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Zeit - Katholische Akademie Schwerte

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In diesen Tagen ko men führende Politiker<br />

von CDU, CSU und SPD zusa men, um ihr<br />

31. Oktober 2013<br />

Von Hans-Joachim Neubauer<br />

men forderte, auf die Symbole des alten in Köln geboren evangelische Fotograf brisant und aktue l. Deshalb öffnen wir kotheken und Halbwelt-Clubs besucht.<br />

Rom: Glanz und Reichtum, Besitz und genauso in der politischen Sphäre wie in diese Ausgabe von Christ & Welt für Immer wieder stieß er auf ähnliche Muster,<br />

auf Gesten und Gesichter der Macht,<br />

om ist groß, und Cäsar ist Status. Aber die Spitze der katholischen den Welten des rheinischen Katholizismus.<br />

Soeben ist sei neues Buch „Wahl<br />

auf religiös anmutende Ausdrucksfor-<br />

Bernd Arnolds faszinierenden Fotoe say.<br />

Rom. Sichtbar inszenieren Hierarchie wi l ei neues Rom. Die Gläubigen<br />

im Bistum auch.<br />

Kampf Ritual“ in der Edition Panorama<br />

men, auf Rituale, die eine Gruppe zu-<br />

Weltreiche ihren Rang un den<br />

ihrer Führer. Macht braucht Rituale,<br />

um zu wirken. Sonst wäre sie bloß len der Macht un der Macht der Rituale <strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong> seine Au ste lung<br />

ren. Macht ist „auf Handeln gerichtetes<br />

Seit 1987 ist Bernd Arnol den Ritua-<br />

erschienen. Nun zeigt die katholische<br />

sammenhalten oder Hierarchien markie-<br />

rohe Gewalt. Das wi sen auch Diktatoren:<br />

Sie nutzen Rituale, um ihrer Wi lkür<br />

auf der Spur. Dabei bewegt sich der 1961 „Macht und Ritual“. Arnolds Thema ist<br />

Handeln“, sagt Michel Foucault.<br />

den Anschein von Legitimität zu geben.<br />

gelenk geht über in die ausgestreckte<br />

Ritual ist Ordnung.<br />

Hand. Vier Finger sind zu sehen, am<br />

Ringfinger prangt der Bischofsring. Arnold<br />

hat Joachim Kardinal Meisner 1989<br />

fotografiert, bei de sen Einführung ins<br />

Erzbistum Köln. Im Bild vereinen sich die<br />

Insignien kirchlicher Macht mit dem<br />

weltlichen Statu symbol des Wagens zu<br />

einer Meditation über Abstand und Nähe:<br />

Seht, hier kommt der neue Chef, seht seinen<br />

Ring! Kü st ihn und unterwerft euch!<br />

„Rituale scha fen auch Distanz“, sagt Arnold,<br />

„sie bauen eine Hierarchie auf.“<br />

Regierungsprogramm zu verhandeln. Es<br />

geht, wie immer, um Macht. Doch diese<br />

Wochen zwischen Wahl und Regierungsbildung<br />

bilden eine Zäsur im politischen<br />

nimmt er seinen Aufnahmen etwas von<br />

Leben der Demokratie. Minister und<br />

ne hä ten.<br />

dem augenscheinlich Normalen. Schon<br />

Kanzler sind nur „geschäftsführend“, Verhandler<br />

sind noch Funktionäre ihrer Parfremdet:<br />

„Farbe ist ein Stück Realität“,<br />

die Entscheidung für Schwarz-Weiß vertei<br />

und zugleich schon potenzie le Minister.<br />

Alles ist im Flu s, und in der Pre se<br />

dern. Indem ich bestimmte Anschni te<br />

sagt Arnold, „das entziehe ich den Bil-<br />

blühen die Spekulationen: Wer steht wofür?<br />

Wer setzt sich durch? Wer wird was<br />

schne len Erklärungsversuch des Betrach-<br />

ja kaum nach, ein armer Wicht ist das.<br />

setze, entziehe ich die Bilder dem ersten<br />

sein? Erst Rituale beglaubigen das Ergebnis:<br />

Die Kanzlerin wird ihren Amtseid<br />

die Bischöfe am Altar zu Monumenten<br />

ters.“ Das Bild wird grafisch. So werden<br />

leisten, die Ministeri nen und Minister<br />

des Rituals, so mutiert P er Steinbrück<br />

werden ihre Urkunden erhalten. Danach<br />

zum Denkmal seines Strebens nach<br />

werden sie andere sein, und erst da n<br />

Macht. Und so zeigt die Hand im Autofenster<br />

die Macht un das Geheimnis des<br />

kö nen sie ihre Macht spürbar und sichtbar<br />

einsetzen.<br />

Kardinals. Rom ist groß, Rom ist heilig;<br />

langsam ro lt der Wagen weiter.<br />

<strong>Katholische</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong>,<br />

3. November 2013 bis 12. Januar 2014.<br />

ww.akademie-schwerte.de<br />

und Johann Michael Möller im Wechsel.<br />

Bernd Arnold wi l nicht einfach die Wirklichkeit<br />

zeigen, wie sie sich darste lt. Gezielt<br />

Bernd Arnold: „Macht und Ritual“.<br />

Unterwerft euch!<br />

W O C H E N Z E I T U N G F Ü R G L A U B E , G E I S T , G E S E L S C H A F T<br />

RITUALE DER MACHT, MACHT DER RITUALE Religion und Politik gleichen einander. Der Fotograf Bernd Arnold sucht nach religiösen Spuren in der<br />

Politik und nach Zeichen weltlicher Macht in der Religion. Christ & Welt druckt Arnolds Fotoessay zu einem brisanten Thema<br />

R<br />

Signal: Mit Kreuz, Stab und Mitra verneigen sich Bischöfe im Kölner Dom. Im Altarkuss inszenieren sie Ehrerbietung al sichtbares Zeichen.<br />

Rom ist heilig, un der Papst ist der<br />

Heilige Vater. Religion braucht Rituale.<br />

In ihnen versichert sie sich ihrer Tradition,<br />

in ihnen inszeniert sie ihre Botschaft<br />

als gemeinschaftlich erlebbares Zeichen.<br />

Ohne den Ritus wäre Religion bloße Vernunft<br />

oder reine Unvernunft. Ritual ist<br />

Geheimnis.<br />

In Limburg zeigt sich, wi eng Macht<br />

und Religion, Politik und Ritual zusammenhängen.<br />

Der Limburger Bischof hat<br />

die Zeichen aus dem Vatikan schlicht<br />

nicht verstanden. Beha rlich setzte er,<br />

währen der Papst eine Kirche der Ar-<br />

B R I E F A N D I E B U N D E S K A N Z L E R I N<br />

B E T R . : M O B I L T E L E F O N<br />

Liebe Angela Merkel,<br />

„Das Visue le ähnelt sich“, sagt Arnold.<br />

Mit seiner Kamera entdeckt er Verwandtschaften<br />

zwischen unterschiedlichen<br />

Welten: Außer kirchlichen und politischen<br />

Orten hat er Fernsehstudios, Dis-<br />

dem Bischof von Limburg wird es ganz recht sein, dass die Medien ein neues oder den Roten Halbmond zu unterstützen. Die He ren Opperma n, Ströbele<br />

Objekt für eine Empörungswe le gefunden haben: den amerikanischen Präsidenten,<br />

de sen Geheimdienst nicht nur E-Mails und Telefonate te rorgeneigter um für die Nachrichtendienste sitzen, so lten die Dienste also nicht für die Erfül-<br />

und Gro se-Brömer, die für ihre Parteien im parlamentarischen Kontrollgremi-<br />

Bundesbürger abgehört hat, sondern auch Ihr persönliches Handy. Das ist unfein,<br />

klar, wer wi l schon abgehört werden. Aber wie naiv mu s man eigentlich lich zu erfü len. Wir wo len a les wi sen, auch aus den Mobiltelefonen von<br />

lung ihres Auftrages zeihen, sondern sie dazu geradezu au fordern, ihn bestmög-<br />

sein, um noch an das Recht der informatione len Selbstbestimmung zu glauben? He rn Obama und He rn Putin. Die Welt ist ebe nicht so gut, wie wir sie ger-<br />

Selbst wir in Deutschland haben es an a len Ecken und Enden untergraben, unsere<br />

Dienste und St atsanwaltschaften hören ja selbst Handys ab und speichern Es wäre also vernünftig, sich abzuregen und unsere technischen Abhörmöglichkeiten<br />

zu verfeinern. We n nämlich a le a les voneinander wissen, sind wir<br />

Verbindungen, überwachen E-Mails, schnü feln in Ban konten, bauen Überwachungskameras<br />

auf, die Behörden verkaufen unsere privaten Daten weltweit. dem Frieden vermutlich am nächsten. So gesehen kocht auch He r Obama nur<br />

Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung kommt mit seinen Protesten mit dem gewöhnlichen Wa ser gewöhnlicher Regierungstechniken. Das wird jene<br />

(insbesondere in der deutschen Journai le) en täuschen, die ihn seinerzeit<br />

Wenn Sie He rn Putin oder dem chinesischen St atschef begegnen, werden zum politischen Messias ausriefen, der nunmehr die ganze Welt moralisch reinigen<br />

werde. Das hat er weder je gewo lt, noch hä t er es geschafft.<br />

Sie die beiden j auch nicht für Reinkarnationen des heiligen Kasimir halten, der<br />

für seine ungewöhnliche Si tenreinheit in die Kirchengeschicht einging. Nein, Zwar hat Wi liam Gladston einst gesagt: „Was moralisch falsch ist, ka n<br />

Geheimdienste so len spionieren und alle Informationen sammeln, die man im nicht politisch richtig sein.“ Für eine freiheitliche Demokratie gilt das Umgekehrte<br />

aber auch: Was politisch richtig ist, kann moralisch nicht ganz falsch sein.<br />

Umgang mit den guten und bösen Mächten der Welt brauchen ka n. Und es<br />

würde mich zutiefst beunruhigen, wenn diese Kunst, die im politischen Weltringen<br />

ja eine große Tradition hat, nur den Ru sen und Chinesen beka nt wäre,<br />

unserem amerikanischen Freund aber nicht.<br />

Und beunruhigen würd es mich auch, we n wir Mi teleuropäer – also die<br />

Deutschen, Franzosen, Briten – hier nur auf den Zuschaue rängen säßen. Nein,<br />

wir sind mi tenmang dabei, un das ist wirklich gut so. In unseren Botschaften<br />

rund um die Welt sitzen Vertreter des BND ja nicht, um Kindergärten zu bauen<br />

Michael Rutz ist Publizist und lebt in Berlin und Hamburg. Die Briefe an die Akteure<br />

der Bundespolitik schreiben die politischen Publizisten Michael Rutz, Nikolaus Brender<br />

