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WWW.CICERO.DE<br />
November 2012<br />
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www.cicero.de<br />
Flopflieger Eurofighter: Von der<br />
Exporthoffnung zum Ladenhüter<br />
<strong>Hitlers</strong> <strong>letzte</strong><br />
<strong>Bombe</strong><br />
Warum „Mein Kampf“<br />
freigegeben werden muss<br />
Wer ist grüner?<br />
Im Check: Claudia Roth gegen<br />
Katrin Göring-Eckardt<br />
Wem gehört das Meer?<br />
Chinas Ambitionen als<br />
neue Weltmacht zur See<br />
Wer wird First Lady?<br />
Liz Mohn und Angelika Jahr ringen um<br />
Deutsch lands größten Zeitschriften-Konzern<br />
Österreich: 8 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />
Spanien: 9 EUR, Portugal (Cont.): 9 EUR, Finnland: 12 EUR
Es ist die erste Sekunde des<br />
Die erste Seite<br />
Jahres 1913. Ein Schuss hallt<br />
durch die dunkle Nacht. Man hört ein<br />
kurzes Klicken, die Finger am Abzug spannen<br />
sich an, dann ein zweiter, dumpfer<br />
Schuss. Die alarmierte Polizei eilt herbei<br />
und nimmt den Schützen sofort fest.<br />
Er heißt Louis Armstrong.<br />
Mit einem gestohlenen Revolver hatte der<br />
Zwölfjährige in New Orleans das neue Jahr<br />
begrüßen wollen. Die Polizei steckt ihn<br />
in eine Zelle und schickt ihn schon am<br />
frühen Morgen des 1. Januar in eine Besserungsanstalt,<br />
das Coloured Waifs’ Home<br />
for Boys. Er führt sich dort so wild auf und<br />
schreit herum, dass der Leiter der Anstalt,<br />
Peter Davis, sich nicht anders zu helfen<br />
weiß, als ihm aus einer spontanen Idee<br />
heraus eine Trompete in die Hand zu<br />
drücken (eigentlich hat er ihn ohrfeigen<br />
wollen). Louis Armstrong aber wird urplötzlich<br />
stumm, nimmt das Instrument<br />
fast zärtlich entgegen und seine Finger,<br />
die noch in der Nacht zuvor nervös mit<br />
dem Abzug des Revolvers gespielt hatten,<br />
spüren erneut das kalte Metall, doch statt<br />
eines Schusses entlockt er der Trompete<br />
noch im Zimmer des<br />
Direktors erste warme,<br />
wilde Töne.<br />
Lesen Sie weiter…<br />
320 Seiten, gebunden, € (D) 19,99<br />
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Flopflieger Eurofighter: Von der<br />
Exporthoffnung zum Ladenhüter
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C i c e r o | A t t i c u s<br />
Von: <strong>Cicero</strong><br />
An: Atticus<br />
Datum: 25. Oktober 2012<br />
Thema: Hoßbach, Hitler, NSU<br />
Die Kraft der Quelle<br />
Titelbild: WieslaW Smetek; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
D<br />
as klingt jetzt vielleicht ein bisschen anbiedernd, aber es stimmt: Am meisten machen<br />
wir uns bei der Produktion unseres Heftes Gedanken über unsere Leser. Passt das<br />
Verhältnis der Themen, der Genres und der Autoren? Ist das nicht zu viel davon oder<br />
zu wenig hiervon? Denn Magazin heißt vor allem eines: Mischung.<br />
Diesmal kamen Sorgen auf. Im Salon beschäftigt sich Konstantin Sakkas zum 75. Jahrestag<br />
mit Adolf <strong>Hitlers</strong> Geheimkonferenz vom 5. November 1937 in der Berliner Reichskanzlei (Ab<br />
Seite 128). Vor seinen Generalen und wichtigsten Vertrauten offenbarte der Diktator seine expansionistischen<br />
Pläne. Der Wehrmachtsadjutant Friedrich Hoßbach schrieb bei der Sitzung mit<br />
und erstellte so das Protokoll eines kommenden Weltkriegs. In unserem Titelschwerpunkt gehen<br />
der Historiker Philipp Blom und andere Experten der Frage nach, warum <strong>Hitlers</strong> wirres Werk<br />
„Mein Kampf“ in Deutschland nach wie vor mit einem Tabu belegt ist – und argumentieren, warum<br />
sich das ändern sollte (Ab Seite 18). In der Berliner Republik schließlich beschreibt Wolf<br />
Schmidt die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses, der zwei Millionen Seiten an Unterlagen<br />
der deutschen Sicherheitsbehörden auswerten muss (Ab Seite 56).<br />
Zu viel vom Gleichen, zu viele Nazis? Wir haben uns dafür entschieden, bei dieser Themenwahl<br />
zu bleiben. Nicht nur, weil ein innerer Zusammenhang besteht. Sondern auch, weil alle<br />
drei Zugänge die These unseres Titels stützen: Nichts darf bei diesem Thema unter Verschluss<br />
bleiben, alles muss auf den Tisch.<br />
Die sogenannten Hoßbach-Protokolle waren in den Nürnberger Prozessen ein entscheidendes<br />
Beweisstück der Anklage, um die Kriegsverbrecher um Hitler ihrer Strafe zuzuführen. Die<br />
Kraft der authentischen Quelle – das macht Hoßbachs Aufzeichnungen bis heute zu einem<br />
wichtigen Dokument. Sie vermitteln einen Eindruck davon, wie generalstabsmäßig das „Anrecht<br />
auf Lebensraum“ mit Krieg und Massenmord erkämpft werden sollte.<br />
Unser Erkenntnisinteresse führt dabei immer entlang der Frage, die dieses Land nie loslassen<br />
darf: Wie konnte das geschehen? In dieser Hinsicht gibt auch <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ Hinweise.<br />
Doch ein Copyright auf das Buch hält ein Tabu in Deutschland aufrecht. Es darf bis Anfang<br />
2016 in Deutschland nicht neu gedruckt werden, es bleibt bis dahin unter Verschluss. Manche<br />
wünschen sich sogar: für immer. Der Ansatz ist aber falsch. Man muss „Mein Kampf“ lesen können,<br />
um Ansätze für Antworten auf die ewige Frage zu bekommen.<br />
Wie konnte das geschehen? Das fragten sich Deutschland und die Welt auch vor einem Jahr,<br />
als klar wurde: Ein Killertrio hatte seit dem Jahr 2000 in Deutschland zehn Menschen umgebracht,<br />
ohne dass irgendjemand das rechtsextreme Muster dieser Morde erkannte. Deshalb müssen<br />
auch hier die Originalakten aus den Schränken der blamierten Ermittlungsbehörden auf den<br />
Tisch. Und Blatt für Blatt gelesen werden können.<br />
In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />
der römische Politiker und Jurist<br />
Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />
Freund Titus Pomponius Atticus<br />
das Herz ausgeschüttet<br />
Mit besten Grüßen<br />
Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 3
C i c e r o | I n h a l t<br />
Titelthema<br />
Die Französin Linda Ellia versucht,<br />
<strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ mit den<br />
Mitteln der Kunst beizukommen.<br />
Ihr Ausstellung „Notre Combat“<br />
findet international große<br />
Beachtung. Das Projekt illustriert<br />
die Geschichte ab Seite 32<br />
18<br />
Copyright auf ein Tabu<br />
Mit dem toxischen Erbe des Nationalsozialismus<br />
können wir uns nur offen auseinandersetzen<br />
von Philipp Blom<br />
32<br />
Das versiegelte Buch<br />
Warum darf man Hitler nicht lesen? Eine Reise zu<br />
Menschen, die darauf Antworten geben<br />
von Christoph Schwennicke<br />
30<br />
„Faszination des Bösen“<br />
Der SPD-Politiker Mathias Brodkorb sieht im Streit<br />
um „Mein Kampf“ ein Generationenproblem<br />
Interview Von Alexander Marguier<br />
40<br />
„Man hätte es viel früher erlauben sollen“<br />
Andreas Wirschings Institut für Zeitgeschichte<br />
erarbeitet eine Edition von „Mein Kampf“<br />
Interview Von Christoph Schwennicke<br />
Foto: Linda Ellia<br />
4 <strong>Cicero</strong> 11.2012
I n h a l t | C i c e r o<br />
50 FDP im Überlebenskampf 74 Seemacht China 110 Bertels-Frauen<br />
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />
42 | UNERSCHROCKEN SPRÖDE<br />
Die Ministerin Anke Spoorendonk<br />
propagiert in Kiel Politik ohne Glamour<br />
Von KATRIN WILKENS<br />
68 | Des Sultans Pascha<br />
General Necdet Özel könnte die Nato in<br />
einen Krieg mit Syrien ziehen<br />
Von Markus Bernath<br />
92 | Europas Vorstopper<br />
EU-Währungskommissar Olli Rehn –<br />
bieder, aber mächtig<br />
Von Eric Bonse<br />
44 | ALLES BEBT, EINER BLEIBT<br />
Mit 65 in Pension? BKA-Präsident Jörg<br />
Ziercke hat schon drei Minister überlebt<br />
Von HARTMUT PALMER<br />
70 | Im Namen Europas<br />
Angelika Nußberger urteilt über die<br />
Einhaltung der Menschenrechte<br />
Von Vanessa de L’Or<br />
94 | Freude am Anschlag<br />
Fred Stoof verpanzert die Autos<br />
des afghanischen Präsidenten<br />
Von Steffen Uhlmann<br />
Fotos: Lene Münch, Marko Greitschus/Agency People Image; Illustrationen: Leif Heanzo, Christoph Abbrederis<br />
46 | JIMMY GIBT NICHT AUF<br />
Der FDP-Vorzeigepolitiker Jimmy<br />
Schulz stemmt sich gegen das Aus<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
50 | „Ein bisschen fröhlichkeit“<br />
FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle über<br />
seine Partei, Koalitionen und Olivenöl<br />
INTERVIEW VON Christoph Schwennicke<br />
und Georg Löwisch<br />
54 | HAIFISCH GEGEN BLAUWAL<br />
Die Grünen Claudia Roth und Katrin<br />
Göring-Eckardt trennen Welten<br />
Von Petra Sorge und Georg Löwisch<br />
56 | DAS VERSPRECHEN<br />
Der Untersuchungsausschuss zum NSU-<br />
Skandal prägt einen neuen Politikstil<br />
Von WOlf Schmidt<br />
64 | DER ALTE, DAS ALTERN UND ICH<br />
Was Menschen wie Geißler, Schmidt und<br />
Kohl für das eigene Leben bedeuten<br />
Von KURT KISTER<br />
65 | FRAU Fried fragt sich …<br />
… ob Homöopathie den<br />
gesellschaftlichen Frieden gefährdet<br />
Von AMELIE FRIED<br />
72 | Der Weichmacher<br />
Reinhard Silberberg, der dabei half, den<br />
Stabilitätspakt aufzuweichen, ist heute<br />
Botschafter in Madrid<br />
Von Andreas Rinke<br />
74 | Herrscher der Meere<br />
Warum das Ost- und Südchinesische<br />
Meer so wichtig sind<br />
Von Oliver Radtke<br />
80 | Alle Mann an die Waffen<br />
China steckt immer mehr Geld in die<br />
Aufrüstung seiner Armee<br />
Von Christiane Kühl<br />
84 | Wenn Bob Marley das wüsste<br />
Inmitten Äthiopiens gibt es eine kleine<br />
Rastafari-Gemeinschaft<br />
Von Philipp Hedemann<br />
90 | Habt euch wieder lieb!<br />
Die deutsch-französische Freundschaft<br />
ist so unterkühlt wie lange nicht mehr<br />
Von Klaus Harpprecht<br />
96 | „Die haben keinen<br />
blassen schimmer!“<br />
Autor Rolf Dobelli über Politikerhirne,<br />
den Goldstandard und Risikokarten<br />
Interview von Christoph Schwennicke<br />
100 | Supervogels Sinkflug<br />
Als Jäger 90 gestartet, als Exportniete<br />
gelandet, die Geschichte des Eurofighters<br />
Von Constantin Magnis<br />
108 | EIn Interessengemälde<br />
Die Infografik zur Verstrickung zwischen<br />
Finanzindustrie und US-Politik<br />
Von Til Knipper und Olaf Simon<br />
110 | Sekretärin vertreibt<br />
Chefredakteurin<br />
Liz Mohn gegen Angelika Jahr – das<br />
finale Duell um Gruner und Jahr<br />
Von Thomas Schuler<br />
116 | Grenzen der Anpassung<br />
In einer eng vernetzten Weltwirtschaft ist<br />
Klimaschutz überlebenswichtig<br />
Von Anders Levermann<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 5
C i c e r o | I n h a l t<br />
138 Fotoreportage<br />
Salon<br />
cicero online<br />
Aktuell:<br />
Grüne Urwahl<br />
Per Basisvotum suchen<br />
die Grünen zwei<br />
Spitzenkandidaten für<br />
die Bundestagswahl 2013.<br />
Anfang November steht das<br />
Ergebnis fest. Bei <strong>Cicero</strong><br />
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Rennen gemacht hat und<br />
welche Folgen das haben wird.<br />
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120 | „Nicht wegjodeln lassen“<br />
Die Komponistin Olga Neuwirth setzt<br />
sich gegen die Männer durch<br />
Von Irene bazinger<br />
146 | Küchenkabinett<br />
Über das Aussterben der<br />
gutbürgerlichen Küche<br />
Von thomas platt und julius grützke<br />
122 | politische sprechblasen<br />
Christophe Blain und sein Comic über<br />
den französischen Ex-Außenminister<br />
Von Matthias Heine<br />
148 | Bibliotheksporträt<br />
Der Kölner Mediziner Reiner Speck und<br />
seine Besessenheit von Proust und Petrarca<br />
Von Claudia Rammin<br />
Wer macht das Rennen bei der<br />
grünen Urwahl: Katrin Göring-<br />
Eckardt, Renate Künast, Claudia<br />
Roth oder Jürgen Trittin (v.l.n.r.)?<br />
124 | Babylons ehrenrettung<br />
Jörg Widmann hat mit Peter Sloterdijk<br />
eine Oper geschrieben<br />
Von Eva Gesine Baur<br />
126 | Die Heimkehr<br />
Ein südafrikanischer Schriftsteller reist<br />
zum ersten Mal ans Grab seines Vaters<br />
Von christopher hope<br />
128 | die Hossbach-protokolle<br />
Vor 75 Jahren sprach Adolf Hitler zum<br />
ersten Mal über seine wahren Kriegspläne<br />
Von Konstantin Sakkas<br />
134 | Benotet<br />
Unser Kolumnist über eine sehr private<br />
Reise mit seinem Vater nach Israel<br />
Von Daniel Hope<br />
136 | man sieht nur, was man sucht<br />
Alfred Böcklins „Selbstbildnis mit<br />
fiedelndem Tod“<br />
Von Beat Wyss<br />
138 | Momentaufnahme<br />
Eine Fotoreportage aus Deutschlands<br />
größtem KFZ-Amt<br />
Von Anne Schönharting und Julian Röder<br />
152 | das schwarze sind<br />
die buchstaben<br />
Ein Film und drei Bücher über den Tod<br />
und die rettende Kraft des Erzählens<br />
Von robin Detje<br />
154 | Die <strong>letzte</strong>n 24 stunden<br />
Eine Feier des Lebens „mit allen<br />
Poren und Ableitungen“<br />
Von Rainald Grebe<br />
Standards<br />
Atticus —<br />
Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />
Stadtgespräch — seite 10<br />
Forum — seite 14<br />
Impressum — seite 131<br />
Postscriptum —<br />
Von Alexander Marguier — seite 156<br />
Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />
erscheint am<br />
22. November 2012<br />
Geschichte:<br />
Grimms Märchen<br />
Vor 200 Jahren erschien die<br />
Erstausgabe der berühmten<br />
„Kinder und Hausmärchen“.<br />
Wir fragen, was uns die alten<br />
Geschichten der Gebrüder<br />
Grimm und andere Märchen<br />
heute noch bedeuten.<br />
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Grimms_Maerchen<br />
Blog:<br />
Lost in Europe<br />
Für <strong>Cicero</strong> Online bloggt Eric<br />
Bonse aus Brüssel über ein<br />
Europa zwischen Aufbruch,<br />
Bürokratie und Populismus.<br />
www.cicero.de/blog/<br />
eric-bonse-lost-europe<br />
HinterGrÜndig:<br />
Online-Dossiers<br />
In unseren Dossiers finden Sie<br />
Analysen, Hintergründe und<br />
Kommentare zu aktuellen<br />
Themen, die die Politik und<br />
die Gesellschaft bewegen.<br />
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Fotos: Anne Schönharting/Ostkreuz, Hans Christian Plambeck/Laif; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
6 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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Freude am Fahren
C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />
Am Checkpoint Charlie ist die Mauer wieder auferstanden, ein Unionspolitiker<br />
demonstriert seine Kondition beim Berlin-Marathon, ein anderer blamiert<br />
sich beim Twittern, Norbert Röttgen saust nach unten, und Kohl kostet 55 Cent<br />
Die Mauer ist wieder da:<br />
BeklemmendE Idylle<br />
S<br />
ie ist wieder da: Mitten in Berlin<br />
kann man sie besichtigen. Sie windet<br />
sich durch die Stadt, und wer<br />
an der Ecke Zimmerstraße/Friedrichstraße<br />
das „Panometer“ des Fotokünstlers Yadegar<br />
Asisi betritt, landet nach einer kurzen Zeitreise<br />
im Kreuzberg der achtziger Jahre, genauer<br />
in der Sebastianstraße, Ecke Luckauer<br />
Straße. Dort steht, dreidimensional und naturalistisch,<br />
mitten auf der Straße die Mauer<br />
und sieht aus wie einst: auf der einen Seite<br />
mit Graffiti besprüht und bunt bemalt, auf<br />
der anderen klinisch sauber mit geharktem<br />
Todesstreifen, in dem kein noch so kleines<br />
Unkraut wächst.<br />
Und überhaupt ist alles wie früher: Aus<br />
dem Backsteinbau rechts vorne, direkt vor<br />
der Grenze, hängen Parolen der Hausbesetzer,<br />
an dem abgeklemmten Endstück der<br />
Straße hat sich ein Schrotthändler häuslich<br />
eingerichtet, neben Wagenburg und Streichelzoo<br />
wärmen sich bunt bemalte Punker<br />
am Feuer, daneben steht die hölzerne Tribüne,<br />
von der aus Touristen in den Osten<br />
gucken können. Auch die alte Shell-Tankstelle<br />
ist wieder da, der Antiquitätenladen<br />
und der türkische Gemüsehändler um die<br />
Ecke. Man kann hinüberschauen bis zum<br />
Engelbecken, und natürlich zum Fernsehturm,<br />
der die ganze Szene überragt. Asisi, in<br />
Wien geborener Sohn persischer Eltern, hat<br />
genau den Abschnitt der Mauer in Kreuzberg<br />
wieder auferstehen lassen, wo er selbst<br />
jahrelang gelebt hat. Sein monumentales<br />
Panorama, das von außen aussieht wie ein<br />
Gasometer und deshalb „Panometer“ heißt,<br />
ist die neueste Attraktion am ehemaligen<br />
Checkpoint Charlie, zu dem immer noch<br />
täglich Tausende Besucher strömen.<br />
Es ist nicht das erste Werk des Künstlers:<br />
Bis Mitte Oktober konnte man auf der<br />
Berliner Museumsinsel sein Panorama der<br />
untergegangenen Stadt Pergamon besichtigen.<br />
Am 1. Dezember folgt in Dresden<br />
die Show „Mythos der barocken Residenzstadt“.<br />
Der Blick auf die Berliner Mauer<br />
wird akustisch untermalt mit berühmten<br />
Aussprüchen und Reden aus der Zeit<br />
des Kalten Krieges: Ernst Reuters Appell<br />
„Schaut auf diese Stadt“, John F. Kennedys<br />
Bekenntnis „Isch bin ein Bärlina“, Walter<br />
Ulbrichts Lüge „Niemand hat die Absicht,<br />
eine Mauer zu bauen“ und Erich Honeckers<br />
Irrtum „Die Mauer wird auch in<br />
100 Jahren noch stehen“. Hinterher, wieder<br />
im Freien, weiß man nicht, was einen mehr<br />
erschreckte: das perfekte Grenz- und Sperrsystem<br />
der DDR oder die beklemmende<br />
Idylle des Kreuzberger Alltags neben Mauer,<br />
Stacheldraht und Todesstreifen. Ein Besuch<br />
lohnt sich. hp<br />
Berliner Mitläufer:<br />
Trocken zum Marathon<br />
B<br />
is zum Berlin-Marathon im<br />
Herbst keinen Alkohol trinken<br />
und dann mitlaufen – diesen<br />
guten Vorsatz hatten Thomas Strobl, der<br />
Vorsitzende der CDU von Baden-Württemberg,<br />
und Bundesinnenminister Hans-<br />
Peter Friedrich, CSU, am Silvesterabend<br />
gefasst. Ein alter Freund von Strobl, Matthias<br />
Fritton, schloss sich dem Schwur<br />
später an. Tatsächlich tranken die drei<br />
seitdem nur Wasser und widerstanden allen<br />
Versuchen, sie zu einem guten Tropfen<br />
zu überreden. Beim Laufen aber musste<br />
der Innenminister schließlich doch passen:<br />
keine Zeit zum Trainieren. Strobl<br />
und Fritton traten am 30. September an –<br />
und hielten auch bis zum Ende durch.<br />
Für seine Homepage ließ sich Strobl im<br />
Sportdress mit der Läufernummer 27 317<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
10 <strong>Cicero</strong> 11.2012
C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />
und Medaille vor dem Reichstag ablichten.Wie<br />
lange er gebraucht hat, mochte<br />
er aber nicht verraten. Nur so viel: „Die<br />
Kenianer waren schneller.“ hp<br />
Digitaler Gruppenzwang:<br />
Twitter-Test mit Folgen<br />
E<br />
igentlich sind 140 Zeichen nicht<br />
viel. Eigentlich. Für Johannes<br />
Singhammers ersten Twitter-Versuch<br />
waren es dann doch zu viele. Dem<br />
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden<br />
der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag<br />
genügten genau vier Zeichen. Er startete<br />
seine Twitter-Jungfernfahrt mit einem einfachen<br />
„Test“. Das schlug ein. Auch deshalb,<br />
weil den Vier-Buchstaben-Tweed ein<br />
analoger Hilfeschrei flankierte: Singhammer<br />
warb (Achtung!) per Post um neue<br />
Follower: „Seit kurzem bin ich auch bei<br />
Twitter. Ich möchte Sie einladen, mir zu<br />
folgen.“<br />
Ein Journalist der Süddeutschen Zeitung<br />
freute sich so sehr über die ungewöhnliche<br />
Feldpost, dass er sie ins Netz<br />
stellte. Und wie man in das World Wide<br />
Web hineindilettiert, so zwitschert es auch<br />
meist heraus. Die Reaktionen begannen<br />
mit einem einfachen „*muahahahahaha*“<br />
und endeten mit gut gemeinten Gleichnissen<br />
à la „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“.<br />
Motto, ach guck ma, wie putzig,<br />
der Singhammer. Die ersten viralen<br />
Schritte sind bisweilen eben beschwerlich<br />
und für Außenstehende mitunter unerträglich.<br />
Erinnert sei an Horst Seehofers<br />
Facebook-Party, die – neben jungen<br />
Leuten – vor allem zum Fremdschämen<br />
einlud. Es gibt ihn wohl: den digitalen<br />
Gruppenzwang im Bundestag. Wie sonst<br />
lässt sich erklären, dass gestandene Abgeordnete<br />
um jeden Preis auf den 140‐Zeichen‐Zug<br />
aufspringen wollen. Immerhin:<br />
Mehr als ein Drittel aller Bundestagsabgeordneten<br />
twittert. Auch Singhammer<br />
wollte wohl einfach nur dazugehören.<br />
Sendebewusstsein 2.0 sozusagen. Na<br />
dann: Test. ts<br />
Talk mit Kauder:<br />
Nur ohne Precht<br />
L<br />
iebe Kollegen in den Talkshow-<br />
Redaktionen, falls Sie darüber<br />
nachdenken, den Vorsitzenden<br />
der Unionsfraktion im Bundestag, Volker<br />
Kauder, in eine Ihrer Gesprächsrunden<br />
einzuladen, sollten Sie Folgendes wissen:<br />
Herr Kauder kommt grundsätzlich<br />
gern, aber nur unter der Bedingung, dass<br />
der TV-Philosoph Richard David Precht<br />
nicht ebenfalls zu Gast ist. Es wäre übrigens<br />
ein guter Einstieg, ihn nach den Beweggründen<br />
für seine Doktrin zu fragen.<br />
Stets zu Diensten, <strong>Cicero</strong>. mar<br />
RaSANTER absturz:<br />
RÖTTGEN GANZ UNTEN<br />
W<br />
as ist aus Norbert Röttgen<br />
geworden? Ein CDU-Abgeordneter<br />
reagiert mit beklommenem<br />
Blick auf die Frage nach dem Mitte Mai<br />
von Merkel abgesetzten Bundesumweltminister.<br />
Ein anderer gruselt sich. Verständlich.<br />
Geschasst zu werden, nachdem man<br />
einen Landtagswahlkampf vermurkst hat<br />
und karrieretechnisch ein wenig zu fleißig<br />
war – davor graust es jeden Politiker.<br />
Und auch die Rasanz des Machtverlusts<br />
macht beklommen. Als hätte jemand das<br />
Seil eines Fahrstuhls durchtrennt, der gerade<br />
kurz vor dem obersten Stock angekommen<br />
ist. Der Fahrstuhl stürzt durch<br />
die Stockwerke. Chef des größten CDU-<br />
Landesverbands: weg, Bundesumweltminister:<br />
aus, Bundesvize der Partei: vorbei.<br />
„Wenn er alleine steht, heißt es: er sondert<br />
sich ab“, beschreibt ein Fraktionsmitglied,<br />
„und wenn er mit jemandem redet,<br />
heißt’s: er sucht Anschluss.“ Es ist so<br />
schnell gegangen, dass Röttgen selbst offensichtlich<br />
Schwierigkeiten hatte, das zu realisieren.<br />
Er wollte eigentlich beim CDU-<br />
Parteitag im Dezember in Hannover für<br />
den Bundesvorstand kandidieren. In dem<br />
Gremium sitzen ein paar Dutzend Leute,<br />
für einen, der fast ganz oben war, eigentlich<br />
eine kleine Nummer. Aber um die fünf<br />
für NRW vorgesehenen Plätze bewarben<br />
sich gleich sechs andere Parteifreundinnen<br />
und -freunde. Röttgen? Sein Problem. Er<br />
hat dann doch noch zurückgezogen. Wenn<br />
der Fahrstuhl durch den Schacht nach unten<br />
rast, behält man den Kopf besser drin.<br />
Unten, im Erdgeschoss bleibt dann immer<br />
noch das Bundestagsmandat. löw<br />
Aus der Portokasse:<br />
ein kohl für 55 cent<br />
H<br />
elmut Kohl ist jetzt auch als<br />
Briefmarke zu haben – fünf Millionen<br />
Mal zum Preis von 55 Cent.<br />
Ein Porträt des Springer-Fotografen Daniel<br />
Biskup war die Vorlage für das Konterfei<br />
des Altkanzlers. Konrad Rufus Müller, der<br />
viele großartige Kohl-Bilder gemacht hat,<br />
ging leer aus. Eine Intrige der neuen Ehefrau<br />
Maike Kohl-Richter, vermutet Müller,<br />
der früher ganz eng mit dem CDU-Politiker<br />
war, aber nun seit zwei Jahren aus seinem<br />
Umfeld verbannt ist. Der „Kanzlerfotograf“<br />
ist davon überzeugt, dass Kohl<br />
viel lieber jenes Müller-Bild auf der Briefmarke<br />
gesehen hätte, das er auch auf die<br />
Cover aller drei Bände seiner Lebenserinnerungen<br />
drucken ließ. Nachdenklich und<br />
voller Lebenskraft sieht er darauf aus, seinen<br />
Kopf hat er in die Finger der linken<br />
Hand gestützt, seinen Blick in die Unendlichkeit<br />
gerichtet. In dieser Pose des<br />
Welten lenkers gefiel er sich. Aber das habe<br />
wohl die neue Frau Kohl verhindert. Die<br />
Post erklärt, ihr Kunstbeirat habe das Motiv<br />
ausgewählt. Allerdings betont sie auch,<br />
„die Familie Kohl“ – also auch seine Frau<br />
Maike – „war an jedem Schritt beteiligt<br />
und hat dem Bild am Ende zugestimmt“.<br />
Lange können Kohl-Fans ihr Idol allerdings<br />
nicht als Briefporto nutzen. Auf die Weihnachtspost<br />
können sie ihn noch draufpappen.<br />
Doch schon die Neujahrsgrüße müssen<br />
ohne Kohl auskommen. Am 1. Januar<br />
erhöht die Post das Porto. step<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
12 <strong>Cicero</strong> 11.2012
SEIT 1971 ÜBERZEUGT, DASS ES<br />
KEINE GESCHMACKVOLLERE<br />
FORTBEWEGUNG GIBT.<br />
NICHTS FÜR UNENTSCHLOSSENE. SEIT 1842.
