanz schafft.<br />
Nächstes Jahr wird der Rat der EKD neu gewählt.<br />
Und der Vorsitzende, der aus dieser<br />
Wahl als Nachfolger des jetzigen Ratsvorsitzenden<br />
Nikolaus Schneider hervorgeht,<br />
wird die Feiern im Jahr 2017 mitgestalten,<br />
wenn die Reformation 500 Jahre<br />
alt wird. Bedford-Strohm gehört zu<br />
den Favoriten. Wenn er jetzt zusammen<br />
mit Beckstein gewählt wird, würde Bayern<br />
zwei Führungskräfte an der Spitze<br />
der EKD stellen, mehr als jede andere der<br />
20 evangelischen Landeskirchen.<br />
Zu Weihnachten hat Bedford-Strohm<br />
ein Video auf Youtube gestellt. Da begleitet<br />
er den Gesang seiner Mitarbeiter auf<br />
der Geige. Das macht er auch bei<br />
Gemeindebesuchen. Die Mitarbeiter singen<br />
„Herbei, o ihr Gläubigen“. Das Lied<br />
könnte die evangelische Bayernhymne<br />
werden. Denn Bayern verbucht Zuzug.<br />
Die evangelische Kirche muss, ganz<br />
gegen den bundesweiten Trend, neue<br />
Gotteshäuser bauen. In Bayern liegt die<br />
Zukunft der Protestanten.
C&W 6 GESELLSCHAFT<br />
C HRIST & WELT | 45/2013<br />
SAMMLUNG<br />
EIN BILD, EIN SATZ,<br />
EIN WUNDER<br />
DER ATHEIST,<br />
DER WAS VERMISST<br />
Laufleistung<br />
Seine Empfehlung:<br />
Robert Rauschenberg:<br />
Bed (1955)<br />
Heute<br />
kuratiert von<br />
Christoph<br />
Markschies<br />
Warum haben Sie dieses Bild ausgewählt,<br />
Herr Markschies?<br />
»Das Kunstwerk illustriert einen Albtraum.<br />
Die Stimme der Mutter fragt: ›Hast du dein<br />
Bett gemacht?‹ Die Stimme des eigenen<br />
Gewissens antwortet: ›Na sicher. Wie jeden<br />
Morgen.‹ Aber in Wahrheit verrät das Bett<br />
nicht nur die Spuren des Frühstücks am<br />
Wochenende, sondern ist ein sprechendes<br />
Zeichen des vergeblichen Versuchs, Ordnung<br />
zu schaffen im Denken, Arbeiten und Leben.<br />
Aber, wie gesagt: nur ein Albtraum. Natürlich<br />
habe ich heute Morgen das Bett gemacht.«<br />
Kurator im Monat Oktober ist der evangelische Theologe Christoph Markschies.<br />
Er lehrt Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und ist Vizepräsident<br />
der Berlin-Brandenburgischen <strong>Akademie</strong> der Wissenschaften.<br />
Wer sagt mir Atheisten denn, dass mir kein Urteil<br />
zusteht wider meinen Nächsten? Hier, wo es so<br />
nahe liegt? Als wäre ich in einen Film geraten, in<br />
eine ausgedachte Welt, so kommt mir diese Frau<br />
entgegen, wie eine Außerirdische verkapselt. Ihre<br />
ganze Erscheinung ist aus Klischeebildern zusammengesetzt,<br />
und so perfekt, wie ich es noch nicht<br />
gesehen habe: Bis zur Kappe in schwarzem Sportdress,<br />
rollt sie in bestem Jogging-Style hinter ihrem<br />
dreirädrigen Lauf-Kinderwagen her, der die<br />
Farbe ihres Anzugs trägt. Dabei führt sie ein offenbar<br />
wichtiges Personalgespräch: „Nein, auf gar<br />
keinen Fall. Wir können ihn noch drei, vier Monate<br />
halten, aber nicht länger …“, höre ich, der ich<br />
mich vor dieser Epiphanie moderner Mutterschaft<br />
seitwärts in die Büsche gedrängt habe, um ihr<br />