FOTOS: BERND ARNOLD; JOSÉ GIRIBÁS/ROPI/PICTURE A LIANCE<br />

Auf Arnolds wohl beka ntestem Bild<br />

ist de rechte Arm eines Bischofs zu sehen.<br />

Er ruht im hinteren Fenster einer Limousine,<br />

auf de rechten Seite. Dort sitzt<br />

der Chef. De sen Gesicht bleibt im Dunkeln,<br />

das Foto zeigt bloß den Arm, den<br />

Ärmel des bischöflichen Gewands; ein<br />

Stück der Mansche te ragt hervor, mit einem<br />

losen Faden. Das beh arte Hand-<br />

JEDE JETZT WOCHE<br />

MIT<br />

NEUEN MIT 6 SEITEN<br />

CHRIST & WELT<br />

31. OKTOBER 2013 N<br />

o 45<br />

PREIS DEUTSCHLAND 4,50 €<br />

DIE ZEIT<br />

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR<br />

Christ & Welt<br />

IN DIESER AUSGABE<br />

VON CHRIST & WELT<br />

Viel Rauch<br />

um viel<br />

Wer in Limburg als Journalist<br />

recherchiert, muss<br />

mit Drohungen rechnen<br />

Christ & Welt Seite 3<br />

Wir waren zu naiv:<br />

Die deutsch-amerikanischen<br />

Beziehungen brauchen jetzt<br />

eine realistische Grundlage<br />

VON HEINRICH WEFING, HELMUT SCHMIDT,<br />

JOSEF JOFFE UND ANDEREN SEITE 2–5<br />

Goodbye, Freunde!<br />

Die Kontrollen<br />

funktionieren<br />

Martin Dutzmann über<br />

evangelische Macht und<br />

Transparenz<br />

Christ & Welt Seite 5<br />

STROMPREISE<br />

Ach, die Kohle<br />

Die Große Koalition muss keine fossilen Brennstoffe schützen –<br />

sie muss die Leute mit der Energiewende versöhnen VON BERND ULRICH<br />

WENN ROCKSTARS STERBEN<br />

Die letzte Tour<br />

Mit dem Tod von Lou Reed neigt sich die Ära der rockenden<br />

Jugendverschwender endgültig ihrem Ende zu VON THOMAS GROSS<br />

Leben nach<br />

Luther<br />

Das protestantische<br />

Pfarrhaus zwischen<br />

Mythos und Wirklichkeit<br />

Christ & Welt Seite 6<br />

Titelbild: Smetek für DIE ZEIT<br />

Bei der Klimapolitik kommt es immer<br />

darauf an, ob man sie von der Gegenwart<br />

her denkt oder von der<br />

Zukunft. Hannelore Kraft zum Beispiel,<br />

die Vertreterin des Mutti-<br />

Prinzips in Nordrhein-Westfalen,<br />

denkt sie vom Jetzt aus. Ihr geht es mit der Energiewende<br />

zu schnell voran, sie fürchtet, dass Industriearbeitsplätze<br />

– insbesondere solche an Rhein<br />

und Ruhr – verloren gehen könnten. Dabei muss<br />

sie das gar nicht fürchten, denn es ist ganz gewiss:<br />

Bei einem Umbau dieser Größenordung gehen<br />

garantiert Arbeitsplätze verloren, dafür werden<br />

andere geschaffen. Krafts Warnung vor der Eile<br />

bedeutet offenbar: Die Energiewende darf schon<br />

sein, nur spüren soll man sie möglichst nicht. Schön<br />

langsam, bitte.<br />

Denkt man die Energiewende von morgen<br />

her, so sieht es mit dem Tempo gleich ganz anders<br />

aus. Wenn sich die Erde bis 2100 nicht allzu<br />

sehr erwärmen soll, wenn man vermeiden<br />

will, dass es Abermillionen Klimaflüchtlinge<br />

gibt und dass die Natur in Europa unter einen<br />

brutalen und zerstörerischen Veränderungsstress<br />

gesetzt wird, dann müsste die Energiewende ab<br />

sofort noch viel schneller gehen. Sagen wir, doppelt<br />

so schnell.<br />

Es gilt, daran kann auch Hannelore Kraft<br />

nichts ändern, das Grundprinzip ökologischer<br />

Politik: Je mehr <strong>Zeit</strong> man sich heute lässt, desto<br />

weniger hat man morgen. Wir verschieben die<br />

Eile gewissermaßen nur in die Zukunft.<br />

Energiepolitik wird vor allem von<br />

Geologie und Geografie gemacht<br />

Operativ wird es wenig bewirken, wenn die<br />

nordrhein-westfälische SPD nun versucht, die<br />

Interessen des Braunkohletagebaus und einiger<br />

Energiekonzerne zu verteidigen. Zwar leitet<br />

Hannelore Kraft die Arbeitsgruppe Energie bei<br />

den Koalitionsverhandlungen, doch das lässt sie<br />

mächtiger erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist.<br />

Nicht nur weil es da ja auch noch die Union auf<br />

der anderen Seite des Verhandlungstisches gibt,<br />

sondern weil sie nicht einmal die gesamte SPD<br />

vertritt. Denn, so hat es die Natur nun mal eingerichtet,<br />

Niedersachsen ist windig und profitiert<br />

daher von der Windenergie, weswegen Stephan<br />

Weil, der sozialdemokratische Ministerpräsident<br />

dieses flachen Flächenlandes, schon aufpassen<br />

wird, dass es Frau Kraft nicht zu dolle treibt.<br />

Das eben gehört zu den Besonderheiten der<br />

Energiepolitik: Sie wird weniger von SPD und<br />

CDU gemacht als von Geologie und Geografie.<br />

Die Südländer Baden-Württemberg und Bayern<br />

beispielsweise sind weder flach, noch haben sie<br />

Kohle, ergo ist ihr gemeinsames schwarz-grünrotes<br />

Interesse: Solar.<br />

Gefahren für die Energiewende gehen darum<br />

weniger von den operativen Details in den Berliner<br />

Koalitionsverhandlungen aus, sie sind eher<br />

politisch-mentaler Art. Mit dem Subtext ihrer<br />

Warnung vor zu viel Eile steht Hannelore Kraft<br />

nämlich nicht allein da. Längst schon ist die<br />

Energiewende zu etwas geworden, was die Politik<br />

und die Konzerne gefälligst endlich hinbekommen<br />

sollen, ohne dass die Bürgerinnen<br />

und Bürger davon allzu sehr gestört werden. Sei<br />

es durch höhere Strompreise, durch neue Trassen,<br />

durch all die Solardächer, die neuerdings so<br />

unromantisch auf den Scheunen kleben, oder<br />

die berüchtigten Windräder, die plötzlich überall<br />

in der Landschaft stehen.<br />

Als die Energiewende vor zweieinhalb Jahren<br />

in einem faktischen Allparteienkonsens beschlossen<br />

wurde, da gab es für den Moment so<br />

ein ökologisches Wirtschaftswundergefühl, man<br />

dachte, alle zusammen schaffen wir das; wer ein<br />

Land wieder aufbauen kann, der kann es auch<br />

wieder umbauen. Dieser Geist ist ein wenig verloren<br />

gegangen, stattdessen heißt es: bloß keine<br />

Eile, bloß keinen Ärger.<br />

Die nun kommende Große Koalition steht auf<br />

allen Politikfeldern in der Gefahr, die Bürgerinnen<br />

und Bürger zu paternalisieren, schon durch ihre<br />

schiere Größe. Wer so viel Macht hat, der scheint<br />

auch verpflichtet, alles zu regeln. Auf die Energiewende<br />

wirkt sich das besonders fatal aus. Denn<br />

nur von oben wird es nicht gehen. Wenn die Leute<br />

nicht mitmachen, wenn sie nicht sparen und<br />

dämmen und solarbedachen und andere Autos<br />

kaufen oder mehr Fahrräder, dann wird es sehr,<br />

sehr schwer mit dieser ganzen Wende.<br />

Allerdings gibt es einen Punkt, an dem sich<br />

die neue Koalition wirklich um die Energiewende<br />

verdient machen könnte. Und das ist der Strompreis.<br />

Nicht die schiere Tatsache, dass er steigt, ist<br />

hier das Problem, sondern das Tempo. Und der<br />

– durchaus zutreffende – Eindruck, dass mit dem<br />

EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz), einer Art<br />

Coca-Cola-Formel der Energiewende, irgendwas<br />

nicht stimmt.<br />

Dass die regenerativen Energien immer mehr<br />

gefördert, viele Industriebetriebe geschont werden<br />

und dass Strom an der Börse grotesk viel billiger<br />

ist als der aus der heimischen Steckdose –<br />

das kommt den meisten widersinnig vor. Und<br />

wenn dann noch die gewöhnlichen Verbraucher<br />

gar nicht so schnell hinterhersparen können, wie<br />

ihnen der Strompreis davonrennt, dann muss<br />

man sich nicht wundern, wenn sie von mittuenden<br />

Subjekten der Energiewende zu bockigen<br />

Ökountertanen mutieren.<br />

Eine der ganz großen Aufgaben der neuen<br />

Regierung ist die Versöhnung. Jedoch nicht die<br />

von Braunkohle und Wind, auch nicht die von<br />

SPD und CDU oder von flachen und bergigen<br />

Bundesländern. Das große innenpolitische Projekt<br />

ist die Versöhnung der Bürger mit ihrer<br />

Energiewende. Und in diesem Punkt besteht aller<br />

Grund zur Eile. Denn bislang läuft der Kampf<br />

gegen den Klimawandel in Deutschland viel zu<br />

langsam. Von morgen her gedacht.<br />

www.zeit.de/audio<br />

Zu schade, dass er es nicht mehr auf<br />

Tour geschafft hat. Es hätte gut<br />

gepasst zu diesem Jahr, in dem sie<br />

alle noch einmal vorbeigezogen<br />

kamen, der heilige Neil, der olympische<br />

Leonard, der sakrosankte<br />

Bob, ein umjubeltes, wenngleich schon spürbar<br />

von Abschiedswehmut umflortes Stelldichein der<br />

Veteranen – als hätten sich Young, Cohen und<br />

Dylan abgesprochen, vor dem endgültigen Abtreten<br />

eine vielleicht letzte Runde zu drehen. Auf<br />

seine Weise aber war es folgerichtig, dass er fehlte:<br />

An Verabredungen gleich welcher Art hat Lou<br />

Reed sich nie gehalten.<br />

»Schreibt einfach, John Cale war der Unbekümmerte,<br />

und Lou Reed war das Arschloch«,<br />

höhnte er seinen Biografen schon vor Jahrzehnten<br />

entgegen, als Rock noch eine existenzielle<br />

Angelegenheit war und stündlich mit der Meldung<br />

seines Ablebens gerechnet wurde. Reed<br />

schien für das Schicksal des Rock-’n’-Roll-Toten<br />

prädestiniert wie kein anderer, er hat nichts ausgelassen,<br />

was in fünf Jahrzehnten an lebens- und<br />

wahrnehmungssteigernden Substanzen kursierte.<br />

Doch statt der Nachwelt den Gefallen zu tun,<br />

als schöne Leiche zu enden, streute er in der Rolle<br />

des schlecht gelaunten Überlebenden immer<br />

neues Gift unters Volk.<br />

Es war die Vision der Rockmusik für<br />

Erwachsene, die ihn vorantrieb<br />

Sparen wir uns falsche Demutsgesten, er hätte sie<br />

selbst nicht gemocht: Lou Reed war ein Stinkstiefel<br />

allererster Güte. Legendär seine Wutausbrüche,<br />

berüchtigt seine Manier, sich nullsilbig<br />

hinter dunklen Augengläsern zu verschanzen.<br />

Reed hasste den Rockbetrieb mit einer Inbrunst,<br />

die ihm im Lauf seiner Karriere zur zweiten Natur<br />

geworden war. Von John Cale, dem ewigen<br />

Zweiten bei Velvet Underground, stammt das<br />

Bonmot, der Missbrauch von Amphetaminen<br />

habe die Muskelstruktur seines Gesichts so irrever<br />

si bel verändert, dass Reed nicht mehr lächeln<br />

könne. Gerade sein Querulantentum machte ihn<br />

einzig. Wo die meisten sich einrichteten, blieb<br />

Reed unbequem bis hin zur Bösartigkeit.<br />

Es ist der Stachel der Negativität, den er mit<br />

anderen Vertretern der Protestgeneration gemeinsam<br />

hat und den er doch mit seltener Radikalität<br />

hervorkehrte. »I have made a big decision,<br />

I’m gonna try to nullify my life« (»Ich habe eine<br />

wichtige Entscheidung getroffen, ich werde versuchen,<br />

mein Leben auszulöschen«), die berühmte<br />

Zeile aus seiner Fixer-Hymne Heroin gehört<br />

nicht nur zu den abgründigsten Zeilen der Rockgeschichte,<br />

sie beschreibt einen Klassenverrat:<br />

Lewis Allan Reed, Sohn einer jüdisch-mittelständischen<br />

Familie aus Long Island, streift die Fesseln<br />

seiner Herkunft ab und begibt sich hinab in<br />

den Sumpf der Großstadt. In New York begegnet<br />

er den Figuren, die seine Songs bevölkern: Holly<br />

aus Miami, die im Schutz der Nacht zur Frau<br />

wird, Candy, die es in den Hinterzimmern mit<br />

allen treibt, Little Joe, dem kleinen Zuhälter.<br />

»Hey babe, take a walk on the wild side ...«<br />

Dass die Exkursionen im Medium der Rockmusik<br />

stattfanden, steht für den großen künstlerischen<br />

Aufschwung der zweiten Hälfte des<br />

20. Jahrhunderts: Wer etwas auf sich hielt, nahm<br />

Abschied von den Kriegsteilnehmern und gründete<br />

eine Band. »You can’t beat two guitars, bass<br />

and a drum«, auch diesem zweiten Leitsatz seiner<br />

Laufbahn ist Reed sein Leben lang treu geblieben,<br />

von den Aufnahmen mit Velvet Underground,<br />

jener nach einem Groschenroman benannten<br />

Zusammenrottung genialer Dilettanten,<br />

bis hin zu den wüsten Klanggewittern seiner<br />

Experimentalalben. Die Lakonie seiner Texte<br />

aber entstammt der Literatur: Reeds Berichte aus<br />

dem Herzen Babylons be erben die schwarze Romantik<br />

Baude laires genauso wie den Po li zeirepor<br />

ter ton Raymond Chandlers.<br />

Es war die Vision einer Rockmusik für Erwachsene,<br />

die ihn vorantrieb. Reed, der ewige<br />

Avantgardist, war Punk avant la lettre, er hat den<br />

Glamrock miterfunden und die Verwirrung der<br />

Geschlechterrollen vorausgelebt, in seinen urbanen,<br />

wie aus den Mundwinkeln gequengelten<br />

Kurzgeschichten klingen sämtliche Themen an,<br />

die uns Großstädter hier und heute bewegen.<br />

Nicht mitgemacht hat er den Marsch durch die<br />

Institutionen. Sobald der Mainstream erreicht<br />

war, flüchtete er sich in eine weitere seiner vielen<br />

Metamorphosen: vom poète maudit zum Lederschwulendarsteller<br />

zum rockenden Oberlehrer,<br />

der sein Publikum mit bösen Blicken abstrafte,<br />

als wolle er sagen: Euer Beifall kotzt mich an.<br />

Heute, da der Rock ’n’ Roll brav geworden<br />

ist, geht die Sehnsucht um. Man möchte sie ein<br />

letztes Mal erleben, die Helden, bevor die Ära<br />

der rockenden Jugendverschwender sich endgültig<br />

ihrem Ende zuneigt – gerade die Nachgeborenen<br />

plagt der Phantomschmerz wie das Jucken<br />

eines Körperteils, der ihnen vor der Geburt entfernt<br />

wurde. Dass Lou Reed nun mit 71 Jahren<br />

ausgeschieden ist bei diesem letzten Abenteuer<br />

des öffentlichen Verlöschens, ist schade, aber in<br />

seinem Sinn. Die Trauerarbeit hat er bereits vor<br />

einem Vierteljahrhundert mit drei meisterlichen<br />

Alben geleistet. Der Rest lässt sich als Versuch<br />

verstehen, seinen Klassikerstatus zu sabotieren.<br />

Was ihm verwehrt und erspart blieb, ist die<br />

Heiterkeit, mit der die anderen Überlebenden<br />

des Heldenzeitalters ihr Spätwerk begingen und<br />

bis heute begehen: Neil Young als ewiger Hippie<br />

und Propagandist grünen Ideen guts, Bob Dylan<br />

als stoischer Wandersmann, der einsam seine<br />

Bahnen zieht, Leonard Cohen als Erotiker von<br />

Welt, dem noch im Greisenalter die Herzen junger<br />

Frauen zufliegen, obwohl der Anzug schon<br />

um die Knochen schlackert. Im Kreise dieser<br />

Herren blieb Lou Reed der Unversöhnte. Jetzt<br />

müssen wir ohne ihn schlecht gelaunt sein.<br />

www.zeit.de/audio<br />

KREUZ & QUER<br />

Big in Bamberg<br />

Franziskus pflegt die Anrede »Liebe<br />

Brüder und Schwestern«. Der Klerus<br />

kennt nur Brüder. Daher war<br />

es bloß eine Frage der <strong>Zeit</strong>, bis Big<br />

Brother die Geistlichkeit erreichte.<br />

Wie big sind Bischöfe? Sie sind<br />

small, glaubt man dem Erzbistum<br />

Bamberg. Erzbischof Ludwig<br />

Schick ließ ein Kamerateam in seine<br />

Wohnung. Die Bilder stehen auf<br />

der Home page. Wer nicht durchs<br />

Schlafzimmerschlüsselloch gucken<br />

will, liest im Begleittext: »Wie alle<br />

Räume in Erzbischof Schicks<br />

Privatwohnung ist auch das Schlafzimmer<br />

recht bescheiden eingerichtet.«<br />

Da viele Diskussionen am<br />

Badewannenrand enden, meldet<br />

die Pressestelle: »Die Badewanne<br />

des Erzbischofs ist ein normales<br />

Modell.« Ob Schick je Big Brother<br />

gesehen hat? Wenn er es wollte,<br />

müsste er seinen »Röhrenfernseher«<br />

einschalten. Für Amtsbrüder<br />

mit Flachbildschirmen wird es<br />

jetzt ganz eng. CHRISTIANE FLORIN<br />

Kleine Fotos (v.o.n.u.): Bernd Arnold; Andreas<br />

Schoelzel/epd/imago; Fabian Klusmeyer<br />

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;<br />

ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,<br />

20079 Hamburg<br />

Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:<br />

Die<strong>Zeit</strong>@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de<br />

ABONNENTENSERVICE:<br />

Tel. 040 / 42 23 70 70,<br />

Fax 040 / 42 23 70 90,<br />

E-Mail: abo@zeit.de<br />

PREISE IM AUSLAND:<br />

DKR 45,00/NOR 65,00/FIN 7,00/E 5,50/<br />

Kanaren 5,70/F 5,50/NL 4,80/A 4,60/<br />

CHF 7.30/I 5,50/GR 6,00/B 4,80/P 5,50/<br />

L 4,80/HUF 1960,00<br />

N o 45<br />

68.JAHRGANG C 7451 C<br />

4 190745 104500 4 5


31. Oktober 2013<br />

WOCHENZEITUNG FÜR GLAUBE, GEIST, GESELLSCHAFT<br />

Unterwerft euch!<br />

RITUALE DER MACHT, MACHT DER RITUALE Religion und Politik gleichen einander. Der Fotograf Bernd Arnold sucht nach religiösen Spuren in der<br />

Politik und nach Zeichen weltlicher Macht in der Religion. Christ & Welt druckt Arnolds Fotoessay zu einem brisanten Thema<br />

Signal: Mit Kreuz, Stab und Mitra verneigen sich Bischöfe im Kölner Dom. Im Altarkuss inszenieren sie Ehrerbietung als sichtbares Zeichen.<br />

FOTOS: BERND ARNOLD; JOSÉ GIRIBÁS/ROPI/PICTURE ALLIANCE<br />

Von Hans-Joachim Neubauer<br />

Rom ist groß, und Cäsar ist<br />

Rom. Sichtbar inszenieren<br />

Weltreiche ihren Rang und den<br />

ihrer Führer. Macht braucht Rituale,<br />

um zu wirken. Sonst wäre sie bloß<br />

rohe Gewalt. Das wissen auch Diktatoren:<br />

Sie nutzen Rituale, um ihrer Willkür<br />

den Anschein von Legitimität zu geben.<br />

Ritual ist Ordnung.<br />

Rom ist heilig, und der Papst ist der<br />

Heilige Vater. Religion braucht Rituale.<br />

In ihnen versichert sie sich ihrer Tradition,<br />

in ihnen inszeniert sie ihre Botschaft<br />

als gemeinschaftlich erlebbares Zeichen.<br />

Ohne den Ritus wäre Religion bloße Vernunft<br />

oder reine Unvernunft. Ritual ist<br />

Geheimnis.<br />

In diesen Tagen kommen führende Politiker<br />

von CDU, CSU und SPD zusammen, um ihr<br />

Regierungsprogramm zu verhandeln. Es<br />

geht, wie immer, um Macht. Doch diese<br />

Wochen zwischen Wahl und Regierungsbildung<br />

bilden eine Zäsur im politischen<br />

Leben der Demokratie. Minister und<br />

Kanzler sind nur „geschäftsführend“, Verhandler<br />

sind noch Funktionäre ihrer Partei<br />

und zugleich schon potenzielle Minister.<br />

Alles ist im Fluss, und in der Presse<br />

blühen die Spekulationen: Wer steht wofür?<br />

Wer setzt sich durch? Wer wird was<br />

sein? Erst Rituale beglaubigen das Ergebnis:<br />

Die Kanzlerin wird ihren Amtseid<br />

leisten, die Ministerinnen und Minister<br />

werden ihre Urkunden erhalten. Danach<br />

werden sie andere sein, und erst dann<br />

können sie ihre Macht spürbar und sichtbar<br />

einsetzen.<br />

In Limburg zeigt sich, wie eng Macht<br />

und Religion, Politik und Ritual zusammenhängen.<br />

Der Limburger Bischof hat<br />

die Zeichen aus dem Vatikan schlicht<br />

nicht verstanden. Beharrlich setzte er,<br />

während der Papst eine Kirche der Armen<br />

forderte, auf die Symbole des alten<br />

Rom: Glanz und Reichtum, Besitz und<br />

Status. Aber die Spitze der katholischen<br />

Hierarchie will ein neues Rom. Die Gläubigen<br />

im Bistum auch.<br />

Seit 1987 ist Bernd Arnold den Ritualen<br />

der Macht und der Macht der Rituale<br />

auf der Spur. Dabei bewegt sich der 1961<br />

BRIEF AN DIE BUNDESKANZLERIN<br />

BETR.: MOBILTELEFON<br />

in Köln geborene evangelische Fotograf<br />

genauso in der politischen Sphäre wie in<br />

den Welten des rheinischen Katholizismus.<br />

Soeben ist sein neues Buch „Wahl<br />

Kampf Ritual“ in der Edition Panorama<br />

erschienen. Nun zeigt die katholische<br />

<strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong> seine Ausstellung<br />

„Macht und Ritual“. Arnolds Thema ist<br />

Liebe Angela Merkel,<br />

dem Bischof von Limburg wird es ganz recht sein, dass die Medien ein neues<br />

Objekt für eine Empörungswelle gefunden haben: den amerikanischen Präsidenten,<br />

dessen Geheimdienst nicht nur E-Mails und Telefonate terrorgeneigter<br />

Bundesbürger abgehört hat, sondern auch Ihr persönliches Handy. Das ist unfein,<br />

klar, wer will schon abgehört werden. Aber wie naiv muss man eigentlich<br />

sein, um noch an das Recht der informationellen Selbstbestimmung zu glauben?<br />