C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />
Forum<br />
Steinbrücks Kandidatur, Merkels E-Wende, Schwans Ratschläge<br />
Zum titelthema „Es kann nur<br />
einen geben“ von Christoph<br />
Schwennicke/Oktober 2012<br />
Ohne Lanze<br />
Das Lesen des Oktoberhefts hat mir ein Wochenende blockiert und einige Stunden<br />
mehr. Daraus ließe sich schließen, wie gut ich die Beiträge fand, was in der<br />
Regel zutraf, und beeindruckend waren auch die Namen der Autoren, die der<br />
alte Römer so um sich gesammelt hat. Ich erwäge, Herrn <strong>Cicero</strong> in mein Budget<br />
aufzunehmen. Anbei ein paar Anmerkungen zum Titel: Dem Ritter, hoch zu Ross<br />
auf seiner Rosinante im Ritt gegen die Merkel, fehlt die in die Hüfte einzulegende<br />
Lanze mit einem grünen Wimpelchen. Er hat zwar eine gewisse Beinfreiheit und<br />
die Sporenrädchen an den Stiefeln könnten bedrohlich wirken – fürs Pferd –, aber<br />
ein Herausforderer im Wettbewerb um die politische Macht im Staat braucht doch<br />
zumindest einen gewissen angriffslustigen Blick, von provokant ganz zu schweigen.<br />
Wolfhard Schmidt, Berlin<br />
In der Defensive<br />
Das Theaterspiel der SPD rund um<br />
die Kanzlerkandidatenkür spricht für<br />
sich. Zunächst sollte der Name des<br />
Spitzenkandidaten erst im nächsten<br />
Jahr bekannt gegeben werden, und nun<br />
wurde Peer Steinbrück innert kürzester<br />
Zeit aufs Schild gehoben. Eine vernünftige<br />
Strategie sieht anders aus, obwohl<br />
Peer Steinbrück aus dem SPD-Kandidatentrio<br />
wohl der aussichtsreichste<br />
Kanzlerkandidat ist. Ob seine direkte<br />
und angriffige Art nicht auch an der<br />
Teflonschicht von Angela Merkel abperlt,<br />
wird sich erweisen. Jedenfalls agiert die<br />
SPD derzeit nicht aus einer Position der<br />
Stärke heraus, sondern ist trotz politischem<br />
Zickzackkurs von Kanzlerin<br />
Merkel in der Defensive. Angela Merkel<br />
steht zwar einer brüchigen und alles<br />
andere als beliebten Regierungskoalition<br />
vor, doch ihre persönlichen Beliebtheitswerte<br />
sind komischerweise äußerst positiv.<br />
Erschwerend für die SPD kommt<br />
hinzu, dass mit Hannelore Kraft die<br />
aussichtsreichste Kandidatin nicht für<br />
das Kanzleramt kandidieren kann.<br />
Gegen die starke Frau aus NRW<br />
wirkt auch Peer Steinbrück eher kraftlos.<br />
Die Androhung der Kavallerie wird<br />
gegenüber Kanzlerin Merkel auch<br />
wirkungslos verpuffen. Derzeit spricht<br />
definitiv nicht sehr viel für die SPD,<br />
und vielleicht ist gerade dies die Chance<br />
von Steinbrück und Co.<br />
Pascal Merz, Sursee/Schweiz<br />
zum beitrag „Klarer denken“<br />
von Alexander Marguier/<br />
September 2012<br />
Dümmste Entscheidung<br />
Alexander Marguier beweist Mut, weil<br />
er vom Bundesumweltminister „klarer<br />
denken“ fordert. Angela Merkel<br />
denkt offensichtlich überhaupt nicht,<br />
denn sonst hätte die wahnwitzige und<br />
illusionäre „Energiewende“ überhaupt<br />
nicht angeleiert werden können. Der<br />
überstürzte und äußerst kostspielige<br />
Atomausstieg ist die dümmste Entscheidung<br />
der Nachkriegszeit. Für mich als<br />
Steuerzahler, Stromverbraucher und<br />
Aktionär von Energieversorgungsunternehmen<br />
ist die hysterische Reaktion auf<br />
das bedauernswerte Seebeben vor Japan,<br />
das den Atomunfall auslöste, unbegreiflich.<br />
Klare Denker, also Menschen, die<br />
keinen Denkfehlern verfallen, sollten<br />
die absurde „Energiewende“ energisch<br />
ablehnen. So bliebe auch der Industriestandort<br />
Deutschland erhalten und zwar<br />
konkurrenzfähig. Übrigens bin ich froh,<br />
dass es <strong>Cicero</strong> gibt, weil diese Zeitschrift<br />
gegen Volksverdummung kämpft.<br />
Kurt Fiebich, Düsseldorf<br />
zum beitrag „Was der<br />
Bundespräsident jetzt tun<br />
sollte“ von Gesine Schwan/<br />
September 2012<br />
verzweifelte Ratschläge<br />
Selbst wenn einige der Grundgedanken<br />
im Kern richtig sind: Der Beitrag von<br />
Gesine Schwan fällt wohl doch eher<br />
unter die Kategorie „reden, ohne etwas<br />
zu sagen“. Herrlich unkonkrete, dafür<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
14 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Hinter jedem großartigen Cappuccino<br />
verbirgt sich ein Geheimnis.<br />
Nur ein perfekter Espresso macht<br />
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C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />
Presseecho<br />
Schnell Und Wahr<br />
<strong>Cicero</strong> hatte exklusiv gemeldet, dass Steinbrück gegen<br />
Merkel antritt – Chronik einer verzögerten Bestätigung<br />
Ungelegte Eier<br />
„Nichts ist entschieden, das sind<br />
alles ungelegte Eier“, sagte Steinbrück<br />
der Süddeutschen Zeitung<br />
(Samstagausgabe). … „Die Sache ist<br />
ausgemacht, offenbar länger schon.<br />
Steinbrück soll es machen“, heißt<br />
es in dem vorab verbreiteten Text<br />
des neuen <strong>Cicero</strong>-Chefredakteurs<br />
Christoph Schwennicke.<br />
Die Nachrichtenagentur Reuters am<br />
Freitag, 21. September 18:13 Uhr<br />
Kein hartes Dementi<br />
Peer Steinbrück werde Kanzlerkandidat<br />
der SPD, berichtet das<br />
Magazin <strong>Cicero</strong> am Freitagmittag<br />
– und gleich folgt ein Dementi.<br />
„Quatsch“, verlautet es aus dem<br />
Willy-Brandt-Haus, ähnlich klingt<br />
es bei der Bundestagsfraktion.<br />
Später verkündet Generalsekretärin<br />
Andrea Nahles: „Es gibt definitiv<br />
keinen neuen Stand in der K-Frage<br />
der SPD. Daran ändern auch die<br />
verschiedensten Medienveröffentlichungen<br />
nichts.“ Ein hartes<br />
Dementi indes klingt anders.<br />
Daniel Friedrich Sturm in<br />
Welt Online am 22. September 2012<br />
Perpetuum mobile<br />
Es ist hohe Zeit, sich sehr tief zu<br />
verneigen vor den Hauptstadtjournalistinnen<br />
und -journalisten. Ist<br />
diesem Kollektiv doch gelungen,<br />
woran selbst Leonardo da Vinci<br />
scheiterte: die Vollendung des<br />
Perpetuum mobile. Sie nennen es<br />
die „K‐Frage“. Sie wälzen sie mit<br />
Wonne … Zum führenden Fachorgan<br />
des K-Journalismus hat sich das<br />
Hauptstadtmagazin <strong>Cicero</strong> aufgeschwungen.<br />
„Wer, wenn nicht Peer?“,<br />
titelte das Blatt schon im Mai 2011.<br />
Um uns fortan durch alle Abgründe<br />
der K-Frage zu führen … Ende <strong>letzte</strong>r<br />
Woche endlich war <strong>Cicero</strong> wieder<br />
bei Peer angekommen: „Steinbrück<br />
wird Kanzlerkandidat“. Das Blatt,<br />
berichten gut unterrichtete, hektisch<br />
drehende Hauptstadtkreise, erwägt<br />
ob seiner Kernkompetenz in der<br />
K-Frage jetzt die Umbenennung in<br />
Kikero. Oder Kikeriki.<br />
Tom Schimmeck, Frankfurter<br />
Rundschau am 24. September 2012<br />
Überraschung<br />
Nach Informationen der Bild-<br />
Zeitung will Parteichef Sigmar<br />
Gabriel dem SPD-Vorstand bereits<br />
am Montag in einer Sondersitzung<br />
Steinbrück als Kandidaten vorschlagen.<br />
Schon vor einer Woche<br />
hatte das Magazin <strong>Cicero</strong> exklusiv<br />
gemeldet, dass Steinbrück Kanzlerkandidat<br />
wird. Die SPD wollte das<br />
aber bisher nicht bestätigen.<br />
Berliner Tagesspiegel online am<br />
28. September 2012<br />
Schneller als online<br />
Als der SPD-Vorstand an diesem<br />
Montag Peer Steinbrück zum<br />
Kanzlerkandidaten der Partei<br />
kürte, haben wieder fast alle<br />
Politikjournalisten gewusst, dass es<br />
so kommen würde. Oder zumindest<br />
geahnt. Aufgeschrieben und<br />
veröffentlicht hat die Geschichte<br />
zuerst Christoph Schwennicke.<br />
Er ist nicht Journalist bei einer<br />
Tageszeitung oder einem Onlineportal,<br />
sondern Chefredakteur des<br />
Monatsmagazins <strong>Cicero</strong>.<br />
Das Medienmagazin Meedia in seiner<br />
Topstory am 1. Oktober 2012<br />
gedanklich verschachtelte und weitschweifend<br />
ausformulierte Ratschläge<br />
an Joachim Gauck – zeigt sich hier das<br />
verzweifelte Bemühen, die Enttäuschung<br />
über das zweimal verpasste Amt des<br />
Bundespräsidenten zu überspielen, oder<br />
fordert gar die hohe Beliebtheit Joachim<br />
Gaucks zu derartigen Kritikversuchen<br />
heraus? Unweigerlich muss ich bekennen:<br />
ein Schelm, der Böses dabei denkt!<br />
Christian Prachar, Göttingen<br />
zum beitrag „Eberts<br />
Staatsstreich – Die deutsche<br />
Nationalhymne wird 90 Jahre<br />
alt“ von Uwe Soukup/<br />
August 2012<br />
Kein blutiges Hemd<br />
Im vereinten Europa sind wir einer der<br />
wenigen Staaten, die eine so friedliebende<br />
Nationalhymne haben. Da<br />
ist von Einigkeit, Recht und Freiheit<br />
als des Glückes Unterpfand die Rede.<br />
Dafür, dies hier und heute genießen zu<br />
dürfen, sollten wir dankbar sein. Unsere<br />
Sportler haben allen Grund, dies aus<br />
voller Überzeugung mitzusingen. Sollen<br />
Gemurmel oder Schweigen von einigen<br />
als Ablehnung gewertet werden? Wo das<br />
nicht der Fall ist, müsste bei diesen Fußballmillionären<br />
wenigstens die Maxime<br />
gelten: „Wes Brot ich ess, des Lied ich<br />
sing!“ Wer sich aber die Mühe macht,<br />
einmal die Übersetzung von Nationalhymnen<br />
der Länder im Internet aufzurufen,<br />
die bei der Fußballweltmeisterschaft<br />
so innig gesungen wurden, wird<br />
sehen, dass hier vorwiegend von Sieg,<br />
Kampf, Feind und Waffen die Rede ist<br />
(besonders blutrünstig: Frankreich). Ihr<br />
Kommentator Uwe Soukup spricht von<br />
unserem „verschlissenen, blutbefleckten<br />
Hemde“ – das haben wir nach 70 Jahren<br />
längst abgelegt, er hat es nur noch nicht<br />
mitbekommen.<br />
Ines Schulte-Wilde, Wilnsdorf<br />
(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
16 <strong>Cicero</strong> 11.2012
EIN REVOLUTIONÄR,<br />
DER NICHTS ERREICHEN WILL.<br />
DAS NULL-EMISSIONSAUTO. FÜR UNS DER NÄCHSTE SCHRITT.<br />
Bei der Arbeit hat Mirco Schwarze nur ein Ziel: das Null-<br />
Emissionsauto zu bauen. Im BMW Werk Leipzig ist er<br />
diesem Ziel mit der Produktion des BMW ActiveE ein gutes<br />
Stück näher gekommen. Dieses Elektrofahrzeug ist ein<br />
weiterer Beitrag zu BMW EfficientDynamics – einer Technologie,<br />
die bisher mehr als 3,4 Millionen Tonnen CO 2<br />
eingespart hat. Und wenn Ende 2013 im Werk Leipzig der<br />
BMW i3 an den Start geht, baut Mirco Schwarze an einem<br />
weiteren Meilenstein der Elektromobilität. Dann kann er<br />
mit Fug und Recht sagen, dass er nichts erreicht hat. Und<br />
doch eine Revolution mit auf den Weg brachte.<br />
Die BMW Group ist zum achten Mal in Folge<br />
nachhaltigster Automobilhersteller der Welt.<br />
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T i t e l<br />
Copyright<br />
auf ein Tabu<br />
Der Führer im Film:<br />
Charlie Chaplin<br />
als Hitler-Persiflage<br />
„Anton Hynkel“ in<br />
„Der große Diktator“<br />
aus dem Jahr 1940<br />
18 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Im Jahr 2015 läuft der<br />
Urheberrechtsschutz für<br />
Adolf <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“<br />
aus. Höchste Zeit, dieses<br />
Machwerk bei Tageslicht zu<br />
sezieren, um ihm endlich<br />
seine scheinbar dämonische<br />
Macht zu nehmen<br />
Von Philipp Blom<br />
„<strong>Hitlers</strong><br />
Buch fußt<br />
hauptsächlich<br />
auf dem<br />
Rassismus des<br />
Wiener Fin de<br />
siècle“<br />
Foto: DDP Images<br />
V<br />
or zwölf Jahren, von Januar<br />
bis April 2000, wurde vor dem<br />
High Court von London eine<br />
Klage gegen die historische<br />
Wahrheit entschieden. Die Angeklagte,<br />
die amerikanische Akademikerin<br />
Deborah Lipstadt, hatte in ihrem Buch<br />
„Denying the Holocaust“ den Autor David<br />
Irving als einen „authentischen Holocaustleugner“<br />
bezeichnet. Irving, der seine<br />
Karriere als Historiker in rechten Kreisen<br />
hauptsächlich durch die Behauptung gemacht<br />
hatte, in Auschwitz seien nie Juden<br />
vergast worden, und dass „mehr Frauen auf<br />
dem Rücksitz [von Ted Kennedys Wagen]<br />
in Chappaquiddick“ gestorben seien als in<br />
den Gaskammern, verklagte Lipstadt wegen<br />
Verleumdung.<br />
Nach britischem Recht ist Holocaustleugnung<br />
nicht strafbar, und bei Verleumdungsprozessen<br />
liegt die Beweislast beim<br />
Angeklagten. Lipstadt musste also nachweisen,<br />
dass Irving tatsächlich nicht, wie<br />
er selbst von sich sagte, ein überragender<br />
Historiker ohne Angst vor der Wahrheit<br />
war. Sondern ein rechtsextremer und rassistischer<br />
Autor, der wissentlich Fakten verdrehte<br />
und Quellen missbrauchte, um ein<br />
historisch überwältigend dokumentiertes<br />
Ereignis aus der Welt zu schreiben und Hitler<br />
als einen großen Feldherrn und Ehrenmann<br />
zu rehabilitieren, der von den, so Irving,<br />
tatsächlich aber niemals systematisch<br />
verübten und nur in viel kleinerem Ausmaß<br />
stattgefundenen Judenmorden nichts<br />
gewusst habe.<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 19
T i t e l<br />
Bruno Ganz als Adolf Hitler in „Der Untergang“ aus dem Jahr<br />
2004. Oliver Hirschbiegels Film wurde vielfach vorgeworfen,<br />
die historische Führerfigur zu „entmystifizieren“<br />
Witzfigur Hitler: Helge Schneider versuchte sich in Dany<br />
Levys „Mein Führer“ (2007) als Badewannen-Stratege<br />
Was wie die Ausgangssituation eines<br />
makabren Theaterstücks klingt, wurde in<br />
den folgenden mehr als 30 Verhandlungstagen<br />
erschreckende Wirklichkeit. Einer<br />
nach dem anderen traten die wichtigsten<br />
historischen Experten der Gegenwart auf,<br />
unter ihnen Peter Longerich, Robert Jan<br />
van Pelt, Richard J. Evans, John Keegan sowie<br />
Yehuda Bauer, und evaluierten Quellen<br />
und deren Interpretation, beschrieben<br />
Mordmethoden und Tötungskapazitäten,<br />
Architektur und Funktionsweise der Gaskammern<br />
und den historisch belegbaren<br />
Wissensstand <strong>Hitlers</strong> über den Judenmord.<br />
Die kühle und faktische Beschreibung<br />
des Grauens machte es noch ungeheuerlicher.<br />
Ich saß damals im Gerichtssaal, als<br />
Korrespondent einer großen Zeitung. Irving,<br />
ein historischer Autodidakt und<br />
selbst ein hervorragender Quellenkenner,<br />
der Jahrzehnte mit Aktenstudium verbracht<br />
hatte und sich nach Angaben bekannter<br />
Kollegen in vielen Dokumenten<br />
besser auskennt als die meisten Historiker,<br />
hatte bestritten, dass über eine bestimmte<br />
Zeitspanne eine bestimmte Anzahl von Juden<br />
durch Vergasungswagen umgebracht<br />
worden sein könnten. Das sei rein logistisch<br />
unmöglich, sagte er höhnisch. Irving<br />
verteidigte sich selbst. Mit streng gescheiteltem<br />
Haar und in einem doppelreihigen<br />
Nadelstreifenanzug dozierte und schwadronierte<br />
er, fragte Zeugen nach den kleinsten<br />
Details und machte sich über die Verteidigung<br />
lustig. Dies war sein Moment im<br />
Rampenlicht, seine große Schlacht. Die<br />
ganze Welt hörte seinen Thesen endlich<br />
zu, musste ihnen zuhören.<br />
Also rechnete Richard Evans, Professor<br />
für Geschichte an der Universität Cambridge,<br />
vor: Ein Lastwagen mit einer Kapazität<br />
für x Opfer konnte pro Tag den<br />
Weg vom Lager zum Massengrab so und<br />
so oft machen, Tankstopps und Pausen<br />
für Besatzung und Fahrer sowie Einladen<br />
der lebenden Opfer und Ausräumen der<br />
Leichen eingerechnet. All das war schwer<br />
zu ertragen. Neben mir auf der Tribüne<br />
saß ein altes Ehepaar, zusammengesunken,<br />
starr vor Entsetzen. Vor ihnen ein junger<br />
Mann mit Glatze, <strong>Bombe</strong>rjacke und<br />
Springerstiefeln.<br />
Der von ihm selbst angestrengte Prozess<br />
wurde zum Desaster für Irving. Der<br />
vorsitzende Richter, Lord Justice Gray, gab<br />
Deborah Lipstadt in seinem Urteil vollinhaltlich<br />
recht und bestätigte damit auch,<br />
dass Irving aufgrund seiner Aussagen und<br />
Quellenmanipulationen als Lügner, Geschichtsfälscher,<br />
Antisemit und Rassist<br />
bezeichnet werden darf. Zusätzlich dazu<br />
wurde er dazu verurteilt, die Prozesskosten<br />
von 2,5 Millionen Pfund zu zahlen, was<br />
ihn auch wirtschaftlich ruinierte. Im Zuge<br />
der Verhandlung wurden alle Behauptungen<br />
dieses wohl fachlich versiertesten aller<br />
Holocaustleugner widerlegt, alle „Gegenbeweise“<br />
entkräftet. Sollte heute die historische<br />
Wirklichkeit des Holocaust von irgendjemandem<br />
in Zweifel gezogen werden,<br />
dann reicht ein Verweis auf die Prozessakten<br />
Irving versus Lipstadt.<br />
Fotos: Picture Alliance/DPA (2)<br />
20 <strong>Cicero</strong> 11.2012
„Was tabuisiert<br />
wird, kann<br />
besonders<br />
jungen,<br />
verwirrten<br />
oder<br />
verbitterten<br />
Zeitgenossen<br />
dadurch als<br />
verbotene<br />
Wahrheit<br />
erscheinen“<br />
Anzeige<br />
Das Lied<br />
des Lebens<br />
Der Star-Bariton Thomas Quasthoff<br />
über die Höhen des Erfolgs und die<br />
Chance des Neuanfangs<br />
Im November<br />
THOMAS<br />
QUASTHOFF<br />
© Foto Quasthoff: Andre Rivál; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />
Natürlich: Die wirklich fanatischen<br />
Ewiggestrigen sind nicht empfänglich für<br />
Beweise. Sie glauben das, was sie glauben<br />
wollen mit der hermetischen Verbissenheit<br />
eines Kreationisten in einem Museum für<br />
Naturgeschichte. Aber um sie geht es nicht.<br />
In Debatten und Diskussionen geht es darum,<br />
diejenigen zu überzeugen, die offen<br />
sind für Argumente, die Neugierigen, die<br />
Verwirrten, die Zweifelnden, vielleicht sogar<br />
die Gleichgültigen.<br />
In Deutschland, wo die Leugnung des systematischen<br />
Massenmords an Juden und<br />
anderen Gruppen unter Strafe steht (die<br />
Bezeichnung „Holocaust“, also Brandopfer,<br />
ist problematisch und setzte sich allgemein<br />
erst 1978 mit der amerikanischen<br />
Fernsehserie des gleichen Namens durch),<br />
wäre ein historischer Prozess wie der 2000<br />
in London abgehaltene nicht möglich.<br />
Was aber im Dunkeln bleibt und tabuisiert<br />
wird, kann besonders jungen, verwirrten<br />
oder verbitterten Zeitgenossen gerade<br />
dadurch als verbotene, von mächtigen Interessen<br />
unter Verschluss gehaltene historische<br />
Wahrheit erscheinen.<br />
Vielleicht war es in der jungen Bundesrepublik<br />
tatsächlich unerträglich, jemanden<br />
in der Öffentlichkeit den Massenmord<br />
an den Juden leugnen zu hören (es ist noch<br />
heute unerträglich), vielleicht war es in einem<br />
demokratisch noch nicht gefestigten<br />
Land auch gefährlich. Aber wir leben nicht<br />
mehr in so einem Land, und wir müssen<br />
uns auch mit unerträglichen Meinungen<br />
auseinandersetzen. Wir können die wirren<br />
Gedanken und hasserfüllten Tiraden<br />
der alten und jungen Nazis, Rassisten und<br />
religiösen Fanatiker aller Geschmacksrichtungen<br />
als solche behandeln und uns in aller<br />
Offenheit mit ihnen auseinandersetzen.<br />
Es ist wichtig, das toxische Erbe des<br />
Nationalsozialismus zu enttabuisieren,<br />
auch und besonders das Gründungsdokument<br />
der „Bewegung“, Adolf <strong>Hitlers</strong> „Mein<br />
Kampf“. Hitler hatte das Buch 1924 während<br />
seiner Haft in der Feste Landsberg<br />
Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />
Alexander Marguier, stellvertretender<br />
<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />
mit Thomas Quasthoff.<br />
Sonntag, 11. November 2012, 11 Uhr<br />
Berliner Ensemble,<br />
Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />
Tickets: Telefon 030 28408155<br />
www.berliner-ensemble.de<br />
BERLINER<br />
ENSEMBLE<br />
<strong>Vorschau</strong><br />
Am 2. Dezember zu<br />
Gast: Peer Steinbrück<br />
www.cicero.de/<br />
foyergespraech<br />
In Kooperation<br />
mit dem Berliner Ensemble<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 21
T i t e l<br />
Foto: DDP Images<br />
„Frühling für Hitler“ hieß ein Film von Mel Brooks aus dem Jahr 1968, aus dem diese Szene stammt.<br />
Der Stoff war später Grundlage für den Musical-Erfolg „The Producers“<br />
geschrieben. Lange Passagen davon hat<br />
er wahrscheinlich auch diktiert, was den<br />
oft wenig geordneten, rednerischen Duktus<br />
des Textes erklärt. Die Redaktion dieser<br />
wirren Tiraden lag bei einem Pater<br />
Stempfle, einem katholischen Ordensmann<br />
und fanatischen Antisemiten, der<br />
aus <strong>Hitlers</strong> Ergüssen einen zusammenhängenden<br />
Text machte und 1934 im<br />
Zuge des Röhm-Putsches unter ungeklärten<br />
Umständen nach Dachau verschleppt<br />
und dann ermordet wurde.<br />
Das Werk, das ursprünglich in zwei<br />
Bänden erschien und erst 1933 in einer<br />
einbändigen Volksausgabe gedruckt wurde,<br />
wurde ab 1936 frisch verheirateten Paaren<br />
im Standesamt statt der Bibel überreicht.<br />
Um zu verhindern, dass dieses ungebetene<br />
Geschenk direkt ins Antiquariat wanderte,<br />
hatte Hitler bei der Reichsschrifttumskammer<br />
eine Sonderregelung erwirkt, die<br />
es verhinderte, dass das Buch aus zweiter<br />
Hand verkauft werden durfte. Die Tantiemen<br />
dieses Werkes, das bis Kriegsende eine<br />
Auflage von etwa zehn Millionen Exemplaren<br />
erreichte, waren eine wichtige persönliche<br />
Einnahmequelle des „Führers“.<br />
Die in „Mein Kampf“ dargelegte Weltanschauung<br />
eines Kampfes der Rassen, der<br />
sich besonders gegen „das Judentum“ und<br />
den Bolschewismus richtete, fußt hauptsächlich<br />
auf den rassistischen Ideologien<br />
des Wiener Fin de siècle und auf den „Protokollen<br />
der Weisen von Zion“, einer antisemitischen<br />
Fälschung, die die Geheimpolizei<br />
des Zaren bereits 1903 in Russland<br />
in Umlauf gebracht hat und die ihrerseits<br />
Material aus Frankreich gebrauchte, das<br />
ursprünglich gegen die Freimaurer gerichtet<br />
war. Einige der von Hitler benutzten<br />
Ideen sind noch heute in rechten Kreisen<br />
anzutreffen, beispielsweise die These,<br />
eine jüdische Verschwörung bediene sich<br />
der Finanzmärkte, um die Welt unter ihre<br />
Kontrolle zu bringen. Angesichts dieser<br />
Verschwörung zwischen „jüdischem Kapital“<br />
und Bolschewismus sah er die Ursache<br />
für eine endzeitliche Schlacht gekommen,<br />
die der „arischen Rasse“ Lebensraum im<br />
Osten verschaffen sollte.<br />
In knapp drei Jahren, 2015, läuft das<br />
vom Freistaat Bayern gehaltene Copyright<br />
auf <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ aus. Damit<br />
kann jeder Verlag dieses von den Nazis<br />
gemeinsam mit der Gutenberg-Bibel als<br />
„wichtigstes deutsches Buch“ bezeichnete<br />
Werk neu herausgeben. Bis jetzt hatte die<br />
bayerische Regierung das geltende Copyright<br />
genutzt, um es unter Verschluss zu<br />
halten. Der zuständige bayerische Kultusminister<br />
Markus Söder (CSU) strebt keine<br />
Verlängerung des Urheberschutzes an. Das<br />
ist ein kluger Schritt, denn so eine Regelung<br />
könnte nur durch ein verfassungsrechtlich<br />
anfechtbares Sondergesetz bewerkstelligt<br />
werden. Söder will stattdessen<br />
zwei kommentierte Ausgaben in Auftrag<br />
geben: eine „entschärfte“ und gekürzte mit<br />
Kommentaren in einfacher Sprache für<br />
Schulen und eine vom Münchener Institut<br />
für Zeitgeschichte voll und quellenkritisch<br />
aufgearbeitete. So will er den Buchmarkt<br />
mit seriösen Ausgaben versorgen, um zu<br />
verhindern, dass andere, propagandistisch<br />
motivierte Versionen sich etablieren.<br />
Die Neuauflage von „Mein Kampf“ ist notwendig.<br />
Im Internet ist der Originaltext<br />
nur wenige Klicks entfernt, und über Antiquariate<br />
lässt sich auch ein Original problemlos<br />
bestellen. Das Verbot ist also bereits<br />
22 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Bringt Tiefe<br />
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T i t e l<br />
Foto: Maja Hitij/DDP Images/AP Photo<br />
In dem Musical „The Producers“ (hier eine Szene aus dem Berliner Admiralspalast, 2009) versucht sich ein verkrachter<br />
Produzent an einem Singspiel über den Führer – und landet überraschend einen Publikumserfolg<br />
jetzt porös und allenfalls symbolisch. Diese<br />
Symbolwirkung aber ist kontraproduktiv.<br />
Mehr noch: <strong>Hitlers</strong> Reden, Tischgespräche<br />
und andere Dokumente über sein Denken<br />
sind ebenso frei zugänglich wie die Reden<br />
von Himmler und Goebbels und dessen<br />
Tagebücher, ganz zu schweigen von einer<br />
Flut von NS-Propagandaschriften, Pamphleten,<br />
Zeitungen und anderen Publikationen.<br />
Fast alle wichtigen Reden sind im<br />
Original auf „Youtube“ zu sehen. Nur die<br />
Gründungsschrift der „Bewegung“ bleibt<br />
weiterhin im Giftschrank – als würde etwas<br />
Besonderes in ihr stehen, etwas Unerhörtes,<br />
was jede Leserin und jeden Leser sofort in<br />
seinen Bann ziehen muss.<br />
Es ist sicherlich besser, dieses wirre,<br />
hassdurchtränkte, von der jämmerlichen<br />
Rassenmystik des Fin de siècle durchzogene<br />
Machwerk bei Tageslicht zu sezieren und<br />
ihm seine scheinbare dämonische Macht zu<br />
nehmen. Ein Verbot spricht „Mein Kampf“<br />
einen zu hohen Wert zu und schafft zusätzlich<br />
eine falsche Kausalität: Weder dieses<br />
Buch noch sein Autor waren die Ursache<br />
der nationalsozialistischen Verbrechen – sie<br />
waren nur wichtige Faktoren darin. Hier<br />
liegt eine Gefahr, die sich das deutsche<br />
Geschichtsverständnis lange und oft auch<br />
heuchlerisch zunutze gemacht hat: Es ist<br />
augenscheinlich verlockend, das Phänomen<br />
Hitler für alles verantwortlich zu machen<br />
– ein Phänomen, mit dem man heute<br />
noch periodisch neu aufgegossene „Enthüllungsartikel“,<br />
Bücher und Dokumentarserien<br />
verkaufen kann, die sich mit seinen<br />
Frauen, Schäferhunden, seiner Liebe<br />
zu Wagner oder anderen Aspekten seines<br />
Privatlebens beschäftigen und nichts, aber<br />
auch gar nichts auslassen; was mit Hitler<br />
zusammenhängt, das läuft noch immer. So<br />
entsteht eine mythologische Aufladung seiner<br />
Person und führt zur praktischen Simplifizierung:<br />
Die Nazis waren’s, <strong>Hitlers</strong> dämonisches<br />
Genie, sein stechender Blick.<br />
Hitler wird so als die zentrale Ursache der<br />
„nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“<br />
identifiziert: hier die Nazis und der<br />
„Führer“ – da die Deutschen, die von ihnen<br />
tyrannisiert wurden und so fast unbemerkt<br />
in die Opferrolle schlüpfen können.<br />
Diese moralisch rückgratlose Haltung<br />
hat Daniel Goldhagen in seinem Buch<br />
„<strong>Hitlers</strong> willige Vollstrecker“ angegriffen<br />
und den Bogen dabei weit über jede Plausibilität<br />
hinaus überspannt. Heraus kam<br />
damals ein Bestseller, der leider auch ein<br />
schlechtes Stück Geschichtsschreibung war,<br />
das seinen Erfolg wohl auch latenten deutschen<br />
Schuldgefühlen verdankte. Nicht alle<br />
waren Täter, aber keine Diktatur könnte<br />
ohne die große Menge der Wegseher und<br />
kleinen Profiteure überleben. Es bedarf nie<br />
mehr als einiger weniger Fanatiker, die den<br />
Rest mit Zuckerbrot und Peitsche in ihre<br />
Richtung lenken. Das hat uns ein historisch-psychologisches<br />
Meisterwerk gezeigt,<br />
das von einem Schauspieler kam: Helmut<br />
Qualtingers Fernsehspiel „Der Herr Karl“.<br />
Wenn Sie es nicht kennen, sehen Sie es sich<br />
auf Youtube an. Sie lernen dort alles, was<br />
man über Diktaturen wissen muss – nicht<br />
nur in Wien.<br />
In der historischen Gemengelage der<br />
Weimarer Republik war Hitler aber nicht<br />
der einzige faschistische und antisemitische<br />
Demagoge, und es ist davon auszugehen,<br />
dass irgendjemand anderes zum „Führer“<br />
geworden wäre, wenn Hitler beispielsweise<br />
im Ersten Weltkrieg umgekommen wäre.<br />
24 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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T i t e l<br />
Bertolt Brecht setzte sich in „Arturo Ui“ (hier verkörpert von<br />
Martin Wuttke) mit <strong>Hitlers</strong> Machtergreifung auseinander<br />
Christoph Schlingensief (li.) mit Udo Kier bei der Premiere<br />
seiner Produktion „100 Jahre Adolf Hitler“<br />
Nicht er oder „Mein Kampf“ waren Ursache<br />
und Attraktivität des Nationalsozialismus,<br />
sondern eine spezifisch deutsche<br />
Mischung aus Niederlage im Ersten Weltkrieg,<br />
Demütigung und Zukunftsangst,<br />
Militarismus und Inflation, Dolchstoßlegende<br />
und Antisemitismus, Misstrauen gegen<br />
die junge Demokratie und Sehnsucht<br />
nach dem starken Mann.<br />
Hitler und seine „Schergen“ werden zu<br />
Projektionsfiguren der deutschen Schuld:<br />
Indem sie für tabu erklärt, dämonisch aufgeladen<br />
und in die Wüste geschickt werden,<br />
entlastet sich das Kollektiv. Hitler zu dämonisieren,<br />
heißt die Deutschen zu entschuldigen<br />
und die Lüge zu perpetuieren,<br />
sie seien eben nur verführt worden, sie hätten<br />
sich den Händen des Magiers nicht entwinden<br />
können. Aber die Verbrechen des<br />
Nationalsozialismus sind deutsche Verbrechen,<br />
begangen, geduldet und ermöglicht<br />