nicht im Wege zu sein. Ich hab schon davon gehört,<br />
dass Frauen mehrere Dinge gleichzeitig tun<br />
können, aber wie ich das hier so exemplarisch, so<br />
idealtypisch vorgejoggt bekomme, das lässt mich<br />
schmunzeln. Unwillkürlich. Es liegt mir fern, dieser<br />
Fremden eine spöttische<br />
Haltung zu zeigen. Überfahren<br />
werden mag ich aber auch<br />
nicht. Ich notiere das gleich,<br />
und die Kolumne ist so gut<br />
wie fertig. Heiteren Sinnes<br />
schreite ich meine Runde ab,<br />
doch da sie schneller ist als<br />
ich, begegnen wir uns ein<br />
zweites Mal. Auf meiner Höhe<br />
bleibt sie stehen, nein, sie<br />
Sie joggt<br />
mit Kinderwagen<br />
und<br />
führt ein<br />
Personalgespräch.<br />
joggt auf der Stelle und spricht mich so, sanft hüpfend,<br />
an. Noch eine Überraschung. Auch ich bleibe<br />
stehen und beherrsche mein aufstrebendes<br />
Schmunzeln.<br />
Sie könne verstehen, beginnt sie, dass man ihr<br />
innerlich einen Vogel zeige …, ich will sie unterbrechen,<br />
um diese Vermutung gleich zurückzuweisen,<br />
doch sie wehrt ab. Sie wolle nur etwas<br />
klarstellen, hechelt sie, während sie den Waldboden<br />
unter ihren schmiegsamen Schuhsohlen in<br />
Pampe verwandelt: Sie müsse ihren Tag effizient<br />
nutzen und habe so wenig freie <strong>Zeit</strong> unter anderem<br />
deshalb, weil sie mit ihrer Arbeit und den<br />
horrenden Steuern auch für all die anderen zu<br />
sorgen habe, die nicht zu arbeiten und keine Kinder<br />
zu betreuen, stattdessen den ganzen Tag <strong>Zeit</strong><br />
hätten, gemächlich herumzuspazieren. Noch ein<br />
Klischee. Aber die Stimme! So angestrengt und<br />
vage, dass sie mich rührt. Mein Blick ist bei dem<br />
Kind im Wagen, das während ihrer Rede selig weiterschläft.<br />
„Perfektion und Psychose“ könnte ich<br />
darüber schreiben, schießt es mir durch den Kopf.<br />
Aber dann sehen wir uns an, ihr Strampeln stockt.<br />
Und von nun an ist alles anders.<br />
Martin Ahrends lebt als Schriftsteller in Berlin.<br />
HALTUNG, BITTE!<br />
Freiheit immer, Freizeit nimmer<br />
EVANGELISCHES PFARRHAUS Eine Berliner Ausstellung zeigt ein historisches Panorama<br />
protestantischer Selbstdarstellung. Steht die Wiege des deutschen Geistes bald leer?<br />
Ich, das arme Opfer<br />
„Am Montag ist unsere Oberbürgermeisterin<br />
Susanne Gaschke zurückgetreten. Ist so ein Rück -<br />
tritt ein Ausdruck von Haltung?“ Sebastian G., Kiel<br />
Von Andreas Öhler<br />
Das Wesen des protestantischen<br />
Pfarrhauses zeigt sich weder<br />
am Schreibtisch, an dem Predigten<br />
verfasst werden, noch<br />
an der weltoffenen Bibliothek. Sein wichtigstes<br />
Utensil ist die Tür, die den Mühseligen<br />
und Beladenen stets offensteht.<br />
Gleichzeitig führt diese Tür immer auch<br />
nach außen: Auf dass der Geist des Herrn<br />
hinausgehe in alle Welt und dort Mission<br />
betreibe! Diese Tür sollte den Weg frei<br />
machen zum vielbesungenen Ort geistlicher<br />
Einkehr, der sich gleichzeitig als<br />
Platz für geistige Auseinandersetzungen<br />