Selbst wir in Deutschland haben es an allen Ecken und Enden untergraben, unsere<br />

Dienste und Staatsanwaltschaften hören ja selbst Handys ab und speichern<br />

Verbindungen, überwachen E-Mails, schnüffeln in Bankkonten, bauen Überwachungskameras<br />

auf, die Behörden verkaufen unsere privaten Daten weltweit.<br />

Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung kommt mit seinen Protesten<br />

ja kaum nach, ein armer Wicht ist das.<br />

Wenn Sie Herrn Putin oder dem chinesischen Staatschef begegnen, werden<br />

Sie die beiden ja auch nicht für Reinkarnationen des heiligen Kasimir halten, der<br />

für seine ungewöhnliche Sittenreinheit in die Kirchengeschichte einging. Nein,<br />

Geheimdienste sollen spionieren und alle Informationen sammeln, die man im<br />

Umgang mit den guten und bösen Mächten der Welt brauchen kann. Und es<br />

würde mich zutiefst beunruhigen, wenn diese Kunst, die im politischen Weltringen<br />

ja eine große Tradition hat, nur den Russen und Chinesen bekannt wäre,<br />

unserem amerikanischen Freund aber nicht.<br />

Und beunruhigen würde es mich auch, wenn wir Mitteleuropäer – also die<br />

Deutschen, Franzosen, Briten – hier nur auf den Zuschauerrängen säßen. Nein,<br />

wir sind mittenmang dabei, und das ist wirklich gut so. In unseren Botschaften<br />

rund um die Welt sitzen Vertreter des BND ja nicht, um Kindergärten zu bauen<br />

brisant und aktuell. Deshalb öffnen wir<br />

diese Ausgabe von Christ & Welt für<br />

Bernd Arnolds faszinierenden Fotoessay.<br />

„Das Visuelle ähnelt sich“, sagt Arnold.<br />

Mit seiner Kamera entdeckt er Verwandtschaften<br />

zwischen unterschiedlichen<br />

Welten: Außer kirchlichen und politischen<br />

Orten hat er Fernsehstudios, Diskotheken<br />

und Halbwelt-Clubs besucht.<br />

Immer wieder stieß er auf ähnliche Muster,<br />

auf Gesten und Gesichter der Macht,<br />

auf religiös anmutende Ausdrucksformen,<br />

auf Rituale, die eine Gruppe zusammenhalten<br />

oder Hierarchien markieren.<br />

Macht ist „auf Handeln gerichtetes<br />

Handeln“, sagt Michel Foucault.<br />

oder den Roten Halbmond zu unterstützen. Die Herren Oppermann, Ströbele<br />

und Grosse-Brömer, die für ihre Parteien im parlamentarischen Kontrollgremium<br />

für die Nachrichtendienste sitzen, sollten die Dienste also nicht für die Erfüllung<br />

ihres Auftrages zeihen, sondern sie dazu geradezu auffordern, ihn bestmöglich<br />

zu erfüllen. Wir wollen alles wissen, auch aus den Mobiltelefonen von<br />

Herrn Obama und Herrn Putin. Die Welt ist eben nicht so gut, wie wir sie gerne<br />

hätten.<br />

Es wäre also vernünftig, sich abzuregen und unsere technischen Abhörmöglichkeiten<br />

zu verfeinern. Wenn nämlich alle alles voneinander wissen, sind wir<br />

dem Frieden vermutlich am nächsten. So gesehen kocht auch Herr Obama nur<br />

mit dem gewöhnlichen Wasser gewöhnlicher Regierungstechniken. Das wird jene<br />

(insbesondere in der deutschen Journaille) enttäuschen, die ihn seinerzeit<br />

zum politischen Messias ausriefen, der nunmehr die ganze Welt moralisch reinigen<br />

werde. Das hat er weder je gewollt, noch hätte er es geschafft.<br />

Zwar hat William Gladstone einst gesagt: „Was moralisch falsch ist, kann<br />

nicht politisch richtig sein.“ Für eine freiheitliche Demokratie gilt das Umgekehrte<br />

aber auch: Was politisch richtig ist, kann moralisch nicht ganz falsch sein.<br />

Michael Rutz ist Publizist und lebt in Berlin und Hamburg. Die Briefe an die Akteure<br />

der Bundespolitik schreiben die politischen Publizisten Michael Rutz, Nikolaus Brender<br />

und Johann Michael Möller im Wechsel.<br />

Auf Arnolds wohl bekanntestem Bild<br />

ist der rechte Arm eines Bischofs zu sehen.<br />

Er ruht im hinteren Fenster einer Limousine,<br />

auf der rechten Seite. Dort sitzt<br />

der Chef. Dessen Gesicht bleibt im Dunkeln,<br />

das Foto zeigt bloß den Arm, den<br />

Ärmel des bischöflichen Gewands; ein<br />

Stück der Manschette ragt hervor, mit einem<br />

losen Faden. Das behaarte Handgelenk<br />

geht über in die ausgestreckte<br />

Hand. Vier Finger sind zu sehen, am<br />

Ringfinger prangt der Bischofsring. Arnold<br />

hat Joachim Kardinal Meisner 1989<br />

fotografiert, bei dessen Einführung ins<br />

Erzbistum Köln. Im Bild vereinen sich die<br />

Insignien kirchlicher Macht mit dem<br />

weltlichen Statussymbol des Wagens zu<br />

einer Meditation über Abstand und Nähe:<br />

Seht, hier kommt der neue Chef, seht seinen<br />

Ring! Küsst ihn und unterwerft euch!<br />

„Rituale schaffen auch Distanz“, sagt Arnold,<br />

„sie bauen eine Hierarchie auf.“<br />

Bernd Arnold will nicht einfach die Wirklichkeit<br />

zeigen, wie sie sich darstellt. Gezielt<br />

nimmt er seinen Aufnahmen etwas von<br />

dem augenscheinlich Normalen. Schon<br />

die Entscheidung für Schwarz-Weiß verfremdet:<br />

„Farbe ist ein Stück Realität“,<br />

sagt Arnold, „das entziehe ich den Bildern.<br />

Indem ich bestimmte Anschnitte<br />

setze, entziehe ich die Bilder dem ersten<br />

schnellen Erklärungsversuch des Betrachters.“<br />

Das Bild wird grafisch. So werden<br />

die Bischöfe am Altar zu Monumenten<br />

des Rituals, so mutiert Peer Steinbrück<br />

zum Denkmal seines Strebens nach<br />

Macht. Und so zeigt die Hand im Autofenster<br />

die Macht und das Geheimnis des<br />

Kardinals. Rom ist groß, Rom ist heilig;<br />

langsam rollt der Wagen weiter.<br />

Bernd Arnold: „Macht und Ritual“.<br />

<strong>Katholische</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>Schwerte</strong>,<br />

3. November 2013 bis 12. Januar 2014.<br />

www.akademie-schwerte.de


C&W 2 GLAUBE<br />

C HRIST & WELT | 45/2013<br />

CHRIST & WELT<br />

Knapp davongekommen<br />

EDITORIAL Limburg, Limburg, Limburg: Muss das<br />

eigentlich sein?<br />

FOTO: BERND ARNOLD<br />

Sonntagnachmittag auf der<br />

A 3: tiefschwarze Wolken,<br />

dichter Regen, Sturm, in einer<br />

Senke hat sich Nebel festgesetzt.<br />

Die Rücklichter des<br />

voranfahrenden Autos verschwinden<br />

im wabernden<br />

Weiß, keine Leitplanke ist<br />

mehr zu sehen. Die Autobahn<br />

ist voll an diesem Herbstferienwochenende,<br />

und irgendwo<br />

müsste auch eine Baustelle<br />

sein. Blindflug. Die Kinder haben<br />

sich seit Stunden um die<br />

Beinfreiheit gestritten, jetzt<br />

werden sie ganz still. Meine<br />

Hände zittern am Lenkrad.<br />

Auf dem letzten Autobahnschild,<br />

das ich noch erkennen<br />

konnte, stand die Abfahrt „Limburg-<br />

Süd“. Ausgerechnet. Sollen wir unser<br />

Leben in Limburg lassen?, schießt es mir<br />

durch den Kopf. Ich bremse, die anderen<br />

Autos um uns herum auch. Wir schlingern<br />

dem Fetzen Blau am Horizont entgegen.<br />

„Guckt mal, da vorn wird es<br />

schon wieder heller“, sage ich den Kindern.<br />

Das ist genau jene Sorte von billigem<br />

Trost, vor dem alle Erziehungsratgeber<br />

warnen. Aber die Kinder glauben<br />

Lärm und Krach<br />

Von Volker Resing<br />

Der argentinische Erzbischof und<br />

Papstvertraute Victor Manuel Fernández<br />

glaubt, dass sich konservative<br />

Kräfte in der Kirche zunehmend von<br />

Franziskus bedroht fühlen.<br />

Wohl zu Recht, wie er andeutet.<br />

„Dieser Papst ist ein<br />

Mann, der sich immer mit<br />

Wagemut anderen Wegen,<br />

dem Wandel und Neuigkeiten<br />

gegenüber aufgeschlossen<br />

zeigt“, erläuterte Fernández.<br />

Ein weiterer enger Freund<br />

ist der honduranische Kardinal Óscar<br />

Andrés Rodríguez Maradiaga. Er ist<br />

schon Leiter der päpstlichen Reformkommission.<br />

Nun hat er gemutmaßt,<br />

der Papst könne ein neues Laien-Ministerium<br />

gründen, mit deutlich mehr<br />

Macht als der bisherige Laienrat. Es<br />

gibt Gerüchte in Rom, nach denen<br />

Rodríguez Präfekt der neuen Kongregation<br />

werden könnte.<br />

Wir schlingern<br />

in einen<br />

Fetzen Blau,<br />

dem<br />

Horizont<br />

entgegen.<br />

mir. Sie nehmen ihren Streit<br />

wieder auf. Nach einer halben<br />

Stunde ist der Nebel vorbei,<br />

der Regen lässt nach, aus dem<br />

Fetzen ist ein blauer Himmel<br />

geworden. Wir leben noch,<br />

und die vor und hinter uns<br />

auch. War da was? Erst<br />

abends hören die Hände auf<br />

zu zittern.<br />

Am Morgen danach, in der<br />

Redaktionskonferenz, überlegen<br />

wir uns den Arbeitstitel<br />

für die Großaufnahme. Nicht<br />

„War da was?“, sondern<br />

„War’s das jetzt mit Limburg?“.<br />

Franziskus hat sich<br />

fürs Abwarten entschieden,<br />

aber der ist ja auch kein Journalist.<br />

Wir beschließen: Nein, das war’s<br />

nicht, wir bleiben dran. Es gibt noch genug<br />

Nebel, kalte Schauer und verschwundene<br />

Leitplanken, über die es<br />

sich zu schreiben lohnt. „Schreiben Sie<br />

doch mal, was in der Kirche gut läuft“,<br />

sagt ein Leser am Telefon. Machen wir,<br />

verspreche ich. Und denke: Wer streitet,<br />

lebt noch; wer sich zofft, hofft auf den<br />

Fetzen Blau. Das habe ich in Limburg-<br />

Süd gelernt.<br />

Christiane Florin<br />

Im Interview mit dem Jesuiten Antonio<br />

Spadaro beschreibt sich der<br />

Papst in der Rolle des Propheten, dessen<br />

Aufgabe es sei, „Lärm und Krach“<br />

zu machen für das Evangelium. Zugleich<br />

ordnet er diese Funktion ein:<br />

„Das bedeutet nicht, dass man<br />

sich gegen die hierarchische<br />

Seite der Kirche stellt, wenn<br />

die prophetische Funktion<br />

und die hierarchische Struktur<br />

nicht übereinstimmen.“<br />

Der Papst demnach als erster<br />

Widersacher der kirchlichen<br />

Hierarchie – und zugleich<br />

als Stütze. Ein ungewöhnlicher Gedanke.<br />

Johannes Paul II. sagte, wenn es<br />

ernst in Glaubensdingen wurde:<br />

„Fragt besser den Ratzinger.“ Franziskus,<br />

so scheint es, wird noch einiges<br />

an- und umstoßen. Doch wenn es<br />

ernst wird, könnte auch er an die<br />

Glaubenskongregation verweisen:<br />

„Fragt besser den Müller.“<br />

IMPRESSUM<br />

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Limousine: Im Februar 1989 wird Erzbischof Joachim Kardinal Meisner in sein Kölner Bistum eingeführt. Ring und Wagen zeigen: Hier kommt der Chef.<br />

Bishop of Bling<br />

AUSSENWIRKUNG Wie die Limburg-Welle über den Großen Teich schwappte: Dank Franz-Peter Tebartz-van Elst<br />

staunen auch amerikanische Medien über die katholische Kirche in Deutschland<br />