von Deutschen und Österreichern, die aktiv<br />
teilnahmen, wegsahen oder profitierten<br />
– nicht von Adolf Hitler und seinen<br />
„Nazi-Schergen“. Wer „Mein Kampf“ weiterhin<br />
wegsperren will, der leistet einer verharmlosenden<br />
Erklärung Vorschub, ob freiwillig<br />
oder nicht. „Mein Kampf“ gehört zu<br />
uns und zu unserer Geschichte, genauso<br />
wie die Hunnenrede Wilhelms II und – in<br />
einem Europa, in dem Nationalstaaten obsolet<br />
werden – die anderen Verbrechen der<br />
Europäer, die durch eine Monopolisierung<br />
des Holocaust‐Gedenkens oft ausgeblendet<br />
werden. In Belgien stehen beispielsweise<br />
heute noch Denkmäler für König Leopold<br />
II, der Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
für seinen persönlichen Profit im Kongo,<br />
seiner persönlichen Kolonie, zehn Millionen<br />
Afrikaner verhungern und bestialisch<br />
ermorden ließ.<br />
Hier klingeln Alarmglocken. Der von<br />
Ernst Nolte losgetretene Historikerstreit<br />
und die larmoyante Stimme von Martin<br />
Walser werden laut. Die Eingliederung der<br />
nationalsozialistischen Verbrechen in einen<br />
weiteren historischen Rahmen riecht nach<br />
Aufrechnung, nach Relativierung. Dabei<br />
sind der Holocaust und seine Einzigartigkeit<br />
ein Grundstein des bundesrepublikanischen<br />
Selbstverständnisses.<br />
Historische Narrative folgen gegenwärtigen<br />
Bedürfnissen. Die Massenmorde der<br />
Nazis zu einem stringent erzählbaren „Holocaust“<br />
umzudeuten, war eine US-amerikanische<br />
Interpretation, die viel mit der<br />
Rechtfertigung ihrer Nahostpolitik und<br />
der Ablenkung von eigenen Verbrechen<br />
(an Native Americans, Afroamerikanern,<br />
in Vietnam et cetera) zu tun hatte, wie Peter<br />
Novick in seinem 2000 erschienenen<br />
Buch „The Holocaust and Modern Memory“<br />
argumentierte. Der Holocaust als<br />
mediales Narrativ – von der gleichnamigen<br />
Miniserie bis zum Film „Schindlers Liste“<br />
und den in den Vereinigten Staaten häufigen<br />
Holocaust-Museen – bot eine ideale<br />
Projektionsfläche und tut es heute noch.<br />
Aber diese Projektionsfläche stammt aus<br />
dem Kalten Krieg und aus Machtkämpfen<br />
um die Deutungshoheit der Geschichte<br />
Fotos: Barbara Braun/DRAMA, Gehner/Team Work<br />
26 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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XXX.<br />
Europaratsausstellung<br />
„Die Massenmorde<br />
der Nazis zu<br />
einem stringent<br />
erzählbaren<br />
,Holocaust‘<br />
umzudeuten,<br />
war eine<br />
US‐amerikanische<br />
Interpretation“<br />
in den Vereinigten Staaten. Objektives Geschichtsverständnis<br />
war nie das Ziel dieser<br />
mediatisierten Interpretation.<br />
Hier muss man wohl, aus der europäischen<br />
Perspektive, anfügen, dass die Kultur<br />
der Bundesrepublik Deutschland durch<br />
Mediatoren wie Adorno und später Henryk<br />
Broder oder Dan Diner den „Zivilisationsbruch“<br />
als Konzept des katastrophalen<br />
Versagens des Humanismus und<br />
dessen Singularität unabhängig von den<br />
Vereinigten Staaten entwickelt und erhalten<br />
hat. In Bezug auf die Geschichte des<br />
deutschen Selbstverständnisses scheint das<br />
Festhalten an der Einzigartigkeit des Holocaust<br />
fast durch eine kulturelle Erwählungsidee<br />
in der Tradition Fichtes und<br />
Hegels motiviert zu sein: Wenn die Deutschen<br />
als Träger einer großen Kultur zu einem<br />
solchen Verbrechen fähig waren, dann<br />
muss das Versagen dieser Kultur schrecklicher<br />
und metaphysisch vernichtender<br />
sein als Völkermorde anderer und „weniger<br />
hochstehender“ Kulturen. In dieser<br />
idealistisch-rassistischen Logik (die, glaube<br />
ich, die nationalsozialistische Ideologie mit<br />
beeinflusste) waren Deutsche und Juden<br />
Konkurrenten um das Privileg der historischen<br />
Erwählung. Im Beharren auf dem<br />
Holocaust-Narrativ besteht diese Logik<br />
weiter. Es ist längst überfällig, mit ihr zu<br />
brechen.<br />
Verbotsgesetze und fixierte historische<br />
Narrative instrumentalisieren menschliches<br />
Leiden für gegenwärtige politische Zwecke:<br />
Als unter Präsident Sarkozy das Leugnen<br />
des Massenmords an den Armeniern unter<br />
Strafe gestellt wurde, war das eine Geste<br />
in Richtung Türkei. Aber was ist dann mit<br />
der künstlichen Hungersnot in der Ukraine<br />
1932 (3,5 Millionen Opfer), mit den<br />
Gulags (1,6 Millionen Opfer), mit Chinas<br />
„Großem Sprung nach vorn“ (mehr als<br />
30 Millionen Opfer)? Was ist mit Kambodscha,<br />
Ruanda und mit Nordkorea heute?<br />
Wo sollen Verbote anfangen oder aufhören?<br />
Wer entscheidet, was unerträglich ist?<br />
Soll man die armen Irren, die in deutschen<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 27<br />
17.10.2012<br />
10.02. 2013<br />
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T i t e l<br />
Fußgängerzonen für das glorreiche Nordkorea<br />
werben, mit Gefängnisstrafen belegen,<br />
und müsste man dann nicht auch<br />
Maos Rotes Buch verbieten? Den Opfern<br />
ist es gleichgültig, ob ihr Leben im Namen<br />
einer rassistischen Ideologie, einer statistischen<br />
Quote wie in Stalins Russland oder,<br />
wie im Falle des Kongos, aus blanker Habgier<br />
zerstört wird.<br />
Die Massenmorde, der Völkermord<br />
der Deutschen und Österreicher und ihrer<br />
Mittäter unter nationalsozialistischer<br />
Herrschaft verlieren nichts an ihrem Schrecken,<br />
nichts von ihrem spezifischen Charakter<br />
und nichts von ihrer verpflichtenden<br />
Natur für ihre demokratischen Erben,<br />
wenn sie in einem größeren historischen<br />
Kontext diskutiert, analysiert und verstanden<br />
werden. Im Gegenteil: Erst ein<br />
synoptisches Verständnis der historischen<br />
Prozesse macht das Wesen des deutschen<br />
Völkermords deutlich.<br />
Durch die Öffnung der Archive in den Ländern<br />
des ehemaligen Ostblocks ist diese<br />
übergreifende Analyse nicht nur möglich,<br />
sondern auch notwendig geworden<br />
und kann zu einem vertieften Verständnis<br />
der Geschichte des 20. Jahrhunderts<br />
in seiner Gesamtheit führen. Der US-amerikanische<br />
Historiker Timothy Snyder hat<br />
das in seinem kürzlich erschienenen Buch<br />
„Bloodlands“ meisterhaft demonstriert. Es<br />
geht nicht um moralische Äquivalenz und<br />
schon gar nicht um Aufrechnung – es geht<br />
darum, die Schrecken eines Jahrhunderts<br />
und die Mechanismen der Unmenschlichkeit<br />
zu erfassen und in Zukunft zu verhindern<br />
– in Europa und, soweit möglich, darüber<br />
hinaus.<br />
Eine Kontextualisierung der nationalsozialistischen<br />
Verbrechen ist aus einem anderen<br />
Grund notwendig: Das alte Ehepaar,<br />
das beim Irving-Prozess neben mir saß, gehörte<br />
zu den Überlebenden, aber in wenigen<br />
Jahrzehnten werden auch die <strong>letzte</strong>n<br />
von ihnen gestorben sein. Ich bin mit Tätern<br />
und Opfern aufgewachsen – für meine<br />
Generation sind die Grauen des Völkermords<br />
und seine moralischen Verstrickungen<br />
noch in der eigenen Familie mittelbar<br />
erlebte Geschichte. Für Schüler heute ist<br />
der Zweite Weltkrieg kaum stärker präsent<br />
als der Erste, vielleicht sogar als der Dreißigjährige<br />
Krieg. Er ist längst historisch geworden,<br />
eine Jahreszahl ohne emotionale<br />
Wirklichkeit.<br />
Die verlorene Unmittelbarkeit des Erlebens<br />
eines Ereignisses, das unwiderruflich<br />
zur Geschichte wird, kann kein Pädagoge<br />
wieder herstellen und auch kein Besuch im<br />
Konzentrationslager, wo direkt neben dem<br />
verrosteten Stacheldraht Würstchenbuden<br />
stehen. Für junge Deutsche bestehen keine<br />
persönlichen moralischen Verstrickungen<br />
mehr, wohl aber eine moralische Verpflichtung<br />
eines demokratischen und in<br />
„Wenn die<br />
Erinnerung zu<br />
einem leeren<br />
Ritual wird,<br />
kann sie nur<br />
Entfremdung<br />
schaffen“<br />
Wohlstand lebenden Staates mit einer Geschichte,<br />
in der ein Jahrtausendverbrechen<br />
einen zentralen Platz einnimmt und der<br />
aus eigener Erfahrung heraus Freiheit und<br />
Demokratie als zentral begreift. Die Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit, die sie<br />
aufbringen, geschehen heute in Afghanistan,<br />
in Syrien und im Sudan. Nur im Kontext<br />
der Gegenwart kann der moralische<br />
Imperativ, der Kern der deutschen Erinnerung<br />
an den Nationalsozialismus, wachgehalten<br />
werden.<br />
Die Frage, ob sich das Andenken an<br />
die Grauen des Völkermords der Deutschen<br />
je „normalisieren“ darf, ist müßig –<br />
es ist längst passiert. Diese Normalisierung<br />
ist keine moralische Frage, sondern<br />
eine biologische und in gewisser Hinsicht,<br />
soweit sie Migranten aus anderen historischen<br />
Traditionen betrifft, die Deutsche<br />
geworden sind, eine soziale und demografische.<br />
Die Erinnerung als leeres Ritual<br />
kann nur Entfremdung schaffen, heruntergebetete<br />
Betroffenheit (eine sehr deutsche<br />
Tugend) wird zum Schutzschild gegen<br />
die Einsicht, dass uns das Erbe des<br />
Krieges und des Mordens dazu motivieren<br />
muss, uns heute für Menschenrechte<br />
und demokratische Freiheiten einzusetzen,<br />
wo immer sie bedroht werden.<br />
Die gute Neuigkeit ist, wie Dana<br />
Giesecke und Harald Welzer in ihrem gerade<br />
erschienenen Plädoyer „Das Menschenmögliche<br />
– Zur Renovierung der<br />
deutschen Erinnerungskultur“ schreiben,<br />
dass die deutsche Erinnerungskultur ihr<br />
Ziel weitgehend erreicht hat. Auch wenn<br />
er seine Thesen in Deutschland vertreten<br />
dürfte, würde sich kaum jemand für<br />
die Ideen eines David Irving interessieren.<br />
Auch wenn „Mein Kampf“ an jedem Kiosk<br />
zu haben ist, wird es die Bundesrepublik<br />
nicht gefährden. Auch wenn es nicht mehr<br />
lebendige Erinnerung ist, hat das Trauma<br />
des Nationalsozialismus und der eigenen<br />
Schuld die deutsche Gesellschaft nachhaltig<br />
und positiv geformt.<br />
Die Europäische Gemeinschaft ist ein<br />
Kind des Traumas von Europas zweitem<br />
dreißigjährigem Krieg, 1914 bis 1945. Die<br />
Krise der EU stellt die Wirklichkeit von<br />
beinahe drei Generationen Friede, Wohlstand<br />
und Integration infrage und lässt<br />
Stimmen lauter werden, die zurückwollen<br />
zur D‐Mark, zum Nationalstaat und zum<br />
Nationalismus. Wenn wir Hitler und sein<br />
toxisches Buch weiterhin dämonisieren,<br />
stehlen wir uns aus der historischen Verantwortung<br />
Deutschlands, die letztlich zu<br />
der energischen Unterstützung eines föderalen<br />
Europa und dem Ende der miteinander<br />
konkurrierenden Nationalstaaten führen<br />
muss. Wenn wir den Blick auf unsere<br />
Vergangenheit durch Verbote einschränken,<br />
schaffen wir die Illusion, das Verbotene<br />
sei eine Wahrheit, eine Zukunftsvision,<br />
die „das Establishment“ unterdrücken<br />
will. Durch solche Tabus, nicht durch offene<br />
Diskussion, gefährdet man auf Dauer<br />
die Demokratie.<br />
Auch und gerade im Lichte eines neuen<br />
Geschichtsverständnisses, das sich einem<br />
systemischen Verständnis des 20. Jahrhunderts<br />
und seiner Verbrechen verpflichtet<br />
fühlt, wird die europäische Krise für<br />
Deutschland zu einer Herausforderung,<br />
sich für eine Ausweitung von Integration,<br />
Demokratie und Freiheit in Europa einzusetzen.<br />
Philipp Blom ist Historiker<br />
und Autor. Seine Bücher „Der<br />
taumelnde Kontinent“ und<br />
„Böse Philosophen“ wurden<br />
mehrfach ausgezeichnet<br />
Foto: Peter Rigaud<br />
28 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Edition<br />
Welchen Weltrekord<br />
kann man<br />
am leichtesten<br />
knacken?<br />
Kann man<br />
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weglaufen?<br />
Sind Läufer die<br />
besseren Liebhaber<br />
und wenn ja, warum?<br />
Laufbücher gibt es viele, dieses<br />
aber beantwortet die wirklich<br />
entscheidenden Fragen. Ein Buch<br />
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Fortgeschrittene und solche, die es<br />
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T I T E L<br />
„Faszination des Bösen“<br />
Der Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, plädiert im Interview<br />
für eine Veröffentlichung von <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ – um dessen Mythos zu zerstören<br />
H<br />
err Brodkorb, Sie sind Bildungsminister<br />
in einem Bundesland, in<br />
dem die rechtsextreme Szene<br />
besonders aktiv ist. Wenn am 1. Januar<br />
2016 der Urheberrechtsschutz für Adolf<br />
<strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ entfällt, kann im<br />
Prinzip jeder das Werk nachdrucken.<br />
Fürchten Sie sich vor dem Datum?<br />
Nein, überhaupt nicht.<br />
Buchhandel etwa <strong>Hitlers</strong> politische Jugendschriften<br />
verfügbar sind. Ebenso<br />
eine vierbändige Ausgabe der Schriften<br />
von Adolf Hitler aus den Jahren 1933 bis<br />
1945 sowie eine wissenschaftliche Ausgabe<br />
für die Zeit dazwischen. Es sind<br />
also ungefähr 95 Prozent des Hitler’schen<br />
œvres im Buchhandel frei verfügbar – nur<br />
eben nicht „Mein Kampf“.<br />
Sehen Sie keine Gefahr, dass die rechtsextreme<br />
Szene dann „Mein Kampf“ zu einer<br />
Art Hausbibel macht?<br />
Die einzige Gefahr, die ich sehe, besteht<br />
darin, dass irgendein rechtsextremer<br />
Verlag eine Ausgabe von „Mein Kampf“<br />
auf den Markt bringt und damit Geld<br />
verdient, mit dem dann wiederum rechtsextreme<br />
Projekte unterstützt werden. Ich<br />
glaube allerdings nicht, dass von einer<br />
Veröffentlichung dieses Buches eine politische<br />
Gefahr im engeren Sinne ausgeht.<br />
Sie glauben nicht, dass manch historisch<br />
unbedarfter Leser die falschen Schlüsse<br />
aus „Mein Kampf“ ziehen könnte?<br />
Ehrlich gesagt, wer die 800 Seiten<br />
von „Mein Kampf“ je gelesen hat, der<br />
weiß auch, dass das über weite Strecken<br />
so ein krudes und langweiliges Zeug ist,<br />
dass man aufpassen muss, bei der Lektüre<br />
nicht einzuschlafen. Mal ganz davon abgesehen,<br />
kann sich jeder, der über einen<br />
Internetzugang verfügt, die komplette<br />
Ausgabe von „Mein Kampf“ herunterladen.<br />
Es gibt im Internet ja sogar Audioversionen<br />
von „Mein Kampf“, bei denen<br />
man nicht einmal mehr selbst lesen muss,<br />
sondern alles vorgelesen bekommt.<br />
Ich zitiere jetzt eine Passage aus „Mein<br />
Kampf“: „Der schwarzhaarige Judenjunge<br />
lauert stundenlang, satanische Freude<br />
in seinem Gesicht, auf das ahnungslose<br />
Mathias Brodkorb, SPD, Bildungsminister<br />
in Mecklenburg-Vorpommern. Als Juso<br />
erfand er mit anderen das Modelabel Storch<br />
Heinar, das rechtsextreme Symbolik parodiert<br />
Mädchen, das er mit seinem Blut schändet<br />
und damit seinem, des Mädchens<br />
Volke raubt.“ Warum sollten solche Sätze<br />
wieder Verbreitung finden?<br />
Wenn Sie Ihre These ernst nehmen,<br />
warum stellen Sie mir eine solche Frage<br />
und tragen so selbst zur Verbreitung von<br />
<strong>Hitlers</strong> Schriften bei? Zudem unterstellt<br />
Ihre Frage, dass etwas nur dann existiert,<br />
wenn es auch in gedruckter Form vorliegt.<br />
Das ist aber nicht der Fall. Gerade<br />
junge Leute beziehen ihr Wissen heutzutage<br />
nicht vorrangig aus Büchern, sondern<br />
vor allem aus elektronischen Medien.<br />
Und „Mein Kampf“ kann, wie<br />
gesagt, im Internet aus Tausenden unterschiedlichen<br />
Quellen heruntergeladen<br />
werden, einschließlich des Satzes,<br />
den Sie hier zitiert haben. Mal ganz davon<br />
abgesehen, dass auch im deutschen<br />
Nun steht „Mein Kampf“ aber gewissermaßen<br />
stellvertretend für die gesamte<br />
Nazi‐Ideologie. Bayerns Kulturstaatssekretär<br />
Bernd Sibler gab deswegen<br />
unlängst zu bedenken, wenn Touristen in<br />
der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers<br />
Dachau in einen Buchladen kämen<br />
und dort auf „Mein Kampf“ stießen, gäbe<br />
es zu Recht einen Skandal. Liegt der Mann<br />
denn völlig daneben?<br />
Ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn<br />
man in dem gleichen Buchladen Landser-Hefte<br />
kaufen kann, die Tagebücher<br />
von Joseph Goebbels oder <strong>Hitlers</strong> „Zweites<br />
Buch“ – was ja heute schon völlig legal<br />
ist. Ich glaube einfach, der bayerische<br />
Kulturstaatssekretär hat sich mit dem<br />
ganzen Thema so wenig beschäftigt, dass<br />
er gar nicht weiß, was es im deutschen<br />
Buchhandel alles zu kaufen gibt, und<br />
zwar ganz offiziell.<br />
Woher rührt denn dann Ihres Erachtens<br />
diese offensichtliche Tabuisierung von<br />
„Mein Kampf“?<br />
Ich glaube, dass hier ein Generationenproblem<br />
zugrunde liegt. Gerade die<br />
ältere Generation in unserem Land hat<br />
„gelernt“, dass man ein Problem am besten<br />
von sich fernhält, indem man die Augen<br />
davor verschließt oder dafür sorgt,<br />
dass andere es nicht sehen. Dahinter<br />
steht ja so etwas wie der Gedanke, dass<br />
<strong>Hitlers</strong> Schrift so genial und gerissen<br />
Foto: Bernd Wüstneck/Picture Alliance/DPA<br />
30 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Anzeige<br />
formuliert sei, dass man durch die Lektüre<br />
gewissermaßen codiert wird und<br />
keine Chance hat, sich dagegen zu wehren.<br />
Aber das ist doch lächerlich. Hitler<br />
war zwar ein großer Verbrecher, aber<br />
kein Magier. Und aus dem Impuls, die<br />
Wirkung von „Mein Kampf“ zu überhöhen,<br />
rührt dieser Wegschließreflex. Dagegen<br />
hilft nur eines: das Buch nicht nur<br />
zugänglich zu machen, sondern auch<br />
kritisch zu reflektieren. Und stellen Sie<br />
sich nur mal vor, wie langweilig „Mein<br />
Kampf“ wäre, wenn es in der Schule<br />
durchgenommen würde. Aber seit es<br />
das Internet gibt, tickt die Welt ohnehin<br />
ganz anders.<br />
Sie wollen „Mein Kampf“ entmystifizieren,<br />
indem Sie das Buch ganz offiziell und für<br />
jeden zugänglich machen?<br />
Unbedingt. Als ich noch zur Schule<br />
ging, brachte ein Mitschüler eines Tages<br />
eine in Leder gebundene Ausgabe<br />
von „Mein Kampf“ mit. Und alle anderen<br />
starrten auf dieses Buch, als handele<br />
es sich um eine Reliquie. Diese Faszination<br />
ergab sich aber ausschließlich aus der<br />
Tatsache, dass „Mein Kampf“ nicht normal<br />
zugänglich ist. Auf diese Weise spielt<br />
da etwas herein, das ich als „unaufgeklärte<br />
Faszination des Bösen“ bezeichne,<br />
etwas Quasireligiöses in negativer Wendung.<br />
Dagegen hilft nur Entmystifizierung<br />
durch nüchterne Aufklärung.<br />
Trotzdem hat der Freistaat Bayern als<br />
Inhaber der Nutzungsrechte vor einigen<br />
Monaten verhindert, dass der britische<br />
Historiker Peter McGee kommentierte<br />
Auszüge aus „Mein Kampf“ an die Kioske<br />
bringen konnte …<br />
Ein völlig absurdes Vorgehen, zumal<br />
sich die Sache nach Ablauf des Urheberrechtsschutzes<br />
in drei Jahren sowieso erledigt<br />
hat. Was Bayern da betreibt, ist<br />
eine ängstliche und rückschrittliche<br />
Verhinderungspolitik.<br />
Sie selbst haben schon im Jahr 2003 ausgerechnet<br />
in der ehemaligen „Kraft durch<br />
Freude“-Ferienanlage Prora auf Rügen vor<br />
Jugendlichen aus „Mein Kampf“ gelesen.<br />
Wie kam es dazu?<br />
Das Land Mecklenburg-Vorpommern<br />
hatte damals beschlossen, Prora<br />
symbolisch zurückzuerobern und dort<br />
ein großes Jugendfest zu feiern. Um diese<br />
Veranstaltung politisch einzubetten, haben<br />
wir eine Reihe von Workshops angeboten,<br />
bei der es auch um die Nazi-Ideologie<br />
ging, die ja nicht zuletzt zum Bau<br />
dieser gigantischen Ferienanlage geführt<br />
hat. Und da haben wir in der Tat diese<br />
Lesung aus „Mein Kampf“ abgehalten.<br />
Ohne in Bayern vorher um Erlaubnis zu<br />
fragen?<br />
Selbstverständlich.<br />
Haben Sie damit eine Rechtswidrigkeit<br />
begangen?<br />
Das mögen die Bayern beurteilen. Ich<br />
meine, ich habe damals einen guten Beitrag<br />
zur Aufklärung geleistet.<br />
Und wie haben die Jugendlichen auf<br />
„Mein Kampf“ reagiert?<br />
Wir hatten danach eine sehr ruhige<br />
und sehr sachliche Debatte – unter anderem<br />
darüber, ob man versuchen soll,<br />
diese Schrift vor jungen Leuten geheim<br />
zu halten. Von 200 anwesenden Jugendlichen<br />
haben sich ungefähr 195 dafür ausgesprochen,<br />
dieses Buch ganz normal zugänglich<br />
zu machen und in den Schulen<br />
kritisch zu behandeln.<br />
Stellen Sie sich vor, „Mein Kampf“ würde<br />
vom 1. Januar 2016 an zu einem Bestseller<br />
im deutschen Buchhandel. Das wäre<br />
doch eine ziemliche Katastrophe schon<br />
allein für das Ansehen der Bundesrepublik<br />
im Ausland.<br />
Nein, das wäre weder eine Katastrophe,<br />
noch ließe es Rückschlüsse auf den<br />
politischen Zustand der Bundesrepublik<br />
Deutschland zu. Es wäre vielmehr eine<br />
ganz natürliche Reaktion auf 70 Jahre<br />
Wegschließpolitik.<br />
Und wenn etwa die israelische Regierung<br />
darum bitten würde, „Mein Kampf“ in<br />
Deutschland nicht zu veröffentlichen?<br />
Könnten wir uns dieser Bitte widersetzen?<br />
Wenn ich nicht falsch informiert bin,<br />
können Sie „Mein Kampf“ in Israel sogar<br />
auf Hebräisch kaufen. Aber selbst wenn<br />
nicht: Kein Staat der Erde hat das Recht,<br />
den Bürgern eines anderen demokratischen<br />
Staates vorzuschreiben, was diese<br />
lesen dürfen und was nicht. Auch Israel<br />
nicht.<br />
Das Gespräch führte Alexander Marguier<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 31<br />
Prof. Dr. Wilhelm<br />
Vossenkuhl<br />
war emeritierter Ordinarius<br />
für Philosophie an<br />
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Prof. Dr. Harald Lesch ist<br />
Professor für Theoretische<br />
Astrophysik am Institut<br />
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Ludwig-Maximilians-<br />
Universität und Professor<br />
für Naturphilosophie an<br />
der Hochschule für Philosophien<br />
in München<br />
sowie Moderator der<br />
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Forschung“.<br />
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T i t e l<br />
Das versiegelte Buch<br />
In der Schule war uns Hitler nur pädagogisch aufbereitet begegnet. Irgendwann haben<br />
wir weggehört. Über Churchills Memoiren kam das Interesse zurück – und damit die Frage<br />
auf: Warum darf man Hitler nicht lesen? Eine Rundreise zu Leuten, die diese Frage angeht<br />
Von Christoph Schwennicke<br />
W<br />
eihnachten vor einem Jahr<br />
stand ein kleiner Zweispalter<br />
im Guardian. In einer<br />
Filiale der Buchladenkette<br />
Waterstone im englischen<br />
Huddersfield hatte ein Mitarbeiter <strong>Hitlers</strong><br />
„Mein Kampf“ als „ideales Geschenk“ fürs<br />
Fest empfohlen. Die Kette entschuldigte<br />
sich für diese Geschmacklosigkeit.<br />
Mich ließ die Erklärung des Unglücksraben<br />
nicht los. Er hatte das Buch eine<br />
„Pflichtlektüre“ für alle genannt, „die eine<br />
der abscheulichsten Figuren der Weltgeschichte<br />
zu begreifen versuchen“. Eine<br />
schockierende Lektüre „und eine Warnung<br />
an alle kommenden Generationen“.<br />
Ist da nicht was dran? Ist es nicht relevant<br />
zu wissen, aus welcher geistigen Quelle<br />
sich die deutsche Katastrophe speiste?<br />
In Deutschland konnte das Buch in<br />
den vergangenen Jahrzehnten gar nicht<br />
erst in den Handel kommen. Weil Hitler<br />
zuletzt in München gemeldet war, hält<br />
der Freistaat Bayern das Urheberrecht bis<br />
zum 1. Januar 2016. Er verhindert, dass<br />
das Buch nachgedruckt wird. Es ist luftdicht<br />
verpackt, versiegelt.<br />
Wo keine Luft drankommt, da gärt es.<br />
Der Inhalt wird nicht mehr gekannt, man<br />
kann ihn ja nicht untersuchen. Stattdessen<br />
Mit den Mitteln der Kunst: Die Französin<br />
Linda Ellia bat 600 Menschen aus<br />
17 Ländern, eine Seite aus der französischen<br />
Fassung von <strong>Hitlers</strong> Hetzschrift „Mein<br />
Kampf“ künstlerisch zu verfremden<br />
und sie so zu „Unserem Kampf“ zu<br />
machen. Die Ausstellung „Notre Combat“<br />
war zuletzt in Nürnberg zu sehen<br />
wird er mystifiziert. Und die Frage kommt<br />
auf, was denn wohl passiert, wenn eines<br />
Tages die Verpackung aufbricht. Manche<br />
wollen den Inhalt gleich neu verpacken.<br />
Sicherheitshalber. Man weiß ja nicht, was<br />
passieren könnte.<br />
Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit.<br />
Endlich Luft dran zu lassen.<br />
Kann es sein, dass wir das schon längst<br />
hätten tun sollen? Dass seit Jahren ein Fehler<br />
gemacht wurde?<br />
1. Die Prägung<br />
In der Schule begegnete mir Hitler immer<br />
pädagogisch aufbereitet. Das aber sehr oft.<br />
Unser Geschichtsunterricht, das war in den<br />
Achtzigern, bestand grob gesagt aus drei<br />
Blöcken: der Steinzeit, dem Mittelalter und<br />
der Nazizeit.<br />
Bei der Nazizeit sagten die Geschichtslehrer<br />
stets dazu, dass Deutschland Verantwortung<br />
auf ewig trage: kein Verbrechen<br />
der Weltgeschichte vergleichbar, sechs<br />
Millionen ermordete Juden, ein Weltkrieg<br />
vom Zaun gebrochen, einen Kontinent in<br />
Schutt gelegt, eine junge Demokratie zerstört.<br />
Im Zentrum: Adolf Hitler.<br />
Es ist nicht einfach, das zuzugeben,<br />
aber es war so: Irgendwann konnten<br />
wir die Lektion nicht mehr hören. Wir<br />
32 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Fotos: Linda Ellia<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 33
T i t e l<br />
34 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Fotos: Linda Ellia<br />
immunisierten uns gegen den Unterricht<br />
einer Generation von Lehrern, die gerade<br />
erfolgreich und zu Recht ihrer Vorgängergeneration<br />
vorgehalten hatten, die Nazizeit<br />
nicht aufgearbeitet zu haben.<br />
Dieses Immunisieren ging weit. Bei einem<br />
Besuch in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers<br />
Buchenwald musste uns<br />
unser Lehrer die Kopfhörer der ersten<br />
Walkmen von den Ohren reißen.<br />
Wir mochten diesen Lehrer. Wir hatten<br />
ihn nicht in Geschichte, sondern in<br />
Deutsch. Ein Lehrer aus Leidenschaft, der<br />
uns mit seinem Elan antrieb. Er war für<br />
uns gerade deshalb eine Autorität, weil er<br />
nicht autoritär auftrat. Nie vorher und nie<br />
nachher habe ich ihn so wütend gesehen<br />
wie in diesem Moment auf dem Gelände<br />
von Buchenwald.<br />
Ich habe mich damals geschämt. Wie<br />
benommen saß ich nach der Standpauke<br />
auf einer Mauer, und es pochte in den Ohren.<br />
Ich schäme mich bis heute.<br />
Die sture Ignoranz der Vätergeneration<br />
und die geschichtslose Ignoranz der<br />
Schülergeneration brachten die 68er-Lehrer<br />
im Prinzip dazu, das Richtige zu tun:<br />
Sie ließen nicht locker. Den einen gegenüber<br />
ebenso wenig wie den anderen. Aber<br />
diese Art von Pädagogik hatte einen Nachteil.<br />
Sie tabuisierte, sie verstellte einen direkten<br />
Blick auf die Sache: Wer war dieser<br />
Mann? Wie konnten ihm so viele erliegen?<br />
Und: Ist es gut, wenn man Hitler nur als<br />
Phänomen und nicht als Person betrachten<br />
kann, zum Beispiel in seiner Autobiografie?<br />
2. Zurück zum Lehrer<br />
Der Kontakt zu diesem Lehrer ist nie abgerissen,<br />
und aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis<br />
ist über die Jahre ein freundschaftliches<br />
geworden.<br />
Er sagt, natürlich wäre es besser gewesen,<br />
„Mein Kampf“ längst freizugeben<br />
in Deutschland. Allein schon, damit alle<br />
hätten erkennen können, wie unlesbar das<br />
Buch im Grunde ist.<br />
Er ist Deutsch- und Geschichtslehrer,<br />
immer noch mit Leidenschaft. Gerade hat<br />
er seine Schüler begeistert für ein gemeinsames<br />
Projekt mit Schülern der tschechischen<br />
Stadt Iglau, zwischen Brünn und Prag gelegen.<br />
Die Schüler arbeiten grenzübergreifend<br />
an einem großen Buch zu dieser Stadt.<br />
Sie war vor 1945 vorwiegend von Deutschen<br />
bewohnt, in Iglau brachen sich nationalistische<br />
Aggressionen Bahn. „Hitler<br />
und seine Nazis nützten diese Spannungen<br />
für ihre völkerverachtenden Pläne: Statt ihr<br />
Schicksal selbst zu bestimmen, wurden die<br />
Iglauer letztlich von Tätern zu Opfern des<br />
nationalsozialistischen Herrschaftswahns“,<br />
heißt es in der Ankündigung des Buches.<br />
Er sagt, es erfordere immer noch sehr<br />
viel Fingerspitzengefühl, in dieser Angelegenheit<br />
zu recherchieren.<br />
Von „Mein Kampf“ habe er einmal zwei<br />
Ausgaben im Bücherschrank gehabt. Eine<br />
einbändige und eine zweibändige, die sein<br />
Schwiegervater seinerzeit von der Bäckerinnung<br />
zu irgendeinem Anlass bekam.<br />
Eine der beiden Ausgaben fehlt inzwischen.<br />
Eine Schülerin hatte meinen Lehrer<br />
vor Jahren einmal danach gefragt und<br />
sie wohl vergessen zurückzugeben. Ein<br />
schlechtes Gefühl stellt sich ein, als er das<br />
sagt: Ich hätte einfach nach dem Buch fragen<br />
können. Damals habe ich mich nicht<br />