verstand und Raum für musische Erbauung<br />
bot. Kammermusik, Rockkonzert,<br />
Bibelkreis, Diavorträge, Meditationszirkel,<br />
Teerunde, Bastelabend und Spiele -<br />
nachmittag – hingebungsvolle Gastgeber<br />
machten ihre privaten Räume zu einem<br />
Anlaufpunkt für die Gemeinde.<br />
Sie verstanden sich als allzeit präsente<br />
Ansprechpartner. Denn Nöte und Belange<br />
menschlichen Lebens richten sich ja<br />
auch nicht nach festen Bürozeiten. Da außerdem<br />
niemand die Woche über so zu<br />
leben versteht, wie er es sonntags in der<br />
Predigt gehört hat, trug die Pfarrfamilie<br />
noch eine weitere Bürde: die christliche<br />
Tugend beispielhaft vorzuleben.<br />
Fast so, wie sich Martin Luther das<br />
vorstellte. Der Ex-Augustinermönch und<br />
seine spätere Gattin, die entlaufene Nonne<br />
Katharina von Bora, sind das mystische<br />
Tafelsilber im ansonsten schmucklosen<br />
evangelischen Gefühlshaushalt. Das<br />
von Lucas Cranach gemalte und damit<br />
ideologisch festgeschriebene Ehepaar im<br />
aufgelassenen Wittenberger Augustinerkloster<br />
galt bis zum frühen 20. Jahrhundert<br />
als Erfinder des evangelischen Pfarrhauses.<br />
Dabei wird gerne übersehen, dass<br />
Luther gar nicht als Pfarrer arbeitete, sondern<br />
als Theologieprofessor und besoldeter<br />
Stadtkirchenprediger. Die Seelsorge<br />
gehörte nicht zur Stellenbeschreibung.<br />
Schon eher sollte das Urheberrecht für<br />
den Prototyp des Pfarrhauses dem Wittenberger<br />
Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen<br />
zugesprochen werden, der als Reformator<br />
in Norddeutschland protestantische<br />
Kirchengeschichte schrieb und eine<br />
Frau namens Walburga heiratete. Er traute<br />
das Ehepaar Luther am 13. Juni anno<br />
1525 in Luthers Wohnung. Jedenfalls fanden<br />
diese beiden Wittenberger Paare<br />
überall Nachahmer. Öffentliche Eheschließungen<br />
erwiesen sich in der Reformation<br />
ab 1522 als Gesinnungstest für das<br />
evangelische Bekenntnis. Das Konkubinat,<br />
wie in der Renaissance üblich, wurde<br />
im Herrschaftsbereich des Protestantismus<br />
verboten.<br />
Im Entschluss, die klerikale Geborgenheit<br />
für eine sozial prekäre Lebensform<br />
aufzugeben, sahen die Reformatoren<br />
auch eine Glaubensprüfung, nicht nur eine<br />
Befreiung. Ab 1525 gehörte dann die<br />
Priester ehe in evangelischen Gebieten<br />
schon zum Normalstatus, das Pfarrerehepaar<br />
in seinem offenstehenden Haus sah<br />
sich als Vermittler zwischen Kirche und<br />
Gesellschaft.<br />
Mit seiner „Haustafel“, einem Auszug aus<br />
seinem „Kleinen Katechismus“, gab Luther<br />
der christlichen Hausgemeinschaft die<br />
Richtlinien vor. Er legte die Tischrituale<br />
fest und regelte die christliche Unterweisung.<br />
Aus solchen Bündeln von Leitfäden<br />
wurden über die Jahrhunderte die dicken<br />
Taue gedreht für das Schiff, das man Gemeinde<br />
nennt. Der Pfarrer war Kapitän<br />
und Steuermann zugleich: Die Kanzel<br />
machte er zu seiner Kommandobrücke.<br />