Von Katja Ridderbusch, Atlanta<br />

Die Vereinigten Staaten interessieren<br />

sich nur dann für<br />

Nachrichten aus dem Ausland,<br />

wenn das Land, seine<br />

Politiker oder seine Bürger unmittelbar<br />

betroffen sind – wie bei der NSA-Affäre<br />

zum Beispiel. Eine jüngste Ausnahme<br />

sind jedoch die Ereignisse rund um den<br />

Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van<br />

Elst. Kaum ein großes amerikanisches<br />

Medium, von der „New<br />

York Times“ über das „Time Magazine“<br />

bis zu CNN, ließ sich die Geschichte<br />

über den schillernden Kirchenfürsten<br />

entgehen, der für knapp 43 Millionen<br />

Dollar seine Residenz renovieren ließ.<br />

Einer der treffendsten Spitznamen für<br />

den Geistlichen wurde in den USA kreiert,<br />

mit französischer Hilfe: „Bishop of<br />

Bling“, wörtlich: Glitzerbischof.<br />

Als Übersetzung für „Prunkbischof“<br />

wurde der Name angeblich vom US-<br />

Büro der Nachrichtenagentur AFP zum<br />

ersten Mal verwendet. „Bling“ – das<br />

steht in Amerika für zur Schau getragenen<br />

Wohlstand in Form von auffälligem<br />

– und oft ordinär-protzigem –<br />

Schmuck, sei es die Gürtelschnalle aus<br />

Gold und Perlmutt oder die diamantenbesetzte<br />

iPhone-Hülle.<br />

Vor allem ist die Bischofsaffäre Anlass<br />

für US-Medien, sich näher mit dem<br />

Finanzierungsmodell der Kirchen in<br />

Deutschland zu beschäftigen. Die „Huffington<br />

Post“ erklärt die Empörung der<br />

deutschen Kirchenvertreter, Medien<br />

und Gläubigen über den Lebensstil des<br />

Bischofs – und in der Folge über die<br />

prall gefüllten Kassen der katholischen<br />

Kirche – mit dem Erbe der Reformation:<br />

„In einem Land, in dem Martin<br />

Luther vor fünf Jahrhunderten die Reformation<br />

als Antwort auf Ausschweifung<br />

und Korruption innerhalb der<br />

Kirche in Gang brachte, ist die Entrüstung<br />

besonders groß.“<br />

Hinzu kommen die intransparenten Strukturen<br />

der etablierten Kirchen in<br />

Deutschland, schreibt die „New York<br />

Times“. Kirchen in Deutschland seien<br />

zum großen Teil „von Steuern finanziert,<br />

die von der Regierung eingetrieben<br />

werden“. Das ist tatsächlich ein<br />

Unding in Amerika, wo, zumindest<br />

formal, eine strenge Trennung von<br />

Kirche und Staat gilt und Kirchen sich<br />

allein von den Spenden ihrer Mitglieder<br />

finanzieren. Die fallen dann aber<br />

häufig recht großzügig aus.<br />

Die renommierte Tageszeitung<br />

„Christian Science Monitor“ veröffentlichte<br />

in ihrer Online-Ausgabe einen<br />

Beitrag unter der Schlagzeile „Warum<br />

ist die katholische Kirche in Deutschland<br />

so reich?“. Und liefert auch gleich<br />

die Antwort: Neben dem mehr als 200<br />

Jahre alten System der Kirchensteuer<br />

sei es vor allem die Tatsache, dass „die<br />

deutsche Verfassung religiöse Institutionen<br />

vor staatlicher Aufsicht<br />

schützt … Diese Freiheit und Un-<br />

durchsichtigkeit haben über die Jahre<br />

zu vielen Skandalen geführt.“<br />

Wie jeder Skandal, so lieferte auch<br />

dieser Futter für Kabarettisten. Zwar<br />

widmete der bekannteste Fernsehkomiker<br />

der USA, Jon Stewart, in „The<br />

Daily Show“ dem Bishop of Bling<br />

(noch) keine Aufmerksamkeit, doch<br />

der öffentliche amerikanische Rundfunk<br />

NPR jubelte vor einigen Tagen im<br />

Spätprogramm, für Kabarettisten komme<br />

der Glitzerbischof wie ein vorgezogenes<br />

Weihnachtsgeschenk – „a gift<br />

from sweet baby Jesus“, ein Geschenk<br />

vom Christkind.<br />

Von den Kirchen selbst gab es in den<br />

USA indes kaum Stellungnahmen zur<br />

Affäre um den beurlaubten Kirchenmann.<br />

Einer der Gründe für das<br />

Schweigen der Kleriker mag die Tatsache<br />

sein, dass die katholische Kirche in<br />

Amerika in den vergangenen Jahren<br />

selbst immer wieder in Skandale über<br />

ihre Ausgaben verwickelt war. So geriet<br />

die Erzdiözese Boston, das viertgrößte<br />

Bistum in den USA, 2012 in Erklärungsnot,<br />

weil sie ihren höchsten weltlichen<br />

Angestellten Jahresgehälter in<br />

sechsstelliger Höhe gezahlt hatte: Die<br />

Superintendentin verdiente 351 000<br />

Dollar, der Rechtsanwalt der Diözese<br />

wurde mit 326 000 Dollar für seine<br />

Dienste belohnt – und der Pressesprecher<br />

bekam immerhin 193 000 Dollar.<br />

Überhaupt gilt Luxus unter Kirchenvertretern,<br />

nicht nur bei Katholiken, in<br />

den USA nicht als unanständig oder anstößig.<br />

Viele freikirchliche Prediger, die<br />

sich den Pfingstkirchen verbunden fühlen,<br />

sowie Pastoren in den Megachurches<br />

haben einen Lebensstil, der den<br />

Bishop of Bling wie einen Bettelmönch<br />

erscheinen lässt. Sie alle folgen dem<br />

Wohlstandsevangelium, jener im Kern<br />

auf Calvins Prädestinationslehre zurückgehenden<br />

Auffassung, dass Erfolg<br />

sichtbarer Beweis für Gottes Gunst ist.<br />

Seit Kurzem widmet das US-Fernsehen<br />

den Wohlstandspredigern eine<br />

Reality-TV-Show: „Preachers of L. A.“<br />

folgt sechs evangelikalen Glamour-Pastoren<br />

durch ihren Luxusalltag mit<br />

schnellen Autos, schönen Frauen und<br />

dicken Diamantklunkern. „Das sind<br />

die wahren Bishops of Bling“, schrieb<br />

die „Washington Post“ in Anspielung<br />

auf Tebartz-van Elst. Allerdings gehen<br />

deren Ausschweifungen nicht auf Kosten<br />

der Steuerzahler – und die Gemeindemitglieder<br />

spenden freiwillig.<br />

Tatsächlich gebe es in den USA eine starke<br />

Nachfrage nach der Wohlstandstheologie,<br />

schreibt Kate Bowler, Professorin<br />

für Kirchengeschichte an der Duke<br />

University in North Carolina, auf<br />

CNN.com. „Millionen von amerikanischen<br />

Christen wenden sich dem<br />

Wohlstandsevangelium zu, weil sie sich<br />

wünschen, dass Gott sich in ihr tägliches<br />

Leben einmischt. Sie wollen einen<br />

Gott, der sich um ihre Gesundheit, ihre<br />

Hypothekenzahlungen und ihre Gehaltserhöhung<br />

kümmert.“


C HRIST & WELT | 45/2013<br />

GROSSAUFNAHME C&W 3<br />

FOTO: BERND ARNOLD<br />

Weihrauch: Auf einer Fronleichnamsprozession erinnern Messdiener an die leibliche Gegenwart Jesu im Sakrament der Eucharistie; Kölner mit Kinderwagen schauen zu.<br />

Viel Rauch um viel<br />

LIMBURG Die Stadt hat sich mit dem Skandal arrangiert. Die Touristen füllen nun die Kassen.<br />

Wer aber als Journalist recherchiert, muss mit Drohungen rechnen<br />

Von Hannes Leitlein<br />

Hauptsache viel, Hauptsache,<br />

dick belegt – die „Bischofspizza“<br />

im Ristorante Don Camillo<br />

gehört zu den exklusivsten<br />

Verschwendungen, die die Limburger<br />

Gastroszene dieser Tage zu bieten hat.<br />

Viel Gambas, viel Käse, viele Cocktailtomaten<br />

und Muscheln, und das auch noch<br />

für viel Geld. Dabei ist die Bischofs -<br />

pizza, verglichen mit den 31 Millionen,<br />

die der Limburger Bischofssitz gekostet<br />

hat, beinahe ein Schnäppchen. Nur 24,70<br />

Euro kostet das First-Class-Fastfood. Seit<br />

zwei Wochen hat Don Camillo den<br />

Edelsnack nun als kleines Leckerli für<br />

Touristen im Programm.<br />

Die strömen in Massen in das Lahnstädtchen,<br />

seitdem die Affäre um Tebartzvan<br />

Elst das Land bewegt. Don Camillo<br />

hat den Skandaltouristen nun die passende<br />

Pizza gebacken: sündhaft teuer und lecker.<br />

Die Mehreinnahmen sollen einem<br />

Altenheim und einem Kindergarten zugute<br />

kommen. So nah liegen in Limburg<br />

in diesen Tagen Profit, Protz und die große<br />

Geste beieinander.<br />

Der Betreiber der Pizzeria Don Camillo<br />

freut sich über den Zulauf. „20 bis 30<br />

Prozent mehr Touristen kommen zu uns<br />

ins Restaurant“, sagt der Sohn des Hauses.<br />

Die Stadt profitiere vom Skandal.<br />

Am Sonntag nach der Papst-Entscheidung,<br />

dem Bischof eine Pause zu gönnen, dreht<br />

sich in Limburg alles um die Grenzen des<br />

guten Geschmacks. Nicht nur das Bistum,<br />

auch die Stadt habe ein Imageproblem,<br />

glauben die meisten. Äußerst geschmacklos<br />

sei es, schimpft eine Taxifahrerin,<br />

eine protzige Residenz für den Bischof<br />

zu bauen und auf der anderen Seite<br />

Kindergärten zu schließen. „Kirchengemeinden<br />

kratzen mit Mühe und Not<br />

die nötigen Mittel zusammen, um ihre<br />

Kirche zu erhalten, und der Bischof stellt<br />

sich eine Wanne für 17 000 Euro ins<br />

Bad?“ Wie viele Menschen in Limburg<br />

macht auch sie die offensichtliche Ungerechtigkeit<br />

wütend. Der Bischof könne<br />

bleiben, wo der Pfeffer wächst, sagt sie.<br />

Die drei älteren Herren, die vor dem<br />

Dom Platz genommen haben, sehen das<br />

ähnlich. Die alte Gartenanlage, die dem<br />

Bischofshaus samt teurem Privatgarten<br />

weichen musste, war in ihren Augen viel<br />

schöner. „Dieser neumodische Design -<br />

kram ist furchtbar hässlich. Allein für diese<br />

komischen Rasenquadrate hat der<br />

780 000 Euro aus dem Fenster geworfen.“<br />

„Der“, damit ist Bischof Franz-Peter<br />

Tebartz-van Elst gemeint. Offensichtlich<br />

hat der oberste Limburger Katholik in<br />

seinem Bistum mit dem guten Namen<br />

auch den eigenen Namen verloren. Mittlerweile<br />

nennen viele Menschen ihn nur<br />

noch „Protzbischof“, „Skandalbischof“,<br />

„Bishop of Bling“ oder kurz „der“. Nur in<br />

den Fürbitten während des Hochamtes<br />

ist der Ton familiärer. Da nennt ihn Helmut<br />

Wanka, Personaldezernent und Mitglied<br />

des Domkapitels, „Bischof Franz-<br />

Peter“ und betet für ihn. Mehr hat er<br />

über Franz-Peter nicht zu sagen.<br />

Manche Gläubige im Limburger Dom<br />

finden das geschmacklos. „Zumindest eine<br />

kurze Stellungnahme des Bistums“,<br />

klagen zwei ältere Damen, „hätte schon<br />

sein müssen.“ Sie haben genug von der<br />

Geheimniskrämerei. Alles soll auf den<br />

Tisch. So weit ist es mit Limburg gekommen:<br />

Die Limburger gönnen ihrer Kirche<br />

nicht mehr das kleinste Geheimnis. Wie<br />

ein übervorsichtiger Gast, der sich jeden<br />

Konservierungsstoff vom Kellner aufzählen<br />

lässt, wollen sie wissen, wofür sie zahlen.<br />

Doch leicht verliert man da den Appetit.<br />

Genuss braucht halt Vertrauen.<br />

Prälat Wanka, der beim Hochamt die Vertretung<br />

des Bischofs übernimmt, ist an diesem<br />

Sonntag wenig gewillt, verlorenes Vertrauen<br />

durch Transparenz zurückzugewinnen.<br />

Man freue sich, sagt er, am Weltmissionssonntag<br />

Gäste aus Indien begrüßen<br />

zu dürfen. Indien, mag sich da der eine<br />

oder andere fragen, war da nicht mal<br />

was? Ein Bischofsflug mit Erster-Klasse-<br />

Geschmacksverstärker etwa? Was wohl<br />

die indischen Gäste, die da willkommen<br />

geheißen werden, über den abwesenden<br />

Bischof denken? Sind auch sie erster Klasse<br />

geflogen, und wenn nicht, ist man in<br />

Indien genauso wütend wie in Limburg?<br />

Vielleicht haben die Inder ja Gott getroffen<br />

in der Economy Class. Denn dass der<br />

nicht in der ersten Klasse nächtigt, hat<br />

jüngst sogar der Papst gesagt. O Gott, hat<br />

der Papst etwa gar Bischof Franz-Peter<br />

gemeint?<br />

Über den Indien-Flug und die erste<br />

Klasse erfahren die beiden sich Aufklärung<br />

erhoffenden Damen an diesem<br />

Sonntag nichts. „Ein Gottesdienst ist kein<br />

Ort für Politik“, sagt Wanka auf Anfrage<br />

von Christ & Welt. Er sei auch keine<br />

„Pressekonferenz und kein Ort, um die<br />

neuesten Informationen zu bekommen.<br />

Wenn Sie über den Gottesdienst berichten“,<br />

droht er, „wird das Konsequenzen<br />

haben. Das sollte Ihnen bewusst sein.“<br />

Dann rät er dem Journalisten noch, erst<br />

mal ordentlich Theologie zu studieren.<br />

Im Gottesdienst spricht Wanka statt<br />

über die Lage des Bistums lieber über die<br />

Frage, wie Gott aussieht, und dass wir<br />

uns diese Frage angesichts des um sich<br />

greifenden Atheismus alle stellen sollten.<br />

Mit dieser Frage werden die beiden Damen<br />

entlassen und stehen, nachdem sie<br />

die Tore des Doms durchschritten haben,<br />

unmittelbar vorm Bischofshaus. Wie<br />

sieht Gott denn nun aus? So etwa?<br />

Passend zu Wankas Predigt über den<br />

Propheten Elia, der Gott im Säuseln des<br />

Windes wahrgenommen hat, pfeift der<br />

Wind um den Dom. Es ist kalt geworden<br />

in Limburg. Mit den Uhren wurde in der<br />

Stadt auch das Wetter auf Winter umgestellt.<br />

Laub weht über den Domplatz. Die<br />

kahlen Bäume und die dunklen Wolken<br />

passen zur Stimmung der Gläubigen.<br />

Nach dem Gottesdienst wartet draußen<br />

ein Kamerateam. Journalisten belagern<br />

die Gläubigen im kleinsten Bistum<br />

der Republik. Sie gieren nach Laien und<br />

Klerikern. Auch Touristen sind gekommen,<br />

um sich ein Bild vom Bischofsprunk<br />

zu machen. Viel zu fotografieren gibt es<br />

nicht. Das umstrittene Bischofshaus ist<br />

von einer Mauer umgeben. Angeblich<br />

wird im Limburger Klerus bereits diskutiert,<br />

was mit dem Haus nach der Ära<br />

Tebartz geschieht. Ein Flüchtlingsheim<br />

oder eine Suppenküche sollen rein. Es<br />

wäre sicher die teuerste Suppenküche,<br />

die das Abendland je gesehen hat.<br />

Auf der anderen Seite des mit Kopfstein gepflasterten<br />

Weges befindet sich ein Stand<br />

mit Devotionalien. Rosenkränze, Kreuze<br />

und Postkarten gibt’s hier zu kaufen.<br />

„Immer wieder musste ich hier alles abbauen,<br />

damit die mit ihren Baufahrzeugen<br />

durchkommen“, berichtet der Händler.<br />

Ihm war der Bau von Anfang an suspekt.<br />

„Wer eine Baustelle verhüllt und<br />

mit Wachpersonal vor unerwünschtem<br />

Besuch schützen muss, der hat etwas zu<br />

verheimlichen.“ Allein schuldig sei der Bischof<br />

aber nicht. „Der hat ja nicht jede<br />

Überweisung selbst unterschrieben.“<br />

Wiederkommen könne der Bischof<br />

aber auf gar keinen Fall. Würde Tebartzvan<br />

Elst in seinem Bistum wieder die<br />

Kommunion spenden, bliebe sie einigen<br />

sicher im Halse stecken. Falls überhaupt<br />

noch jemand zum Mahl der Versöhnung<br />

kommt. In Scharen treten die Limburger<br />

seit dem Beginn der Affäre aus der Kirche<br />

aus. Der Skandal hat den Limburgern<br />

auch den Appetit auf die Eucharistie<br />

verdorben. Nur selten sind noch Stimmen<br />

zu hören, die sich den Bischof zurückwünschen.<br />

Selbst die, die ihm gewogen<br />

sind, haben nur wenig Hoffnung.<br />

„Die Leute würden ihn auspfeifen, wenn<br />

er wiederkommt“, befürchtet ein Paar.<br />

Dabei haben sie den Bischof in guter Erinnerung<br />

und würden ihn gerne wieder<br />

in Limburg willkommen heißen. Schließlich<br />

sind sie mit ihm nach Israel gewallfahrt.<br />

„Das Haus hätte sowieso restauriert<br />

werden müssen“, sagt der Mann.<br />

Der Bischof habe nur alles ordentlich hergerichtet.<br />

Vielleicht hätte es Tebartz-van Elst<br />

Don Camillo gleichtun müssen: Luxus<br />

tut niemandem weh, vorausgesetzt, die<br />

Gemeinschaft profitiert davon, ist die<br />

Botschaft der „Bischofspizza“. Immerhin<br />

gibt es vom Kölner U-Bahn-Bau bis zum<br />

Berliner Flughafen viele aus dem Ruder<br />

laufende Bauvorhaben, für die sich niemand<br />

interessiert. Sie alle geben ein Versprechen<br />

an die Zukunft ab, sie geloben<br />

Wachstum, obwohl sie in Wahrheit Verschwendung<br />

mit sich bringen. Nur die<br />

katholische Kirche in Limburg glaubt anscheinend<br />

nicht an Wachstum. Dabei duftet<br />

doch schon die ganze Stadt nach Pizza.<br />

Gleich mehrere andere Restaurants<br />

griffen Don Camillos Idee mittlerweile<br />

auf. Ein Gast rät dem Besitzer sogar, auf<br />

seinem Plakat lieber das Wort „Spende“<br />

großzuschreiben und nicht das Wort „Bischof“.<br />

„Damit ließe sich der Umsatz bestimmt<br />

noch verbessern.“ Der Bischof<br />

komme ja nicht mehr so gut an. „Der<br />

schreckt doch bloß die Kundschaft ab.“<br />

Eine Baracke muss es ja nicht sein<br />

VATIKAN Franziskus hat die Entscheidung über die Zukunft des Bischofs von Limburg vertagt. Viele, die mit dem neuen Papst fremdeln, sehen in<br />