getraut. Oder ich war zu gleichgültig.<br />
3. Churchill und Hanfstaengl<br />
Das Interesse an weiterer Beschäftigung<br />
mit der Nazizeit und Hitler war nach der<br />
Schulzeit für einige Zeit erloschen. Aber<br />
es wurde vor Jahren wieder geweckt, auf<br />
Seite 83 des ersten Bandes von Winston<br />
Churchills Memoiren. Der britische Premier<br />
beschreibt dort, wie er im Sommer<br />
1932 im Münchner Hotel Regina auf einen<br />
„Gentleman“ traf, eloquent und klug. Der<br />
Mann stellte sich als ein Herr Hanfstaengl<br />
vor, sprach in den wärmsten Worten von<br />
Hitler und versuchte, Churchill während<br />
des Abendessens in brillantem Englisch zu<br />
einem Treffen mit Hitler zu überreden.<br />
Er habe zu dieser Zeit keine Vorurteile<br />
gegen Hitler gehabt, notiert Churchill in<br />
seinen Memoiren, im Gegenteil: Er bewundere<br />
Männer, die in schlechten Zeiten<br />
für ihr Land einstünden – auch wenn<br />
er selbst auf der anderen Seite stehe.<br />
Hitler bewundern? Churchill, <strong>Hitlers</strong><br />
erbitterter Kriegsgegner, bewunderte einen<br />
Massenmörder? Es geht so weiter. Auf<br />
Seite 260 schreibt Churchill über <strong>Hitlers</strong><br />
„Genius“, der ihn beim Überfall auf Österreich<br />
von falschen Ratschlägen seiner<br />
Generäle abhielt. <strong>Hitlers</strong> Genius? Churchill<br />
bescheinigt dem geisteskranken Hitler<br />
Geisteskraft?<br />
Von Churchill weiter zu Ernst Hanfstaengls<br />
Memoiren. Der Mann war Auslandspressechef<br />
der NSDAP. Sicher<br />
keine glasklare Quelle, aus der nur<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 35
T i t e l<br />
Die Rechtslage<br />
Volksverhetzung als Hebel?<br />
Das Urheberrecht verhindert zurzeit das Erscheinen<br />
von „Mein Kampf“. Weil die Frist abläuft, setzen<br />
Gegner einer Veröffentlichung nun aufs Strafrecht<br />
Bayern geht gegen jede Person vor, die<br />
<strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ veröffentlichen<br />
will. Der bayerische Finanzminister<br />
hält nämlich seit Kriegsende das<br />
Urheberrecht an diesem Werk. Das<br />
erlischt nach 70 Jahren. Nach dem<br />
31. Dezember 2015<br />
kann theoretisch jeder<br />
„Mein Kampf“ veröffentlichen<br />
– jedenfalls<br />
aus zivilrechtlicher<br />
Sicht.<br />
„Mein Kampf“ hat<br />
aber auch eine strafrechtliche<br />
Relevanz.<br />
1979 hat der Bundesgerichtshof<br />
sich erstmalig<br />
dezidiert zu diesem<br />
Buch geäußert. Es<br />
sei kein Propagandamittel,<br />
das sich explizit<br />
gegen die Bundesrepublik<br />
Deutschland<br />
richte, entschieden die<br />
Richter. Der Besitz und die Verbreitung<br />
von Originalausgaben in Antiquariaten<br />
ist seither straflos.<br />
Kann der Staat aber mit strafrechtlichen<br />
Mitteln verhindern, dass das<br />
Buch heute nachgedruckt wird? Immerhin<br />
stachelt das Werk mit seiner<br />
antisemitischen Hetze unzweifelhaft<br />
zum Hass gegen Teile der Bevölkerung<br />
auf – und so ist in Deutschland<br />
der Tatbestand der Volksverhetzung<br />
definiert.<br />
Es wird darauf ankommen, in welcher<br />
Form „Mein Kampf“ veröffentlicht<br />
wird. Was ist, wenn das Institut<br />
für Zeitgeschichte eine historisch-kritische<br />
Ausgabe publiziert oder wenn<br />
ein Kabarettist öffentlich aus „Mein<br />
Kampf“ rezitiert? Dafür hat der Gesetzgeber<br />
die sogenannte Sozialadäquanzklausel<br />
geschaffen. Hinter dem Begriff<br />
„Sozialadäquanz“ verbirgt sich in diesem<br />
Fall die Fragestellung, ob „Mein<br />
Kampf“ zu publizieren einem gesellschaftlich<br />
anerkannten Zweck dient:<br />
Wissenschaft, Kunst und der Aufklärung<br />
der Bürger. Wenn die Justiz diese<br />
Frage bejaht, entfiele<br />
der Tatbestand der<br />
Volksverhetzung. Der<br />
Verleger könnte das<br />
Werk drucken und verbreiten,<br />
der Künstler<br />
dürfte rezitieren,<br />
und beide müssten<br />
nicht fürchten, Post<br />
vom Staatsanwalt zu<br />
erhalten.<br />
Darf man von<br />
2016 an „Mein<br />
Kampf“ auch unkommentiert<br />
publizieren<br />
– etwa ohne Vorwort<br />
und historische<br />
Einordnung? Hier<br />
ist die Bewertung schon schwieriger.<br />
Der Strafrichter am Landgericht Oldenburg,<br />
Dirk Rahe, hat zur Sozialadäquanzklausel<br />
und ihrer Bedeutung<br />
für das Strafrecht promoviert. Er<br />
meint, die Klausel sei eigentlich nur<br />
ein Appell an die Strafverfolgungsbehörden,<br />
schon von vornherein auf<br />
ein Ermittlungsverfahren zu verzichten,<br />
wenn beispielsweise ein Verlag<br />
sich kritisch und äußerlich für jeden<br />
erkennbar mit indizierten Werken<br />
auseinandersetze. Bedenklich werde<br />
es, wenn nicht erkennbar sei, welche<br />
Ziele der Verleger mit der Publikation<br />
von „Mein Kampf“ verfolge. Ein<br />
Ermittlungsverfahren sei dann unausweichlich.<br />
Ob so eine Publikation<br />
letztlich strafbar ist, werden aber wohl<br />
die Gerichte entscheiden müssen.<br />
Daniel Martienssen<br />
Wahrheitswasser sprudelt. Und doch lesenswert,<br />
wie Hanfstaengl, bis zu seinem<br />
Bruch mit Hitler dessen Pressemann, persönlicher<br />
Pianospieler und Hofintellektueller,<br />
den deformierten und in vielerlei Hinsicht<br />
erbärmlichen Menschen hinter der<br />
Fassade des Diktators kenntlich machte.<br />
„Hatte ich anfangs seine offensichtliche<br />
Verliebtheit in meine Frau mit Indifferenz<br />
oder Nonchalance beobachtet, so kam ich<br />
bald zu der Einsicht, dass seine dauernden<br />
Blumengeschenke, Handküsse und verzehrenden<br />
Blicke allein in seiner außergewöhnlichen<br />
Fähigkeit zur Selbstdarstellung<br />
zu suchen seien. Mit dem eigenen Talent,<br />
sich und andere bis zur Glaubwürdigkeit<br />
betören zu können, lebt er sich auch in<br />
diese Rolle des leidenschaftlichen Liebhabers<br />
hinein, ohne sie jedoch, wie ich zu behaupten<br />
wage, bis zur Vereinigung mit dem<br />
weiblichen Partner steigern zu können.“<br />
Hanfstaengl hielt Hitler für impotent.<br />
Aber in dieser scharfen Beobachtung und<br />
Analyse des Schauspiels vom leidenschaftlichen<br />
Frauenverführer, der sich in Rollen<br />
hineinzuleben vermag, liegt auch ein<br />
Erklärungsmuster.<br />
Churchills Memoiren und Hanfstaengls<br />
Erinnerungen sind gewissermaßen Semi-<br />
Primärliteratur über Hitler. Beobachtungen<br />
und Einschätzungen von Zeitzeugen.<br />
Die Primärquelle „Mein Kampf“ aber ist<br />
offiziell weiter unter Verschluss. Warum?<br />
4. Der Mann mit dem Schlüssel<br />
Das bayerische Finanzministerium am<br />
Odeonsplatz in München liegt nur zwei<br />
U‐Bahnstationen entfernt vom Prinzregentenplatz<br />
16. Ein schönes Eckhaus mit weißgelber<br />
Fassade und Erkern und Balkonen.<br />
Sitz der Polizeiinspektion 22. Bis zu seinem<br />
Tod im April 1945 war in diesem Gebäude<br />
Adolf Hitler polizeilich gemeldet.<br />
Deshalb ist der Freistaat Bayern gewissermaßen<br />
Erbe <strong>Hitlers</strong>, ihm gehören die<br />
Urheberrechte an dessen Buch. 70 Jahre<br />
lang. Und als Finanzminister ist Markus<br />
Söder der Rechteverwalter, der Mann mit<br />
dem Schlüssel.<br />
Als der britische Verleger Peter McGee<br />
im Frühjahr dieses Jahres Auszüge aus<br />
„Mein Kampf“ in Deutschland veröffentlichen<br />
wollte, standen plötzlich Rechtsexperten<br />
des Hauses im Büro des Ministers und<br />
erklärten dem zu dem Zeitpunkt ahnungslosen<br />
Söder, dass das seine Baustelle sei. Am<br />
Urheberrecht hängt bislang in Deutschland<br />
Foto: DDP Images/DAPD<br />
36 <strong>Cicero</strong> 11.2012
das Tabu: <strong>Hitlers</strong> 1924 in dessen Haft in<br />
Landsberg am Lech geschriebene Nazimanifest<br />
darf nicht veröffentlicht werden.<br />
Markus Söder ist 45 Jahre alt. Meine<br />
Generation. Man spricht eine Sprache, hat<br />
einen gemeinsamen Erfahrungshorizont.<br />
Söder sitzt in dem Büro, in dem ihm<br />
seine Beamten vor einem halben Jahr seine<br />
neue Herausforderung erklärten. Wohl<br />
auch das Paradox: Übers Internet oder im<br />
Antiquariat ist „Mein Kampf“ ja erhältlich.<br />
Wird das Buch damit nicht zur Bückware,<br />
die viel reizvoller ist als Tresenware?<br />
Heimlich liest es sich doch viel lustvoller<br />
als offen am Tisch.<br />
Er spricht von einer „Gratwanderung“.<br />
Die Morde des NSU gingen ihm<br />
durch den Kopf, und der Satz eines Demonstranten<br />
im arabischen Raum gegen<br />
die Mohammed-Karikaturen, der sinngemäß<br />
in die Kamera klagte: „Das eine ist<br />
bei euch Meinungsfreiheit und das andere<br />
Antisemitismus.“<br />
Der Satz hallt nach in Söders Kopf. Er<br />
unterschreibt ihn nicht, aber er beschäftigt<br />
ihn.<br />
Verbote kosten etwas. Sie machen eine<br />
freiheitliche Gesellschaft angreifbar.<br />
Der Minister ist groß geworden in einer<br />
Zeit, als die einen „Stoppt Strauß“-Buttons<br />
trugen und er den FJS-Button. Als er als<br />
kleiner Junge einmal zu Hause mit einem<br />
Anstecker von Willy Brandt auftauchte,<br />
gab es vom Vater einen Satz heiße Ohren.<br />
Heute, sagt Söder, lebten wir in einer<br />
unideologischen Gesellschaft. „Eine<br />
Charlotte<br />
Knobloch<br />
will eine<br />
Neuausgabe<br />
der Hetzschrift<br />
verhindern<br />
unideo logische Gesellschaft ist anfälliger<br />
für Extreme.“ Diese Anfälligkeit gebe es<br />
besonders bei jungen Menschen, deshalb<br />
sei eine pädagogisch sinnvolle Aufarbeitung<br />
des Buches gerade für die Schulen so<br />
wichtig. „Wir müssen uns über das Buch<br />
auseinandersetzen. Es muss entmystifiziert<br />
werden.“ Die Gesellschaft habe sich verändert,<br />
der kulturelle Umgang mit Hitler<br />
habe sich verändert. „Allein der Film ‚Der<br />
Untergang‘ …“, denkt Söder laut.<br />
Der Eindruck ist eindeutig. Er denkt<br />
im Grunde genauso. Er sieht das mit der<br />
Bückware auch. Seine politische Funktion<br />
zwingt ihn zu vorsichtigeren Formulierungen.<br />
Aber es treibt ihn um, und es ärgert<br />
ihn, dass andere tun, als ginge sie das alles<br />
nichts an. „Beim Thema ‚Mein Kampf‘ soll<br />
sich auch der Bund äußern und einbringen.<br />
Aber bislang ist da nichts passiert.“ Es sei<br />
„ein historischer Zufall, dass das Urheberrecht<br />
dazu in Bayern liegt. Aber das kann<br />
kein Grund für Berlin sein, sich bei diesem<br />
Thema zu enthalten.“<br />
Israel, sagt Söder beim Abschied noch,<br />
mache Druck. Aber das werde Frau Knobloch<br />
sicher ausführen können.<br />
5. Das Nein<br />
Besuch bei Charlotte Knobloch, der Präsidentin<br />
der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
München und Oberbayern. An der Pforte<br />
stehen drei ernst dreinblickende Männer,<br />
zum Teil in Uniform. Termin mit Frau<br />
Knobloch? Einen Moment bitte. Dann<br />
Schleuse, Taschendurchsuchung, den Ausweis<br />
bitte. Ein Zivilist, freundlich, aber<br />
wortkarg, begleitet mich in den vierten<br />
Stock, im Flur zwei bewaffnete Bodyguards.<br />
Charlotte Knobloch saß mit am runden<br />
Tisch in Nürnberg, den Söder nach der<br />
McGee-Sache einberufen hatte. Sie hatte<br />
sich dort damit einverstanden erklärt, dass<br />
der Freistaat eine wissenschaftlich-kritische<br />
Ausgabe in Auftrag gibt.<br />
Es muss etwas passiert sein in der Zwischenzeit.<br />
Denn jetzt sagt sie: „Betrachten<br />
Sie alles, was ich bisher dazu gesagt habe,<br />
als obsolet. Es muss rechtlich geprüft werden,<br />
ob es möglich ist, die Veröffentlichung<br />
über den Straftatbestand der Volksverhetzung<br />
zu verhindern. Ich werde da sicher<br />
nicht lockerlassen.“<br />
Knobloch war vor einigen Wochen in<br />
Israel, zusammen mit Bayerns Ministerpräsident<br />
Horst Seehofer, eine mehrtägige<br />
Reise, hochrangige Gesprächspartner.<br />
Bei allen Terminen hatte sich die Delegation<br />
aus Bayern auf Kritik am Beschneidungsurteil<br />
vorbereitet. Aber es<br />
kam nicht so. Beschneidung? Eure Sache!,<br />
signalisierten die Gastgeber. Aber „Mein<br />
Kampf“ demnächst in deutschen Buchläden?<br />
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wie das nationalsozialistische und<br />
das marxistische als Herrschaftsideologien<br />
totalitärer Diktaturen<br />
fungieren? Wie konnten sie sich<br />
als tauglich erwiesen, Menschen<br />
zu begeistern, Überzeugte zu<br />
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Die Autorin hat diese von Beginn<br />
an intensiv beobachtet und begleitet.<br />
Mit ihrer fundierten Analyse geht sie<br />
dem Hype um die Bewegung auf den<br />
Grund und wagt eine Prognose, wohin<br />
der Kurs die Partei und Deutschland<br />
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11.2012 <strong>Cicero</strong> 37<br />
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T i t e l<br />
Fotos: Linda Ellia, Andrej Dallmann (Autor)<br />
In Israel kam die Idee mit der Volksverhetzung<br />
auf, und heute ärgert sich Charlotte<br />
Knobloch, dass sie darauf nicht selbst<br />
gekommen ist.<br />
Charlotte Knobloch wird oft als etwas<br />
herb und schwierig im Umgang dargestellt.<br />
Das ist bei dieser Begegnung gar nicht so.<br />
Sie ist eine zugewandte Gastgeberin und<br />
hat einen warmen, mütterlichen Blick.<br />
Umso schwerer fällt es, ihr diese Frage<br />
zu stellen. Ob es nicht vielleicht besser<br />
sein könne, dem Buch den Reiz des Verbotenen,<br />
des Unzugänglichen zu nehmen?<br />
Es stimme ja gar nicht, dass das Buch<br />
nicht zugänglich sei, sagt sie. Jeder, der<br />
wolle, könne es leider lesen. „Aber man<br />
sollte eine unselige Gedenk- und Erinnerungskultur<br />
nicht mit einer offiziellen<br />
Ausgabe fördern.“<br />
Bleibt die Frage, die noch schwerer fällt.<br />
Frau Knobloch ist 79 Jahre alt. Ihre Großmutter,<br />
bei der sie aufwuchs, ist 1944 im<br />
KZ Theresienstadt ermordet worden. Sie<br />
selbst entging dem Holocaust knapp. Ihr<br />
Mann überlebte das KZ in Krakau.<br />
Haben Sie das Buch gelesen, Frau<br />
Knobloch?<br />
„Nein!“ Pause. Ein Blick in die Augen<br />
des Gegenübers. „Das kann ich nicht! Das<br />
werde ich nie können!“<br />
Dieser Blick bleibt.<br />
6. Das Buch<br />
Ich habe „Mein Kampf“ in den Tagen danach<br />
etwa zur Hälfte gelesen. Oft wird gesagt,<br />
es sei langweilig und unlesbar. Das<br />
stimmt nicht. Die Schilderungen seiner<br />
Kindheit sind peinlich, schwülstig und<br />
kitschig, die Beschönigungen seines Scheiterns<br />
in der Schule und an der Kunstakademie<br />
erbärmlich, seine Grundsatzaussagen<br />
über Gewerkschaften, Juden, Sozialdemokraten<br />
und Marxismus aufgrund ein paar<br />
zufälliger Eindrücke in Wien wirr, seine<br />
„Rassenlehre“ von Storch und Meise und<br />
Arier und Jude hirnrissig.<br />
Und doch gibt das Buch Ansatzpunkte<br />
zu einem Verstehen.<br />
7. Unser Kampf<br />
Als die französische Künstlerin Linda Ellia<br />
<strong>Hitlers</strong> Werk „Mein Kampf“ das erste<br />
Mal in die Hände bekam, „brannten meine<br />
Finger“, schreibt sie auf ihrer Homepage<br />
notrecombat.com. Der Jüdin war zumute,<br />
als halte sie Hitler in den Händen und die<br />
ganze Schwere des Holocaust. Sie hatte das<br />
Bedürfnis, dieses Buch mit anderen zu teilen.<br />
Eines Abends kam sie auf die Idee, das<br />
mit dem Teilen wörtlich zu nehmen. Sie<br />
löste Seite für Seite aus dem Buch und ließ<br />
diese etwa 600 Seiten von 600 mehr oder<br />
weniger zufällig ausgewählten Menschen<br />
aus 17 Ländern gestalten.<br />
Jeder sollte seine Gefühle auf dieser einen<br />
Seite darstellen, die diese Seite beim<br />
Lesen auslöst. 600 für sechs Millionen.<br />
„So machen wir ‚Mein Kampf‘ zu ‚Unserem<br />
Kampf‘“, sagt sie.<br />
Linda Ellia hat recht. „Mein Kampf“<br />
muss „Unser Kampf“ werden. Auch in<br />
Deutschland. Eine offene Auseinandersetzung<br />
täte gut.<br />
Die Verpackung muss geöffnet werden.<br />
Damit Luft an dieses Buch kommt.<br />
Christoph Schwennicke<br />
ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
38 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Von der Hanse bis<br />
in den Orient<br />
Begeben Sie sich mit umfangreichem Kartenmaterial,<br />
eindrucksvollen Bildern und unterhaltsamen Geschichten<br />
auf die Spuren des Handels<br />
glcons<br />
Philip Parker<br />
Legendäre<br />
Handelsrouten<br />
Von Karawanen<br />
und Piraten<br />
Sachbuch Geschichte,<br />
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www.nationalgeographic.de<br />
NEU
T i t e l<br />
„Man hätte es viel<br />
früher erlauben sollen“<br />
Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, über die kritische Edition<br />
von „Mein Kampf“, seine erste Lektüre und eine klaffende Lücke in der Hitler-Forschung<br />
H<br />
err Wirsching, wann haben Sie<br />
zum ersten Mal „Mein Kampf“<br />
gelesen?<br />
Während meines Studiums. Es war pure<br />
Neugier. Ich wollte wissen, was da denn<br />
nun wirklich drinsteht. Ich habe damals<br />
reingeschaut, es aber nicht komplett<br />
durchgelesen. Intensiver habe ich mich<br />
damit beschäftigt, als ich an meiner Habilitationsschrift<br />
saß. Es ging darin unter<br />
anderem um die Frühzeit des Nationalsozialismus,<br />
und da ist „Mein Kampf“ natürlich<br />
eine zentrale Quelle.<br />
Haben Sie beim ersten Lesen ein Gefühl<br />
des Verbotenen verspürt?<br />
Ich habe nie irgendeinen „Thrill“ oder<br />
ein Gefühl des Verbotenen empfunden.<br />
Das Buch konnte ich in der Unibibliothek<br />
einsehen. Später habe ich mir<br />
ein Exemplar angeschafft, das ging im<br />
Antiquariat. Ich musste nur mitteilen,<br />
dass ich es für wissenschaftliche Zwecke<br />
brauche.<br />
Wie würden Sie dieses Buch in wenigen<br />
Attributen beschreiben?<br />
Einmal ist es eine von Hitler selbst drastisch<br />
stilisierte Biografie. Dann ist „Mein<br />
Kampf“ auch das Dokument einer spezifischen,<br />
verbrecherisch pervertierten<br />
Rationalität – beruhend auf den völkisch-nationalistischen<br />
und rassistischen<br />
Traditionen. Aus wissenschaftlicher Sicht<br />
ist das ein wichtiger Untersuchungsgegenstand,<br />
weil sich hier <strong>Hitlers</strong> Programmatik<br />
zeigt.<br />
„Der 1. Januar 2016 wirkt wie ein Damoklesschwert“: Andreas Wirsching, 53, leitet das<br />
Institut, das im Auftrag Bayerns an der wissenschaftlichen Edition von <strong>Hitlers</strong> Autobiografie<br />
arbeitet. „Die Luft könnte längst raus sein“, findet der renommierte Historiker<br />
Halten Sie es für richtig, dass man das<br />
Buch in Deutschland bisher nicht im<br />
Laden kaufen kann?<br />
Zumindest eine kritisch kommentierte<br />
Edition hätte man schon sehr viel früher<br />
erlauben sollen. Das Institut für Zeitgeschichte<br />
hat ja bereits in den neunziger<br />
Jahren die Bände „Hitler. Reden,<br />
Schriften, Anordnungen“ herausgegeben.<br />
Auch <strong>Hitlers</strong> sogenanntes „Zweites Buch“<br />
wurde damals neu ediert. Der Versuch,<br />
„Mein Kampf“ in die Edition mit einzubeziehen,<br />
blieb aber vergeblich.<br />
Warum ist es nicht passiert?<br />
Der Freistaat Bayern als Inhaber der<br />
Urheberrechte hat es aufgrund politischer<br />
Bedenken nicht gestattet, und<br />
so klafft hier eine Lücke. Hätte man<br />
„Mein Kampf“ damals schon herausgegeben,<br />
wäre die Luft aus dem Thema sehr<br />
schnell raus gewesen. Das ist jetzt nicht<br />
mehr so leicht. Denn nun steht das Auslaufen<br />
des Urheberrechts im Raume: Der<br />
1. Januar 2016 wirkt gewissermaßen wie<br />
ein Damoklesschwert.<br />
Könnten Sie mit einer historisch-kritischen<br />
Ausgabe von „Mein Kampf“ schon<br />
vor diesem Datum herauskommen?<br />
Foto: Christian O. Bruch/Laif<br />
40 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Anzeige<br />
Bis vor einem halben Jahr hätte ich gesagt:<br />
Es ist unmöglich, das bis 2016 überhaupt<br />
zu machen. Das Projekt ist sehr<br />
aufwendig, weil ja ein wissenschaftlicher<br />
Gewinn herauskommen soll: Der Text<br />
des Buches muss gleichsam durchgeknetet<br />
und auf Traditionslinien und Quellen<br />
hin untersucht werden. Das kostet<br />
Zeit und Personal. Nachdem der Freistaat<br />
Bayern nun aber die Arbeit adäquat<br />
fördert, werden wir es, wie ich hoffe, bis<br />
Ende 2015 schaffen. Vorher jedoch nicht.<br />
Haben Sie Anzeichen dafür, dass es ein<br />
Umdenken in der bayerischen Regierung<br />
geben könnte – und die Veröffentlichung<br />
von „Mein Kampf“ auch über 2016 hinaus<br />
unterbunden werden soll?<br />
Alle rechtlichen Überlegungen, die mir<br />
bekannt sind, schließen eine solche Möglichkeit<br />
aus. Das Projekt einer wissenschaftlichen<br />
Edition wurde mit den jüdischen<br />
Vertretern abgestimmt. Ich würde<br />
mich daher wundern, wenn das jetzt<br />
noch gekippt würde. Wichtig ist, dass wir<br />
eine sachliche Diskussion führen. Und<br />
dass ab 2016 ein Referenzwerk vorliegt.<br />
Ziel muss sein, dass „Mein Kampf“ in<br />
gedruckter Form nur mit aufklärendem<br />
Kommentar zu haben ist – anders als in<br />
irgendwelchen Internetquellen.<br />
Aber ab 2016 können andere das Original<br />
auch herausbringen.<br />
Das stimmt. Aber die Frage ist, ob das<br />
dann noch so spannend ist, wenn wir<br />
schon fertig sind. Macht man gar nichts,<br />
steigt die Gefahr dagegen deutlich.<br />
Worin besteht die Gefahr überhaupt?<br />
Man kann das mit dem Obersalzberg vergleichen,<br />
<strong>Hitlers</strong> zweitem Regierungssitz<br />
bei Berchtesgaden. Der Obersalzberg<br />
war prädestiniert dafür, ein Wallfahrtsort<br />
für Neonazis zu werden. Damals hat der<br />
Freistaat Bayern die richtige Entscheidung<br />
getroffen, dass das Institut für Zeitgeschichte<br />
eine Dokumentation erarbeitet.<br />
Dort haben wir jetzt einen Lern- und<br />
Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus.<br />
Das hat die Sache unter<br />
Kontrolle gehalten. Es ist wichtig, bei<br />
„Mein Kampf“ einen ähnlichen Weg zu<br />
gehen.<br />
Das Gespräch führte Christoph Schwennicke
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Unerschrocken spröde<br />
Wie macht sich Anke Spoorendonk, erste Dänen-Ministerin in Kiel? Treffen mit einer Omegapolitikerin<br />
von Katrin Wilkens<br />
W<br />
ENN Manager, Politiker oder Neumitglieder<br />
eines Lion Clubs auf<br />
die Frage „Was lesen Sie gerade?“<br />
antworten: „die jüngste Kennedy-Biografie“,<br />
so tun sie das aus einem mit Fantasielosigkeit<br />
gemischten Arbeitseifer. Mit<br />
Kennedy kann man nichts falsch machen.<br />
Der zeigt die perfekte Symbiose aus Macht<br />
und Schönheit. Das Ideal des Frauenhelden<br />
und Weltverbesserers, von dem man<br />
nur lernen kann.<br />
Mehr lernt man jedoch von den anderen.<br />
Von denen, die weder ästhetisch auftrumpfen<br />
noch rhetorisch. Die emsig und<br />
konsensorientiert sind. Nicht die Alphabullen<br />
einer Herde, sondern die Omegarinder.<br />
Die, die den Vertrag zustande bringen,<br />
nicht die, die ihn präsentieren. Das<br />
sind Menschen wie Anke Spoorendonk,<br />
Omegapolitikerin.<br />
Spoorendonk amtiert seit Juni dieses<br />
Jahres in Schleswig-Holstein als Ministerin<br />
für Justiz, Europa und Kultur. Sie garantiert<br />
der Regierung von Ministerpräsident<br />
Torsten Albig die Ein-Stimmen-Mehrheit.<br />
Und, wenn es so etwas gäbe, wäre sie auch<br />
noch Ministerin für Minderheiten, Ungerechtigkeit<br />
und Underdogs, denn Spoorendonk<br />
ist die erste Ministerin, seit sich<br />
der SSW, der Südschleswigsche Wählerverband,<br />
1948 gegründet hat.<br />
Im Büro hat Anke Spoorendonk lauter<br />
Bilder ihrer Kinder und Enkelkinder und<br />
einen Schreibtisch, von dem sie selbst sagt,<br />
er sei zu groß, den sie aber in über vier Monaten<br />
nicht losgeworden ist. Sie ist so ziemlich<br />
das Gegenteil einer PR-Politikerin.<br />
Keine von denen, die eine geschmeidige<br />
Verve besitzen, kein Claudia-Roth-Auftritt,<br />
kein Silvana-Koch-Mehrin-Aussehen.<br />
Spoorendonk ist spröde bis zur Unerschrockenheit.<br />
Kanariengelbe Blusen unter<br />
gerafften Lederwesten-Ensembles, kein<br />
Haarschnitt, sondern Fasson, eine Brille,<br />
die man guten Gewissens als geschmacksfrei<br />
bezeichnen darf – solche Frauen sind<br />
auf Kirchentagen gefürchtet, sie haben<br />
immer eine Regenhaut in der Handtasche<br />
und singen „Geh aus mein Herz“ ein bisschen<br />
zu laut. Und doch machen Menschen<br />
wie sie die Politik, die Roths und Koch-<br />
Mehrins repräsentieren sie nur.<br />
Spoorendonk ist das Gegenteil vom eleganten,<br />
kosmopolitischen Kennedy: regional<br />
verwurzelt – sie spricht deutsch, dänisch<br />
und platt – und mit der Haptik einer<br />
Heide Simonis oder Regine Hildebrandt.<br />
Politik machen solche Frauen mit Sachthemen,<br />
nicht mit einer Föhnwelle.<br />
Der SSW ist als Regionalpartei in<br />
der bundesdeutschen Parteienlandschaft<br />
ebenso einmalig wie rührend: Als einzige<br />
Partei Deutschlands darf sie auch dann in<br />
den Landtag, wenn sie weniger als 5 Prozent<br />
der Wählerstimmen hat. Der SSW ist<br />
so eine Art unverheiratete Patentante, die<br />
nie ganz ernst genommen wird, aber weil<br />
sie schon immer Weihnachten dabei war,<br />
wird sie auch dieses Jahr eingeladen. Wenn<br />
Vater und Mutter über die Geschenke streiten,<br />
ist sie nicht mehr nur die, die geduldet<br />
wird, sondern auch die, die schlichtet.<br />
Die Oberstreitschlichterin des SSW ist<br />
seit 2009 Anke Spoorendonk. Gemäß ihrer<br />
Patentantenfunktion will sie nicht nur<br />
Repräsentantin der dänischen Minderheit<br />
in Schleswig-Holstein sein, sondern auch<br />
noch das dänische Prinzip in die Politik<br />
bringen.<br />
Im dänischen Parlament sei es unüblich,<br />
dass geklatscht oder gar gepöbelt werde, erzählt<br />
sie, Dialogbereitschaft sei dort wichtiger<br />
als Rhetorik und Grabenkampf. „Ein<br />
guter Vorschlag ist ein guter Vorschlag“,<br />
sagt sie, „auch wenn er von der Opposition<br />
kommt.“<br />
Man nimmt die Deutsch- und Geschichtslehrerin<br />
in ihr wahr, wenn sie<br />
sich über das Gebaren deutscher Politiker<br />
echauffiert. Über solche, die sich profilieren.<br />
Die sich darstellen, womöglich noch<br />
in Brioni. Genauso gut könnten es Jugendliche<br />
sein, die ihre Malzbierdosen direkt<br />
ins Gebüsch werfen statt in den Müllkorb.<br />
Spoorendonk hat eine Grundschulpädagogen-Autorität,<br />
gespeist aus Überzeugung<br />
und Pragmatismus und einer kirchentagshellen<br />
Birkenholzmoral, die man auch mit<br />
einem Atomkrieg nicht kaputt kriegte, weil<br />
diese humorfreie Vernunft resistent gegen<br />
jeden Wandel ist.<br />
Aufgewachsen ist sie als Einzelkind in<br />
einem Kommunalpolitikerhaushalt kurz<br />
nach dem Schreckensdemagogen Hitler.<br />
Nie wieder Rhetorik, hieß die schämende<br />
Devise damals. Nie wieder Inszenierung,<br />
die 1939 ins Verderben führte.<br />
Spoorendonks Onkel zählte zu den<br />
Gründern der Partei, ihr Vater saß im<br />
Stadtrat. Butterdänen nannte man damals<br />
diejenigen Schleswiger, die sich nach<br />
1945 zu Dänemark bekannten und somit<br />
die von den Dänen produzierten Lebensmittelüberschüsse<br />
bekamen, während die<br />
Ernährungslage deutscher Schleswiger bis<br />
1948 karg war.<br />
Spoorendonk ist eine Zähe, selbst eine<br />
Morddrohung hielt sie 2005 nicht ab, die<br />
Politik zu machen, die sie für richtig hält.<br />
Sie wollte damals eine rot-grüne Landesregierung<br />
unter Heide Simonis dulden, deren<br />
Gegner sie dafür attackierten. Also hieß<br />
es: Zähne zusammenbeißen, Polizeischutz,<br />
weiterarbeiten. Simonis fiel 2005 durch<br />
und ging. Spoorendonk blieb. Sieben Jahre<br />
später ist sie in der Regierung. Dort sitzt sie<br />
nun als Prototyp des dänischen Politikprinzips,<br />
das sich entlang der skandinavischen<br />
Jante-Moral entwickelt hat: Glaube nicht,<br />
dass du etwas Besonderes bist.<br />
Ist sie aber doch.<br />
Katrin Wilkens<br />
ist freie Journalistin in Hamburg<br />
Fotos: Roland Magunia, Simone Scardovelli (Autorin)<br />
42 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Anke Spoorendonk, Kieler Ministerin,<br />
liebt Politik ohne Föhnwelle und<br />
Pöbelei. „Ein guter Vorschlag ist<br />
ein guter Vorschlag, auch wenn er<br />
von der Opposition kommt“<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 43
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Alles bebt, einer bleibt<br />
BKA-Chef Jörg Ziercke überdauerte schon drei Innenminister und denkt nicht daran, in Pension zu gehen<br />
von Hartmut Palmer<br />
V<br />
om sonntagskrimi bekommt er selten<br />
etwas mit. Wenn andere Leute<br />
„Tatort“ oder „Polizeiruf 110“ gucken,<br />
sitzt der oberste Kriminalist der Republik<br />
fast immer im Auto. „Dann ist auf<br />
den Autobahnen wenig Verkehr, und ich<br />
komme gut voran“, sagt Jörg Ziercke. Von<br />
seinem Haus bei Kiel fährt der Präsident<br />
des Bundeskriminalamts aber nicht in die<br />
Zentrale nach Wiesbaden, sondern in die<br />
BKA-Außenstelle nach Berlin. Denn hier,<br />
in der Hauptstadt, wird er zum Wochenbeginn<br />
immer gebraucht.<br />
Immer dienstags steht im Bundeskanzleramt<br />
die „nachrichtendienstliche Lage“<br />