Außer Gott fürchtete er nur einen: den<br />
unangekündigten Besuch des Superintendenten,<br />
der die Qualität der Predigten<br />
prüfte. Ansonsten machte er den Kontrolleur<br />
gegenüber seiner Christenschar:<br />
In Schweden fanden bis ins 19. Jahrhundert<br />
noch Hausverhöre statt. Dazu besuchte<br />
der Herr Pastor die Fischer oder<br />
Bauern seines Sprengels, fragte im Beisein<br />
der gesamten Nachbarschaft christliches<br />
Wissen ab und prüfte die Tugendhaftigkeit<br />
der Familie. Danach ließ er sich<br />
von den Heimgesuchten ein Fest ausrichten<br />
und sich beköstigen. Wie die Made<br />
im Speck lebte er dennoch nicht. Nur in<br />
England, wo sich anglikanische Reverends<br />
beim Adel als Hauslehrer verdingten,<br />
führten sie ein opulentes Wohlleben,<br />
Deutsche Pfarrfamilien ernährten sich<br />
über Kollekten und Ernteabgaben und<br />
versuchten sich nicht ungeschickt im Eigenanbau<br />
von Obst und Gemüse. Erst im<br />
19. Jahrhundert stiegen die evangelischen<br />
Geistlichen als Bildungsbürger zu den<br />
Honoratioren auf.<br />
Geheiligte Reliquien sind dem Protestantismus<br />
fremd. Es gilt das gepredigte<br />
Wort. Der evangelische Geist betreibt lieber<br />
den Kult in eigener Sache. Es ist nicht<br />
gerade protestantische Bescheidenheit,<br />
die sich da in Öl auf den Pastorentafeln<br />
aus dem 17. Jahrhunderts spreizt.<br />
Das Pfarrhaus bestand also nicht nur<br />
aus einladend offenen Türen und sperr-<br />
Mode: Vikarinnen-Dienstkleidung von 1946.<br />
angelweit geöffneten Fenstern, durch die<br />
die Böen der Aufklärung pfiffen. Im Hause<br />
des Herrn gab es auch doppelte Böden<br />
und geheime Tapetentüren, hinter denen<br />
Bigotterie, Unterdrückung und Engstirnigkeit<br />
herrschten. Die Literatur kennt<br />
genügend Beispiele von Pfarrerskindern,<br />
die unter der Aufhebung der Privatheit,<br />
diesem gläsernen Leben, und der dauernden<br />
Gewissensprüfung litten. Der Autor<br />
F. C. Delius wurde als Kind darüber zum<br />
Stotterer.<br />
In der NS-<strong>Zeit</strong> wurde das Image des Pfarrhauses<br />
nachhaltig beschädigt. Dienstbeflissen<br />
spürte mancher Kirchenmann für die<br />
„Reichsstelle für Sippenforschung“ in alten<br />
Kirchenbüchern konvertierte Juden<br />
auf und lieferte sie den Vollstreckern der<br />
Rassengesetze aus. Auch diese Daten ebneten<br />
dem Holocaust den Weg.<br />
Historisch rehabilitiert hat sich das<br />
Pfarrhaus beispielhaft in der DDR. Es<br />
erinnerte sich seiner humanistischen Tugenden,<br />
indem es bedrängten Friedensund<br />
Umweltgruppen einen Unterschlupf<br />
bot. Aus der Kirche kamen jene Bürgerrechtler,<br />
ohne die die friedliche Revolution<br />
1989 nicht friedlich verlaufen wäre.<br />
Nun nagt der individualistische <strong>Zeit</strong>geist<br />
am Gebälk des Pfarrhauses. Junge<br />
Pfarrerinnen und Pfarrer wollen sich dieser<br />
althergebrachten Dauerverfügbarkeit<br />
entziehen. Beruf und Privatheit wollen<br />
sie trennen, auch, um ihre Familie zu<br />
schonen. Die dienende Pfarrersfrau hat<br />