Tebartz-van Elst das erste Opfer einer Abrechnung mit Benedikt XVI.<br />

Von Andrea Tornielli, Rom<br />

Es gibt Geistliche in Rom, die dem Limburger<br />

mehr Geschick gewünscht hätten,<br />

damit er seine Mission erfüllen kann. Ein<br />

wichtiger Prälat aus der näheren Umgebung<br />

von Joseph Ratzinger, der anonym<br />

bleiben will, bemerkte zum Umgang der<br />

deutschen Medien mit Franz-Peter Tebartz-van<br />

Elst: „Mit dieser Vorgehensweise<br />

könnte man jeden Bischof vor die Tür<br />

setzen.“ Warum traf es dann ausgerechnet<br />

den Bischof von Limburg? Die Anhänger<br />

Ratzingers in der römischen Kurie<br />

sind der Meinung, dass Tebartz-van Elst<br />

nicht nur für seine eigenen Fehler an den<br />

Pranger gestellt wird, sondern auch dafür,<br />

dass er von Benedikt XVI. zum Nachfolger<br />

von Franz Kamp haus ernannt wurde,<br />

dem fortschrittlichsten Bischof, den<br />

Deutschland je hatte.<br />

In den Kreisen, die dem emeritierten<br />

Papst am nächsten sind, erinnert man<br />

sich an diesen Vorfall: Als der sehr junge<br />

Tebartz-van Elst zum Bischof ernannt<br />

wurde, erhielt er das Mandat, seine Diözese,<br />

die „dem Protestantismus nach 25<br />

Jahren Kamphaus-Ära angeblich zu nahe<br />

gerückt“ war, wieder „katholisch“ zu machen.<br />

Es geht also aus Sicht des Vatikans<br />

in Limburg um sehr viel mehr als ein aus<br />

dem Ruder gelaufenes Bauprojekt: Der<br />

Fall Limburg wäre nicht zu dem Skandal<br />

geworden, der er ist, wenn sich hinter der<br />

Kritik an den übermäßigen Ausgaben<br />

nicht noch eine schwerwiegendere Auseinandersetzung<br />

verborgen hätte.<br />

Direkt nach der Audienz mit Bergoglio<br />

verbreiteten die Anhänger des umstrittenen<br />

Bischofs im Vatikan die Nachricht,<br />

das Treffen mit Papst Franziskus sei „positiv<br />

verlaufen“. Tebartz-van Elst selbst beschrieb<br />

auf der Homepage der Diözese<br />

einige Stunden nach dem Treffen die<br />

Stimmung als „ermutigend“. Warum<br />

„positiv“, warum „ermutigend“? Weil<br />

wohl die Möglichkeit im Raum stand,<br />

Franziskus könne den Bischof ersuchen,<br />

auf das Amt zu verzichten, so wie es in<br />

Deutschland viele Kritiker wünschten.<br />

Doch diesem Wunsch hat der Papst, trotz<br />

allem, nicht entsprochen.<br />

In Deutschland wurde die Papst-Entscheidung<br />

derweil als das gedeutet, was<br />

sie keineswegs ist: eine Beseitigung von<br />

Tebartz-van Elst aus dem Amt.<br />

Zu dieser Mehrdeutigkeit hat auch die<br />

Kommunikationsstrategie des Vatikans<br />

beigetragen, oder genauer das Fehlen einer<br />

Kommunikationsstrategie: So wurde<br />

die Pressemitteilung erst am späten Vormittag<br />

veröffentlicht, als die Nachrichtensender<br />

ihre Sendungen bereits im Kasten<br />

hatten. Hintergrundinformationen gab es<br />

nicht.<br />

Obwohl Tebartz-van Elst nach Meinung<br />

der meisten Vatikan-Insider kaum<br />

nach Limburg zurückkehren kann, war<br />

der Beschluss des Papstes in Wirklichkeit<br />

ein Spiel auf <strong>Zeit</strong>. Zu Recht. Immerhin<br />

gibt es eine Kommission der Deutschen<br />

Bischofskonferenz, die mit der Prüfung<br />

Die Anhänger Ratzingers in der<br />

Kurie meinen, dass Tebartz-van<br />

Elst nicht nur für seine eigenen<br />

Fehler an den Pranger gestellt<br />

wird, sondern auch dafür, dass<br />

ihn Benedikt XVI. ernannte.<br />

der Vorgänge betraut ist und gerade erst<br />

die Arbeit aufgenommen hat. Es wäre<br />

unangebracht, Entscheidungen zu treffen,<br />

ohne das Ergebnis der Untersuchung<br />

zu kennen. Auch aus Rücksicht auf die<br />

Ortskirchen und den deutschen Episkopat<br />

konnte der Papst keine andere Entscheidung<br />

treffen. Gleichzeitig will der<br />

Vatikan wohl das Urteil des Hamburger<br />

Gerichts im Strafverfahren wegen einer<br />

angeblichen Falschaussage von Franz-Peter<br />

Tebartz-van Elst abwarten.<br />

Franziskus wie auch dem Heiligen<br />

Stuhl missfällt es, drastische Entscheidungen<br />

unter dem Druck der Medien zu treffen.<br />

Das war auch schon unter Benedikt<br />

so. „Es ist deshalb nötig, dass sich die Wogen<br />

glätten, dass ein bisschen Ruhe einkehrt“,<br />

wiederholen Stimmen aus dem<br />

Vatikan, „und es ist nötig, dass der Limburger<br />

Bischof sich eine Auszeit nimmt<br />

für Entspannung und Reflexion. Danach,<br />

wenn die Ergebnisse der Kommission bekannt<br />

geworden sind, wird man sehen.“<br />

Ein wichtiges Detail sollte dabei nicht<br />

außer Acht gelassen werden: Die Akte<br />

über Tebartz-van Elst ist von der Bischofskongregation<br />

verwaltet worden,<br />

die wiederum führt der kanadische Bischof<br />

Marc Ouellet. Der Papst und der<br />

Heilige Stuhl gehen davon aus, dass der<br />

Limburger Bischof zurzeit nicht imstande<br />

ist, seine Diözese zu führen. Ein Sachverhalt,<br />

den Tebartz-van Elst gegenüber<br />

Ouellet selbst zugegeben hat. Daher<br />

muss etwas geschehen. Der Bischof muss<br />

Hilfe annehmen und sich ändern. Sonst<br />

ist eine Rückkehr unmöglich.<br />

Der Jesuit Pater Bernd Hagenkord, Direktor<br />

der deutschsprachigen Redaktion<br />

von Radio Vatikan, hält die Pressemitteilung<br />

für ein Zeichen des Vertrauens gegenüber<br />

der Deutschen Bischofskonferenz.<br />

Sie sei absichtlich so formuliert<br />

worden, dass sie alle Möglichkeiten offenlässt<br />

in Erwartung der Untersuchung in<br />

Limburg. Aber Hagenkord fügte auch<br />

hinzu: „Die letzten Wochen waren von<br />

Emotionen und Verstörung gezeichnet.<br />

Das Vertrauen (in den Bischof von Limburg,<br />

Anm. d. Red.) hat gefehlt, auch<br />

vonseiten der engsten Mitarbeiter. Die<br />

Dinge können so nicht weitergehen.“ Das<br />

sei klar. „Es ist schmerzhaft, besonders<br />

für die Menschen in Limburg. Aber auch<br />

bei uns quillt das E-Mail-Postfach über<br />

mit E-Mails von Menschen, die enttäuscht,<br />

frustriert und wütend sind.“<br />

Andrea Tornielli ist Vatikanexperte<br />

der Tageszeitung „La Stampa“.<br />

Übersetzung: Anna Plassmann


C&W 4 GROSSAUFNAHME<br />

C HRIST & WELT | 45/2013<br />

Freude 1: Im Kölner Dom feiern Gläubige die heilige Messe.<br />

Freude 2: Im Bundestagswahlkampf 1998 feiern CDU-Mitglieder passende Worte.<br />

Deflationsgefahr!<br />

KURSBESTIMMUNG Eine Wahrheit gegen die Inflation der Wahrheiten – dieser katholische Kurs ist gescheitert, meint der Salzburger Theologe Hans-Joachim Sander.<br />

Er rechnet vor, was Limburg die katholische Kirche wirklich kostet<br />

Von Hans-Joachim Sander<br />

Die katholische Kirche hat die<br />

Wahrheit gepachtet. Hätte sie<br />

keine Wahrheit gepachtet, wäre<br />

sie belanglos. Aber damit<br />

fangen ihre Probleme erst an. Wer etwas<br />

gepachtet hat, ist nicht Eigentümer des<br />

Gepachteten. Ein Zins ist zu zahlen. Für<br />

die kirchliche Wahrheit gilt das auch. Kirche<br />

muss zusehen, dass sie mehr an Wert<br />

auf dem Markt erzielt, als sie an Pacht zu<br />

zahlen hat. Die Kirche glaubte in den<br />

letzten Jahren allerdings, die Währung, in<br />

der sie ihren Glauben anbietet, würde<br />

verfallen, während sie in Wahrheit derzeit<br />

nicht mehr in der Lage ist, mit den Preisen,<br />

die sie auf dem Markt für ihre Produkte<br />

erzielt, ihre Investitionen hereinzuholen.<br />

Sie will Inflation bekämpfen<br />

und verschärft damit nur die Deflation, in<br />

der ihr Wahrheitsangebot steckt. Ihr<br />

Glaubwürdigkeitsproblem wird dadurch<br />

größer und der Kredit immer teurer, den<br />

sie benötigt. Der Kredit kommt von den<br />

Menschen, die ihr glauben müssen, was<br />

sie vertritt, und auch von Gott, der die<br />

Wahrheiten verpachtet, die sie anbietet.<br />

Eine Heilsökonomie ist nicht in jeder<br />

Hinsicht wie jede andere Ökonomie verhandelbar.<br />

Die Frage nach der Gewinnmaximierung<br />

stellt sich anders, es gibt<br />

nur einen Markt, den religiösen, und man<br />

hat auch nur eine Währung, die Gegenwart<br />

Gottes. Aber wichtige ökonomische<br />

Regeln gelten in der Heilsökonomie verschärft.<br />

Heil kann im Wert verfallen,<br />

wenn die Kirche falschen Einschätzungen<br />

folgt. Das ist in den vergangenen beiden<br />

Pontifikaten auf breiter Front geschehen.<br />

Sie glaubten, die Wahrheit Gottes singularisieren<br />

zu können, um dem Plural anderer<br />

Wahrheiten zu entgehen. Aber<br />

menschliches Wissen kennt viele Wahrheiten,<br />

nicht nur theologische, und die<br />

kirchliche Wahrheit muss sich ihnen aussetzen.<br />

Sonst kann sie die göttliche Wahrheit<br />

nicht mehren, wie Jesu Gleichnis von<br />

den Talenten es verlangt. Stattdessen<br />

stemmte sich die offizielle Kirche nach<br />

außen gegen eine Diktatur des Relativismus,<br />

während die Diktaturen der Relativierung<br />

innen im eigenen Zentrum fröhliche<br />

Urständ feierten.<br />

Anstatt ehrlich zu diskutieren, warum die<br />

Hierarchie so lange den sexuellen Missbrauch<br />

in der Kirche verschwieg, wurden<br />

Einflüsterungen von einigen primär an<br />

Macht interessierten Gründerfiguren charismatischer<br />

Bewegungen als spirituell<br />

vorbildlich hingestellt. Statt mit Protestanten<br />

über 500 Jahre Reformation und<br />

den Kirchenlehrer Luther zu reden, wurde<br />

mit den Piusbrüdern über die Relativierung<br />

des Zweiten Vatikanischen Konzils<br />

verhandelt. Anstatt sich mit der<br />

Wahrheit einer verbreiteten Homosexualität<br />

im Klerus zu befassen, wurde das<br />

von einem Kardinalstaatssekretär zur Ursache<br />

des sexuellen Missbrauchs durch<br />

Priester erklärt. Anstatt sich über die Ursachen<br />

der Finanzkrise des Kapitalismus<br />

Gedanken zu machen, wurden die internationalen<br />

Regeln gegen Geldwäsche von<br />

der Vatikanbank ferngehalten.<br />

Diese falsche Strategie hängt am fehlenden<br />

heilsökonomischen Sinn für die<br />

Autorität der Wahrheiten der anderen.<br />

Die Kirchenspitze glaubte gegen die Pluralität<br />

der heutigen Wahrheiten das Ideal<br />

der eigenen Wahrheit schützen zu müssen.<br />

Sie hat versucht, einer Inflationierung<br />

der göttlichen Wahrheit entgegenzutreten,<br />

indem sie diese erhaben über<br />

die anderen Wahrheiten stellte. Diese Inflationsbekämpfung<br />

wurde am Ende von<br />

Benedikt XVI. sogar in die Kirche selbst<br />

hinein als Entweltlichung ausgerufen.<br />

Aber es ist gerade diese Strategie, die<br />

zu Irrlichtern wie dem Bau von Limburg<br />

führt. Hier ist ein Bischof entweltlicht<br />

mit einem Geld verfahren, das ihm nicht<br />

gehört, sondern lediglich von früheren<br />

für kommende Generationen zu treuen<br />

Händen geliehen ist. Mehr noch, er durfte<br />

sich als von der eigenen Kirchenspitze<br />

ausersehener Repräsentant in die erhabene<br />

Lage versetzt fühlen, die elementaren<br />

Regeln der heutigen Welt für Versicherungen<br />

an Eides statt einfach nicht beachten<br />

zu müssen. Wenn weltlich vorgesehen<br />

ist, nicht die Unwahrheit zu sagen,<br />

sobald der Eid bemüht wird, dann ist das<br />

entweltlicht nicht von Belang.<br />

Aber die gegenwärtigen <strong>Zeit</strong>en vertragen<br />

aufgeblasene Selbstdemonstrationen<br />

erhabener Wahrheiten nicht mehr. Auch<br />

Menschen, deren Existenz mit dem<br />

christlichen Glauben innerlich verbunden<br />

ist, können sich woanders nach bescheideneren<br />

Wahrheiten umsehen; der Markt<br />

hält genügend davon bereit. Das Angebot<br />

hat sich enorm ausgeweitet, es liegen<br />

schon längst nicht mehr Ramschwaren<br />

an den Ständen aus. Der Preis für die Angebote<br />

an Wahrheiten sinkt, der Wert der<br />

Währung verfällt jedoch nicht.<br />

Deshalb läuft der antiinflationäre Impetus<br />

der offiziellen katholischen Kirche<br />

beim Ausschluss wiederverheirateter Geschiedener<br />

von den Sakramenten, bei der<br />

Überhöhung der Priester gegen andere<br />

hauptberufliche Seelsorgerinnen und<br />

Seelsorger, bei der Verweigerung des sakramentalen<br />

Diakonats für Frauen, bei<br />

der Sakralisierung des Zölibats als einer<br />

angeblich von Gott für die Verbreitung<br />

seiner Wahrheit gewollten Lebensform<br />

unweigerlich und immer sichtbarer ins<br />

Leere. Die Entstehungskosten dieser Investitionen<br />

sind so hoch, dass sie nicht<br />

mehr zurückkommen. Sie gehören zwar<br />

nicht zur luxuriösen Innenausstattung<br />

der bischöflichen Stadt in Limburg, aber<br />

auch ihnen hängt derselbe stechende Geruch<br />

entweltlichter Inflationsbekämpfung<br />

an. Das wirkt sich aus: Der sakramentale<br />

Ausschluss wiederverheirateter<br />

Geschiedener führt nicht zu mehr kirchlichen<br />

Eheschließungen. Die sichtbare Privilegierung<br />

des Klerus führt nicht zu<br />

mehr Priesterweihen. Der deutlich zur<br />

Schau getragene mangelnde Respekt für<br />

den Wert der Ökumene lässt die katholische<br />

Wahrheit des Glaubens nicht heller<br />

strahlen. Und vom fehlenden Kredit heutiger<br />

Menschen für die katholischen Moralangebote<br />

muss man nicht mehr viel sagen.<br />

Deren Verfallsdatum ist so weit<br />

überschritten, dass auch Sonderangebote<br />

wie die „Pille danach“ wenig helfen.<br />

Menschen haben heute eine viel größere<br />

Reserve gegenüber dem kirchlichen<br />

Wahrheitsangebot als früher. Sie können<br />

sich das leisten. Niemand drängt sie, ihre<br />

Existenz in das zu investieren, was die<br />

Kirche aus ihrer gepachteten Wahrheit<br />

macht. Ebenso wenig sind Staaten bereit,<br />

der Kirche Kreditprivilegien über die hinaus<br />

zu gewähren, die sie von früher hat;<br />

bei Fragen nach der Ehefähigkeit gleichgeschlechtlicher<br />

Partnerschaften ist das<br />

deutlich zu erkennen. Menschen sind die<br />

Gläubigerinnen und Gläubiger der Religionsgemeinschaften.<br />

Die Ausweitung des<br />

religiösen Marktes hat ihre Lage deutlich<br />

verbessert. Entsprechend muss eine Kirche<br />

glaubwürdiger sein als jemals früher.<br />

Glaubwürdigkeit ist ein prekäres Gut in <strong>Zeit</strong>en<br />

kirchlichen Autoritätsverfalls; entweltlichte<br />

Macht hält das nicht auf. Die Kirche<br />

steht vor der heilsökonomischen Situation<br />

einer Deflation. Sie muss ihre<br />

Kreditwürdigkeit erhöhen, nicht Wahrheiten<br />

Gottes vor weltlichem Wertverfall<br />

bewahren. In der Normalökonomie bekämpft<br />

man Deflation mit Zinssenkungen<br />

und Erhöhung der Geldmenge. In<br />

der Heilsökonomie kommen Zinssenkungen<br />

für die Pacht nicht infrage. In die<br />

Liquiditätsfalle wird Gott seine Wahrheit<br />

nicht laufen lassen; sie muss an andere<br />

weitergegeben werden. Dafür gibt es sie,<br />

und keine Kirche kann sich vorübergehend<br />

daraufsetzen. Es bleibt also die<br />

Ausdehnung der Geldmenge. Das ist gar<br />

nicht so schwierig, wenn man zugrunde<br />

legt, dass die Währung der Heilsökonomie<br />

Gottes Präsenz ist. Er ist von sich<br />

her da unter den Menschen, und darauf<br />

verweist die christliche Heilsökonomie.<br />

In den vergeblichen Versuchen, eine Inflation<br />

zu bekämpfen, die gar nicht da ist,<br />

hat die Kirche diese Präsenz unter den<br />

Menschen heute verkleinern wollen. Das<br />

muss sie zurücknehmen. Das Zweite Vatikanum<br />

hat vorgemacht, wie es geht. Es<br />

hat die bleibende Gegenwart Gottes bei<br />

anderen Religionen, in anderen Konfessionen,<br />

bei allen Menschen guten Willens,<br />

ja sogar bei den Gegnern der Kirche,<br />

respektiert und zur Sprache gebracht.<br />

Es ist hohe <strong>Zeit</strong>, dass die katholische<br />

Kirche zur Ökonomie des Heils zurückkehrt,<br />

welche die Wahrheit verlangt, die<br />

sie gepachtet hat. Andernfalls wird die<br />

Deflation sie Zug um Zug handlungsunfähig<br />

machen, pastoral und politisch,<br />

religiös und spirituell lähmen. Wenn<br />

Franziskus mit seiner spirituellen Option<br />

für die Armen wenigstens das Gespür für<br />

die Gefahr steigern könnte, dass der Wert<br />

des Heils verfallen kann, wenn falsche<br />

Produkte angeboten werden wie die Privilegierung<br />

kirchlicher Eliten, dann wäre<br />

schon viel gewonnen.<br />

Hans-Joachim Sander ist Professor für<br />

Systematische Theologie der Universität<br />

Salzburg.<br />

Der Matrose Gottes<br />

GENERALVIKAR Wolfgang Rösch leitet das Bistum Limburg während der Auszeit des Chefs. Ein kurzes Treffen mit dem Schlichter wider Willen<br />