an. In dieser hochkarätigen Runde ist alles<br />
streng geheim. Die Polizei- und Geheimdienstchefs<br />
tauschen hier regelmäßig ihre<br />
Erkenntnisse aus. Ziercke, seit Februar 2004<br />
im Amt, ist der inzwischen Dienstälteste,<br />
umgeben von lauter Neulingen. Hans-Georg<br />
Maaßen zum Beispiel wurde erst am<br />
1. August Präsident des Bundesamts für<br />
Verfassungsschutz, nachdem sein Vorgänger<br />
Heinz Fromm wegen zahlreicher Pannen<br />
und Skandale bei der Aufklärung der<br />
Nazi‐Morde des sogenannten Nationalsozialistischen<br />
Untergrunds entnervt gegangen<br />
war. Ulrich Birkenheier, seit 1. Juli Chef des<br />
Militärischen Abschirmdiensts, ist, kaum<br />
im Amt, ebenfalls unter Druck geraten, als<br />
der Verdacht aufkam, dass der MAD schon<br />
1995 einen der drei mutmaßlichen Mörder<br />
als V-Mann anheuern wollte. Die FDP will<br />
den MAD gleich ganz auflösen.<br />
Bei den Sicherheitsbehörden wackelt<br />
alles wie in einem Erdbebengebiet. Nur<br />
einer ist von den Erschütterungen unberührt:<br />
Ziercke.<br />
Auch er war einmal in den Schlagzeilen<br />
zur NSU, weil er öffentlich darüber<br />
spekuliert hatte, die Ermordung der Polizistin<br />
in Heilbronn sei möglicherweise<br />
eine „Beziehungstat“ gewesen, weil das<br />
Opfer und Unterstützer des mutmaßlichen<br />
Mörders aus demselben Dorf kamen.<br />
„Beziehungstat“ – das Wort löste Entsetzen<br />
aus, weil es im allgemeinen Sprachgebrauch<br />
eine andere Bedeutung hat als im Fachjargon<br />
der Kriminalpolizei. Er habe dem Opfer<br />
keine persönliche oder gar intime Beziehung<br />
zu Mitgliedern der NSU‐Szene<br />
unterstellen wollen, erklärt Ziercke, aber<br />
dass es eine „geografische Beziehung“ gegeben<br />
haben könnte, zwischen dem Ort,<br />
dem Täter und dem Opfer, kann er immer<br />
noch nicht ausschließen.<br />
Der Schock über die Pannen bei der<br />
NSU‐Aufklärung hat etwas bewirkt bei den<br />
Sicherheitsbehörden der Republik. „Dieses<br />
Desaster ist wie ein Weckruf gewesen“,<br />
sagt Ziercke. Es gibt jetzt in Berlin ein „Gemeinsames<br />
Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus<br />
und Rechtsterrorismus.“ Alle<br />
Erkenntnisse, die beim Verfassungsschutz<br />
und bei der Polizei über Nazi‐Umtriebe<br />
anfallen, werden hier ausgewertet. „Hier<br />
kommen jetzt jede Woche Experten aus<br />
39 deutschen Sicherheitsbehörden zusammen<br />
und tauschen ihre Erkenntnisse über<br />
aktuelle rechtsextremistische und rechtsterroristische<br />
Entwicklungen aus. Das hat es<br />
vorher so noch nicht gegeben.“ Der BKA-<br />
Präsident nennt Rechtsterroristen ganz bewusst<br />
„Nazis“, weil sich „die neuen nicht<br />
von den alten Nazis unterscheiden“.<br />
Otto Schily hatte Ziercke 2004 aus<br />
dem Kieler Innenministerium geholt, es<br />
war eine schwierige Zeit für das BKA. Der<br />
neue Präsident sollte Ruhe in die Behörde<br />
bringen. Die Belegschaft meuterte nämlich<br />
gegen den Plan, die Zentrale in Wiesbaden<br />
und die Außenstelle in Meckenheim komplett<br />
nach Berlin zu verlegen.<br />
Der Mann aus Kiel hatte damit kein Problem:<br />
Er baute in aller Stille die Berliner Außenstelle<br />
aus. Als er anfing, arbeiteten dort<br />
fünf Beamte. Heute sind es 1300. In Wiesbaden<br />
sitzen 4000 und etwa 500 noch in<br />
Meckenheim bei Bonn. Der Trend ist eindeutig:<br />
Vor allem die jungen Kriminalbeamten<br />
wollen unbedingt in die Hauptstadt.<br />
Auf Schily folgten die Christdemokraten<br />
Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière.<br />
Mit beiden kam der Sozialdemokrat<br />
gut zurecht. Einmal gab es einen Dissens:<br />
Als de Maizière die Bundespolizei mit dem<br />
BKA zusammenlegen wollte, legte Ziercke<br />
sich quer: „Ich bedaure, Herr Minister. Aber<br />
dieses Konzept kann ich in der Form nicht<br />
mittragen. Es gibt zusätzlichen Prüfbedarf.“<br />
Die Pläne verschwanden. Inzwischen arbeitet<br />
der Alte schon unter dem vierten Minister,<br />
Hans-Peter Friedrich von der CSU hat<br />
nun sogar seine Dienstzeit bis 2014 verlängert,<br />
dann wird Ziercke 67. Der Politiker<br />
schaute sich nach Alternativen um, fand<br />
aber keine. Auch deshalb lobt er Ziercke:<br />
„Der Mann ist erstklassig.“<br />
Wie hat er diese sehr verschiedenen<br />
Dienstherren für sich eingenommen? Vielleicht<br />
vermittelt er ihnen einfach, dass er<br />
die Polizeiarbeit von Grund auf beherrscht.<br />
Polizist wurde Ziercke eigentlich aus<br />
Liebe zu seiner norddeutschen Heimat.<br />
Nach dem Abitur hatte er die Wahl: Entweder<br />
zwei Jahre freiwillig zum Bund oder<br />
für drei Jahre zur Kripo. Er entschied sich<br />
für die Kripo, weil er wusste, dass er dann<br />
nach einem Jahr die Chance haben würde,<br />
an die Polizei-Akademie geschickt zu werden<br />
– die lag in seiner Heimatstadt Lübeck,<br />
direkt neben seinem Gymnasium.<br />
Aber Berlin ist auch gut. Von seinem<br />
Büro im Allianz-Hochhauses an der Spree<br />
hat er einen herrlichen Blick auf den Bootshafen<br />
am Treptower Park. Der Fluss, das<br />
Wasser, die Schiffe, es ist ein wenig wie zu<br />
Hause im Norden. „Das erinnert mich an<br />
Schleswig-Holstein und die Ostholsteinische<br />
Schweiz.“ Er schätzt es, wenn sich nicht<br />
zu viel ändert im Leben.<br />
hartmut palmer<br />
ist politischer Chefkorrespondent<br />
von <strong>Cicero</strong>. Er lebt und arbeitet<br />
in Bonn und Berlin<br />
Foto: Andreas Pein, Andrej Dallmann (Autor)<br />
44 <strong>Cicero</strong> 11.2012
„Wenn am Sonntag der<br />
‚Tatort‘ läuft, sind die<br />
Autobahnen schön frei“<br />
BKA-Chef Jörg Ziercke in seinem Berliner Amtszimmer<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 45
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Jimmy gibt nicht auf<br />
Trotz der Misere seiner FDP will Jimmy Schulz im Bundestag bleiben. Fast unmöglich ist das. Aber nicht ganz<br />
von Georg Löwisch<br />
I<br />
N Rottenburg an der LAABER<br />
redet sich Jimmy Schulz nah an<br />
die Katastrophe heran. Erst kurz<br />
nach seiner Ankunft beim Bezirkstag der<br />
niederbayerischen FDP hat er realisiert,<br />
dass hier von ihm kein schnelles Grußwort<br />
erwartet wird, sondern ein 30-Minuten-<br />
Auftritt. Er soll über sein Spezialgebiet referieren,<br />
das Internet, im Grunde erwarten<br />
sie von ihm, dass er die Zukunft an<br />
die Laaber bringt. Ein Witztermin ist das<br />
hier wirklich nicht, einige dieser Delegierten<br />
könnten in wenigen Wochen entscheiden<br />
über die Zukunft von Jimmy Schulz,<br />
44 Jahre, Bundestagsabgeordneter aus Hohenbrunn<br />
bei München.<br />
Er tippt die Themen an, tastet das Publikum<br />
mit den Augen ab, er wirft ihnen<br />
Begriffe hin. Netzpolitik? Digitale Aufklärung?<br />
Vorratsdatenspeicherung?<br />
An den Tischen im Saal murmeln die<br />
Niederbayern, sie bereiten gerade einen<br />
Dringlichkeitsantrag vor: die Rettung des<br />
Schnupftabaks vor den Eurokraten.<br />
Jimmy Schulz, ein Meter siebzig, macht<br />
sich größer hinterm Rednerpult. Schweiß<br />
steht ihm auf der Stirn, er fasst sich ans<br />
Kinn, zupft sich am Ohr. Verhaspelt sich<br />
in Hackerattacken, verirrt sich in Virenzoos,<br />
braut ein schreckliches Mischmasch<br />
aus Videotheken und IP‐TV.<br />
Der Bezirksvorsitzende saugt an seinem<br />
Weißbier, seine kleine Tochter schnattert<br />
mit ihrem Plüschstorch, im Hintergrund<br />
plärrt ein Senior über Rösler.<br />
Dann, Schulz ist endlich wieder auf<br />
seinem Platz im Publikum, geschieht das<br />
Wunder. Ein junger Mann geht zum Rednerpult,<br />
Christian Neulinger, Kreisvorstand<br />
Passauer Land, Gemeinde Pocking.<br />
Er hört sich ungefähr so an wie ein mit<br />
Tranquilizern vollgepumpter Gerhard Polt.<br />
Aber gerade dieses langsame Niederbayerisch<br />
verleiht ihm Gewicht, und der ganze<br />
Saal hört schlagartig hin, als er anhebt:<br />
„Spricht da Jimmy, kant i imma Ja sang.“<br />
Der Schnupftabak, das Weißbier, der<br />
Storch, alles verschwindet. „Wir müssen’s<br />
richtig machen.“ Zustimmung. Brummeln.<br />
„Mit die richtige Leit. Wia brauchan mea<br />
Leit wia den!“<br />
Später braust Jimmy Schulz Richtung<br />
München. Er wirkt aufgekratzt hinterm<br />
Steuer. Beseelt. Der gute Moment eben hat<br />
ihn tief eintauchen lassen in diese Welt, die<br />
ihn glücklich macht: sein Bundestagsmandat,<br />
der Kampf um die Freiheit im Netz,<br />
auch seine eigene Bedeutung. Die Politik<br />
kann ein Traum sein. „Ich lebe meinen<br />
Traum“, sagt er. „Und ich würde das auch<br />
machen, wenn ich kein Geld bekäme.“<br />
Aus dem Traum reißen ihn die Zahlen.<br />
5 Prozent Emnid, 4 Prozent Forsa, 4 Prozent<br />
Infratest. Selbst wenn die FDP 2013<br />
ins Parlament kommt, heißt das nicht, dass<br />
Jimmy Schulz drinbleibt.<br />
Es gibt zurzeit viele in seiner Situation.<br />
Die FDP hat 93 Abgeordnete im Bundestag,<br />
14,6 Prozent holte sie 2009. Newcomer<br />
wie Schulz spülte der Boom einfach<br />
nach Berlin. Jetzt, da die FDP abstürzt,<br />
kann man an einem wie ihm sehen, wie ein<br />
einzelner Politiker herumgeschleudert wird<br />
von den großen Bewegungen im Wettbewerb<br />
der Parteien. Aber Jimmy Schulz will<br />
nicht machtlos sein. Und das kann man<br />
ebenfalls von ihm lernen: Was einen Menschen<br />
dazu bringt, in dieser aussichtslosen<br />
Lage zu kämpfen.<br />
Die Fraktion der FDP lässt sich in drei<br />
Gruppen einteilen. Da ist das hintere Drittel.<br />
Diese Abgeordneten werden es auf den<br />
Landeslisten der FDP nicht auf einen jener<br />
vorderen Plätze schaffen, die ins Parlament<br />
führen würden. Sie sind raus. Denn<br />
die Listen sind im gemischten deutschen<br />
Wahlrecht für die Liberalen entscheidend.<br />
Direktmandate in den Wahlkreisen holen<br />
sie eh nie. Die Listen wählen die Delegierten<br />
in den Landesverbänden. Auf die vorderen<br />
Plätze kommen die Mächtigen, Minister,<br />
Staatssekretäre, Landesvorsitzende,<br />
Generalsekretäre, Bezirkschefs. Das ist das<br />
zweite Drittel der Fraktion: Wenn es die<br />
FDP schafft, schaffen sie es auch. Dann<br />
gibt es noch das Drittel dazwischen, es<br />
sind Abgeordnete, die sich eine winzige<br />
Chance ausrechnen. Ihre Partei müsste<br />
sensationelle 7,8 Prozent erreichen, und<br />
sie müssten sich irgendwie einen vorderen<br />
Platz auf der Landesliste erkämpfen, gleich<br />
hinter den Mächtigen, dann wären sie vielleicht<br />
doch drin.<br />
Um diese Chance kämpft Jimmy<br />
Schulz.<br />
Deshalb fährt er am Wochenende<br />
quer durch Bayern auf Parteiversammlungen,<br />
drückt die Halsschmerzen mit Pastillen<br />
weg, schüttelt Hände, legt im Foyer<br />
gelbe Feuerzeuge mit seinem Namen aus,<br />
erklärt den Parteifreunden die Piraten, das<br />
Urheberrecht oder die neue Beteiligungssoftware<br />
der Liberalen. Er telefoniert rum,<br />
verhandelt mit Kreisvorständen, isst mit ihnen<br />
Hirschgulasch, statt den Samstagabend<br />
bei seiner Familie zu sein. Er wirkt nie unglücklich<br />
dabei. Selbst in Berlin, wenn er<br />
seine Zeit in Termine zerhackt, hat dieser<br />
Mann einen gelösten, zufriedenen Zug um<br />
die Augen. Er lebt ja seinen Traum, er will<br />
auf keinen Fall aufwachen. Man muss sich<br />
seine Geschichte anschauen, um zu verstehen<br />
warum.<br />
Jimmy Schulz wächst in Ottobrunn im<br />
Münchner Speckgürtel auf. Der Vater arbeitet<br />
an der Bundeswehruniversität, die<br />
Mutter ist Ärztin. In der siebten Klasse<br />
wird am Gymnasium Informatik angeboten.<br />
Die Aufgaben faszinieren ihn, er kann<br />
aber nur auf Papier daran arbeiten, Anfang<br />
der Achtziger hat niemand einen Rechner<br />
Foto: Antje Berghäuser<br />
46 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Berlin, die Politik, seine<br />
Erfolge mit Internetthemen.<br />
Jimmy Schulz will nicht<br />
aufwachen aus diesem Traum<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 47
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
zu Hause. Deshalb nimmt er an den Nachmittagen<br />
die S-Bahn nach München, im<br />
Kaufhaus am Marienplatz fährt er in die<br />
Elektronikabteilung hoch und stellt sich in<br />
die Schlange. Dann hat er immer zehn Minuten<br />
am Vorführcomputer, einem Commodore<br />
64. Er wünscht sich ein eigenes<br />
Gerät, aber 1000 Mark, das wollen seine<br />
Eltern nicht ausgeben. Mit 16 bekommt er<br />
einen C16 von Aldi, auf dem er versucht,<br />
Matheaufgaben zu lösen. Für den Englischunterricht<br />
programmiert er einen Vokabeltrainer.<br />
Er sagt, dass er eigentlich faul<br />
gewesen ist, die Siebte musste er wiederholen,<br />
die Elfte auch. Aber Neugier treibt ihn.<br />
Technik kann ein grenzenloses Spiel sein, er<br />
verliert sich darin.<br />
Er hat die Entstehung der Netzwelt<br />
von Grund auf erfahren, er hat das Neue<br />
ausgekostet, durchdacht, sogar mitentwickelt.<br />
Eigentlich ideal für so eine FDP, die<br />
sich behaupten muss in dieser Zeit mit den<br />
neuen Themen, neuen Mechanismen und<br />
neuen Mitbewerbern. Er hat ein Gefühl<br />
für Momente, 2010 hat er die erste Bundestagsrede<br />
mit Notizen vom iPad gehalten.<br />
Als er noch Schüler ist, kauft sich<br />
seine Mutter einen PC für ihre Arztpraxis.<br />
Wenn der Rechner hochfährt, blinkt nur<br />
ein Pfeil, die passende Software wäre sehr<br />
teuer. Jimmy hilft. Datenverwaltung, Textverarbeitung,<br />
Druckertreiber, er macht das<br />
gern. Seine Mutter ist so froh, dass er sich<br />
einen Computer aussuchen darf. Er freut<br />
sich heute noch, wenn er darüber spricht,<br />
wie er ein günstiges Gerät kaufen wollte.<br />
Und die Mutter sagte: „Welchen hättest du<br />
wirklich gern?“ Es wird ein Amiga 2000.<br />
Mit Farbmonitor! Mit Maus!<br />
Im Frühjahr 1989, die Familie macht<br />
Urlaub in Kitzbühel, geht eine Lawine ab.<br />
Die Mutter stirbt.<br />
Jimmy Schulz sagt, dass ihn das verändert<br />
habe. Er musste sich um seine kleine<br />
Schwester kümmern. Er musste das Abitur<br />
schaffen. Im Sommer 1989 unternahm<br />
er noch etwas: Er trat den Republikanern<br />
bei, den Rechtspopulisten. Er sagt, das sei<br />
die einzige Partei gewesen, die die deutsche<br />
Einheit damals gewollt hätte, und seine<br />
Mutter war einst aus der DDR geflüchtet.<br />
Die Ausländerhetze habe er erst langsam registriert,<br />
ein Jahr später trat er aus.<br />
Er bestand das Abi. Danach ging er zu<br />
den Gebirgsjägern, fuhr Snowboardrennen<br />
mit, begann ein Politikstudium, jobbte bei<br />
einer Computerzeitschrift. Das Jonglieren<br />
mit vielen Dingen liegt ihm, aber wenn<br />
Jimmy Schulz erzählt, hat man den Eindruck,<br />
dass nach dem Tod der Mutter zu<br />
seiner wuseligen Begeisterungsfähigkeit der<br />
Wille gekommen ist, die Dinge durchzuziehen.<br />
Als wollte er sich die Kontrolle<br />
über das Leben wieder erkämpfen. Vielleicht<br />
ist das ja so: Dass Kämpfer in der<br />
Politik ein existenzielles Erlebnis durchgemacht<br />
haben.<br />
Noch während des Studiums hat er mit<br />
Freunden eine Firma gegründet. CyberSolutions,<br />
cys.de, sie haben alles angeboten,<br />
Seine<br />
Internetfirma<br />
machte ihn<br />
noch als<br />
Student zum<br />
Millionär<br />
was mit dem entstehenden Netzwerk zusammenhing,<br />
das heute Internet heißt. Einige<br />
Kunden hatten ihre Mailadresse bei<br />
CyberSolutions, um modern auszuschauen,<br />
und die Mail faxten Jimmy und seine Leute<br />
ihnen dann zu. Sie entwickelten ein Analysetool<br />
namens Big Brother, das den Datenfluss<br />
beobachtete, sodass man Leistungen<br />
abrechnen konnte. Da ging es richtig<br />
los: Große Kunden meldeten sich, er arbeitete<br />
100 Stunden die Woche, das Geschäft<br />
boomte. Investoren kauften sich<br />
die Firma und gliederten sie in ein größeres<br />
Unternehmen namens Telesens ein.<br />
Jimmy Schulz blieb Geschäftsführer und<br />
bekam Anteile. Die Firma wuchs, sie zogen<br />
in neue Räume. Börsengang 2000, Party in<br />
Köln, gleichzeitig Studienabschluss, Party<br />
in München, die Aktie zwischen 33 und<br />
38 Euro, Party auf der Cebit, Millionär, die<br />
Aktie über 60 Euro. Dann ging es abwärts,<br />
die Investoren sparten, sie drängten ihn aus<br />
der Firma. Seine Anteile durfte er erst verkaufen,<br />
als er mehrere Millionen Euro verloren<br />
hatte. Die Telesens ging pleite.<br />
Nach dem Ausstieg aus der Firma hat<br />
er erst einmal durchgeatmet. Er hatte noch<br />
genug Geld, auch wenn er seine Firma verloren<br />
hatte. Er kümmerte sich um seinen<br />
Sohn und nahm Beratungsaufträge an.<br />
Und er interessierte sich für die FDP, die<br />
damals in Bayern ein außerparlamentarischer<br />
Winzling war. Er setzte auf sie, besuchte<br />
Parteistammtische, es ging oft um<br />
Otto Schilys Überwachungsgesetze. 2002<br />
zog er in den Gemeinderat von Hohenbrunn<br />
ein, kam in den Bezirksvorstand.<br />
Dann wuchs und wuchs die FDP wie vorher<br />
die Internetblase.<br />
Und Jimmy Schulz wurde Abgeordneter<br />
des Deutschen Bundestags. Ein Traum,<br />
fast ein Rausch. In Berlin rast er durch<br />
die Verbindungsgänge zwischen den Parlamentsgebäuden<br />
wie eine kräftige kleine<br />
Lok. Unter der Wilhelmstraße durch, unter<br />
der Dorotheenstraße, iPhone am Gürtel,<br />
Cola light in der Hand, Laptoptasche<br />
über der Schulter. Zurück ins Büro,<br />
er lässt sich in den Drehstuhl fallen, sein<br />
Blick flirrt durch den Raum, zum iPhone,<br />
zum Computer, zum Laptop, zum Telefon.<br />
Die Mitarbeiterin schaut rein, ob sie was<br />
von Feinkost Lindner holen soll, du musst<br />
was essen, Jimmy. Nur 150 Gramm von<br />
den Flusskrebsen, wir machen Trennkost,<br />
nein 200 Gramm. Helmut Markwort ruft<br />
noch an, und nachher muss er zur Vodafone<br />
Night, rauskriegen, wie er verhindert,<br />
dass in die internationalen Internetverträge<br />
in Dubai Quatsch reinkommt. Ein bisschen<br />
wichtigtuerisch wirkt er schon, aber<br />
die Blogger nehmen ihn ernst und die arrivierten<br />
Politiker holen sich Rat.<br />
Aber was zählt das in Bayern?<br />
Am 17. November stellt dort die FDP<br />
ihre Liste zusammen. Wenn sie es überhaupt<br />
in den Bundestag schafft, bedeutet<br />
jeder Prozentpunkt ungefähr ein Berlinticket.<br />
Zum Beispiel wären 6 Prozent sechs<br />
sichere Plätze in Bayern. Die Landesvorsitzende<br />
Leutheusser-Schnarrenberger, der<br />
niederbayerische Staatssekretär, der Bezirkschef<br />
Oberbayern, die bayerisch-schwäbische<br />
Generalsekretärin, dann wären mal<br />
die Franken dran, die Jungliberalen hätten<br />
auch einen Kandidaten und den Meierhofer<br />
aus der Oberpfalz, den gibt’s ja a no.<br />
Und den Jimmy.<br />
Georg Löwisch<br />
ist Textchef von <strong>Cicero</strong><br />
Foto: Wolfgang Borrs<br />
48 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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Für die Herstellung der Tetra Pak Getränkekartons wird in Deutschland Öko strom<br />
genutzt und ihre platzsparende Form ermög licht effiziente Transporte. Werden<br />
Tetra Pak Getränke kartons nach dem Gebrauch in gelben Tonnen oder Säcken<br />
gesammelt, sind sie im nächsten Schritt vielseitig wiederverwertbar: als Rohstoff<br />
und Energieträger für weitere Industrien. Dies sind nur einige Vorteile, die für<br />
Tetra Pak Getränkekartons sprechen. Und für unsere Umwelt.<br />
tetrapak.de
| B e r l i n e r R e p u b l i k | Ü B E R L E B E N S K A M P F D E R F D P<br />
„Ein Bisschen Fröhlichkeit“<br />
FDP-Fraktionschef RAINER Brüderle über das Absacken seiner Partei, Solarstrom<br />
und Ampel, Rösler und Steinbrück und über seine Auszeiten auf einer inneren Insel<br />
H<br />
err Brüderle: Vor oder nach<br />
Niedersachsen?<br />
Was meinen Sie?<br />
Wann lösen Sie Ihren Parteivorsitzenden<br />
Philipp Rösler ab?<br />
Wir haben einen Vorsitzenden, der meine<br />
volle Unterstützung hat.<br />
Sie tun, als hätte die FDP mit ihren 4,<br />
5 Umfragenprozent alle Zeit der Welt.<br />
Die FDP muss die Zeit bis zur Bundestagswahl<br />
gut nutzen, indem sie solide arbeitet.<br />
Und ich führe jetzt keine Personaldiskussion,<br />
da können Sie sich fünf Mal<br />
anschleichen.<br />
Wir schleichen doch gar nicht. Wir fragen<br />
ganz offen, wie lange die FDP ihren Parteivorsitzenden<br />
behalten will.<br />
Noch mal: Wir haben einen gewählten<br />
Parteivorsitzenden, der meine volle Unterstützung<br />
hat. Punkt.<br />
Unser Eindruck ist: Sie spielen im Moment<br />
politisch auf Ballhalten. Wir können kein<br />
Thema sehen, wo die FDP ein Tor schießt.<br />
Nur ein Beispiel: Wir haben dafür gesorgt,<br />
dass sich so manch eine Verklärung<br />
der grünen Ökostrompolitik aufgelöst<br />
hat – zum Beispiel die Vorstellung, die<br />
Energiewende, die wir alle wollen, gäbe<br />
es zum Nulltarif oder ohne neue Leitungen.<br />
Wir haben erreicht, dass die Überförderung<br />
der Solarenergie im sonnenarmen<br />
Deutschland endlich reduziert wird.<br />
Diesen Weg werden wir weitergehen,<br />
denn die derzeitige Fehlsteuerung im Bereich<br />
der erneuerbaren Energien muss<br />
schnellstmöglich beendet werden.<br />
„Die kleine Oma<br />
subventioniert<br />
den Schickimicki,<br />
der mit der<br />
Solaranlage seinen<br />
Swimmingpool<br />
heizt.“ – Rainer<br />
Brüderle beim<br />
<strong>Cicero</strong>-Interview<br />
Sie wollen vor der Bundestagswahl das<br />
Erneuerbare-Energien-Gesetz knacken?<br />
Das Gesetz muss gründlich überarbeitet<br />
werden. Möglichst schnell. Wir brauchen<br />
ein Mengenmodell im Rahmen eines europäischen<br />
Binnenmarkts: Energieerzeuger<br />
oder Stromhändler werden verpflichtet,<br />
einen bestimmten Anteil des Stromes<br />
aus erneuerbaren Energien zu erzeugen<br />
oder zu verkaufen. Egal ob Wind, Wasser<br />
oder Sonne. So wird die Energiewende<br />
technologieoffen. Bisher fördert das Gesetz<br />
einseitig die Fotovoltaik. Das sind<br />
Traumverträge mit einem Garantiepreis<br />
über 20 Jahre.<br />
Und?<br />
Drastisch ausgedrückt, subventioniert die<br />
kleine Oma in der Sozialwohnung den<br />
Schickimicki, der mit der Solaranlage<br />
seinen Swimmingpool heizt und seinen<br />
teuren Solarstrom zum hohen Fixpreis<br />
Foto: Lene Münch<br />
50 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Anzeige<br />
über Jahrzehnte garantiert verkauft. Mit<br />
Marktwirtschaft hat dieses Gesetz der<br />
Grünen wirklich nichts zu tun.<br />
Sie spielen die Oma gegen die Energiewende<br />
aus, die Ihnen zu schnell geht.<br />
Nein! Wir haben die Energiewende<br />
gemeinsam beschlossen und wollen<br />
sie. Das stellt überhaupt niemand infrage.<br />
Aber man muss die Probleme dieser<br />
komplexen Materie so beschreiben,<br />
dass die Menschen es auch verstehen.<br />
Die Energiewende soll es schnell geben,<br />
aber man muss sie technologieoffen machen,<br />
damit sie funktioniert. Und außerdem<br />
fehlen in Deutschland bisher etwa<br />
4000 Kilometer Hochspannungsleitungen<br />
und regionale Verteilnetze. Hier erwarte<br />
ich, dass gerade die Grünen ganz<br />
vorne dabei sind, den Menschen vor Ort<br />
zu erklären, warum wir diese Stromleitungen<br />
benötigen. Immer nur nach erneuerbaren<br />
Energien zu rufen, ist zu<br />
wenig. Man muss auch redlich die Konsequenzen<br />
benennen. Das vermisse ich<br />
bei den Grünen.<br />
Sie hören sich an wie ein Oppositionspolitiker.<br />
Sie regieren doch, oder nicht?<br />
Wir müssen die Probleme lösen, die die<br />
Umweltminister Trittin und Gabriel uns<br />
hinterlassen haben: hohe Dauersubventionen<br />
und fehlende Leitungen. Die Energiewende<br />
kann nur wirklich gelingen,<br />
wenn auch die Länder mitziehen. Und da<br />
liegt einiges im Argen. Wir müssen weg<br />
von der Bevorzugung einzelner Technologien.<br />
Auch bei der Windenergie. Ja, sie<br />
ist effizient, aber nur, wenn wir es auch<br />
schaffen, sie von Nord- und Ostsee nach<br />
Süddeutschland zu bringen, wo die vielen<br />
Kernkraftwerke bisher waren und die<br />
Industrie auf eine sichere Energieversorgung<br />
angewiesen ist.<br />
Die würden Sie am liebsten wieder anschalten,<br />
nicht wahr?<br />
Nein, das ist abgehakt. Ich kenne niemanden<br />
in Deutschland, der wieder auf<br />
Kernkraft setzen möchte. Aber wir brauchen<br />
nachhaltige, stetige Energieversorgung<br />
in leistungsfähigen Netzen, sonst<br />
machen wir sie instabil. Und diese Probleme<br />
gehen wir an.<br />
Auch in anderen Politikfeldern sind Sie<br />
beim Neinsagen gut: beim Betreuungsgeld<br />
oder bei der Vorratsdatenspeicherung.<br />
Was bauen Sie denn auf?<br />
Dass wir einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung<br />
nicht zustimmen, ist sehr<br />
positiv. Wir schützen die Bürgerrechte.<br />
Wir sind nicht der Wohlfahrtsausschuss<br />
der Jakobiner, die bestimmen, was wir<br />
dürfen und wie wir zu leben haben. Wir<br />
machen liberale Politik, die auf Freiheit<br />
zur Verantwortung setzt.<br />
In Ihrer politischen Karriere ist etwas auffällig:<br />
Wenn die FDP absackt, steigt Rainer<br />
Brüderle auf.<br />
Diese Korrelation sehe ich nicht.<br />
Als es der FDP schlecht ging 2011, sind<br />
Sie vom Job des Wirtschaftsministers auf<br />
den des Fraktionsvorsitzenden gewechselt,<br />
mit dem Sie viel besser klarkamen.<br />
Ich war gern Wirtschaftsminister. Der<br />
Fraktionsvorsitz war nie mein Ziel. Aber<br />
ich bin Teil des liberalen Teams und gestalte<br />
gern. Deswegen arbeite ich in der<br />
neuen Struktur gerne mit. Der Job des<br />
Fraktionsvorsitzenden macht mir viel<br />
Freude, auch wenn es keine einfache<br />
Zeit ist, weil wir gerade bei der Eurorettung<br />
viele wichtige Entscheidungen treffen<br />
müssen.<br />
1983 in Rheinland-Pfalz lag die FDP mit<br />
3,5 Prozent am Boden – und Sie konnten<br />
Landesvorsitzender werden. Warten Sie,<br />
bis die Partei reif ist, und rücken dann ins<br />
Zentrum?<br />
So primitiv ist Politik nicht. Dass man alles<br />
kräftig an die Wand fährt, damit ein<br />
Platz frei wird. Ich möchte, dass die FDP<br />
bei den nächsten Wahlen erfolgreich ist.<br />
Deswegen führe ich auch keine Personaldebatten.<br />
Damals in Mainz war die FDP<br />
aus dem Landtag geflogen. Es war für<br />
uns alle schmerzlich. Ich wurde gebeten,<br />
den Vorsitz zu übernehmen, und habe<br />
mich in die Pflicht nehmen lassen.<br />
Rainer Brüderle ist kein Mann, der in<br />
Ämter drängt?<br />
Nein.<br />
Haben Sie Angst zu scheitern, wenn Ihr<br />
Wunsch abgelehnt würde?<br />
Weder hebe ich den Finger noch habe ich<br />
einen Amtswunsch. Und zur Angst nur<br />
so viel: Nach 40 Jahren Politik in verschiedenen<br />
Etagen haben Sie Respekt vor<br />
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11.2012 <strong>Cicero</strong> 51<br />
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manchen Aufgaben und Ämtern, aber<br />
keine Angst. Wir brauchen jetzt keine<br />
neue Personaldebatte. Genscher sagt immer,<br />
entscheidend sind Inhalt, Person<br />
und Stil. Daran sollten wir uns halten.<br />
In Rheinland-Pfalz haben Sie die Zusammenarbeit<br />
mit Sozialdemokraten schätzen<br />
gelernt. Sie haben jahrelang in einer<br />
sozialliberalen Koalition regiert. Würden<br />
Sie das im Bund gern wiederholen?<br />
Die SPD war in Mainz vernünftig, und<br />
wir haben sie zur Mitte zentriert.<br />
„Eine konsequent reformorientierte SPD<br />
könnte bei der nächsten Bundestagswahl<br />
der bessere Koalitionspartner sein, als es<br />
eine sich immer stärker sozialdemokratisierende<br />
Union wäre.“ Kennen Sie den<br />
Satz?<br />
Der ist von mir. Aber das habe ich 2005<br />
gesagt. Jetzt haben wir eine andere Situation:<br />
eine christlich-liberale Koalition,<br />
die per Saldo gut regiert. Wir wollen<br />
diese Koalition fortsetzen. Alle Spekulationen<br />
über die Ampel sind abwegig.<br />
Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki kann<br />
sich ein Ampelbündnis unter Peer Steinbrück<br />
sehr gut vorstellen.<br />
Deswegen bin ich in der FDP, weil bei<br />
uns jeder seine Meinung sagen kann.<br />
Meine Meinung ist, dass wir unsere Kraft<br />
nicht für irgendwelche Farbspielchen verwenden<br />
sollten. Wir haben eine erfolgreiche<br />
Regierung und wollen die fortsetzen.<br />
Punkt.<br />
Was halten Sie denn von Peer Steinbrück?<br />
Er ist zwar ein fähiger Mann und respektabler<br />
Kandidat. Ich kenne ihn<br />
schon sehr lange. Aber die Frage ist, ob<br />
er die SPD repräsentiert und das Wahlprogramm,<br />
das sie jetzt erst schreiben,<br />
nachdem sie einen Kandidaten haben.<br />
Da habe ich meine Zweifel. Das Schauspiel<br />
der SPD war ja schon bezeichnend.<br />
Obwohl sie sich offensichtlich schon<br />
lange einig waren, wer es macht, haben<br />
sie trotzdem drei Kandidaten durch<br />
die Landschaft geschoben wie die drei<br />
Fragezeichen.<br />
Steinbrück ist wie Sie ein Weintrinker.<br />
Es ist mir als Rheinland-Pfälzer sympathisch,<br />
wenn er auch von Wein etwas<br />
versteht.<br />
Verzichten Sie im Wahlkampf eigentlich<br />