sich erledigt, seit auch Frauen den Pfarrberuf<br />
ausüben dürfen. Klopfet an, so<br />
wird euch aufgetan? Die Handy-Mailbox<br />
verweist immer öfter freundlich auf die<br />
Öffnungszeiten des Pfarrbüros. Das Internetportal<br />
ersetzt die alte Tür. Es steht immer<br />
offen.<br />
Leben nach Luther – Eine Kulturgeschichte<br />
des evangelischen Pfarrhauses.<br />
Deutsches Historisches Museum Berlin, bis<br />
2. März 2014.<br />
FOTOS: BOLTIN PICTURE LIBRARY/BRIDGEMANART.COM/ROBERT RAUSCHENBERG FOUNDATION/VG BILD-KUNST, BONN 2013; ANTIKES-CHRISTENTUM.DE;<br />
ARCHIV DER EVANGELISCHEN KIRCHE IM RHEINLAND, DÜSSELDORF<br />
Böse Zungen behaupten, die Zurücktreteritis sei<br />
ansteckend, genauso wie die Sehnsucht des Publikums<br />
nach tränenreichen Abschieden vor laufender<br />
Kamera. Aber jeder Rücktritt ist anders. Wie<br />
seine Ursachen. Umso trauriger für unsere Republik,<br />
dass es diesmal eine Frau trifft, die als Seiteneinsteigerin<br />
alles besser machen wollte, eine Hoffnungsträgerin.<br />
Kein verschwiemelter Politjargon,<br />
mehr Transparenz, mehr Empathie, wer will das<br />
nicht? Diese Haltung ist erst einmal überzeugend,<br />
weit über die Stadt Kiel hinaus. Aber wann wird<br />
aus der Überzeugung, dass Politik nicht nur von<br />
Profis, Verwaltungsspezis und Juristen gemacht<br />
werden sollte, schnöde Besserwisserei? Und wann<br />
kippt die Haltung des Engagements und des frischen<br />
neuen Stils in die Verachtung für die mühsamen<br />
Prozesse der Ebene, in denen Abstimmungen,<br />
Verwaltungsabläufe, Delegation und Rückversicherung<br />
den Alltag ausmachen? Das ist nicht<br />
leicht zu beantworten. Aber eine Rücktrittsrede,<br />
die die Fehler nur bei anderen sucht, in der sich<br />
die Abschiedsrednerin als die moralisch Überlegene<br />
aus der Affäre zieht, lässt es doch an der Demut<br />
fehlen, die sie vorher zu Recht von anderen<br />
gefordert hat.<br />
Hier geht es offenbar nicht um das Eingeständnis<br />
eigener Fehler, hier geht es nicht einmal darum,<br />
das Erschrecken darüber zu thematisieren,<br />
wie hart politische Auseinandersetzungen sein<br />
können, wie bitter die öffentliche Kritik an der eigenen<br />
Person. Hier geht es um eine Abrechnung.<br />
Schuld am Rücktritt sind die anderen, vorzugsweise<br />
kalte, harte Männer. Testosteron hin, Östrogen<br />
her, von der republikanischen Gesinnung, die sich<br />
vor allem ums Gemeinwesen sorgt, ist da nichts<br />
zu hören. Umso trauriger, als es potenzielle Quereinsteigerinnen<br />
in die Politik noch viel schwerer<br />
haben werden.<br />
Die Pastorin Dr. Petra Bahr ist Kulturbeauftragte der<br />
Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Kolumnen<br />
sind gerade in der Edition Chrismon als Buch<br />
erschienen: „Haltung, bitte!“ Wenn Sie vor einem<br />
Dilemma stehen und einen Ausweg mit Anstand<br />
suchen, schreiben Sie Dr. Petra Bahr. Leserpost<br />
bitte an: Christ & Welt, Heinrich-Brüning-Straße 9,<br />
53113 Bonn. Stichwort „Haltung“.<br />
E-Mail: haltung@christundwelt.de