Von Laura Díaz<br />

Auf dem obersten der elf Klingelschilder<br />

steht lediglich ein Nachname: Rösch.<br />

Kein Vorname, kein Titel. Hier, in einer<br />

kleinen Gasse nur wenige Schritte von<br />

der Wiesbadener St.-Bonifatius-Kirche<br />

entfernt, lebt der neue Limburger Generalvikar<br />

Wolfgang Rösch. Seit Montag leitet<br />

er offiziell die Amtsgeschäfte ebenjener<br />

Diözese, die seit Wochen wegen des<br />

millionenschweren Baus des Bischofssitzes<br />

in den Schlagzeilen ist. Rösch soll, solange<br />

Franz-Peter Tebartz-van Elst pausiert,<br />

in seiner neuen Funktion als kommissarischer<br />

Leiter wieder für Ruhe im<br />

Bistum Limburg sorgen. Doch kann der<br />

54-jährige ehemalige Wiesbadener Stadtdekan<br />

die Aufgabe meistern, die ihm<br />

Papst Franziskus auferlegt hat? Ist er der<br />

richtige Kandidat, um die Wogen zu glätten<br />

und Vertrauen zu gewinnen?<br />

Samstagnachmittag in Wiesbaden.<br />

Wolfgang Rösch steht im Esszimmer der<br />

Geistlichen-WG, in der er lebt, und telefoniert.<br />

Er wirkt angespannt, geht ständig<br />

auf und ab und hat nur wenig <strong>Zeit</strong>.<br />

Gleich muss er weiter. Erst vor wenigen<br />

Tagen hat der ehemalige Stadtdekan erfahren,<br />

dass er sofort das Amt des Generalvikars<br />

übernehmen soll. Da war er mit<br />

dem Fahrrad noch in Spanien unterwegs.<br />

Das Fahrrad, nicht der Dienstwagen, ist<br />

Röschs liebstes Transportmittel. Er sei<br />

mit dem Rad sogar schon einmal von<br />

Wiesbaden nach Rom gefahren, heißt es.<br />

Dieses Mal ist er zusammen mit seinem<br />

Bruder und seinem Neffen auf dem Jakobsweg<br />

unterwegs gewesen, von Sevilla<br />

nach Santiago de Compostela. „Rösch ist<br />

ein richtiger Familienmensch“, erzählt<br />

Thomas Schüller, Kirchenrechtler an der<br />

Universität Münster und ehemaliger persönlicher<br />

Referent des ehemaligen Limburger<br />

Bischofs Franz Kamphaus. Schüller<br />

kennt Rösch seit 20 Jahren. Sie begegneten<br />

sich Anfang der Neunziger zum<br />

ersten Mal, als Rösch noch ein junger<br />

Pfarrer im Raum Limburg war. „Rösch ist<br />

jemand, der aus dem eigenen Umfeld<br />

weiß, wie Familien heutzutage funktionieren.“<br />

Er habe durch den engen Kontakt<br />

zu Geschwistern, Neffen und Nichten<br />

eine „normale Sicht auf die Welt“.<br />

Wolfgang Rösch war bisher Stadtdekan von<br />

Wiesbaden. Er wuchs im Rheingau auf.<br />

Rösch wuchs mit seinen drei Brüdern im<br />

Rheingau auf. Eine gläubige Großfamilie seien<br />

die Röschs gewesen. In den Gottesdiensten<br />

habe er sich als Kind früher gelangweilt,<br />

erzählte er mal. Nach dem Abitur<br />

studierte er Maschinenbau. Dort sei<br />

er durch Besuche in Bibelkreisen zu dem<br />

Wunsch gekommen, sich der Kirche zuzuwenden.<br />

In Frankfurt und Rom studierte<br />

er Theologie. 1990 wurde er zum<br />

Priester geweiht, kurze <strong>Zeit</strong> später folgte<br />

die erste Pfarrstelle im Limburger Raum.<br />

1997 wurde er Regens des Priesterseminars.<br />

Danach war er als Pfarrer in Königstein<br />

und Kronberg tätig. 2010 wurde er<br />

zum Stadtdekan ernannt und zum Vorsitzenden<br />

der Caritas Wiesbaden.<br />

Jetzt muss er ins Bistum Limburg,<br />

zwei Monate früher als ursprünglich geplant.<br />

Seiner Pfarrei St. Bonifatius wird er<br />

trotz der neuen Aufgabe erhalten bleiben,<br />

sagt Rösch im Hinausgehen. An den Wochenenden<br />

will er in Wiesbaden Gottesdienste<br />

halten. Unter der Woche Krisenmanager<br />

in Limburg, an den Sonntagen<br />

Seelsorger in Wiesbaden. Die knapp 50<br />

Kilometer zwischen den beiden Städten<br />

will er pendeln. Der Neue in Limburg<br />

wohnt also weiterhin im Pfarrhaus der<br />

Wiesbadener St.-Bonifatius-Kirche, in einer<br />

Altbauwohnung mit hohen weißen<br />

Decken, großen Fenstern und schickem<br />

Holzboden. Esszimmer und Küche teilt<br />

sich Wolfgang Rösch mit seinen Mitbewohnern.<br />

Ein Kaplan, ein Pfarrer und<br />

ein Diakon in Ausbildung leben unter<br />

demselben Dach. Die Wiesbadener Geistlichen-WG<br />

ist damit schon jetzt der Gegenentwurf<br />

zum Limburger Ein-Mann-<br />

Palast des Franz-Peter Tebartz-van Elst.<br />

Oben wird gewohnt, unten gekocht<br />

und gebetet. „Rösch ist ein Mensch, der<br />

Freude an Gemeinschaft hat“, sagt Pfarrer<br />

Stephan Gras. Seit zwei Jahren leben<br />

die beiden zusammen im Pfarrhaus. Gras<br />

beschreibt den neuen Generalvikar als jemanden,<br />

der abends für das ganze Haus<br />

am Herd steht. Wolfgang Röschs Spezialität:<br />

italienische Küche. Hier in Wiesbaden<br />

fühlt sich Rösch wohl. Von den Gemeindemitgliedern<br />

wird er geschätzt. Einige<br />

sind traurig, dass ihr Stadtdekan nun<br />

schon wieder gehen muss. „Um die Probleme<br />

in Limburg zu lösen, die der Bischof<br />

da geschaffen hat“, ärgert sich eine<br />

Frau auf dem Wochenmarkt. Rösch gilt<br />

als Schlichter, aber eben auch als treu, still<br />

und loyal. Als die Affäre um Tebartz-van<br />

Elst eskalierte, fiel er nicht wie sein<br />

Frankfurter Kollege Johannes zu Eltz als<br />

Bischofskritiker auf, auch deshalb wurde<br />

er nun vorzeitig zu Höherem berufen.<br />

Aus acht Innenstadtgemeinden formte<br />

der Stadtdekan 2012 eine Großpfarrei.<br />

Der Fusionsprozess wurde heiß diskutiert.<br />

Wo Kirchen geschlossen und Stellen<br />

gestrichen werden, entstehen naturgemäß<br />

Konflikte. Doch glaubt man den<br />

Berichten der Gemeindemitglieder, konnte<br />

Rösch die Ängste mildern. „Er ist ein<br />

Teamplayer“, sagt Schüller. Ein nüchterner<br />

Typ, „very british“, dazu typisch<br />

deutsch, also sehr diszipliniert. Gerhard<br />

Müller, stellvertretender evangelischer<br />

Stadtdekan aus Wiesbaden, hat Rösch vor<br />

allem im ökumenischen Miteinander<br />

kennengelernt. „Ich schätze Rösch als einen<br />

verlässlichen Kollegen, dem die Seelsorge<br />

sehr wichtig ist“, sagt Müller. In seiner<br />

neuen Funktion wird Rösch jedoch<br />

künftig häufiger am Schreibtisch sitzen<br />

als im Beichtstuhl und eher verwalten als<br />

predigen. In einer schwierigen Lage muss<br />

er dem neuen (oder alten) Bischof den<br />

Stuhl warm halten, und das in einer<br />

Stadt, in der sich die Laien so sehr an den<br />

Aufstand gewöhnt haben, dass sie<br />

schwerlich zu besänftigen sein werden.<br />

Ein Himmelfahrtskommando.<br />

Kann er das, will er das übernehmen? Eine<br />

seiner besten wie schlechtesten Eigenschaften,<br />

heißt es, sei sein Gehorsam.<br />

Wenn der Bischof ruft, folgt er. Wenn der<br />

Papst verordnet, fügt er sich. Er ist ein<br />

Matrose Gottes, kein Meuterer. Als solcher<br />

kann er viel bewegen in Limburg.<br />

Oder gar nichts.<br />

Kritiker werfen Rösch vor, dass er zu<br />

farblos sei, zu passiv, zu sehr sanfter Seelsorger,<br />

ein Zurückhalter, der sich zu wenig<br />

einbringe und wenig habe von Franz<br />

Kamphaus, dem Lieblingsbischof der<br />

Limburger. „Rösch ist nicht der Typ, der<br />

sich in den Vordergrund spielt, das mag<br />

sein, aber wenn er etwas sagt, dann hat es<br />

immer Gewicht“, so Gerhard Müller.<br />

Ein Arbeitstier soll er sein, fleißig,<br />

strukturiert. „Ich erinnere mich an einen<br />

Abend“, erzählt Simon Schade, „als Wolfgang<br />

für 20 ehrenamtliche Helfer ein Sieben-Gänge-Menü<br />

vorbereitet hat, er war<br />

extrem durchorganisiert, alles hat auf die<br />

Minute gepasst.“ Der Kaplan aus Wiesbaden<br />

kennt Wolfgang Rösch seit Jahren.<br />

Schade ist sich sicher: Rösch schafft das.<br />

Nur ist die Befriedung eines Bistums eben<br />

kein Abendessen mit Freunden. Dennoch:<br />

Die Voraussetzungen, unter denen<br />

Rösch im Jahr 2010 Stadtdekan wurde,<br />

waren ähnlich ungünstig wie die heute<br />

beim Wechsel nach Limburg. Längst<br />

wusste die Kirchengemeinde damals<br />

von den Fusionsplänen, es fehlte nur<br />

noch ein Kirchenmanager, der sie umsetzte.<br />

Vielleicht wollte Bischof Franz-<br />

Peter Tebartz-van Elst Rösch deswegen<br />

zum Januar kommenden Jahres als neuen<br />

Generalvikar.<br />

Rösch sei damals von der Entscheidung<br />

sehr überrascht gewesen. Auch kirchenintern<br />

gab es Verwunderung. „Da<br />

fragt man sich, wie viel Menschenkenntnis<br />

Tebartz-van Elst überhaupt besitzt“,<br />

spottet man im Limburg. Es heißt, Rösch<br />

und Tebartz-van Elst könnten unterschiedlicher<br />

nicht sein. Der eine gilt als<br />

abgehoben, als Alleingänger, der andere<br />

dagegen als gesellig und bescheiden.<br />

Röschs Lebensmotto laute in Anlehnung<br />

an die Apostelgeschichte: „Gold und Silber<br />

haben wir nicht, aber das, was wir haben,<br />

geben wir.“ Es heißt, er wäre lieber<br />

in Wiesbaden geblieben. Doch wie sagte<br />

Wolfgang Rösch neulich in einem Fernsehinterview:<br />

„Neue Ämter sind wie<br />

neue Kinder, manchmal ungeplant, aber<br />

zum Schluss liebt man sie.“<br />

FOTOS: BERND ARNOLD (2); FREDRIK VON ERICHSEN/DPA/PICTURE ALLIANCE


C HRIST & WELT | 45/2013<br />

GESELLSCHAFT C&W 5<br />

FOTOS: BERND ARNOLD (2); EPD/IMAGO<br />

Mettmann 2013: In der Nähe von Düsseldorf wartet Peer Steinbrück auf seinen Einsatz im Wahlkampf.<br />

Mitte-Mann 1998: Gerhard Schröder wirbt in Aachen um Wählerstimmen. Seine Gestik ergänzt die Mimik des Schmerzensmanns.<br />

„Die Kontrollen funktionieren gut“<br />

EVANGELISCHE KIRCHE Kommende Woche tagt in Düsseldorf die Synode der EKD, das Parlament der kirchlichen Selbstverwaltung.<br />

Martin Dutzmann, Berliner Bevollmächtigter der EKD, über Macht, Transparenz und die Lehren aus Limburg<br />

Christ & Welt: Haben Sie schon mal<br />

davon geträumt, Katholik zu sein?<br />

Martin Dutzmann: Nein. Was mich aber nie<br />

daran gehindert hat, mit den katholischen<br />

Geschwistern vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.<br />

C & W: Bewundern Sie den<br />

katholischen Umgang mit Macht?<br />

Dutzmann: In der evangelischen Kirche<br />

wird Macht immer kollegial und zeitlich<br />

begrenzt ausgeübt. Das halte ich aus<br />

theologischen Gründen für geboten.<br />

C & W: Vom Landessuperintendenten<br />

der Lippischen Landeskirche sind<br />

Sie zum Bevollmächtigten der EKD<br />

geworden. Ein Abstieg?<br />

Dutzmann: Keineswegs. Für uns Protestanten<br />

ist auch das Bischofsamt, so leidenschaftlich<br />

gern wir es ausüben mögen, eine<br />

Funktion, die zeitlich begrenzt ist. Ich<br />

übernehme mit meinem neuen Amt eine<br />

nicht minder anspruchsvolle und interessante<br />

Aufgabe, sodass es mir auch nicht<br />

schwerfiel, diesen Wechsel zu vollziehen.<br />

C & W: Welche Macht haben Sie?<br />

Dutzmann: Ich hoffe, es ist die Macht des<br />

Arguments.<br />

C & W: Sehr protestantische Antwort!<br />

Dutzmann: Was haben Sie erwartet? Wir<br />

haben keinerlei Machtbefugnisse, sondern<br />

pflegen den Austausch und das Gespräch.<br />

Und wir hoffen, überzeugen zu<br />

können.<br />

C & W: Hermann Kunst, der erste Bevollmächtigte<br />

des Rates der EKD, war<br />

„Diplomat im Lutherrock“. Sehen Sie<br />

sich auch so? Oder sind Sie der oberste<br />

Lobbyist der evangelischen Sache?<br />

Dutzmann: Ich bin ausgebildet als Pastor,<br />

und als solcher möchte ich auch in Berlin<br />

und Brüssel wirken. Nicht weniger wichtig<br />

ist es aber, diplomatische Aufgaben im<br />

Sinne des Gemeinwohls zu übernehmen.<br />

Für ureigene kirchliche Belange setze ich<br />

mich ein, sofern das nötig ist, damit die<br />

Kirche ihren Auftrag erfüllen kann.<br />

»Bei uns Protestanten<br />

herrscht Transparenz im<br />

Blick auf unsere Finanzen.<br />

Wir haben das Prinzip der<br />

Haushaltswahrheit und<br />

Haushaltsklarheit. Jeder<br />

Synodale und jedes Gemeindeglied<br />

kann wissen, wo das<br />

Geld seiner Kirche herkommt,<br />

wo es sich befindet<br />

und wofür es ausgegeben<br />

oder angelegt wird.«<br />

Martin Dutzmann ist der neue Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche<br />