auf Wein?<br />
Ich trinke ohnehin nicht viel. Besonders<br />
in der Endphase des Wahlkampfes<br />
ist es mitunter so, dass man mehrere<br />
Male am Tag reden muss. Da muss jeder<br />
für sich entscheiden, wie er damit klarkommt<br />
– und ob er Wein oder Wasser<br />
trinkt. Wichtiger für einen guten Wahlkampf<br />
ist, dass man fit bleibt, regelmäßig<br />
Sport macht.<br />
„Wenn ich mich<br />
kasteie und dann<br />
ein Schnitzel<br />
sehe, werde ich<br />
schwach“<br />
Besteht nicht die Gefahr, dass man sich<br />
den Stress wegtrinkt?<br />
Ich bin eher ein Stressesser. Früher hatte<br />
ich weit über 100 Kilo, jetzt halte ich<br />
mich knapp unter 80. Mir ist aber völlig<br />
klar: Im Wahlkampf wird das Jackett<br />
enger. Wenn ich mich den Tag über kasteie<br />
und dann abends ein Schnitzel sehe,<br />
werde ich schwach.<br />
Sie haben 2006 gesagt, ein halber Liter<br />
Wein am Tag mache einen Mann gesund.<br />
Da gab es gleich Diskussionen, Sie würden<br />
zum Saufen aufrufen.<br />
Als ich Weinbauminister in Rheinland-<br />
Pfalz war, haben wir an der Uni Freiburg<br />
eine Studie in Auftrag gegeben. Es<br />
gab ja das sogenannte French Paradox:<br />
Dass die Franzosen länger leben, obwohl<br />
sie Rotwein trinken. Kardiologen in den<br />
USA haben festgestellt, dass Rotweintrinker<br />
weniger Plaquebildung in den Herzkranzgefäßen<br />
haben und deshalb weniger<br />
infarktgefährdet sind. Weil in Rheinland-<br />
Pfalz viel mehr Weißwein angebaut wird,<br />
wollte ich wissen, ob der auch solche<br />
Wirkung haben kann.<br />
Und?<br />
Die Tests in Freiburg haben ergeben, dass<br />
Weißwein ähnliche Effekte hat. Soweit<br />
ich mich erinnere, liegt die Obergrenze,<br />
wo der Weingenuss wieder ins Ungesunde<br />
umschlagen kann, bei Frauen bei<br />
0,4 Liter am Tag und bei Männern bei<br />
einem halben Liter. Es gab dann Proteste<br />
von Medizinern, ich würde dem Drogenkonsum<br />
das Wort reden. Das wichtigste<br />
Ergebnis der Studie war, dass man alles<br />
nur in Maßen genießen sollte.<br />
Hat das Ihrem Image gutgetan?<br />
Es war Teil meines Ministeramts, auch<br />
solche Fragen sachlich zu klären. Übrigens:<br />
Die Herzkranzgefäße schützt auch<br />
Olivenöl. Ein gutes Olivenöl, ein Stück<br />
Weißbrot und ein Glas Wein, das hab ich<br />
für mein Leben gern. Und noch ein bisschen<br />
Schafskäse.<br />
Sind denn die schweren Zeiten der FDP<br />
leichter zu ertragen, wenn man mal ein<br />
Glas trinkt und nachdenkt?<br />
Wichtig ist, dass man die Fähigkeit hat,<br />
sich mal rauslösen zu können aus den<br />
schwierigen Zusammenhängen. Ich muss<br />
ab und zu auf eine innere Insel gehen.<br />
Die Menschen mit den verklemmten,<br />
verkniffenen Gesichtern können auch<br />
keine vernünftige Politik machen. Politik<br />
braucht manchmal auch ein bisschen<br />
Fröhlichkeit, Wärme und Humor.<br />
Politische Verhandlungen als gemütliches<br />
Beisammensein, das meinen Sie doch<br />
nicht im Ernst.<br />
In Verhandlungen muss man klare Kante<br />
zeigen. Koalitionen sind zwar keine Liebesheiraten,<br />
aber man muss sich mit dem<br />
Partner verstehen. Und das geht manchmal<br />
leichter, wenn man die eine oder andere<br />
politische Frage in einem ansprechenden<br />
Rahmen diskutiert.<br />
Was ist Ihre Prognose für die<br />
Niedersachsen-Wahl?<br />
Ich glaube, dass die christlich-liberale Regierung<br />
ihre Arbeit fortsetzen kann und<br />
die FDP unter Stefan Birkner mit einem<br />
guten Ergebnis dazu beiträgt. Nach oben<br />
gibt es da keine Begrenzung.<br />
Und nach unten?<br />
Jetzt versuchen Sie es schon wieder: Dass<br />
ich eine Untergrenze festlege und damit<br />
sage, dass Philipp Rösler geht, wenn wir<br />
die nicht schaffen. Den Anfängerfehler<br />
mach ich aber einfach nicht.<br />
Das Gespräch führten Georg Löwisch und<br />
Christoph Schwennicke<br />
52 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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Haifisch gegen Blauwal<br />
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1. PRägung 68.<br />
2. JugenDtraum Die Welt verändern.<br />
3. Früher Slogan „Keine Macht für niemand“ von „Ton Steine Scherben“, deren<br />
Managerin sie später wurde.<br />
4. Drogen Sah beim Kiffen mit Renate Künast nach deren Erinnerung „weiße<br />
Drachen“.<br />
5. Job Bundesvorsitzende der Grünen.<br />
6. prämisse Grüne müssen die Welt retten.<br />
7. Aggregatzustand Auf Kreuzzug.<br />
8. Methode Lautstarkes Nerven.<br />
9. Profilierung Das Böse beklagen.<br />
10. KLEIDERSCHRANK Teppichblazer, Pünktchenkleid, Boa-Constrictor-Schal.<br />
Dirndl. Lederjacke. „Es wird keine graue Claudia geben“ (2006).<br />
11. Diktaturerfahrung 2011 drei Tage in Nordkorea, Reich des Bösen.<br />
12. Kinder Verzichtete nach eigener Aussage der Karriere wegen auf Kinder.<br />
13. strategie Herzt die grüne Parteifamilie.<br />
14. Feminismus Lila, lila, lila. Der Bundesfrauenrat der Grünen gehört zu<br />
ihren Alliierten. Noch wichtiger: Kristina Schröder als neue Böse.<br />
15. Joschka Fischer Sie setzte seine Politik durch und galt trotzdem als<br />
grünes Gewissen.<br />
16. machterhalt Bald zehn Jahre Parteivorsitzende. Für die<br />
rotationsfreudigen Grünen sind das Elisabeth-II-Kategorien.<br />
17. Schlappe 2006 mit nur 66,5 Prozent als Vorsitzende bestätigt – die<br />
Delegiertenstrafe für zu blasse Farben eines neuen Parteilogos.<br />
18. WAS Ihre gegner fürchten Tränen im Parteirat.<br />
19. Schwarz-grün Sondierte 2005 Jamaika-Bündnis mit Merkel, Stoiber und<br />
Westerwelle. Ergebnislos. Benötigt Union für Abgrenzung (das Böse).<br />
20. Perspektive für 2013 Die eigene Basis im Wahlkampf motivieren und das<br />
ganze Potenzial an Stammkunden mobilisieren.<br />
21. Expertenbewertung Hubert Kleinert, grüner Politikprofessor: „Wer<br />
ein intellektuelles Politikverständnis hat, vermutet hinter der ausgestellten<br />
Emotionalität Berechnung. Aber sie ist eine Marke.“<br />
22. Talkshows 14 Auftritte seit 2009. (In der Wertung: „Günther Jauch“,<br />
„Maybrit Illner“, „Anne Will“, „Hart aber fair“, „Markus Lanz“, „Menschen bei<br />
Maischberger“, „Beckmann“).<br />
23. Im Bundestag 471 Aktivitäten wie Reden, kleine Anfragen, Anträge,<br />
Kurzinterventionen. Parlamentsreden: 14, davon elf zu Protokoll gegeben.<br />
24. FUssball Kumpelt mit Theo Zwanziger.<br />
25. Fanclub Grüne Jugend, die sie lautstark unterstützt.<br />
26. Urwahl-Zitat „Ich hab echt die Schnauze voll!“<br />
27. Urwahl-Temperatur Erhitzte sich bei Urwahlforum in Leipzig derart über das<br />
Böse, dass sie sich Sauerstoff zufächeln musste.<br />
28. Roth über Göring-Eckardt „Ich bin nicht evangelisch und nicht aus Thüringen.“<br />
29. Höhepunkt der schriftlichen bewerbung „Let’s make the world a better place!“<br />
30. MeeresbiologiE Werner Winkler, Außenseiterkandidat bei der Urwahl: „Typ<br />
Haifisch. Angriffslustig, zielorientiert, und wenn es heißt, wir gehen essen, denkt sie:<br />
zerfleischen.“<br />
Foto: JURI REETZ/BREUEL-BILD<br />
54 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Die Grünen veranstalten gerade eine Urwahl für die Spitzenkandidatur. Chancen auf die zwei<br />
Posten haben: Trittin, Künast, Roth, Göring-Eckardt. Ist eh dasselbe in Grün? Von wegen.<br />
Claudia Roth und Katrin Göring-Eckardt trennen Welten. Die 30 wichtigsten Unterschiede<br />
Foto: Werner Schuering / imagetrust<br />
„Ein wenig<br />
Gutmenschentum.“<br />
Katrin<br />
Göring-<br />
Eckardt, 46<br />
1. PRÄGUNG 89.<br />
2. Jugendtraum Einmal nach New York reisen.<br />
3. Früher Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“, ein Leitspruch der kirchlichen DDR-<br />
Opposition, der sie sich anschloss.<br />
4. Drogen „Meine Drogensünden beschränken sich auf die Dinge, die man in der<br />
DDR bekam. Da sah man keine weißen Drachen.“<br />
5. Job Bundestagsvizepräsidentin, Präses der Evangelischen Kirche Deutschland.<br />
6. prämisse Jesus hat die Welt gerettet.<br />
7. Aggregatzustand Betet das Kreuz an.<br />
8. Methode Leise Nervenstärke.<br />
9. Profilierung Das Gute sehen.<br />
10. Kleiderschrank Anzug. Maximal Jeans. „Das ‚Mama, du bist peinlich‘<br />
bewahrt zumindest vor komplett falschen Klamotten“ (2012).<br />
11. Diktaturerfahrung Lebte 24 Jahre in der DDR.<br />
12. Kinder Zwei Söhne plus die drei ersten Kinder ihres Mannes.<br />
13. strategie Positioniert die Grünen als Familienpartei.<br />
14. Feminismus Kämpfte in der DDR für den Doppelnamen, der heute<br />
KGE abgekürzt wird. Sonst, wenn’s hochkommt, Postfeministin.<br />
15. Joschka Fischer Sie setzte seine Politik durch und galt deshalb als sein<br />
williges Werkzeug.<br />
16. machterhalt Konnte nach dem Ende von Rot-Grün den Fraktionsvorsitz im<br />
Bundestag nicht in die Opposition retten, sondern wurde abgewählt.<br />
17. schlappe 2006 auch noch aus dem Parteirat gewählt – die Delegiertenstrafe für<br />
das Eintreten für die Hartz-Reformen.<br />
18. Was ihre gegnerinnen fürchten Sie operiert lautlos.<br />
19. schwarz-grün War 2004 vor der Thüringer Landtagswahl offen für Schwarz-Grün,<br />
scheiterte dann mit 4,5-Prozent-Ergebnis. Wird seither schwarz-grün einsortiert.<br />
20. Perspektive für 2013 Die Grünen um neue Wählermilieus erweitern.<br />
21. expertenbewertung Hubert Kleinert, grüner Politikprofessor: „Auch wenn ihre<br />
Aura ein wenig Gutmenschentum enthält: sie kommt über den Kopf. Sonst: solide, seriös,<br />
bislang keine besondere thematische Stärke.“<br />
22. talskshows Acht Auftritte seit 2009. (In der Wertung: „Günther Jauch“, „Maybrit<br />
Illner“, „Anne Will“, „Hart aber fair“, „Markus Lanz“, „Menschen bei Maischberger“ ,<br />
„Beckmann“).<br />
23. Im Bundestag 333 Aktivitäten wie Reden, kleine Anfragen, Anträge, Kurzinterventionen.<br />
Reden: Acht, alle gehalten (laut Parlamentsstatistik seit Beginn der Wahlperiode).<br />
24. FuSSball Trug bei der WM 2006 ein Fanhemd, das nun im Haus der Geschichte liegt.<br />
25. fanclub Realofürsten wie Boris Palmer, Tarek al Wazir, Dieter Janecek, die das aber nur<br />
sehr leise ausleben dürfen (grüne Mann-Frau-Dialektik).<br />
26. Urwahl-Zitat „Wir sind die Dafür-Partei.“<br />
27. Urwahl-Temperatur Gesichtskühl. Braucht rhetorische Vorglühphase, wenn sie bei einer<br />
Kandidatenvorstellung dran ist.<br />
28. Göring-Eckardt über Roth „Wir gehören zwei verschiedenen politischen Generationen an.“<br />
29. Höhepunkt der schriftlichen Bewerbung „Manche sagen, ich wäre eine Vertreterin der<br />
leisen Töne. (…) Wenn es drauf ankommt, bin ich gerne laut!“<br />
30. meeresbiologiE Werner Winkler, Außenseiterkandidat bei der Urwahl: „Typ Blauwal.<br />
Sucht sich ein ruhiges Gewässer und wartet, bis das Essen zu ihr kommt.“<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 55
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Das Versprechen<br />
Vor einem Jahr flog die rechtsextreme Terrorzelle NSU auf. Die Politiker im Berliner Untersuchungsausschuss<br />
wollen einen neuen Stil prägen: Aufklären statt sich aufplustern. Doch<br />
angesichts der Unmengen an Polizei- und Geheimdienstakten läuft ihnen die Zeit davon<br />
von Wolf Schmidt<br />
56 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Das Papier zum Skandal. Zwei Millionen Seiten an<br />
Behördendokumenten gingen bisher an den NSU-Untersuchungsausschuss<br />
Foto: Marcus Scheidel/Action Press<br />
Y<br />
avuz Narin hastet zum Eingang<br />
des Glas-Beton-Kolosses am<br />
Spreeufer hinter dem Reichstag.<br />
Er will pünktlich im Paul-<br />
Löbe-Haus sein, heute, immer.<br />
Ab 10 Uhr wird ein weiterer ehemaliger<br />
Verfassungsschützer vernommen, der erklären<br />
soll, warum die Neonazis des NSU<br />
mehr als zehn Jahre ungestört raubend und<br />
mordend durchs Land ziehen konnten.<br />
Narin hat sich den orangefarbenen<br />
Bundestagsgastausweis an den Gürtel seiner<br />
schwarzen Anzughose geclipt. Der Aufzug<br />
bringt ihn in den fünften Stock, Besuchertribüne.<br />
Er setzt sich in die erste<br />
Reihe, wo man den besten Blick auf das<br />
hat, was sich ein Stockwerk tiefer in dem<br />
250 Quadratmeter großen Saal 4.900 abspielt.<br />
An einem Tisch sitzen 22 Abgeordnete,<br />
gewappnet mit Akten, mit denen sie<br />
den Ex-Geheimdienstmann konfrontieren.<br />
Der gerät rasch in die Defensive, spricht<br />
von „Fehleinschätzungen“, bedauert.<br />
Siebeneinhalb Stunden und zwei Zeugen<br />
später, wenn die meisten Journalisten<br />
längst gegangen sind, wird Yavuz Narin<br />
noch auf der Besuchertribüne sitzen und<br />
sich mit seiner geschwungenen Schrift Notizen<br />
in ein Ringbuch machen. Gut zwei<br />
Dutzend hat er vollgeschrieben, seit der<br />
Ausschuss im Januar eingesetzt wurde. Narin<br />
ist immer da, als wollte er diesen Staat<br />
beaufsichtigen wie ein gefährliches Tier.<br />
Der 34 Jahre alte Rechtsanwalt vertritt<br />
die Familie eines Opfers der Zwickauer<br />
Zelle. Der Grieche Theodoros Boulgarides<br />
hatte einen Schlüsseldienst im Münchner<br />
Westend, im Juli 2005 wurde er in seinem<br />
Laden erschossen. Narin war schon Anwalt<br />
der Familie, als die Polizei noch ahnungslos<br />
war. Bis vor einem Jahr, am 4. November<br />
2011, in Eisenach nach einem Banküberfall<br />
die Leichen von Uwe Mundlos und<br />
Uwe Böhnhardt gefunden wurden; wenige<br />
Stunden später explodierte in Zwickau das<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 57
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Haus, in dem die beiden mit ihrer Komplizin<br />
Beate Zschäpe gewohnt hatten. Und<br />
das Vertrauen in die Behörden implodierte.<br />
Es gab Debatten und Gedenkstunden, der<br />
Staat bemühte sich um die Opfer. Von einer<br />
„Schande für unser Land“ sprach Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel bei der Gedenkfeier<br />
für die Ermordeten im Februar.<br />
Saal 4.900 im Paul-Löbe-Haus ist der<br />
Ort, an dem die Schande ein Stück weit<br />
wiedergutgemacht werden könnte, indem<br />
die Abgeordneten Zeugen vernehmen,<br />
Unmengen von Akten auswerten und<br />
„Dieser Untersuchungsausschuss arbeitet<br />
besser und effektiver als alle davor“<br />
Der Grüne Hans-Christian Ströbele<br />
Parteiübergreifendes<br />
Wir‐Gefühl. Die Mitglieder des<br />
Untersuchungsausschusses von links:<br />
Wolfgang Wieland (Grüne), Hartfrid<br />
Wolff (FDP), Sebastian Edathy (SPD),<br />
Clemens Binninger (CDU), Petra Pau<br />
(Linkspartei) und Eva Högl (SPD)<br />
Der Opfer-Anwalt Yavuz<br />
Narin beobachtet jede<br />
Sitzung des Ausschusses<br />
aufklären – ohne in die üblichen Rituale<br />
der Profilierung zu fallen.<br />
Typischerweise sind Untersuchungsausschüsse<br />
ein Mittel der Opposition, um<br />
die Regierung anzugreifen. „Ein Untersuchungsausschuss<br />
ist erstens ein Kampfinstrument,<br />
zweitens ein Kampfinstrument<br />
und drittens ein Kampfinstrument“, hat<br />
Joschka Fischer einmal gesagt. Mal sollte<br />
die CDU als quasi mafiöse Vereinigung<br />
entlarvt werden, mal die Grünen als Multikulti-Spinner,<br />
die osteuropäische Horden<br />
ins Land lassen, mal die SPD als willfährige<br />
Gehilfin finsterer US-Geheimdienstmachenschaften.<br />
Es geht um die Show. Und<br />
der Showdown ist das Kreuzverhör eines<br />
Ministers oder gar Kanzlers.<br />
Dieser Ausschuss kann sich das nicht<br />
leisten. Eine Inszenierung, in der sich die<br />
Abgeordneten aufplustern und stolzieren<br />
wie die Gockelhähne, würde alles noch<br />
schlimmer machen. Aber kann es anders<br />
laufen? Ist ein Ausschuss möglich, der mit<br />
der eingeübten politischen Kultur bricht<br />
und dessen Mitglieder sich die parteitaktischen<br />
Reflexe verbieten? Jedenfalls ging<br />
es so los. Im Januar wurde auf Antrag aller<br />
Fraktionen, von Union bis Linkspartei, ein<br />
Untersuchungsausschuss eingesetzt. Man<br />
werde „alles tun“ für eine „gründliche und<br />
zügige Aufklärung“, hieß es in dem Beschluss.<br />
Das ist das Versprechen.<br />
Yavuz Narin, oben auf der Besuchertribüne,<br />
ist eine Art Bindeglied zwischen<br />
den Opfern und der Politik. An ihm kann<br />
man sehen, wie schwer es ist, das Vertrauen<br />
in den Staat wiederherzustellen. Für Narin<br />
ist dieser Fall wichtig, auch persönlich.<br />
Acht der zehn Mordopfer der NSU‐Terroristen<br />
hatten wie er türkische Wurzeln.<br />
„Der Staat hat sie alleine gelassen“, sagt er.<br />
Schlimmer noch: Jahrelang hatten die Ermittler<br />
die Opfer dem falschen Verdacht<br />
ausgesetzt, in kriminelle Machenschaften<br />
verstrickt zu sein und an ihrem Tod eine<br />
Mitschuld zu tragen. „So etwas darf sich<br />
nie mehr wiederholen.“<br />
Der junge Anwalt hat keine der bald<br />
50 Zeugenvernehmungen verpasst. Dieses<br />
Mal ist er am Abend vor der Ausschusssitzung<br />
nach Berlin gefahren, sechs Stunden<br />
war er auf der Autobahn. Meist ruft<br />
er nach den Vernehmungen Theodoros<br />
Boulgarides’ Witwe an und berichtet ihr<br />
von den Fragen, die aufgeworfen wurden.<br />
Und von den Abgründen, die sich aufgetan<br />
haben.<br />
Die Sitzungen dauern. Stundenlang lümmeln<br />
die Kameraleute auf den Lederpolstern<br />
vor dem Sitzungssaal herum. Auf dem<br />
Boden liegen zerlesene Bild-Zeitungen und<br />
leere Cola-Flaschen. Drinnen dürfen die<br />
Fernsehleute nicht filmen, höchstens zwei,<br />
drei Minuten vor den Zeugenvernehmungen.<br />
Deshalb müssen sie warten, bis die<br />
Türen aufgehen und sich die Abgeordneten<br />
nach draußen bewegen, zu den Mikrofonen<br />
neben dem Treppenaufgang. Innerhalb<br />
einer halben Minute steht ein Pulk<br />
Fotos: Hans Christian Plambeck/Laif, Julian Röder/Ostkreuz<br />
58 <strong>Cicero</strong> 11.2012
| B e r l i n e r R e p u b l i k | A u f k l ä r u n g d e s N S U - S k a n d a l s<br />
Journalisten um die Politiker, Scheinwerfer<br />
werden angeworfen. Aufnahme läuft.<br />
In früheren Untersuchungsausschüssen<br />
hätte das, was dann kommt, so ausgesehen:<br />
Die Vertreter der Opposition hätten behauptet,<br />
die Befragung habe eindeutig gezeigt,<br />
dass Minister XYZ versagt habe und<br />
zurücktreten müsse. Und die Vertreter der<br />
Regierungskoalition hätten inbrünstig behauptet,<br />
die Befragung habe eindeutig alle<br />
Vorwürfe widerlegt. Rücktritt? Iwo!<br />
Im NSU‐Ausschuss läuft es anders.<br />
Wenn der Vorsitzende Sebastian Edathy<br />
und die fünf Obleute der Fraktionen sich<br />
vor die Kameras stellen, sind sie in ihren<br />
Einschätzungen erstaunlich nahe beieinander.<br />
Vielleicht formuliert Petra Pau von der<br />
Linkspartei ihre Kritik an den Behörden etwas<br />
schärfer als Clemens Binninger von der<br />
CDU. Aber in gefühlt 90 Prozent der Fälle<br />
geht sie in dieselbe Richtung.<br />
„Dieser Untersuchungsausschuss arbeitet<br />
besser und effektiver als alle davor“, sagt<br />
Hans-Christian Ströbele von den Grünen.<br />
Er muss es wissen: Es ist sein vierter Untersuchungsausschuss,<br />
der erste befasste<br />
sich mit dem in die DDR übergelaufenen<br />
Verfassungsschützer Hansjoachim Tiedge.<br />
1985 war das.Trotz seiner Prostatakrebserkrankung,<br />
die der inzwischen 73 Jahre<br />
alte Ströbele vor kurzem öffentlich machte,<br />
studiert er stundenlang Akten, führt Pressegespräche,<br />
sitzt manchmal bis kurz vor<br />
Mitternacht in den Zeugenvernehmungen.<br />
Ströbele ist nicht bekannt als einer, der den<br />
Parteienkonsens sucht. Aber in diesem Fall<br />
empfindet er die fraktionsübergreifende<br />
Zusammenarbeit als Segen. Er verliert kein<br />
böses Wort über die Kollegen. Auch nicht<br />
über die von Union und FDP.<br />
Fotos: Ralph Köhler/Action Press, Imago (3)<br />
In Thüringen stümperten Fahnder dem<br />
rechtsextremen Trio hinterher – während der<br />
dortige Geheimdienst Hinweise für sich behielt<br />
Am 4. November 2011 explodierte dieses Haus in Zwickau.<br />
Und das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden implodierte<br />
Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (rechts) starben vor einem Jahr nach<br />
einem Banküberfall in Eisenach. Beate Zschäpe sitzt in Untersuchungshaft<br />
Wenn dieser Ausschuss ein „Kampfinstrument“<br />
ist, dann nicht eines der Opposition<br />
gegen die Regierung, sondern eines<br />
des Parlaments gegen die Vertuschung.<br />
Schon jetzt ist durch die Arbeit des<br />
Gremiums mehr herausgekommen, als bei<br />
den meisten der über 50 Untersuchungsausschüsse<br />
in der Geschichte der Bundesrepublik.<br />
Das Bild, das sich immer deutlicher<br />
abzeichnet, ist das einer katastrophalen Zusammenarbeit<br />
der Sicherheitsbehörden von<br />
Bund und Ländern.<br />
Polizei und Geheimdienste haben sich<br />
nicht geholfen, sondern behindert. Die<br />
bayerische Sonderkommission „Bosporus“<br />
versteifte sich jahrelang auf die These, dass<br />
die deutschlandweite Mordserie an Migranten<br />
einen Hintergrund in der organisierten<br />
Ausländerkriminalität haben müsse.<br />
Spuren nach rechts wurden so spät wie inkonsequent<br />
verfolgt. Stattdessen glaubten<br />
die Ermittler, mit einer undercover betriebenen<br />
Dönerbude den Killern und der vermeintlich<br />
hinter ihnen stehenden Mafia auf<br />
die Schliche zu kommen. Sogar die Dienste<br />
eines Geisterbeschwörers, der behauptete,<br />
zu einem der Opfer im Jenseits Kontakt<br />
zu haben, nahm die Polizei in Anspruch.<br />
Derweil stümperten in Thüringen Zielfahnder<br />
des LKA den 1998 abgetauchten<br />
Jenaer Neonazis Mundlos, Böhnhardt und<br />
Zschäpe hinterher – während der dortige<br />
Verfassungsschutz Hinweise für sich behielt,<br />
dass sich das Trio in Sachsen verstecken<br />
und mit Waffen eindecken könnte.<br />
13 Jahre blieb die Terrorzelle unentdeckt.<br />
Ohne den Untersuchungsausschuss<br />
wäre auch die Schredderei von Verfassungsschutzakten<br />
nach dem Auffliegen<br />
des NSU nicht herausgekommen. Die<br />
bis heute mysteriöse Aktion führte im Juli<br />
dazu, dass sich der Chef des Bundesamts<br />
60 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, vorzeitig<br />
in den Ruhestand zurückzog.<br />
Im September wurde im Ausschuss<br />
bekannt, dass das Berliner Landeskriminalamt<br />
einen der mutmaßlichen Unterstützer<br />
der Zwickauer Zelle jahrelang als<br />
Informanten in der Neonazi‐Szene geführt<br />
hatte: den einst mit Beate Zschäpe liierten<br />
Thomas S. Er war es auch, der dem Trio das<br />
TNT für die Rohrbomben beschaffte, die<br />
nach dessen Abtauchen in einer Garage gefunden<br />
wurden.<br />
Wenn der Anwalt Yavuz Narin der Familie<br />
des NSU-Opfers Theodoros Boulgarides<br />
von den immer neuen Enthüllungen<br />
berichtet, bekommt er inzwischen die Antwort:<br />
Da fällt man doch vom Glauben ab!<br />
„Diese Mordserie“, sagt er, „stellt die Strukturen<br />
des Staates grundlegend infrage.“<br />
„Was haben Sie gedacht, als der NSU im<br />
November 2011 aufgeflogen ist?“ Eva Högl<br />
von der SPD, eine Juristin mit zehn Jahren<br />
Erfahrung im Bundesarbeitsministerium,<br />
stellt diese Frage fast jedem Zeugen,<br />
der vor den Ausschuss zitiert wird. Högl<br />
lächelt dabei betont freundlich. Es ist ein<br />
doppelbödiges Lächeln, das sagt: Ich gebe<br />
Ihnen die Chance, ihre Betroffenheit zum<br />
Ausdruck zu bringen, Selbstkritik zu üben,<br />
Demut zu zeigen. Diese Chance sollten Sie<br />
gefälligst nutzen.<br />
Clemens Binninger von der Union beginnt<br />
Zeugenbefragungen meist mit einem<br />
nüchternen Satz: „Wir haben jetzt etwa<br />
23 Minuten zusammen.“ Das ist die Zeit,<br />
die seiner Fraktion pro Fragerunde zusteht.<br />
Binninger war früher Polizist in Baden-<br />
Württemberg. Den Commissario nennen<br />
ihn Ausschussmitarbeiter. Als am 28. Juni<br />
der BKA-Chef Jörg Ziercke im Saal 4.900<br />
saß, geriet er mit Binninger aneinander.<br />
Der ließ Ziercke auflaufen: „Für Hochmut<br />
ist in diesem Ausschuss wenig Platz“, sagte<br />
er dem BKA-Boss. Die Botschaft: Hier haben<br />
nicht Sie das Sagen, sondern wir. Einen<br />
ehemaligen Landesgeheimdienstchef fragte<br />
Binninger: „Wozu brauchen wir einen Verfassungsschutz,<br />
wenn er nicht mitdenkt?“<br />
„Wir können jede Gangart“, sagt der<br />
Grünen-Obmann Wolfgang Wieland.<br />
„Von ganz lieb bis ganz böse.“<br />
Das Selbstbewusstsein gegenüber den<br />
Behörden, das parteiübergreifende Wir-<br />
Gefühl: So außergewöhnlich die Atmosphäre<br />
in diesem Ausschuss ist, ganz frei<br />
von Parteiinteressen ist die Arbeit nicht.<br />
Wenn im Ausschuss Spitzenpolitiker geladen<br />
sind, steigt die Versuchung der Parteitaktik<br />
– und je näher die Bundestagswahl<br />
2013 rückt, desto größer wird sie werden.<br />
Ende September war der hessische<br />
Ministerpräsident Volker Bouffier von der<br />
CDU als Zeuge geladen. Es ging um die<br />
Frage, ob Bouffier, als er noch Innenminister<br />
in Hessen war, die Ermittlungen der<br />
Polizei blockierte. Beim neunten Mord des<br />
NSU in einem Kasseler Internetcafé im April<br />
2006 war Sekunden vor oder gar zur Tatzeit<br />
ein Verfassungsschützer des Landes anwesend,<br />
angeblich zufällig und rein privat,<br />
zum Cyberflirt. Bouffier erlaubte es den Ermittlern<br />
nicht, die V-Leute des damals von<br />
„Was haben Sie gedacht,<br />
als der NSU im November<br />
aufgeflogen ist?“ Die<br />
SPD-Abgeordnete Högl<br />
fragt das jeden Zeugen<br />
der Polizei verdächtigten Geheimdienstmannes<br />
zu vernehmen – eine Entscheidung,<br />
die er noch heute für richtig hält,<br />
wie er im September im Ausschuss sagte.<br />
Da schaltete Eva Högl von der SPD auf Attacke:<br />
Bouffier sei ein „eiskalter Bürokrat“.<br />
Während Commissario Binninger auf Beschwichtigungskurs<br />
ging und den CDU-<br />
Kollegen in Schutz nahm. Skandal? Iwo!<br />
Auf der Tribüne im Paul-Löbe-Haus<br />
sitzt Yavuz Narin. Er registriert jene Tiefpunkte,<br />
jene Momente, in denen ein Stück<br />
des Vertrauens wieder verspielt wird, das<br />
der Ausschuss gewonnen hat. Was soll er<br />
den Opferangehörigen berichten? Dass<br />
sich in Berlin die Politiker übereinander<br />
aufgeregt haben?<br />
Wenn demnächst Ex-Bundesinnenminister<br />
Otto Schily befragt wird, dürfte die<br />
Union dem Sozialdemokraten vorwerfen,<br />
dass er 2004 voreilig verneint hatte, der<br />
Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße<br />
könne terroristische Hintergründe<br />
haben. Die SPD wird rufen: Dafür hat er<br />
sich doch längst entschuldigt!<br />
Doch dann gibt es wieder diese anderen<br />
Momente, in denen die Akteure selbst<br />
stutzen, als wären sie verblüfft über den<br />
Geist dieses Ausschusses. Etwa als der ehemalige<br />
bayerische Innenminister Günther<br />
Beckstein als Zeuge auftrat. Da lobte Petra<br />
Pau von der Linkspartei den CSU-<br />
Mann für seine Entschlossenheit gegen<br />
Neonazis. Beckstein runzelte die Stirn.<br />
Das Lob von links sei ihm „fast peinlich,<br />
Entschuldigung!“<br />
Für ausgiebige Parteitaktik fehlt den<br />
Politikern auch schlicht die Zeit. Ein Untersuchungsausschuss<br />
muss seine Arbeit bis<br />
Ende der jeweiligen Legislaturperiode abschließen.<br />
Deshalb müsste der Ausschuss<br />
im Frühjahr die <strong>letzte</strong>n Zeugen hören und<br />
bis zum Sommer den Abschlussbericht<br />
schrei ben. Darin soll nicht nur stehen, was<br />
in den Behörden falsch lief, sondern auch,<br />
was passieren muss, damit sich ein solches<br />
Versagen nicht wiederholt. „Das ist eigentlich<br />
nicht zu bewältigen“, sagt Ströbele von<br />
den Grünen.<br />
Die Behörden decken die Abgeordneten<br />
in Berlin mit Akten ein. Das ist klüger,<br />
als den Vorwurf der Vertuschung zu riskieren.<br />
Neulich hat Thüringen an einem Freitag<br />
778 weitere Aktenordner an die Geheimschutzstelle<br />
des Bundestags geschickt.<br />
Insgesamt sind dem Ausschuss seit Januar<br />
knapp zwei Millionen Seiten an Dokumenten<br />
zugegangen. Auf einen Stapel aufgehäuft<br />
wäre dieser Papierberg vier Mal so<br />
hoch wie das Reichstagsgebäude.<br />
Weil immer mehr Abgeordnete das Gefühl<br />
bekommen, dass ihnen die Zeit nicht<br />
reicht, gibt es nun Überlegungen, den Ausschuss<br />
in der nächsten Legislaturperiode<br />
neu zu starten. Um das zu Ende zu bringen,<br />
was in den restlichen Monaten bis zur<br />
Wahl nicht mehr geschafft wurde. Auch das<br />
hat es in der Geschichte der Bundesrepublik<br />
so noch nicht gegeben.<br />
„Auch der nächste Bundestag wird sich<br />
intensiv mit den Konsequenzen für Geheimdienst<br />
und Polizei beschäftigen müssen“,<br />
sagt Ströbele. Er rechnet fest damit.<br />
Das sei mit der Grund, warum er noch<br />
mal für den Bundestagswahlkampf antreten<br />
will, wenn seine Krankheit geheilt ist.<br />
Er will die Aufklärung mit zu Ende bringen.<br />
Und das Versprechen einlösen.<br />
Wolf Schmidt<br />
ist Redakteur für Innere Sicherheit<br />
der Berliner „tageszeitung“. Er<br />
beobachtet die Arbeit des Untersuchungsausschusses<br />
seit Januar<br />
Foto: Urban Zintel<br />
62 <strong>Cicero</strong> 11.2012
www.gq.de<br />
DAS MÄNNER<br />
STIL MAGAZIN.
| B e r l i n e r R e p u b l i k | R ü c k s c h a u<br />
Der Alte, das<br />
Altern und ich<br />
Der eigene Hosenbund ist von der 32 auf die 34 gewandert. Und Helmut Kohl ist ein<br />
Greis. Man kann den Alten wie einen Spiegel nehmen, in dem man sein Leben anschaut<br />
von Kurt Kister<br />
W<br />
oran merkt man, dass man<br />
wirklich älter wird?<br />
Nein, es geht jetzt nicht<br />
um solch verdrießliche<br />
Dinge wie Haarausfall oder<br />
die trüb stimmende Erkenntnis, dass zwar<br />
die Beinlänge der Jeans bei 32 bleibt, der<br />
Bund aber nach 34 gewandert ist und keinerlei<br />
Anstalten macht, das Weiterwandern<br />
einzustellen. Über so etwas kann man sich<br />
hinweghelfen, sei es indem man sich wie<br />
Bruce Willis den Schädel rasiert oder sei es,<br />
dass man die Hemden nur noch über der<br />
Hose trägt, was ja sogar die coolen Italiener<br />
ohne Bauch tun (die mit Bauch allerdings<br />
auch).<br />
Nicht hinweghelfen kann man sich<br />
über die Erkenntnis, dass Menschen, die<br />
für das eigene Leben eine gewisse Rolle<br />
spielten, ebenfalls alt, sehr alt geworden<br />
sind. Und darin spiegelt man auch sich<br />
selbst – „den hätte ich jetzt fast nicht mehr<br />
erkannt, der ist aber alt geworden“. Man<br />
rechnet nach und stellt fest, dass man jetzt<br />
selbst so alt ist wie er, der heute Alte, es<br />
damals war, als man ihn auf dem Höhepunkt<br />
seiner Karriere kannte und beobachtete.<br />
Das ist eigentlich nicht so lange her.<br />
Und doch sind es schon wieder 25 Jahre.<br />
Zum Beispiel Helmut Kohl. Als der<br />
vor ein paar Wochen gefeiert wurde, waren<br />
Fotos und Videoclips des alten Kanzlers<br />
im Rollstuhl omnipräsent. (Er wurde<br />
gefeiert, weil er vor 30 Jahren zum Kanzler<br />
gewählt worden war. Vor 30 Jahren? Kann<br />
das wirklich sein?)<br />
Kohl, der einst so agile Riese, ist im Alter<br />
geschrumpft. Er ist greisenhaft geworden,<br />
was nicht an seinem Lebensalter liegt,<br />
weil es andere 82-Jährige gibt, die sich zu<br />
Recht nicht als Greis bezeichnen lassen mögen.<br />
Ihn aber hat das Schicksal niedergeworfen.<br />
Ja, das klingt pathetisch. Vielleicht<br />
ist er trotzdem zufrieden, gar glücklich –<br />
auch weil ihm bewusst ist, dass er sich „eingeschrieben<br />
hat ins Buch der Geschichte“,<br />
wie er das früher formuliert hätte.<br />
Sollte er noch lesen, wird er vielleicht<br />
gelächelt haben bei der Lektüre mancher<br />
Jubiläumstexte von Noch-nicht-ganz-so-<br />
Alten, die schon früher über ihn geschrieben<br />
haben und es bis heute nicht verwinden<br />
können, dass jener Kohl – der von der<br />
geistig-moralischen Wende, der Provinzler,<br />
die Birne – doch irgendwie gesiegt hat, ein<br />
Großer wurde. Und sei es nur retrospektiv.<br />
(„Aber nicht die Parteispendenaffäre vergessen!“,<br />
tönt es aus der Kulisse …)<br />
Ach ja, Erinnerung. „Die Hamburger<br />
Blätter“ spielten damals eine große Rolle.<br />
Politisch. Sie schrieben gerne gegen Kohl<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
64 <strong>Cicero</strong> 11.2012
F r a u F r i e d F r a g t s i c h …<br />
Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Picture alliance<br />
an und werden dauernd von seinen Biografen<br />
zitiert. Heute hat nicht mal mehr<br />
der Spiegel eine eindeutige Agenda, was<br />
ja vielleicht gar nicht so schlecht ist. Von<br />
„den“ Hamburger Blättern als Gesamtwesen,<br />
gar als politischer Mediendrache, redet<br />
man eigentlich gar nicht mehr – höchstens<br />
sehr weit innerhalb der Branche, und<br />
dann geht es meistens um so Sachen wie<br />
die Nannen-Preis-Jury, die Frauenquote<br />
oder Doppelspitzen.<br />
Kohl, der immer so viel geredet hat,<br />
spricht nicht mehr. Er kann es nicht mehr,<br />
jedenfalls nicht so wie manche anderen Alten<br />
aus jener Zeit, in der man selbst jung<br />
war. Egon Bahr und Erhard Eppler, Heiner<br />
Geißler und Hans-Dietrich Genscher<br />
und natürlich Helmut Schmidt, der ewig<br />
währende Oberleutnant Dr. Staat, von dem<br />
man glauben könnte, er habe noch persönlich<br />
Fürst Bismarck gesehen. Diese Alten<br />
reden und schreiben. Sie haben, mit Ausnahme<br />
Schmidts, ihre damaligen Rollen<br />
längst hundertmal neu interpretiert und<br />
gelten heute nicht nur als weise, sondern<br />
sogar als Weise. Dass mancher von ihnen<br />
früher gehetzt hat oder ein DDR-Appeaser<br />
war, ist eigentlich nur noch von zeitgeschichtlichem<br />
Interesse.<br />
Jedenfalls kann Helmut Kohl sogar ein<br />
Spiegel sein. Ein Spiegel, in den man blickt<br />
und feststellt, wie lange vieles schon her ist,<br />
von dem man heute eigentlich gerne erzählt.<br />
Man erzählt heute gerne davon, weil<br />
man älter wird.<br />
Menschen, die älter werden, neigen<br />
stärker dazu zurückzuschauen. Das ist einerseits<br />
banal, weil sie schlichtweg mehr<br />
erlebt haben als Jüngere. Andererseits fragt<br />
man sich, was wohl noch kommen kann,<br />
da man doch jene Jahre hinter sich hat, in<br />
denen man die kleinen Ekstasen der Unvernunft<br />
auslebte und nicht bei jedem<br />
überambitionierten Ziel nach den realistischen<br />
Rahmenbedingungen fragte. Gewiss,<br />
auch im Alter sind Ekstasen der Unvernunft<br />
möglich. Es besteht nur eine erhebliche<br />
Gefahr, sich dabei lächerlich zu machen.<br />
Im schlimmsten Fall vor sich selbst.<br />
Kurt Kister<br />
55 Jahre alt, ist Chefredakteur<br />
der Süddeutschen Zeitung<br />
... ob Homöopathie den<br />
gesellschaftlichen<br />
Frieden gefährdet<br />
S<br />
eit kurzem habe ich eine Freundin weniger.<br />
Sie hat mich bei Facebook entfreundet,<br />
weil ich geschrieben habe, dass ich nicht an<br />
Homöopathie glaube. Homöopathie habe nichts mit<br />
Glauben zu tun, fauchte sie – und kündigte mir die<br />
Freundschaft. Ich kenne sie seit 30 Jahren.<br />
Wenn man früher eine Party aufmischen<br />
wollte, musste man sagen, dass man Terroristen<br />
versteckt oder seine Kinder schlägt.<br />
Heute genügt es, die Wirksamkeit der<br />
weißen Zuckerkügelchen anzuzweifeln,<br />
schon wird man von Anhängern der<br />
Hahnemann’schen Heilslehre verfolgt, als<br />
habe man eine Mohammed-Karikatur aufs<br />
Papstgewand gepinkelt.<br />
Dass bislang in keiner wissenschaftlichen Studie die Wirksamkeit der Methode<br />
nachgewiesen werden konnte, ficht die Gläubigen nicht an. Sie warten mit<br />
unglaublichen Wunderheilungen auf, die ihnen oder ihren Bekannten oder ihren<br />
Haustieren widerfahren sind. Bei Tieren wirkt kein Placebo! Wer heilt, hat recht!<br />
Wer’s glaubt, wird selig.<br />
Inquisition war früher, heute gibt es Homöopathie. Wer zweifelt, ist der Häresie<br />
überführt und wird mit wütender Verachtung nicht unter 200 Jahren bestraft.<br />
Die Gläubigen halten sich selbst für Wissende. Und wollen – wie alle religiösen<br />
Fanatiker – die Ungläubigen bekehren. Dass auch Angehörige der gebildeten<br />
Stände die Homöopathie (und andere zweifelhafte Heilslehren vom Handauflegen<br />
bis zur Irisdiagnostik) propagieren, legt den Verdacht nahe, dass wir das Zeitalter<br />
der Aufklärung verlassen haben. Das magische Denken, das diesen Methoden zugrunde<br />
liegt, gilt aus medizinischer Sicht als psychopathologisch. Oder wie sonst<br />
soll man eine Lehre nennen, deren Anhänger sich mit Filzstift Zeichen auf den<br />
Körper malen, um ihre energetischen Schwingungen zu harmonisieren? Es handelt<br />
sich um die sogenannte „Neue Homöopathie“, ihr Guru Erich Körbler war gelernter<br />
Antennentechniker.<br />
Wenn das so weitergeht, haben wir hierzulande bald die gesellschaftliche Spaltung,<br />
um nicht von einem Religionskrieg zu sprechen. So beobachtete ich kürzlich<br />
auf einem Spielplatz, wie sich ein Kind das Knie aufschlug. Seine Mutter näherte<br />
sich mit Wundspray und Pflaster, wurde aber von einer engagierten Homöopathin<br />
weggerissen, die in die Runde blickte und rief: „Ein Filzstift, schnell!“ Die Dame<br />
kann von Glück sagen, dass es nicht mein Kind war.<br />
Es ist klar, dass mir nach diesem Text eine Fatwa der Homöopathie-Dschihadisten<br />
droht. Kurz dachte ich daran, Asyl in Nordkorea zu beantragen, wo es keine<br />
Kügelchen-Krieger gibt. Aber nun gehe ich erst mal hier in den Untergrund. Vielleicht<br />
habe ich ja noch ein, zwei noch nicht erleuchtete Freunde, die bereit sind,<br />
mich zu verstecken.<br />
Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />
Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 65
Leserreisen<br />
Wunder der Wüste<br />
Leuchtende Dünen, strahlende Sterne, glänzende Aussichten: Wer mit dem Zug durch<br />
Namibia reist, erlebt Natur und Kultur dieses faszinierenden Landes sicher und komfortabel<br />
Reise durch Namibia: Kupferrot schimmert<br />
die Wüste in der Abendsonne, hautnah lassen<br />
sich wilde Tiere erleben, komfortabel<br />
reist es sich im Sonderzug Desert Express<br />
Wo liegt die älteste Wüste der Welt? In Namibia. Wo finden<br />
sich die höchsten Dünen? In Namibia. Wo gibt es die<br />
beste Schwarzwälder Kirschtorte südlich von Lörrach? In<br />
Namibia, im Café Anton, in Swakopmund.<br />
Namibia ist ein Land der Extreme. Hier trifft die Wüste<br />
direkt auf den Ozean, deutsche Kleinstadtwohligkeit auf<br />
afrikanische Kultur, politische Jugendlichkeit auf geologisches<br />
Greisenalter. Gerade einmal<br />
22 Jahre jung ist der Staat,<br />
dessen Grenzen zurückgehen auf<br />
die Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“.<br />
1883 erwarb der Kaufmann<br />
Adolf Lüderitz in großem Stil Land<br />
von den einheimischen Nama, erbat<br />
Schutz bei Reichskanzler Otto<br />
14 Tage mit dem Desert Express<br />
quer durch Namibia<br />
von Bismarck und so wurde das<br />
Land an der Atlantikküste nördlich<br />
der britischen Kap-Kolonie<br />
deutsche Kolonie. Mit deutschem Ordnungssinn machte<br />
man sich an die Erschließung des Landes, es gab einen<br />
kleinen Diamantenrausch, als 1908 die Edelsteine, auch<br />
„Klippekies“ genannt, einfach im Sand gefunden wurden.<br />
Mit dem Ersten Weltkrieg endete dieser Abschnitt der Geschichte.<br />
„Südwest“ wurde von britischen Truppen eingenommen<br />
und 1920 dem Völkerbund unterstellt. Fortan<br />
von Südafrika verwaltet, schaffte es Namibia erst 1990,<br />
nach über hundertjähriger Fremdbestimmung, den Schritt<br />
in die Unabhängigkeit.<br />
Übrig geblieben sind neben einer verhältnismäßig guten<br />
Infrastruktur auch rund 12000 deutschstämmige Namibier,<br />
die ihre Kultur pflegen und für Überraschungen wie<br />
eben Schwarzwälder Kirschtorte am Wüstenrand sorgen.<br />
So weit zur politischen Jugendlichkeit. Erdgeschichtlich<br />
dagegen ist Namibia eines der „ältesten“ Länder der Erde.<br />
Durch seine besondere Lage finden sich in Namibia besonders<br />
alte Teile der Erdkruste. Andererseits ist das Klima
Leserreisen<br />
Informationen<br />
und Buchung<br />
Juwel der Wüste –<br />
Mit dem Sonderzug durch Namibia<br />
Entdecken Sie die grandiosen Landschaften Namibias auf<br />
einer nur von Lernidee Erlebnisreisen angebotenen Route!<br />
Mit dem exklusiv gecharterten Desert Express reisen Sie<br />
komfortabel vom Fish River Canyon zu den Dünen der<br />
Namib, ins charmante Swakopmund an der Atlantikküste<br />
und zu den Tierherden des Etosha-Nationalparks.<br />
Termine für den 14-tägigen Exklusiv-Charter mit dem<br />
Desert Express: im März, August, Oktober und November 2013<br />
Reisepreis: ab 4.420 € pro Person<br />
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hier über Jahrmillionen ähnlich trocken geblieben. Das hat<br />
zur Bildung der ältesten Wüste unseres Planeten geführt,<br />
der Namib, und dazu, dass sich geologische Formationen<br />
in Namibia weitestgehend ohne „störende“<br />
Fauna oder menschliche Siedlungsspuren<br />
besichtigen lassen.<br />
Eine Zugreise an Bord des „Desert Express“<br />
führt durch die grandiosen Landschaften<br />
Namibias und macht es möglich, dieses<br />
große, vielfältige Land auf eine einzigartige<br />
Art und Weise kennenzulernen. Vom<br />
Fish River Canyon im Süden – dem zweitgrößten<br />
Canyon der Erde – geht die Reise<br />
entlang am Rand der Kalahari hinein in die Namib. Überwältigend<br />
sind hier nicht nur die bis zu 380 Meter hohen,<br />
welthöchsten Sanddünen, die im Morgenlicht in den<br />
großartigsten Rot- und Orangetönen leuchten. Überwältigend<br />
ist auch die absolute Stille, die unser europäisches<br />
Kegelbahnen, Konzertsaal – das<br />
Erbe der deutschen Kolonialzeit<br />
Ohr nicht kennt. Und bei Nacht der Sternenhimmel, der<br />
hier über der Wüste ungestört von Lichtquellen oder auch<br />
nur Luftfeuchtigkeit so klar und prachtvoll strahlt, dass es<br />
kaum möglich ist, die einzelnen Sternenbilder<br />
auseinander zu halten.<br />
Von der Wüste führt die Reise weiter nach<br />
Walvis Bay (dt. Walfischbucht), wo die kalte<br />
Dünung des Atlantischen Ozeans direkt auf<br />
den Wüstensand trifft und Schwärme von<br />
Flamingos und Pelikanen entlang ziehen.<br />
Vorbei am „Matterhorn Namibias“, der<br />
1600 Meter hohen Spitzkoppe, geht die<br />
Fahrt weiter in den Etosha-Nationalpark,<br />
wo sich Elefanten, Löwen und Antilopen beobachten lassen.<br />
Und wenn am Ende das Komforthotel auf Schienen<br />
wieder in der Hauptstadt Windhoek einrollt, dann heißt es<br />
Abschied nehmen von Namibia und zwei unvergesslichen<br />
Wochen.
| W e l t b ü h n e<br />
Des Sultans Pascha<br />
Türkeis Generalstabschef Necdet Özel könnte die Nato in einen Krieg mit Syrien treiben<br />
von Markus Bernath<br />
S<br />
chultern klopfen, Wangen tätscheln,<br />
im Kampfanzug ein Gläschen<br />
Tee auf dem Dorfplatz trinken.<br />
Necdet Özel, der Mann, der die Nato<br />
und den Westen in einen Krieg mit Syrien<br />
reißen könnte, muss erst noch die Heimatfront<br />
auf Linie bringen. In Akçakale, einem<br />
Grenzstädtchen im Südosten der Türkei,<br />
reißt er den Arm hoch und ballt die Faust.<br />
„Wir haben ihnen eine Antwort verpasst“,<br />
sagt der türkische Armeechef und meint<br />
die Syrer auf der anderen Seite der Grenze.<br />
„Wenn es sein muss, schlagen wir noch härter,<br />
noch schlimmer zu.“ Nur Stunden später<br />
zwingen türkische Kampfjets eine syrische<br />
Passagiermaschine auf dem Flug von<br />
Moskau nach Damaskus zur Landung.<br />
Die Türken aber wollen keinen Krieg<br />
mit den Nachbarn, keine syrischen Flüchtlinge<br />
in Lagern und erst recht keine Artilleriegeschosse,<br />
die im Garten einschlagen.<br />
Sie wollen ihre Soldaten wie früher beim<br />
Paradieren bewundern und keine Generäle<br />
im Gefängnis sehen. Alles scheint ihnen<br />
wie auf den Kopf gestellt, und Necdet Özel<br />
müsste es richten. Doch die Zweifel an diesem<br />
„sehr besonderen Armeechef“, wie ein<br />
türkischer Kolumnist süffisant schrieb, nagen<br />
an der Bevölkerung.<br />
Den Einmarschbefehl nach Syrien hat<br />
die türkische Armee bereits in der Tasche.<br />
Özel, der Vier-Sterne-General, so heißt<br />
es in Ankara, habe die Regierung überzeugt,<br />
dass er mehr Spielraum brauche,<br />
um auf die Grenzverletzungen zu reagieren.<br />
Schwer war das nicht. Außenminister Ahmet<br />
Davutoğlu drängt ohnehin schon auf<br />
eine „Pufferzone“, ein militärisch besetztes<br />
Gebiet möglichst im Norden Syriens, damit<br />
die Armee auch gleich die Kurden dort<br />
unter Kontrolle bekommt. Regierungschef<br />
Tayyip Erdoğan wiederum will keine<br />
Schwäche zeigen. Özel ist sein Armeechef.<br />
Der erste, den sich eine gewählte türkische<br />
Regierung selbst ausgesucht hat.<br />
„Pascha“ nennt er ihn höflich, und<br />
Necdet „Pascha“, Herr über knapp eine<br />
halbe Million Soldaten, lässt kaum eine<br />
Gelegenheit aus, um sich bei Erdoğan zu<br />
revanchieren. Ein freundliches Wort hier,<br />
ein gut gewählter Auftritt dort. Über Politik<br />
redet er nicht, anders als seine Vorgänger<br />
und Kollegen, die nun im Gefängnis<br />
sitzen und denen wegen angeblicher<br />
Putschpläne gegen die konservativ-religiöse<br />
Regierung der Prozess gemacht wird.<br />
„Unser Land gehört uns allen. Unser Land<br />
kommt zuerst“, sagt Özel. Das findet auch<br />
Erdoğan gut.<br />
Seit dem Sommer 2011 steht der 62-Jährige<br />
an der Spitze der türkischen Armee. Die<br />
schlechten Nachrichten kommen seither<br />
in immer kürzeren Abständen: Schlampereien<br />
in Kommandostellen, Nachlässigkeit,<br />
Inkompetenz, die türkische Rekruten und<br />
Zivilisten das Leben kosten. 25 Soldaten<br />
starben zuletzt bei einer Explosion in einem<br />
Munitionslager. Und jetzt droht der<br />
syrische Sumpf.<br />
Als Özel bei einer Trauerfeier für tote<br />
Soldaten die Tränen kommen, fällt die<br />
Presse über ihn her. Der islamische Prediger<br />
Fethullah Gülen, die graue Eminenz der<br />
türkischen Politik, kommt ihm zu Hilfe.<br />
„Auch Mohammed hat geweint“, sagt Gülen.<br />
Es ist ein Zeichen, wie sehr der Armeechef<br />
vom Lager der Konservativen kooptiert<br />
wird.<br />
Dabei ist Necdet Özel, Sohn eines Offiziers<br />
an der Militärakademie in Ankara, in<br />
seiner Laufbahn allen kompromittierenden<br />
Wegmarken glücklich ausgewichen: Er war<br />
zu jung für den Putsch von 1971, zu weit<br />
weg beim nächsten Coup 1980. Özel ist<br />
damals Stabsoffizier im türkisch besetzten<br />
Norden von Zypern. Sein Name fehlt auch<br />
1997, als die Armeeführung den islamistischen<br />
Regierungschef Necmettin Erbakan<br />
aus dem Amt drängt. Dafür spricht er als<br />
Truppenkommandeur in den Kurdengebieten<br />
vom notwendigen „Gleichgewicht zwischen<br />
Sicherheitsbedürfnissen und Menschenrechten“<br />
– ein neuer Ton.<br />
Özel fällt den frommen Männern an<br />
der Macht auf. Er akzeptiert die Regierung<br />
der Zivilisten. Er ist Demokrat aus<br />
Einsicht. Bei der Sitzung des obersten Militärrats<br />
2010, einem Gremium, das jedes<br />
Jahr die Beförderungen der höchsten<br />
Generäle festlegt, sichern Erdoğan und<br />
Staatschef Abdullah Gül Özels Platz auf<br />
den <strong>letzte</strong>n Sprossen der Karriereleiter.<br />
Er wird Kommandeur der Gendarmerie.<br />
Seine Einheiten vereiteln einen Anschlag<br />
auf Erdoğans Konvoi während des Wahlkampfs<br />
im vergangenen Jahr. Einen Gendarmeriekommandanten,<br />
der seine Männer<br />
bei gewalttätigen Protesten während<br />
eines Wahlkampfauftritts des Regierungschefs<br />
zusehen lässt, setzt er ab. So etwas vergisst<br />
Erdoğan nicht. Als im Sommer 2011<br />
Armeechef IŞik Koşaner und die Kommandeure<br />
von Marine, Heer und Luftwaffe aus<br />
Protest gegen die Serie von Verhaftungen<br />
zurücktreten, schlägt Özels Stunde. Er ist<br />
der Einzige, der in der Stabsführung übrig<br />
bleibt. Erdoğan und Gül machen ihn<br />
zum Chef.<br />
Özel, ein Spezialist im Kampf gegen<br />
die PKK, ist einer der wenigen türkischen<br />
Generäle, die nie in Nato-Strukturen gearbeitet<br />
haben oder in den USA ausgebildet<br />
wurden. Zehn Monate lässt Özel sich nach<br />
seiner Ernennung zum Armeechef Zeit,<br />
bis er eine Einladung nach Washington<br />
annimmt. Der General schmeichle der Regierung<br />
und sei überfordert, heißt es jetzt<br />
in vielen Leitartikeln türkischer Zeitungen.<br />
„Das sind freche Bemerkungen“, grummelt<br />
Erdoğan. „In meinen zehn Jahren im Amt<br />
als Ministerpräsident haben wir nie willkürliche<br />
Ernennungen durchgeführt.“ Der<br />
Sultan und sein Pascha sind ein Team.<br />
Markus Bernath<br />
ist Türkei-Korrespondent der<br />
österreichischen Tageszeitung<br />
Der Standard und der Financial<br />
Times Deutschland<br />
Fotos: Picture Alliance/DPA, privat (Autor)<br />
68 <strong>Cicero</strong> 11.2012
„Wenn das<br />
weitergeht,<br />
werden<br />
wir noch<br />
heftiger, noch<br />
schlimmer<br />
reagieren”<br />
Generalstabschef Necdet Özel<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 69
| W e l t b ü h n e<br />
Im Namen Europas<br />
Als Richterin in Straßburg wacht Angelika Nußberger über die Einhaltung der Menschenrechte<br />
von Vanessa De L’ or<br />
S<br />
eit fast zwei Jahren hat Angelika<br />
Nußberger offiziell keine Meinung<br />
mehr. Dabei hätte die Völkerrechtlerin<br />
viel zu sagen. Zum Beispiel<br />
über die ukrainische Oppositionspolitikerin<br />
Julia Timoschenko oder über den einstigen<br />
russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski,<br />
die in ihrer jeweiligen Heimat<br />
im Gefängnis sitzen. Doch Richter am<br />
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />
meiden öffentliche Debatten. Jede<br />
Äußerung könnte als Parteinahme ausgelegt<br />
werden.<br />
Gerade erst haben Nußberger und ihre<br />
Richterkollegen im Fall Timoschenko die<br />
Beteiligten zur Haft der ehemaligen Regierungschefin<br />
befragt. Jedes Jahr muss die<br />
49-jährige Slawistin weit mehr als 1000 Beschwerden<br />
prüfen. Damit habe sie noch<br />
mehr Pflichtlektüre zu bewältigen als<br />
früher in ihrer Zeit am Münchner Max-<br />
Planck-Institut für Sozialrecht, wo sie Anfang<br />
der neunziger Jahre forschte, und später<br />
am Kölner Institut für Ostrecht, das sie<br />
von 2002 an leitete, bis sie im Januar 2011<br />
nach Straßburg wechselte.<br />
Im Augenblick liest die Frau mit den<br />
lebhaften Augen ausnahmsweise nicht,<br />
sondern isst in der Kantine des futuristisch<br />
anmutenden Straßburger Justizpalasts. Allerdings<br />
scheint sie die Speisen kaum zu bemerken,<br />
so sehr ist sie ins Gespräch vertieft.<br />
Oft besprechen Richter hier ihre Fälle. Es<br />
sind 47 Männer und Frauen aus 47 Ländern,<br />
die über die Europäische Menschenrechtskonvention<br />
wachen sollen. Die Hüter<br />
dieser Gesetze sind eine bunte Mischung<br />
aus Wissenschaftlern, Richtern, Anwälten<br />
und Menschenrechtlern zwischen 39 und<br />
70 Jahren. Die Kantine wirkt wie ein eigener<br />
Kosmos. Litauische, polnische, holländische<br />
und slowenische Worte schwirren<br />
umher. Es dominieren Französisch und<br />
Englisch, die Hauptsprachen des Hauses.<br />
Die gebürtige Münchnerin beherrscht<br />
beide, dazu noch Russisch. Eine ehemalige<br />
Mitarbeiterin Nußbergers aus Köln<br />
hat sie einmal als „teamfähig und diszipliniert“<br />
beschrieben. Das sollte in diesem<br />
kulturellen Potpourri helfen, zumal europäisch<br />
hier nicht Europäische Union bedeutet.<br />
Deren Gerichtshof befindet sich<br />
in Luxemburg. Europäisch bedeutet in<br />
Straßburg: alle Staaten, die die Europäische<br />
Menschenrechtskonvention unterschrieben<br />
haben. Das erweiterte Europa<br />
erstreckt sich mittlerweile bis nach Aserbaidschan.<br />
Mittendrin fehlen nur Weißrussland<br />
und der Vatikan.<br />
Zum Gespräch geht es in Nußbergers<br />
Büro im dritten Stock des Justizpalasts, in<br />
dem es beinahe so viele Gänge zu geben<br />
scheint wie Akten. Nach jeder Frage lässt<br />
die Juristin einige Sekunden verstreichen,<br />
wohl um in Ruhe zu überlegen, was sie sagen<br />
darf. Straßburg vergleicht sie mit dem<br />
Turm von Babel. „Nur ist es umgekehrt:<br />
Aus vielen Sprachen muss wieder eine werden.“<br />
Recht und Unrecht in diesem Europa<br />
gelte es immer genauer zu definieren,<br />
eine gemeinsame Sprache der Gerechtigkeit<br />
zu entwickeln. Grundlage aller Diskussionen<br />
ist die Europäische Menschenrechtskonvention.<br />
Wie beschreibt dieses<br />
Dokument die jeweiligen Rechte, sei es das<br />
Recht auf einen fairen Prozess oder das auf<br />
freie Meinungsäußerung? „Straßburg wird<br />
zum Orientierungspunkt für die nationalen<br />
Gerichte.“<br />
Tatsächlich sorgt dieses europäische<br />
Primat häufig für Verstimmung, auch in<br />
Deutschland. Der frühere Verfassungsrichter<br />
Hans-Jürgen Papier etwa warnte davor,<br />
sich in Fälle einzumischen, die nationale<br />
Gerichte besser lösen könnten. In Großbritannien<br />
dachte man im Regierungslager<br />
sogar laut darüber nach, die Konvention<br />
aufzukündigen. Das ist in der 53-jährigen<br />
Geschichte des Gerichts bisher nur einmal<br />
geschehen: Griechenland war 1970<br />
vorübergehend ausgestiegen. Für die Zukunft<br />
wünscht sich Nußberger, „dass der<br />
Gerichtshof als das bestehen bleibt, was<br />
er ist – ein Schrittmacher für europäische<br />
Werte“.<br />
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
hat das Gericht immer mehr Fälle<br />
aus Osteuropa zu bearbeiten. „Für viele<br />
Menschen in Osteuropa ist Straßburg mehr<br />
als ein Gericht. Es ist die <strong>letzte</strong> Hoffnung“,<br />
sagt Nußberger. Allerdings ist die Fülle an<br />
Klagen längst ein Problem für den Gerichtshof<br />
geworden. Mancher Kläger wartet<br />
derzeit fünf Jahre, bis sein Fall bearbeitet<br />
werden kann. Völkerrechtler sehen die<br />
Funktion des Gerichts durch seine Überlastung<br />
gefährdet. Eine richterliche Sisyphosaufgabe.<br />
Nußberger jedenfalls ist kein Verdruss<br />
über ihre Arbeit anzumerken. „Wir<br />
werden das schon schaffen“ – das klingt<br />
so unbefangen zuversichtlich, als spreche<br />
sie über die Wetterlage vor einem Picknick.<br />
Sie wünsche ihr, hatte Nußbergers<br />
Vorgängerin, die frühere Verfassungsrichterin<br />
Renate Jaeger gesagt, dass sie ihren<br />
„guten Mut“ und „ihre Fröhlichkeit …nicht<br />
verliert“. Davon scheint noch jede Menge<br />
vorhanden zu sein.<br />
Frühere Mitarbeiter erzählen, wie die<br />
Mutter von zwei mittlerweile erwachsenen<br />
Kindern jede Gelegenheit wahrnahm, um<br />
auch in entlegene Winkel Osteuropas zu reisen<br />
– und sei es in einer klapprigen Tupolew.<br />
Ist es nicht langweilig, nun so viele Akten<br />
wälzen zu müssen und kaum noch in<br />
der Welt herumzukommen? „Meine Arbeit<br />
jetzt liefert mir tiefe Einblicke in menschliche<br />
Schicksale und menschliches Leiden<br />
überall in Europa“, erwidert sie.<br />
Vanessa de l’Or<br />
ist freie Journalistin<br />
und lebt in Berlin<br />
Fotos: Andy Ridder, Andrej Dallmann (Autorin)<br />
70 <strong>Cicero</strong> 11.2012
„Meine Arbeit liefert<br />
mir tiefe Einblicke<br />
in menschliche<br />
Schicksale und<br />
menschliches Leiden<br />
überall in Europa“:<br />
Angelika Nußberger<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 71
| W e l t b ü h n e<br />
Der WEICHMACHER<br />
Reinhard Silberberg empfahl einst, die EU-Stabilitätsregeln zu lockern. Heute arbeitet er im Schuldenstaat Spanien<br />
von Andreas Rinke<br />
S<br />
trafversetzungen sehen anders<br />
aus. Draußen scheint die Sonne<br />
auch an diesem Oktobertag auf<br />
die Palmen am Eingang des üppigen Gartens.<br />
Im eleganten Empfangsraum der Residenz<br />
des deutschen Botschafters in Madrid<br />
herrscht angenehme Kühle. „Mir gefällt<br />
es hier sehr gut“, setzt Reinhard Silberberg<br />
an, nippt an einem Tonic-Wasser und<br />
schwärmt von den Menschen, dem Essen,<br />
auch dem Wein in Spanien. Der frühere<br />
europapolitische Berater von Altkanzler<br />
Gerhard Schröder ist mit sich im Reinen.<br />
Dabei gilt der Posten am Südwestrand<br />
Europas nicht gerade als klassische Karrierestation<br />
nach sieben Jahren Kanzleramt<br />
und vier Jahren als Europastaatssekretär<br />
im Außenministerium. Folgt man<br />
der Argumentation von Union und FDP,<br />
muss Silberberg nun ausbaden, was er als<br />
Leiter der Europaabteilung im Kanzleramt<br />
mit zu verantworten hatte. Denn die<br />
Schuldenkrise schwappt gerade mit Wucht<br />
nach Spanien. Und die rot-grüne Regierung<br />
hatte damals die Stabilitätskriterien<br />
aufgeweicht. Das wird heute von vielen als<br />
Sündenfall und tiefere Ursache für die Eurokrise<br />
angesehen, weil sich andere Staaten<br />
danach auch nicht mehr diesen Vorgaben<br />
verpflichtet fühlten. Den entscheidenden<br />
Rat bekam Gerhard Schröder damals von:<br />
Reinhard Silberberg.<br />
Aber so einfach ist die Geschichte nicht.<br />
Denn die spanischen Probleme stammen<br />
gerade nicht aus einem laxen Umgang mit<br />
der Haushaltsdisziplin, sondern aus einem<br />
unkontrollierten Immobilienboom.<br />
Reinhard Silberberg sagt, dass das Amt<br />
des Botschafters in Spanien sogar die Aufgabe<br />
seiner Wahl ist. Madrid, ein Abschiebeposten?<br />
Schon vor Jahren habe er von<br />
dieser Position geträumt, schon weil er seiner<br />
spanischen Frau die Rückkehr in ihr<br />
Land versprochen hatte.<br />
Sieben Zigaretten später wird der Kettenraucher<br />
ernster. „Man muss bei der Bewertung<br />
doch immer die besonderen damaligen<br />
Umstände sehen“, sagt er mit Blick<br />
auf die Zeit nach 2003. Schröders Regierung<br />
habe unter besonderem Druck gestanden.<br />
Innenpolitisch hatte der Kanzler<br />
gerade die „Agenda 2010“-Reformen angepackt.<br />
Die SPD-Anhänger tobten, die Arbeitslosenzahlen<br />
stiegen auf über fünf Millionen,<br />
die Sozialausgaben schossen in die<br />
Höhe. Dazu kamen steigende Überweisungen<br />
an die EU. Brüssel mahnte, Deutschland<br />
müsse mehr für Wachstum tun, und<br />
schickte gleichzeitig blaue Briefe wegen der<br />
Überschreitung des erlaubten Haushaltsdefizits.<br />
„Weil die EU-Kommission damals jeden<br />
Ermessensspielraum verweigerte, gab<br />
es kaum eine andere Wahl, als die Stabilitätspaktregeln<br />
etwas zu flexibilisieren“, sagt<br />
Silberberg heute.<br />
Auch sein damaliger Chef ist dieser<br />
Meinung. Er schwärmt von der Kompetenz<br />
seines einstigen Beraters, wenn er auf Silberberg<br />
angesprochen wird. „Die Vorwürfe<br />
sind natürlich Unsinn. Es wäre unmöglich<br />
gewesen, die Agenda 2010 durchzusetzen<br />
und gleichzeitig 20 Milliarden Euro zusätzlich<br />
im Bundesetat einzusparen“, sagt<br />
Schröder. „Weder die Krise in Spanien noch<br />
in Irland haben zudem etwas mit der damaligen<br />
Entscheidung zu tun.“<br />
Allzu tief will der Berufsdiplomat Silberberg<br />
gar nicht in die Vergangenheit und<br />
ihre politische Bewertung abtauchen. Nach<br />
bisher 34 Jahren im Dienste Deutschlands<br />
gilt der sozialdemokratische Beamte ohnehin<br />
als echter Grenzgänger. Mit der nach<br />
2009 regierenden CDU-Kanzlerin Merkel<br />
hat er jedenfalls als Sherpa in der EU-<br />
Ratspräsidentschaft 2007 auch aus dem<br />
SPD-geführten Außenministerium gut zusammengearbeitet,<br />