in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union.<br />

Der 57-jährige Theologe ist zugleich Militärbischof.<br />

C & W: Die katholische Kirche erlebt<br />

gerade einen enormen Vertrauens verlust<br />

durch die Tebartz-van-Elst- Affäre.<br />

Betrifft das die evangelische Kirche mit?<br />

Dutzmann: Die Unruhe betrifft uns mit,<br />

weil viele Menschen nicht zwischen evangelischer<br />

und katholischer Kirche unterscheiden.<br />

Sie meinen, die Finanzen der<br />

Kirche seien per se undurchschaubar.<br />

Hier lege ich Wert darauf, dass genau<br />

hingesehen wird: Bei uns Protestanten<br />

herrscht – wie in einigen katholischen<br />

Bistümern – Transparenz im Blick auf<br />

unsere Finanzen. Wir haben das Prinzip<br />

der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.<br />

Jeder Synodale und jedes Gemeindeglied<br />

kann wissen, wo das Geld<br />

seiner Kirche herkommt, wo es sich befindet<br />

und wofür es ausgegeben oder angelegt<br />

wird.<br />

C & W: Was raten Sie denn Ihren<br />

katholischen Kollegen in der Causa<br />

Limburg?<br />

Dutzmann: Ich glaube nicht, dass sie unseren<br />

Rat brauchen.<br />

C & W: Ist die evangelische Kirche gefeit<br />

vor ähnlichen Skandalen?<br />

Dutzmann: Bei uns gab es auch Probleme.<br />

Aber insgesamt funktionieren die Kontrollen<br />

gut.<br />

C & W: Manche Politiker stellen das<br />

bestehende Staatskirchenrecht infrage.<br />

Wie müsste das Verhältnis zwischen<br />

dem Staat und den Religionen zeitgemäß<br />

geregelt sein – auch mit Blick auf die<br />

nichtchristlichen Religionen?<br />

Dutzmann: Der Staat muss im Rahmen des<br />

Staatskirchen- oder auch Religionsverfassungsrechts<br />

dafür sorgen, dass jeder Bürger<br />

die im Grundgesetz verankerte Glaubensfreiheit<br />

wahrnehmen kann. Das gilt<br />

natürlich auch für Muslime. Da die Muslime<br />

traditionell nur locker organisiert<br />

sind, haben sie Schwierigkeiten, den gleichen<br />

Rechtsstatus zu erlangen wie die<br />

beiden großen Kirchen. Möglich ist es<br />

aber, wie jüngst ein Beispiel aus Hessen<br />

zeigte. Hamburg und Bremen haben inzwischen<br />

Verträge mit muslimischen Gemeinschaften<br />

geschlossen. Ich bin auch<br />

als Militärbischof immer mal wieder gefragt<br />

worden, was ich von einer muslimischen<br />

Militärseelsorge halte. Ich kann dazu<br />

nur ermuntern. Der Artikel 4 des<br />

Grundgesetzes ist der Ast, auf dem auch<br />

wir sitzen.<br />

C & W: Der Bund beteiligt sich massiv<br />

am Lutherjubiläum 2017. Wem gehört<br />

Luther?<br />

Dutzmann: Luther „gehört“ den Menschen,<br />

und die sind oft beides: Glieder unserer<br />

Kirche und Staatsbürger. Da lasse<br />

ich mich nicht auf ein Entweder-oder ein.<br />

Der Staat beteiligt sich aus gutem Grund<br />

am Jubiläum. Der Deutsche Bundestag<br />

hat festgehalten, dass die Reformation ein<br />

Ereignis nationalen und europäischen<br />

Ranges ist, ein Ereignis mit vielen Dimensionen,<br />

religiösen, aber eben auch<br />

kulturellen und politischen.<br />

C & W: Wenn Sie bei den Koalitions -<br />

verhandlungen dabei wären: Was<br />

würden Sie ins Regierungsprogramm<br />

schreiben?<br />

Dutzmann: Es steht uns nicht zu, etwas ins<br />

Regierungsprogramm zu schreiben. Wir<br />

können aber deutlich machen, woran uns<br />

gelegen ist. Ein Beispiel: Nicht erst seit<br />

den jüngsten dramatischen Ereignissen<br />

vor Lampedusa erwarten wir eine Neuausrichtung<br />

in der europäischen Migrations-<br />

und Flüchtlingspolitik. Wenn bekannt<br />

ist, dass sich Menschen in Seenot<br />

befinden, müssen diese gerettet werden.<br />

Schutzsuchende müssen außerdem Zugang<br />

zu einem effektiven und fairen Asylverfahren<br />

bekommen. Auch hoffen wir,<br />

dass die Grundlagen der Dublin-III-Regelung<br />

reformiert werden, nach der Asylsuchende<br />

ihr Verfahren in dem Mitgliedsstaat<br />

durchlaufen müssen, in den sie bei<br />

Betreten Europas ihren Fuß gesetzt haben.<br />

Diese Regelung steht einer solidarischen<br />

Verteilung der Verantwortung unter<br />

allen Mitgliedsstaaten entgegen. Wir<br />

appellieren an die Bundesrepublik, sich in<br />

all diesen Fragen in Europa einzubringen<br />

und mehr Verantwortung zu übernehmen.<br />

C & W: Und wie steht es mit Europa<br />

in dieser Frage?<br />

Dutzmann: Gerade die Flüchtlingspolitik<br />

ist eine europäische Aufgabe. Die Agentur<br />

Frontex, die den Schutz der europäischen<br />

Grenzen koordiniert, muss in besonderer<br />

Weise zur Seenotrettung von<br />

Flüchtlingen verpflichtet werden. Zugleich<br />

ist darauf hinzuwirken, dass Bestimmungen<br />

der einzelnen Mitgliedsstaaten,<br />

die es etwa Fischern untersagen,<br />

Flüchtlingen in Seenot Hilfe zu leisten,<br />

aufgehoben werden.<br />

C & W: Ist Europa, ist Deutschland<br />

denn in der Lage, noch mehr Menschen<br />

aufzunehmen?<br />

Dutzmann: Davon bin ich überzeugt. Beispiel:<br />

Syrien. Zurzeit sind etwa sechs Millionen<br />

Syrer auf der Flucht, vier Millionen<br />

innerhalb des Landes, zwei Millionen<br />

in Nachbarländern. Wir nehmen 5000<br />

Menschen aus Syrien auf. Diese Maßnahme<br />

ist zu begrüßen, sollte aber noch<br />

nicht das Ende sein.<br />

C & W: Appellieren Sie denn auch<br />

an die Kirchen, da Unterstützung zu<br />

leisten?<br />

Dutzmann: Das tun sie schon in großem<br />

Ausmaß. An der Basis helfen sehr viele<br />

Haupt- und Ehrenamtliche.<br />

C & W: Sie wollen also keine Flüchtlinge<br />

auf kirchliche Kosten aufnehmen?<br />

Dutzmann: Mit den sozialen Diensten von<br />

Caritas und Diakonie bieten die Kirchen<br />

sowohl akute Hilfe als auch längerfristige<br />

Begleitung bei der Integration von<br />

Flüchtlingen und Migranten an. Die Kosten<br />

werden von den Kirchen zum großen<br />

Teil durch Eigenmittel getragen. Auch<br />

viele Gemeinden begleiten Flüchtlinge<br />

mit speziellen Angeboten, sei es durch<br />

ehrenamtlich erteilte Sprachkurse oder<br />

Arbeit mit Kindern, sei es durch praktische<br />

Unterstützung von Gemeinschaftsunterkünften<br />

in der Nachbarschaft oder<br />

Alltagshilfen. Die Aufnahme von Flüchtlingen<br />

aus dem Ausland zu finanzieren ist<br />

eine genuin staatliche Aufgabe, die die<br />

Kirchen nicht übernehmen sollten.<br />

C & W: Als Militärbischof begleiten Sie<br />

den Abzug der Bundeswehr aus<br />

Afghanistan. Soll Deutschland die<br />

afghanischen Mitarbeiter aufnehmen?<br />

Dutzmann: Bei diesem Thema erhoffe ich<br />

von der Bundesregierung Großzügigkeit.<br />

Wenn sich diese Menschen nun in Gefahr<br />

befinden, weil sie Deutschland bei der<br />

Wahrnehmung seiner Aufgaben unterstützt<br />

haben, sollte sich Deutschland verantwortlich<br />

zeigen.<br />

C & W: Aus humanitären Gründen?<br />

Dutzmann: Ja, aber auch aus sicherheitspolitischen<br />

Gründen. Die Bundeswehr<br />

musste und konnte sich auf die einheimischen<br />

Mitarbeiter verlassen. Viele davon<br />

fühlen sich nun bedroht. Wir müssen nun<br />

auch großzügig sein, um in vergleichbaren<br />

Situationen wieder Vertrauen gewinnen<br />

zu können. Wenn deutlich wird,<br />

dass die deutsche Bundeswehr Menschen<br />

Stimmen des Südens<br />

PERSONALENTWICKLUNG Der CSU-Mann Günther Beckstein hat gute Chancen, Präses<br />

der EKD-Synode zu werden. Die evangelische Kirche wird auch ansonsten bayerischer<br />

Von Benjamin Lassiwe<br />

und Wolfgang Thielmann<br />

In Bayern liegt die Zukunft der Protestanten.<br />

Das ist neu. Bisher kamen die<br />

Hoffnungsträger der evangelischen<br />

Kirche aus der nördlichen Hälfte<br />

Deutschlands. Oder aus Schwaben. Margot<br />

Käßmann zum Beispiel stammt aus<br />

Marburg, Wolfgang Huber ist schwäbischer<br />

Pfarrer. Katrin Göring-Eckardt<br />

wuchs in Friedrichroda in Thüringen auf.<br />

Joachim Gauck ist in Rostock geboren,<br />

Angela Merkel in Hamburg. Bayern war<br />

gut für Katholiken. Altötting zum Beispiel,<br />

das den letzten Papst geprägt hat.<br />

„Für Protestanten und Paarhufer verboten“,<br />

soll noch vor Jahrzehnten auf einem<br />

Schild am Marktplatz gestanden haben.<br />

Lächerlich. Als ob Protestanten freiwillig<br />

ins rappelkatholische Altötting gekommen<br />

wären.<br />

Doch jetzt kann der frühere bayerische Ministerpräsident<br />

Günther Beckstein der zweite<br />

Mann der Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland (EKD) werden: Präses des<br />

140-köpfigen Parlaments, der Synode.<br />

Das ist doppelt neu. Zwar kommt er<br />

nicht so ganz aus Bayern, sondern aus<br />

dem fränkischen Hersbruck bei Nürnberg.<br />

Aber er gehört zur CSU. Früher hätte<br />

ihn das unwählbar in der evangelischen<br />

Kirche gemacht. Unter ihren Beschäftigten<br />

ist die Sympathie für die Grünen doppelt<br />

so hoch wie im Bevölkerungsschnitt.<br />

Vor vier Jahren waren die 140 EKD-<br />

Parlamentarier daher richtig stolz auf<br />

sich, dass ein Ruck durch die Synode gegangen<br />

war. Ein Rechtsruck. Beckstein<br />

für ihre Zwecke einspannt und sie dann<br />

ihrem Schicksal überlässt, wird das als<br />

Vertrauensmissbrauch empfunden werden.<br />

Und das kann nicht in unserem Sinne<br />

sein.<br />

C & W: Stichwort Arbeitsrecht: Auf<br />

der EKD-Synode in Düsseldorf wird<br />

auch über die Beteiligung der Gewerkschaften<br />

am Tarif- und Streikrecht<br />

diskutiert werden. Werden Sie das<br />

unterstützen?<br />

Dutzmann: Die Beteiligung der Gewerkschaften<br />

ist seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts<br />

verbindlich vorgesehen.<br />

Die EKD ist dabei, den gerichtlichen Vorgaben<br />

zu entsprechen, und wir tun das<br />

gern. Es gibt gute Gründe, an dem besonderen<br />

kirchlichen Weg im Arbeitsrecht<br />

festzuhalten.<br />

C & W: Welche?<br />

Dutzmann: Die Barmer Theologische Erklärung<br />

von 1934 sagt, dass die Kirche das<br />

Evangelium nicht nur durch ihre Predigt,<br />

sondern auch durch ihre Ordnung bezeugt.<br />

Der Dritte Weg und kirchengemäße<br />

Tarifverträge sind Versuche, die geistliche<br />

Dienstgemeinschaft der in der Kirche<br />

Tätigen auch rechtlich zu ordnen.<br />

Und ich kann nicht erkennen, dass es<br />

Menschen unter diesen Bedingungen<br />

schlechter geht als in anderen Arbeitsverhältnissen,<br />

im Gegenteil.<br />

durfte zum ersten Mal fürs Präsesamt<br />

kandidieren, das 20 Jahre in SPD-Hand<br />

gelegen hatte. Wie erwartet, unterlag er<br />

aber der grünen Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt<br />

und wurde Vize. Aus dieser<br />

grün-schwarzen Koalition hat er viel gemacht.<br />

Er ist unglaublich loyal und kompromissfähig.<br />

Das wiegt die Sorge der Synodalen<br />

vor den Plenarsitzungen auf, die<br />

er leitet und in denen er schon mal den<br />

Überblick verliert.<br />

Jetzt ist Göring-Eckardt ein halbes Jahr<br />

vor dem Ende ihrer kirchlichen Wahlperiode<br />

gegangen; es muss nachgewählt werden.<br />

Und siehe da, Beckstein kandidiert<br />

als Präses, wenn sich die Synode nächste<br />

Woche in Düsseldorf versammelt. Die<br />

Agenturen melden, Becksteins Wahl gelte<br />

als ziemlich sicher. Das heißt: Die Gruppen<br />

der Synode haben sich auf ihn verständigt.<br />

Es sei denn, er bekommt einen<br />

Gegenkandidaten.<br />

Noch sicherer ist der Einzug seines<br />

Landesbischofs Heinrich Bedford-Strohm<br />

in den 15-köpfigen Rat der EKD. Da sind<br />

bis zur regulären Wahl in einem Jahr zwei<br />

Plätze frei geworden. Viele sehen Bedford-Strohm<br />

am Beginn einer evangelischen<br />

Führungskarriere. Der Pfarrerssohn<br />

und Professor für Sozialethik<br />

kommt aus dem oberschwäbischen<br />

Memmingen. Souverän erklärt er auf<br />

Facebook am Beispiel einer bedrängten<br />

Christin aus Syrien, die er getroffen hat,<br />

was die christliche „Option für die Armen“<br />

bedeutet. Oder wie er sich einen<br />

verantwortlichen Umgang mit Geld vorstellt.<br />

Überhaupt, Facebook: Bedford-<br />

Strohm regiert mit Postings, Likes und<br />

C & W: Was könnte denn<br />

Ihrer Meinung nach die<br />

evangelische Kirche von der<br />

katholischen lernen?<br />

Dutzmann: Wir haben zum Beispiel gelernt,<br />

das gottesdienstliche Ritual wertzuschätzen<br />

und nicht alles auf die Predigt<br />

abzustellen. Der Gottesdienst mit seinen<br />

»Es gibt gute Gründe, am<br />

kirchlichen Arbeitsrecht festzuhalten<br />

… Ich kann nicht<br />

erkennen, dass es Menschen<br />

schlechter geht als in anderen<br />

Arbeitsverhältnissen.«<br />

Liedern und Gebeten und vor allem dem<br />

heiligen Abendmahl ist auch dann ein<br />

heilsames Geschehen, wenn die Predigt<br />

die Herzen ihrer Hörer weniger erreicht.<br />

C & W: Sind Sie stolz, Protestant zu sein?<br />

Dutzmann: Ich bin in ein evangelisches Elternhaus<br />

hineingeboren und in der evangelischen<br />

Kirche getauft, das ist meine<br />

Tradition. Ich lebe gerne in ihr und freue<br />

mich, dass es auch noch andere gibt.<br />

Das Gespräch führte<br />

Hans-Joachim Neubauer.<br />

der Handykamera. Wer wissen will, was<br />

ein Bischof tut, kann da fast lückenlos<br />

verfolgen, wen er besucht, wo er Vorträge<br />

hält und was ihm durch den Kopf<br />

geht. „Padford“ nennen ihn Freunde, weil<br />

er mit seinem Tablet schneller agiert als<br />

seine Pressestelle. Er ist Schüler von<br />

Wolfgang Huber, wissenschaftlich dekoriert,<br />

aber zugleich präsent in den Gemeinden.<br />

Und er macht die freundlichere<br />

Figur, wenn er neben seinem katholischen<br />

Partner steht, dem Münchner<br />

Erzbischof Reinhard Marx in der mächtigen<br />

purpurfarbenen Bauchbinde um den<br />

schwarzen Rock, die Distanz schafft.<br />

Nächstes Jahr wird der Rat der EKD neu gewählt.<br />

Und der Vorsitzende, der aus dieser<br />

Wahl als Nachfolger des jetzigen Ratsvorsitzenden<br />

Nikolaus Schneider hervorgeht,<br />

wird die Feiern im Jahr 2017 mitgestalten,<br />

wenn die Reformation 500 Jahre<br />

alt wird. Bedford-Strohm gehört zu<br />

den Favoriten. Wenn er jetzt zusammen<br />

mit Beckstein gewählt wird, würde Bayern<br />

zwei Führungskräfte an der Spitze<br />

der EKD stellen, mehr als jede andere der<br />

20 evangelischen Landeskirchen.<br />

Zu Weihnachten hat Bedford-Strohm<br />

ein Video auf Youtube gestellt. Da begleitet<br />

er den Gesang seiner Mitarbeiter auf<br />

der Geige. Das macht er auch bei<br />

Gemeindebesuchen. Die Mitarbeiter singen<br />

„Herbei, o ihr Gläubigen“. Das Lied<br />

könnte die evangelische Bayernhymne<br />

werden. Denn Bayern verbucht Zuzug.<br />

Die evangelische Kirche muss, ganz<br />

gegen den bundesweiten Trend, neue<br />

Gotteshäuser bauen. In Bayern liegt die<br />

Zukunft der Protestanten.


C&W 6 GESELLSCHAFT<br />

C HRIST & WELT | 45/2013<br />

SAMMLUNG<br />

EIN BILD, EIN SATZ,<br />

EIN WUNDER<br />

DER ATHEIST,<br />

DER WAS VERMISST<br />

Laufleistung<br />

Seine Empfehlung:<br />

Robert Rauschenberg:<br />

Bed (1955)<br />

Heute<br />

kuratiert von<br />

Christoph<br />

Markschies<br />

Warum haben Sie dieses Bild ausgewählt,<br />

Herr Markschies?<br />

»Das Kunstwerk illustriert einen Albtraum.<br />

Die Stimme der Mutter fragt: ›Hast du dein<br />

Bett gemacht?‹ Die Stimme des eigenen<br />

Gewissens antwortet: ›Na sicher. Wie jeden<br />

Morgen.‹ Aber in Wahrheit verrät das Bett<br />

nicht nur die Spuren des Frühstücks am<br />

Wochenende, sondern ist ein sprechendes<br />

Zeichen des vergeblichen Versuchs, Ordnung<br />

zu schaffen im Denken, Arbeiten und Leben.<br />

Aber, wie gesagt: nur ein Albtraum. Natürlich<br />

habe ich heute Morgen das Bett gemacht.«<br />

Kurator im Monat Oktober ist der evangelische Theologe Christoph Markschies.<br />

Er lehrt Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und ist Vizepräsident<br />

der Berlin-Brandenburgischen <strong>Akademie</strong> der Wissenschaften.<br />

Wer sagt mir Atheisten denn, dass mir kein Urteil<br />

zusteht wider meinen Nächsten? Hier, wo es so<br />

nahe liegt? Als wäre ich in einen Film geraten, in<br />

eine ausgedachte Welt, so kommt mir diese Frau<br />

entgegen, wie eine Außerirdische verkapselt. Ihre<br />

ganze Erscheinung ist aus Klischeebildern zusammengesetzt,<br />

und so perfekt, wie ich es noch nicht<br />

gesehen habe: Bis zur Kappe in schwarzem Sportdress,<br />

rollt sie in bestem Jogging-Style hinter ihrem<br />

dreirädrigen Lauf-Kinderwagen her, der die<br />

Farbe ihres Anzugs trägt. Dabei führt sie ein offenbar<br />

wichtiges Personalgespräch: „Nein, auf gar<br />

keinen Fall. Wir können ihn noch drei, vier Monate<br />

halten, aber nicht länger …“, höre ich, der ich<br />

mich vor dieser Epiphanie moderner Mutterschaft<br />

seitwärts in die Büsche gedrängt habe, um ihr<br />

nicht im Wege zu sein. Ich hab schon davon gehört,<br />

dass Frauen mehrere Dinge gleichzeitig tun<br />

können, aber wie ich das hier so exemplarisch, so<br />

idealtypisch vorgejoggt bekomme, das lässt mich<br />

schmunzeln. Unwillkürlich. Es liegt mir fern, dieser<br />

Fremden eine spöttische<br />

Haltung zu zeigen. Überfahren<br />

werden mag ich aber auch<br />

nicht. Ich notiere das gleich,<br />

und die Kolumne ist so gut<br />

wie fertig. Heiteren Sinnes<br />

schreite ich meine Runde ab,<br />

doch da sie schneller ist als<br />

ich, begegnen wir uns ein<br />

zweites Mal. Auf meiner Höhe<br />

bleibt sie stehen, nein, sie<br />

Sie joggt<br />

mit Kinderwagen<br />

und<br />

führt ein<br />

Personalgespräch.<br />

joggt auf der Stelle und spricht mich so, sanft hüpfend,<br />

an. Noch eine Überraschung. Auch ich bleibe<br />

stehen und beherrsche mein aufstrebendes<br />

Schmunzeln.<br />

Sie könne verstehen, beginnt sie, dass man ihr<br />

innerlich einen Vogel zeige …, ich will sie unterbrechen,<br />

um diese Vermutung gleich zurückzuweisen,<br />

doch sie wehrt ab. Sie wolle nur etwas<br />

klarstellen, hechelt sie, während sie den Waldboden<br />

unter ihren schmiegsamen Schuhsohlen in<br />

Pampe verwandelt: Sie müsse ihren Tag effizient<br />

nutzen und habe so wenig freie <strong>Zeit</strong> unter anderem<br />

deshalb, weil sie mit ihrer Arbeit und den<br />

horrenden Steuern auch für all die anderen zu<br />

sorgen habe, die nicht zu arbeiten und keine Kinder<br />

zu betreuen, stattdessen den ganzen Tag <strong>Zeit</strong><br />

hätten, gemächlich herumzuspazieren. Noch ein<br />

Klischee. Aber die Stimme! So angestrengt und<br />

vage, dass sie mich rührt. Mein Blick ist bei dem<br />

Kind im Wagen, das während ihrer Rede selig weiterschläft.<br />

„Perfektion und Psychose“ könnte ich<br />

darüber schreiben, schießt es mir durch den Kopf.<br />

Aber dann sehen wir uns an, ihr Strampeln stockt.<br />

Und von nun an ist alles anders.<br />

Martin Ahrends lebt als Schriftsteller in Berlin.<br />

HALTUNG, BITTE!<br />

Freiheit immer, Freizeit nimmer<br />

EVANGELISCHES PFARRHAUS Eine Berliner Ausstellung zeigt ein historisches Panorama<br />

protestantischer Selbstdarstellung. Steht die Wiege des deutschen Geistes bald leer?<br />

Ich, das arme Opfer<br />

„Am Montag ist unsere Oberbürgermeisterin<br />

Susanne Gaschke zurückgetreten. Ist so ein Rück -<br />

tritt ein Ausdruck von Haltung?“ Sebastian G., Kiel<br />

Von Andreas Öhler<br />

Das Wesen des protestantischen<br />

Pfarrhauses zeigt sich weder<br />

am Schreibtisch, an dem Predigten<br />

verfasst werden, noch<br />

an der weltoffenen Bibliothek. Sein wichtigstes<br />

Utensil ist die Tür, die den Mühseligen<br />

und Beladenen stets offensteht.<br />

Gleichzeitig führt diese Tür immer auch<br />

nach außen: Auf dass der Geist des Herrn<br />

hinausgehe in alle Welt und dort Mission<br />

betreibe! Diese Tür sollte den Weg frei<br />

machen zum vielbesungenen Ort geistlicher<br />

Einkehr, der sich gleichzeitig als<br />

Platz für geistige Auseinandersetzungen<br />

verstand und Raum für musische Erbauung<br />

bot. Kammermusik, Rockkonzert,<br />

Bibelkreis, Diavorträge, Meditationszirkel,<br />

Teerunde, Bastelabend und Spiele -<br />

nachmittag – hingebungsvolle Gastgeber<br />

machten ihre privaten Räume zu einem<br />

Anlaufpunkt für die Gemeinde.<br />

Sie verstanden sich als allzeit präsente<br />

Ansprechpartner. Denn Nöte und Belange<br />

menschlichen Lebens richten sich ja<br />

auch nicht nach festen Bürozeiten. Da außerdem<br />

niemand die Woche über so zu<br />

leben versteht, wie er es sonntags in der<br />

Predigt gehört hat, trug die Pfarrfamilie<br />

noch eine weitere Bürde: die christliche<br />

Tugend beispielhaft vorzuleben.<br />

Fast so, wie sich Martin Luther das<br />

vorstellte. Der Ex-Augustinermönch und<br />

seine spätere Gattin, die entlaufene Nonne<br />

Katharina von Bora, sind das mystische<br />

Tafelsilber im ansonsten schmucklosen<br />

evangelischen Gefühlshaushalt. Das<br />

von Lucas Cranach gemalte und damit<br />

ideologisch festgeschriebene Ehepaar im<br />

aufgelassenen Wittenberger Augustinerkloster<br />

galt bis zum frühen 20. Jahrhundert<br />

als Erfinder des evangelischen Pfarrhauses.<br />

Dabei wird gerne übersehen, dass<br />

Luther gar nicht als Pfarrer arbeitete, sondern<br />

als Theologieprofessor und besoldeter<br />

Stadtkirchenprediger. Die Seelsorge<br />

gehörte nicht zur Stellenbeschreibung.<br />

Schon eher sollte das Urheberrecht für<br />

den Prototyp des Pfarrhauses dem Wittenberger<br />

Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen<br />

zugesprochen werden, der als Reformator<br />

in Norddeutschland protestantische<br />

Kirchengeschichte schrieb und eine<br />

Frau namens Walburga heiratete. Er traute<br />

das Ehepaar Luther am 13. Juni anno<br />

1525 in Luthers Wohnung. Jedenfalls fanden<br />

diese beiden Wittenberger Paare<br />

überall Nachahmer. Öffentliche Eheschließungen<br />

erwiesen sich in der Reformation<br />

ab 1522 als Gesinnungstest für das<br />

evangelische Bekenntnis. Das Konkubinat,<br />

wie in der Renaissance üblich, wurde<br />

im Herrschaftsbereich des Protestantismus<br />

verboten.<br />

Im Entschluss, die klerikale Geborgenheit<br />

für eine sozial prekäre Lebensform<br />

aufzugeben, sahen die Reformatoren<br />

auch eine Glaubensprüfung, nicht nur eine<br />

Befreiung. Ab 1525 gehörte dann die<br />

Priester ehe in evangelischen Gebieten<br />

schon zum Normalstatus, das Pfarrerehepaar<br />

in seinem offenstehenden Haus sah<br />

sich als Vermittler zwischen Kirche und<br />

Gesellschaft.<br />

Mit seiner „Haustafel“, einem Auszug aus<br />

seinem „Kleinen Katechismus“, gab Luther<br />

der christlichen Hausgemeinschaft die<br />

Richtlinien vor. Er legte die Tischrituale<br />

fest und regelte die christliche Unterweisung.<br />

Aus solchen Bündeln von Leitfäden<br />

wurden über die Jahrhunderte die dicken<br />

Taue gedreht für das Schiff, das man Gemeinde<br />

nennt. Der Pfarrer war Kapitän<br />

und Steuermann zugleich: Die Kanzel<br />

machte er zu seiner Kommandobrücke.<br />

Außer Gott fürchtete er nur einen: den<br />

unangekündigten Besuch des Superintendenten,<br />

der die Qualität der Predigten<br />

prüfte. Ansonsten machte er den Kontrolleur<br />

gegenüber seiner Christenschar:<br />

In Schweden fanden bis ins 19. Jahrhundert<br />

noch Hausverhöre statt. Dazu besuchte<br />

der Herr Pastor die Fischer oder<br />

Bauern seines Sprengels, fragte im Beisein<br />

der gesamten Nachbarschaft christliches<br />

Wissen ab und prüfte die Tugendhaftigkeit<br />

der Familie. Danach ließ er sich<br />

von den Heimgesuchten ein Fest ausrichten<br />

und sich beköstigen. Wie die Made<br />

im Speck lebte er dennoch nicht. Nur in<br />

England, wo sich anglikanische Reverends<br />

beim Adel als Hauslehrer verdingten,<br />

führten sie ein opulentes Wohlleben,<br />

Deutsche Pfarrfamilien ernährten sich<br />

über Kollekten und Ernteabgaben und<br />

versuchten sich nicht ungeschickt im Eigenanbau<br />

von Obst und Gemüse. Erst im<br />

19. Jahrhundert stiegen die evangelischen<br />

Geistlichen als Bildungsbürger zu den<br />

Honoratioren auf.<br />

Geheiligte Reliquien sind dem Protestantismus<br />

fremd. Es gilt das gepredigte<br />

Wort. Der evangelische Geist betreibt lieber<br />

den Kult in eigener Sache. Es ist nicht<br />

gerade protestantische Bescheidenheit,<br />

die sich da in Öl auf den Pastorentafeln<br />

aus dem 17. Jahrhunderts spreizt.<br />

Das Pfarrhaus bestand also nicht nur<br />

aus einladend offenen Türen und sperr-<br />

Mode: Vikarinnen-Dienstkleidung von 1946.<br />

angelweit geöffneten Fenstern, durch die<br />

die Böen der Aufklärung pfiffen. Im Hause<br />

des Herrn gab es auch doppelte Böden<br />

und geheime Tapetentüren, hinter denen<br />

Bigotterie, Unterdrückung und Engstirnigkeit<br />

herrschten. Die Literatur kennt<br />

genügend Beispiele von Pfarrerskindern,<br />

die unter der Aufhebung der Privatheit,<br />

diesem gläsernen Leben, und der dauernden<br />

Gewissensprüfung litten. Der Autor<br />

F. C. Delius wurde als Kind darüber zum<br />

Stotterer.<br />

In der NS-<strong>Zeit</strong> wurde das Image des Pfarrhauses<br />

nachhaltig beschädigt. Dienstbeflissen<br />

spürte mancher Kirchenmann für die<br />

„Reichsstelle für Sippenforschung“ in alten<br />

Kirchenbüchern konvertierte Juden<br />

auf und lieferte sie den Vollstreckern der<br />

Rassengesetze aus. Auch diese Daten ebneten<br />

dem Holocaust den Weg.<br />

Historisch rehabilitiert hat sich das<br />

Pfarrhaus beispielhaft in der DDR. Es<br />

erinnerte sich seiner humanistischen Tugenden,<br />

indem es bedrängten Friedensund<br />

Umweltgruppen einen Unterschlupf<br />

bot. Aus der Kirche kamen jene Bürgerrechtler,<br />

ohne die die friedliche Revolution<br />

1989 nicht friedlich verlaufen wäre.<br />

Nun nagt der individualistische <strong>Zeit</strong>geist<br />

am Gebälk des Pfarrhauses. Junge<br />

Pfarrerinnen und Pfarrer wollen sich dieser<br />

althergebrachten Dauerverfügbarkeit<br />

entziehen. Beruf und Privatheit wollen<br />

sie trennen, auch, um ihre Familie zu<br />

schonen. Die dienende Pfarrersfrau hat<br />

sich erledigt, seit auch Frauen den Pfarrberuf<br />

ausüben dürfen. Klopfet an, so<br />

wird euch aufgetan? Die Handy-Mailbox<br />

verweist immer öfter freundlich auf die<br />

Öffnungszeiten des Pfarrbüros. Das Internetportal<br />

ersetzt die alte Tür. Es steht immer<br />

offen.<br />

Leben nach Luther – Eine Kulturgeschichte<br />

des evangelischen Pfarrhauses.<br />

Deutsches Historisches Museum Berlin, bis<br />

2. März 2014.<br />

FOTOS: BOLTIN PICTURE LIBRARY/BRIDGEMANART.COM/ROBERT RAUSCHENBERG FOUNDATION/VG BILD-KUNST, BONN 2013; ANTIKES-CHRISTENTUM.DE;<br />

ARCHIV DER EVANGELISCHEN KIRCHE IM RHEINLAND, DÜSSELDORF<br />

Böse Zungen behaupten, die Zurücktreteritis sei<br />

ansteckend, genauso wie die Sehnsucht des Publikums<br />

nach tränenreichen Abschieden vor laufender<br />

Kamera. Aber jeder Rücktritt ist anders. Wie<br />

seine Ursachen. Umso trauriger für unsere Republik,<br />

dass es diesmal eine Frau trifft, die als Seiteneinsteigerin<br />

alles besser machen wollte, eine Hoffnungsträgerin.<br />

Kein verschwiemelter Politjargon,<br />

mehr Transparenz, mehr Empathie, wer will das<br />

nicht? Diese Haltung ist erst einmal überzeugend,<br />

weit über die Stadt Kiel hinaus. Aber wann wird<br />

aus der Überzeugung, dass Politik nicht nur von<br />

Profis, Verwaltungsspezis und Juristen gemacht<br />

werden sollte, schnöde Besserwisserei? Und wann<br />

kippt die Haltung des Engagements und des frischen<br />

neuen Stils in die Verachtung für die mühsamen<br />

Prozesse der Ebene, in denen Abstimmungen,<br />

Verwaltungsabläufe, Delegation und Rückversicherung<br />

den Alltag ausmachen? Das ist nicht<br />

leicht zu beantworten. Aber eine Rücktrittsrede,<br />

die die Fehler nur bei anderen sucht, in der sich<br />

die Abschiedsrednerin als die moralisch Überlegene<br />

aus der Affäre zieht, lässt es doch an der Demut<br />

fehlen, die sie vorher zu Recht von anderen<br />

gefordert hat.<br />

Hier geht es offenbar nicht um das Eingeständnis<br />

eigener Fehler, hier geht es nicht einmal darum,<br />

das Erschrecken darüber zu thematisieren,<br />

wie hart politische Auseinandersetzungen sein<br />

können, wie bitter die öffentliche Kritik an der eigenen<br />

Person. Hier geht es um eine Abrechnung.<br />

Schuld am Rücktritt sind die anderen, vorzugsweise<br />

kalte, harte Männer. Testosteron hin, Östrogen<br />

her, von der republikanischen Gesinnung, die sich<br />

vor allem ums Gemeinwesen sorgt, ist da nichts<br />

zu hören. Umso trauriger, als es potenzielle Quereinsteigerinnen<br />

in die Politik noch viel schwerer<br />

haben werden.<br />

Die Pastorin Dr. Petra Bahr ist Kulturbeauftragte der<br />

Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Kolumnen<br />

sind gerade in der Edition Chrismon als Buch<br />

erschienen: „Haltung, bitte!“ Wenn Sie vor einem<br />

Dilemma stehen und einen Ausweg mit Anstand<br />

suchen, schreiben Sie Dr. Petra Bahr. Leserpost<br />

bitte an: Christ & Welt, Heinrich-Brüning-Straße 9,<br />

53113 Bonn. Stichwort „Haltung“.<br />

E-Mail: haltung@christundwelt.de

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