die Differenzen in der<br />
Europapolitik halten sich in Deutschland<br />
ohnehin in engen Grenzen. Und 2010 – zu<br />
Zeiten der schwarz-gelben Koalition – heftete<br />
ihm Bundespräsident Horst Köhler das<br />
Große Verdienstkreuz an die Brust.<br />
Dass der Tempowechsel nach mehr als<br />
70 EU-Gipfeln, der Organisation der EU-<br />
Erweiterung und der Rettung des Verfassungsvertrags<br />
nicht einfach war, deutet er<br />
trotz seiner Spanien-Begeisterung an. „Es<br />
war am Anfang in Madrid schon ungewohnt,<br />
wenn das Telefon plötzlich eine<br />
Stunde lang kein einziges Mal klingelt“,<br />
merkt er trocken an. Jetzt kümmert er sich<br />
im Notfall schon mal um die Bezahlung<br />
der Handwerker in seiner Residenz.<br />
Unwichtig findet er seine Arbeit als<br />
Botschafter aber nicht – im Gegenteil. Er<br />
ist zum Chefdeuter der komplizierten spanischen<br />
Politik mit ihren nationalen Empfindlichkeiten<br />
und regionalen Eigenheiten<br />
geworden. In Spanien erklärt er immer wieder<br />
die deutschen Positionen und wirbt um<br />
Verständnis. Im Hintergrund hilft er mit,<br />
dass sich beim Besuch der Kanzlerin in Madrid<br />
die Crème de la Crème der deutschen<br />
Wirtschaft einfindet, um ein Bekenntnis<br />
zum Standort Spanien abzulegen.<br />
„In Spanien habe ich zudem gemerkt,<br />
wie wichtig es ist, sein eigenes Land immer<br />
von außen zu sehen“, sagt Silberberg,<br />
der selbst nur elf Diplomatenjahre im Ausland<br />
verbrachte, die Hälfte davon in Bangladesch<br />
und Guatemala. Eines hat er im<br />
krisengeplagten Madrid gelernt: „Man<br />
braucht in Deutschland keinen Lautsprecher<br />
und kein Megafon mehr. Selbst ein<br />
Flüstern in Berlin wird heute deutlich<br />
wahrgenommen.“<br />
Andreas Rinke<br />
ist politischer Chefkorrespondent<br />
von Reuters in Berlin. Zuletzt<br />
erschien von ihm (mit Christian<br />
Schwägerl): „11 drohende Kriege“<br />
Fotos: Ofelia de Pablo & Javier Zurita/laif, Privat (Autor)<br />
72 <strong>Cicero</strong> 11.2012
„Weil die EU-Kommission<br />
damals jeden Ermessensspielraum<br />
verweigerte,<br />
gab es kaum eine<br />
andere Wahl, als die<br />
Stabilitätspaktregeln<br />
etwas zu flexibilisieren“<br />
Reinhard Silberberg, früher Kanzlerberater,<br />
heute Deutschlands Botschafter in Spanien<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 73
| W e l t b ü h n e | D i e n e u e S e e m a c h t<br />
74 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Herrscher<br />
der Meere<br />
Amerika ruft das pazifische Zeitalter aus. China<br />
schwingt sich zur regionalen Hegemonialmacht auf.<br />
Und in den asiatischen Nachbarländern wächst die<br />
Angst. In der Region verteilen sich die Kräfte neu<br />
von Oliver Radtke<br />
Illustration: Leif Heanzo<br />
E<br />
nde der siebziger Jahre bemühten<br />
sich China und Japan um den<br />
Abschluss eines Friedens- und<br />
Freundschaftsvertrags. Die Übereinkunft<br />
über die Diaoyu-Inseln,<br />
die schließlich unter dem damaligen Vizepremier<br />
Deng Xiaoping mit Japans Ministerpräsident<br />
Fukuda Takeo zustande kam,<br />
hatte geradezu salomonischen Charakter.<br />
„Es ist verständlich, dass beide Seiten unterschiedliche<br />
Auffassungen in der Frage der<br />
Inseln haben, die Ihr Senkaku-Inseln und<br />
wir Diaoyu-Inseln nennen. Es ist eine gute<br />
Entscheidung, dass wir diese Frage in unseren<br />
Verhandlungen nicht berühren. Die<br />
nächsten Generationen werden die Frage<br />
mit größerer Weisheit angehen. Wir sollten<br />
uns gegenwärtig darauf beschränken, die<br />
Lage ins Auge zu fassen.“ Mit diesen Worten<br />
schuf Deng am 25. Oktober 1978 die<br />
Grundlage für eine langfristige und pragmatische<br />
Sicht auf territoriale Streitigkeiten<br />
zwischen den beiden Ländern.<br />
Knapp 34 Jahre später scheint es mit<br />
der Weisheit nicht weit her zu sein. Am<br />
25. September lieferten sich Boote der japanischen<br />
Küstenwache mit taiwanesischen<br />
Hochseefischern ein feuchtes, alles andere<br />
als fröhliches Wasserkanonengefecht wenige<br />
Seemeilen von derselben Inselgruppe<br />
entfernt, die Deng drei Jahrzehnte zuvor<br />
zu seinem Ausspruch veranlasste.<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 75
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technische und militärische Entwicklung<br />
haben aus China eine andere Nation als<br />
1978 werden lassen. Die kommende Führungsgeneration<br />
ist die erste, die nicht von<br />
Deng Xiaoping handverlesen wurde, und<br />
sie hat eigene Vorstellungen von der Rolle<br />
Chinas in der Welt. Die Marschroute zu<br />
mehr Selbstbehauptung schlägt sich außenpolitisch<br />
nicht nur im Verhalten im UN-<br />
Sicherheitsrat nieder, sondern auch in stetig<br />
steigenden Militärausgaben (Lesen Sie<br />
dazu auch ab Seite 80) und wachsenden<br />
Machtansprüchen gegenüber den kleineren<br />
asiatischen Nachbarn, sei es gegenüber Vietnam,<br />
den Philippinen oder vor der Küste<br />
Taiwans, wo die Senkaku-Inseln liegen.<br />
China beansprucht längst nicht nur die<br />
Senkakus, sondern auch die Mehrheit der<br />
Inseln im Südchinesischen Meer. Es geht<br />
Peking insbesondere um die Inselgruppen<br />
der drei „Shas“: Xisha (Paracel), Zhongsha<br />
(Macclesfield Bank) und Nansha (Spratly).<br />
Sie machen fast zwei Drittel des 3,5 Millionen<br />
Quadratkilometer umfassenden Südchinesischen<br />
Meeres aus.<br />
Der Territorialstreit zwischen China<br />
und seinen südostasiatischen Nachbarländern<br />
konzentriert sich vor allem auf die<br />
Spratly-Inseln, die neben der Volksrepublik<br />
auch von den Philippinen, Vietnam, Malaysia,<br />
Taiwan und Brunei ganz oder teilweise<br />
beansprucht werden. Von den mehr<br />
als 100 weit verstreuten Riffs, Atollen und<br />
kleinen Inseln sind knapp die Hälfte mit<br />
Militärstützpunkten dieser Länder versehen<br />
(mit Ausnahme Bruneis). Vietnam unterhält<br />
die meisten Garnisonen, das vietnamesische<br />
Parlament hat darüber hinaus ein<br />
Seerecht verabschiedet, wonach sowohl die<br />
Paracel- als auch die Spratly-Inseln zu Vietnam<br />
gehören sollen. Peking protestierte<br />
umgehend. Vor allem aber mit den Philippinen<br />
liefert sich China immer wieder<br />
rhetorische Scharmützel über den Ausbau<br />
der militärischen Präsenz – Kutterkämpfe<br />
wie jüngst vor den Senkakus gehören zwischen<br />
diesen Protagonisten fast schon zum<br />
Alltag. Nach den jüngsten gemeinsamen<br />
Militärübungen der Philippinen mit den<br />
USA könnten bald weitere chinesische Sticheleien<br />
folgen.<br />
In beiden Meeren geht es nicht zuletzt<br />
auch um ökonomische Fragen.<br />
Die Inselgruppen liegen in von vielen<br />
Anrainerstaaten seit Jahrhunderten genutzten,<br />
ertragreichen Fischfanggebieten. Noch<br />
wichtiger aber dürfte das sein, was chinesische<br />
Wissenschaftler bereits in den neunziger<br />
Jahren als „zweiten Persischen Golf“ bezeichneten:<br />
In den Festlandsockeln vor den<br />
jeweiligen Inselgruppen wurden in den vergangenen<br />
Jahrzehnten riesige Erdöl- und<br />
Erdgasvorkommen im Wert von mehreren<br />
Billionen US-Dollar lokalisiert.<br />
Letztendlich aber geht es um die Vorherrschaft<br />
in der Region – und damit auch<br />
um eine geostrategische Frage. Das Südchinesische<br />
Meer gilt als der wichtigste Schifffahrtsweg<br />
von Asiens neuen Märkten hin<br />
zum Westen. Mehr als die Hälfte der globalen<br />
Handelsflotten passiert dieses Gebiet,<br />
80 Prozent des nordostasiatischen Öls, der<br />
Treibstoff des dortigen Wirtschaftswachstums,<br />
werden hier transportiert. Wer die<br />
Inseln im Südchinesischen Meer besitzt,<br />
hat die direkte Kontrolle über die meisten<br />
Seewege der Welt, die aus Westeuropa<br />
nach Ostasien führen.<br />
Während China hier auf bilaterale<br />
Verhandlungen besteht, setzen seine asiatischen<br />
Nachbarn auf internationale<br />
Vermittlung, insbesondere auf die Unterstützung<br />
der USA. Vorschläge des US-<br />
Außenministeriums, etwa einen Code of<br />
Conduct einzuführen, einen Verhaltenskodex<br />
für internationale Streitigkeiten, den<br />
alle Parteien unterzeichnen, lehnt China<br />
kategorisch ab. Auch das internationale<br />
Seerechtsabkommen von 1982, das die<br />
Grundlage für die Klärung territorialer<br />
Streitigkeiten hätte liefern können, verfehlte<br />
sein Ziel; in der Praxis führte es nur<br />
zu weiteren Überschneidungen der Gebietsansprüche.<br />
Daran haben auch bilaterale<br />
Abkommen sowohl zwischen den<br />
Philippinen und China als auch zwischen<br />
Vietnam und China kaum etwas ändern<br />
können. Und auch der Code of Conduct,<br />
den die Vereinigung der Südostasiatischen<br />
Nationen (Asean) im Jahr 2002 mit China<br />
geschlossen hat, hat sich in der Praxis als<br />
wirkungslos erwiesen. Was auch daran liegt,<br />
dass es unter den Asean-Ländern ebenfalls<br />
teilweise überlappende Ansprüche gibt,<br />
und dadurch die erhoffte gemeinsame Position<br />
gegenüber China bislang nicht zustande<br />
gekommen ist. Erst im Juli wurde<br />
der Ministergipfel des Verbunds konsenslos<br />
beendet, nachdem es über die heftiger<br />
werdenden Streitigkeiten im Südchinesischen<br />
Meer zu keiner Einigung kam. Zum<br />
76 <strong>Cicero</strong> 11.2012
D i e n e u e S e e m a c h t | W e l t b ü h n e |<br />
ersten Mal in der 45-jährigen Geschichte<br />
der Organisation gab es keine gemeinsame<br />
Abschlusserklärung.<br />
Zumindest in einem aber sind sich die<br />
asiatischen Anrainerstaaten einig: Sie wollen<br />
gute Beziehungen mit China und den<br />
USA; sie möchten am Wirtschaftswunder<br />
Pekings teilhaben und die bilateralen Beziehungen<br />
mit China entspannen, aber<br />
gleichzeitig auch Sicherheitsgarantien der<br />
USA, falls sich die Beziehungen zu China<br />
doch merklich verschlechtern.<br />
Zwar werden die<br />
amerikanischen<br />
Verteidigungsausgaben<br />
in den<br />
nächsten zehn<br />
Jahren um rund<br />
500 Milliarden<br />
Dollar gekürzt<br />
werden. Die<br />
Militärpräsenz<br />
aber wird<br />
sich – sehr zum<br />
Unmut Chinas –<br />
erhöhen<br />
Noch vor sechs Jahren führten Politiker<br />
und Thinktanks in China die wachsenden<br />
und expansionistischen Wirtschaftsmächte<br />
des 19. Jahrhunderts, Deutschland<br />
und Japan, als „negatives Beispiel“ an.<br />
Heute sprechen Thinktanks offensiv von<br />
einem neuen Platz Chinas auf der Weltkarte.<br />
In diesem Jahr, und ganz besonders<br />
deutlich vor dem 18. Parteitag der Kommunistischen<br />
Partei, präsentierte sich die<br />
Pekinger Führung als ostasiatische Nummer<br />
eins. Selbstbewusst erklärte sie die<br />
von den USA moderierten Gespräche mit<br />
Japan für gescheitert und signalisierte damit<br />
unverhohlen, keinen Wert auf Amerikas<br />
Vermittlung zu legen.<br />
Bislang bezeichnet die Führung weder<br />
das Ost- noch das Südchinesische Meer als<br />
„Kerninteressen“ („hexin liyi“) des Staates,<br />
die als nicht verhandelbar gelten und im<br />
Falle einer internationalen Einmischung<br />
direkte militärische und andere Konsequenzen<br />
nach sich zögen. In diese Kategorie<br />
fallen die drei bekanntesten Streitfragen:<br />
Taiwan, Tibet und die autonome Region<br />
Xinjiang im Westen des Landes. Das bedeutet<br />
aber nicht, dass das so bleiben muss.<br />
Im Ost- wie auch im Südchinesischen<br />
Meer treffen die alte Seemacht der USA<br />
und deren Alliierten unmittelbar auf die<br />
heranwachsende Seemacht der Volksrepublik<br />
China. Der Zwischenfall am 25. September<br />
dieses Jahres im Ostchinesischen<br />
Meer zwischen Schiffen aus Taiwan und<br />
aus Japan macht deutlich, wie strategisch<br />
Peking vorgeht und versucht, Etappensiege<br />
gegen Washingtons Strategie der Neuausrichtung<br />
seiner Streitkräfte im Asien-Pazifik-Raum<br />
zu erringen. Über die „Wasserkanonenschlacht“<br />
an jenem Tag wurde<br />
wohl berichtet, dass taiwanesische Fischerboote<br />
durch den Korridor der japanischen<br />
Küstenwache brachen und bis zu zwei Seemeilen<br />
an die Küste der umstrittenen Inselgruppe<br />
gelangten, um dann abzudrehen.<br />
Kaum erwähnt wurde jedoch, dass<br />
fünf Patrouillenboote der volksrepublikanischen<br />
Küstenwache den Vorgang im vorgeschriebenen<br />
Abstand von zwölf Seemeilen<br />
zur Küste der Inselgruppe beobachteten.<br />
Damit signalisierte die chinesische Marine<br />
nicht nur Unterstützung für die Aktion der<br />
Fischer. Es wurde vor allem auch der Eindruck<br />
erweckt, die taiwanesischen Schiffe<br />
stünden unter dem Schutz des chinesischen<br />
Festlands.<br />
Nicht um Taiwan geht es dabei, das auf<br />
einen solchen Schutz gar keinen Wert legt,<br />
weil es ja in Konkurrenz zu China und Japan<br />
selbst Ansprüche erhebt. Sondern darum,<br />
Washington wegen seiner Sicherheitsgarantien<br />
gegenüber Taiwan unter Druck<br />
zu setzen. Das Signal der Chinesen an die<br />
USA ist deutlich: In Zukunft darf Washington<br />
mit einer sehr viel selbstbewussteren<br />
Außenpolitik rechnen.<br />
Die Entwicklungen in der Asien-Pazifik-Region<br />
werden Einfluss auf die gesamte<br />
Staatengemeinschaft haben: Die<br />
derzeitigen Territorialkonflikte zeugen vom<br />
wachsenden Anspruch Chinas, in der Region<br />
die führende Rolle zu spielen. Das atomar<br />
bewaffnete Nordkorea bleibt ein Risikofaktor.<br />
Und mit welchem Erfolg die<br />
Asean-Staaten gemeinsame außenpolitische<br />
Positionen entwickeln können, wird auch<br />
darüber entscheiden, ob und wie intensiv<br />
Amerika als Mediator gefragt sein wird.<br />
Die USA werden in den kommenden Jahren<br />
ihre Streitkräfte neu ausrichten. Sind sie<br />
bislang hälftig auf Atlantik und Pazifik verteilt,<br />
sollen 60 Prozent der Streitkräfte bis<br />
zum Jahr 2020 in den Pazifik verlegt werden.<br />
Am Ende dieser Umverteilung werden<br />
sechs Flugzeugträger und die Mehrheit<br />
der Zerstörer, U-Boote und Kreuzer<br />
der US-Marine im Pazifik stationiert sein.<br />
Das Ziel ist, wenn nötig, die schnelle Bereitstellung<br />
von Streitkräften, um die Sicherheitsverpflichtungen<br />
der USA in der<br />
Region zu erfüllen.<br />
Die Neuorientierung der Vereinigten<br />
Staaten entspringt der wachsenden Sorge<br />
des Pentagons vor Chinas militärischer<br />
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11.2012 <strong>Cicero</strong> 77<br />
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Modernisierung in allen Bereichen. Nach<br />
Angaben des Stockholm International<br />
Peace Research Institute (Sipri) stiegen<br />
Chinas Verteidigungsausgaben von<br />
30 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf<br />
etwa160 Milliarden Dollar im Jahr 2012.<br />
Dieser Zuwachs ist zwar deutlich, liegt aber<br />
nach wie vor weit hinter den USA mit Ausgaben<br />
in Höhe von 662 Milliarden Dollar.<br />
Jenseits der Zahlen sollte man zum einen<br />
nicht vergessen, dass die Größe des Militärs<br />
und der Umfang seiner militärischen<br />
Ausrüstung noch keine direkten Schlüsse<br />
auf seine Einsatzfähigkeit zulassen und<br />
zum anderen, dass Peking zunächst an der<br />
inneren Sicherheit des Landes interessiert<br />
ist, deren Gewährleistung eine beachtliche<br />
Menge an Personal bindet. Dazu kommt:<br />
Peking wünscht sich zwar eine modernere<br />
Armee, fürchtet aber gleichzeitig eine allzu<br />
unabhängige Militärmacht.<br />
Vor diesem Hintergrund liegt der Fokus<br />
der chinesischen Streitkräfte auf asymmetrischen<br />
Manövern, also einer effizienten<br />
Abwehr beziehungsweise Störung amerikanischer<br />
Streitkräfte entlang der „Ersten<br />
Inselkette“ vor China, darunter auch der<br />
nach wie vor hochsensible Streitfall Taiwan.<br />
Zwar werden die amerikanischen Verteidigungsausgaben<br />
– nach aktuellem<br />
Stand – in den nächsten zehn Jahren um<br />
rund 500 Milliarden Dollar gekürzt werden.<br />
Die Militärpräsenz aber wird sich –<br />
sehr zum Unmut Chinas – erhöhen. Im<br />
australischen Darwin sollen Soldaten, in<br />
Singapur mehrere Kriegsschiffe stationiert<br />
und auf den Philippinen ehemalige Stützpunkte<br />
wiederbelebt werden. Neue Militärbündnisse<br />
mit Australien, Japan und Südkorea<br />
verdeutlichen: Nicht nur die USA,<br />
auch Chinas unmittelbare Nachbarn beobachten<br />
die Rüstungs- und Militärpolitik<br />
des Landes ganz genau. Und sie reagieren<br />
darauf mit einer stärkeren Zusammenarbeit<br />
mit Amerika.<br />
Nur: In ihrer Hinwendung zum Pazifik<br />
sollten die USA auch einer tiefen Verunsicherung<br />
in China Rechnung tragen. Sie<br />
erfordert ein breit angelegtes Engagement<br />
Der Aufstieg neuer Mächte war stets<br />
begleitet von großen Spannungen<br />
oder kriegerischen Auseinandersetzungen,<br />
wenn die alten<br />
Mächte sich den notwendigen<br />
veränderungen und Anpassungen<br />
in der internationalen Ordnung<br />
widersetzten<br />
der Amerikaner, das sowohl die neue chinesische<br />
Führungsriege einschließt als auch<br />
Akademiker und militärische Strategen sowie<br />
eine enge Kooperation, wie es sie im zivilen<br />
Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit<br />
längst gibt.<br />
Dabei gilt es, auch den deutlich vernehmbaren<br />
chinesischen Nationalismus<br />
richtig einzuschätzen. Dass der frühere<br />
Politstar und ehemalige Chongqinger Parteichef<br />
Bo Xilai im Zuge des Mordprozesses<br />
gegen dessen Ehefrau aus der Kommunistischen<br />
Partei ausgeschlossen wurde<br />
(und seinerseits ein Strafverfahren zu erwarten<br />
hat), weist womöglich auf eine tiefer<br />
gehende Zersplitterung der Führungsriege<br />
hin, deren Folgen bislang noch gar<br />
nicht abzusehen sind. Das jüngste kollektive<br />
Japan-Bashing, die staatlich orchestrierten<br />
Proteste und Boykotte japanischer<br />
Produkte stellen notdürftig eine nationale<br />
Einheit wieder her, welche durch die immense<br />
Zahl an sozialen Unruhen längst<br />
fragil geworden ist. Wer den Tiger reitet,<br />
kann schwer absteigen (qi hu nan xia), besagt<br />
ein chinesisches Sprichwort aus der<br />
Ming-Dynastie, das in diesen Tagen gern<br />
zitiert wird. Die Regierung reitet den Tiger<br />
gerne, und solange er den Reiter nicht<br />
beißt oder abwirft, wird sie das weiter tun.<br />
Doch wie oft kann oder will sie ihn noch<br />
reiten?<br />
Der Aufstieg neuer Mächte war stets begleitet<br />
von großen Spannungen oder kriegerischen<br />
Auseinandersetzungen, wenn die<br />
alten Mächte sich den notwendigen Veränderungen<br />
und Anpassungen in der internationalen<br />
Ordnung widersetzten. Ein<br />
bewaffneter Konflikt zwischen China und<br />
den USA wäre jedoch weder im Interesse<br />
Pekings noch Washingtons.<br />
Die USA haben es in der Hand, ihre<br />
Bündnispartner auf den Aufstieg Chinas<br />
einzustimmen. Gleichzeitig sollten sich<br />
die Vereinigten Staaten davor hüten, Erwartungshaltungen<br />
zu schüren, die sie im<br />
Ernstfall nicht erfüllen können. Ebenso<br />
muss sich die neue chinesische Führung,<br />
sofern sie stark genug sein wird, von einem<br />
überholten nationalstaatlichen Selbstverständnis<br />
verabschieden.<br />
China und Amerika werden nicht<br />
zwangsweise über eine normale Rivalität<br />
zweier Supermächte hinauswachsen, urteilte<br />
jüngst der ehemalige US-Außenminister<br />
Henry Kissinger. Aber sie schulden<br />
sich und der Welt zumindest den Versuch.<br />
Eine Möglichkeit wäre die Gründung einer<br />
Pazifischen Gemeinschaft, wie es das Atlantische<br />
Bündnis zwischen Europa und den<br />
USA bereits vorlebt. Diese Gemeinschaft<br />
könnte sich als gemeinsamer Entwicklungsprozess<br />
aller Anrainerstaaten verstehen<br />
und nicht als strategische Partnerschaft<br />
zwischen den beiden großen Mächten in<br />
Ost und West.<br />
Beinahe 35 Jahre sind seit Dengs Äußerungen<br />
über die Senkaku-Inseln vergangen.<br />
Zeit für einen Versuch, „die Weisheit<br />
der nächsten Generationen“ einem Praxistest<br />
zu unterziehen.<br />
Oliver Radtke leitet das<br />
China-Programm der Robert Bosch<br />
Stiftung. Zuletzt erschien von ihm<br />
„50 Mal Mund auf in China –<br />
was man gegessen haben muss“<br />
Foto: Privat<br />
78 <strong>Cicero</strong> 11.2012
| W e l t b ü h n e | C h i n a s M i l i t ä r<br />
Alle Mann an die Waffen<br />
China untermauert seine Weltmacht-Ambitionen und rüstet kräftig auf. In diesem<br />
Jahr investiert die Volksrepublik 72 Milliarden Euro in ihr Militär. Tendenz steigend<br />
von Christiane Kühl<br />
80 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Foto: ZHA CHUNMING/Picture Alliance/DPA<br />
Der Stolz der Nation:<br />
Der erste Flugzeugträger<br />
Chinas ist imposant,<br />
aber auf absehbare Zeit<br />
nicht einsatzfähig<br />
A<br />
dmiral Zhang Zheng steht in blütenweißer<br />
Uniform an Deck. Es<br />
ist sein erster Tag als Kapitän<br />
des ersten Flugzeugträgers Chinas.<br />
„Dies ist ein riesiges Schiff<br />
mit teurer Ausrüstung und einer großen<br />
Mannschaft“, sagt er in fließendem Englisch<br />
in die Kamera des internationalen<br />
Fernsehkanals vom Staatssender CCTV.<br />
„Der Betrieb wird eine große Herausforderung<br />
sein.“ Dies sei „ein Meilenstein<br />
in der Geschichte der Volksbefreiungsarmee<br />
(VBA)“, betont Ministerpräsident<br />
Wen Jiabao bei der Feier. „Der Träger verbessert<br />
unsere operativen Fähigkeiten und<br />
erhöht die strategische Abschreckung sowie<br />
die Fähigkeit zum Gegenangriff“, ergänzt<br />
Admiral Zhang nüchtern.<br />
Tatsächlich ist der Koloss vor allem ein<br />
Symbol. Bis Chinas Marine in der Lage<br />
sein wird, den Flugzeugträger „Liaoning“<br />
einsatzfähig zu machen, werden nach Ansicht<br />
von Experten noch Jahre vergehen.<br />
Vorerst unterstreicht das Riesenschiff Pekings<br />
Anspruch, militärisch in der ersten<br />
Liga der Weltmächte mitzuspielen. Schon<br />
lange hatte China nach einem eigenen<br />
Flugzeugträger gestrebt. Da es selbst keinen<br />
entwickeln konnte, kaufte die Marine<br />
1998 in der Ukraine den nur halbfertigen<br />
Träger „Varjag“ der sowjetischen<br />
Kusnezow-Klasse.<br />
Ohne Maschine und Navigationssysteme<br />
wurde der<br />
graue Gigant nach China<br />
geschleppt.<br />
Seit gut 20 Jahren modernisiert<br />
China seine Streitkräfte,<br />
um sie fit zu machen<br />
fürs 21. Jahrhundert.<br />
Die Kommunistische Partei<br />
hatte die Armee – die ihr bis<br />
heute formal unterstellt ist –<br />
1927 gegründet. Damals rekrutierte<br />
die Partei Bauern als<br />
Freiheitskämpfer und Guerilla.<br />
Auch nach der Gründung<br />
der Volksrepublik 1949 blieb das<br />
Militär lange Zeit unterentwickelt. Mit<br />
Beginn des Umbaus verschlankte China<br />
die Truppe und startete die Modernisierung<br />
der veralteten Waffenarsenale.<br />
Heute hat die Armee 2,3 Millionen<br />
Soldaten,1570 Kampfjets und 550 <strong>Bombe</strong>r,<br />
79 Zerstörer und Fregatten, gut<br />
50 U‐Boote und rund 7000 Panzer. Das<br />
Nukleararsenal besteht aus 50 bis 75 Interkontinentalraketen,<br />
die laut Chinas<br />
Atomdoktrin eine „minimale Abschreckung“<br />
garantieren sollen. Außerdem sind<br />
nach Angaben des Pentagons 1000 bis<br />
1200 Kurzstreckenraketen auf Taiwan gerichtet.<br />
Sie sollen verhindern, dass die von<br />
Peking als abtrünnige Provinz betrachtete<br />
Insel die formale Unabhängigkeit ausruft.<br />
China betont stets, dass sein Militär für<br />
niemanden eine Bedrohung darstelle – zuletzt<br />
bei der Präsentation der „Liaoning“.<br />
Über Rüstungsziele äußert sich Peking<br />
hingegen nur vage. China wolle sein Militär<br />
in die Lage versetzen, „lokale Kriege<br />
unter Bedingungen der Informatisierung“<br />
zu gewinnen, sagte Wen Jiabao in<br />
Chinas<br />
Militär agiert<br />
so intransparent,<br />
dass<br />
nur bekannt<br />
ist, was<br />
Experten auf<br />
Umwegen<br />
herausbekommen<br />
seiner Regierungserklärung im März. Damit<br />
meine er „intensive, informationszentrierte<br />
Operationen von kurzer Dauer“,<br />
erklärt das Pentagon in seinem diesjährigen<br />
China-Bericht. Weniger blumig ausgedrückt<br />
heißt das: Cyber-Kriegführung.<br />
Wie ernst es Peking mit seinem Militär<br />
meint, zeigen die Zahlen: Das Verteidigungsbudget<br />
stieg in den vergangenen<br />
20 Jahren jährlich zweistellig. 2012 legte<br />
es offiziell um 11,2 Prozent auf 670 Milliarden<br />
Yuan (72 Milliarden Euro) zu. Die<br />
tatsächlichen Ausgaben liegen allerdings<br />
nach Schätzungen des Stockholm International<br />
Peace Research Institute<br />
(Sipri) gut 50 Prozent<br />
über dem offiziellen Wert.<br />
Die Sipri-Experten gehen<br />
davon aus, dass Forschung<br />
und Entwicklung getrennt<br />
budgetiert werden.<br />
Genau weiß dies aber<br />
niemand. Chinas Militär<br />
agiert so intransparent, dass<br />
nur bekannt ist, was Experten<br />
auf Umwegen herausbekommen.<br />
So berichtet<br />
das Pentagon beispielsweise,<br />
dass China sein Raketenarsenal<br />
stetig modernisiert.<br />
Dazu stelle es in großer Zahl<br />
bodenbasierte Marschflugkörper her, die<br />
Präzisionsschläge ausführen können. Außerdem<br />
entwickle China „Dongfeng 21D“,<br />
ein auf den Beschuss von großen Schiffen<br />
spezialisiertes Raketensystem. Solche Informationen<br />
gelten generell als zuverlässig.<br />
China sorgt immer wieder für Überraschung<br />
und Besorgnis in Fachkreisen.<br />
Etwa als vor wenigen Jahren Satellitenbilder<br />
einer Marinebasis auf der Tropeninsel<br />
Hainan Tunneleingänge zeigten, die auf<br />
die Existenz von Atom‐U‐Booten hindeuten.<br />
Dass China solche atomgetriebenen<br />
U-Boote mit ballistischen Raketen<br />
der „Jin“‐Klasse baut, bestätigt inzwischen<br />
das US‐Verteidigungsministerium.<br />
Diese sollen in etwa zwei Jahren atomfähige<br />
Raketen mit einer Reichweite von<br />
bis zu 7400 Kilometern abfeuern können<br />
und somit China erstmals eine atomare<br />
Abschreckung auf See ermöglichen.<br />
„Viele Experten glauben, dass China dieses<br />
System eigens für Tiefseepatrouillen in<br />
umstrittenen Gewässern des Südchinesischen<br />
Meeres entwickelt“, schreiben die<br />
US-Militärexperten Michael Chase und<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 81
| W e l t b ü h n e | C h i n a s M i l i t ä r<br />
Chinas Volksbefreiungsarmee<br />
1 Flugzeugträger<br />
50 U-Boote<br />
79 Zerstörer und Fregatten<br />
1000–1200 Kurzstreckenraketen<br />
Infografik: Kristina Düllmann; Foto: Privat<br />
2,3 Millionen Soldaten<br />
7000 Panzer 1570 Kampfjets<br />
550 <strong>Bombe</strong>r<br />
50–75 Interkontinentalraketen<br />
Im Bau<br />
Tarnkappenbomber<br />
Atomgetriebene U-Boote<br />
Militärausgaben<br />
offiziell<br />
geschätzt<br />
72 Milliarden Euro 108 Milliarden Euro 509 Milliarden Euro<br />
Quelle: Annual Report to Congress, Military and Security Developments Involving the People’s Republic of China 2012, Sipri<br />
Benjamin Purser. Dort streitet sich China<br />
mit anderen Anrainerstaaten um mehrere<br />
Riffe und Inseln, unter denen Rohstoffe<br />
vermutet werden.<br />
Ein weiterer Fall: Ende 2010 und im<br />
Mai 2012 tauchten in Blogs Bilder eines<br />
pechschwarzen Flugzeugs auf. Sie zeigten<br />
Testflüge des J‐20, eines von China entwickelten<br />
Tarnkappenbombers. Nach einigem<br />
Zögern druckten auch staatliche<br />
chinesische Medien die Bilder. Weitere<br />
J‐20‐Prototypen seien in der Entwicklung,<br />
berichtete die Zeitung Global Times.<br />
Dass China vermehrt seine Waffen<br />
selbst herstellt, ist immerhin belegbar. Zwischen<br />
2007 und 2011 gingen Chinas Rüstungsimporte<br />
nach Daten des Sipri um<br />
58 Prozent zurück. Zuvor war die Volksrepublik<br />
jahrelang der weltgrößte Rüstungsimporteur<br />
gewesen. Vor allem aus Russland<br />
kaufte Peking Kampfjets, Kriegsschiffe oder<br />
U‐Boote. Aus Israel bezog China laut Sipri<br />
Elektronik und Raketentechnologie – bis<br />
die USA Tel Aviv zu einem Exportstopp<br />
drängten. Importe aus den USA und der<br />
EU sind Peking verwehrt: Beide hatten<br />
1989 nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung<br />
auf dem Tiananmen-Platz<br />
Waffenembargos gegen China verhängt.<br />
„China hat einen großen Sprung gemacht<br />
in den vergangenen 15 Jahren“, sagt<br />
Siemon Wezeman, Sipri-Experte für Waffenhandel.<br />
Die Qualität seiner selbst gebauten<br />
Ausrüstung nähere sich dem Niveau<br />
des Westens an. Chinas J‐10‐Kampfflugzeuge<br />
etwa ähneln nach Angaben der einflussreichen<br />
US‐Denkfabrik Rand Corporation<br />
den amerikanischen F‐16‐Jets.<br />
Allerdings basieren nach wie vor fast alle<br />
chinesischen Innovationen auf einstigen<br />
Importen, vor allem jenen aus Russland.<br />
„China ist der Weltmeister des Reverse Engineering“,<br />
sagt Emmanuel Puig vom Forschungsinstitut<br />
Asia Centre in Paris. „Der<br />
Vorteil dieser Art der Innovation ist, dass<br />
man schnell und relativ preiswert aufholen<br />
kann. Aber sie führt zu einer hohen<br />
Abhängigkeit und reduziert die Fähigkeiten<br />
zur Grundlagenforschung.“ Grundlegende<br />
Innovationen aber seien Voraussetzung<br />
für den Aufstieg eines Landes zur<br />
echten Großmacht.<br />
Chinas Armee ist also noch lange nicht<br />
am Ziel. Zwei Drittel der Kampfjets basieren<br />
nach Angaben der Rand Corporation<br />
immer noch auf uralten russischen<br />
MiG‐19- und MiG‐21‐Flugzeugen. Chinas<br />
Bodentruppen leiden nach Ansicht<br />
des Pentagons unter zu geringer Kampferfahrung<br />
und mangelnder Führungsstärke<br />
der leitenden Offiziere. Besseres Training<br />
gehört daher zu den Schwerpunkten der<br />
Armeereform.<br />
Auch die „Liaoning“ ist mit ihren<br />
58 800 Tonnen nicht wirklich konkurrenzfähig.<br />
Die amerikanischen Flugzeugträger<br />
der Nimitz-Klasse sind beinahe doppelt so<br />
groß. „Wir haben nicht genug Erfahrung<br />
mit dieser Art Schiff“, gibt Admiral Zhang<br />
denn auch freimütig zu. Man müsse erst<br />
mal Sicherheitsmaßnahmen und Managementmethoden<br />
entwickeln. Chinas künftige<br />
J‐15‐Trägerjets – gebaut auf Basis russischer<br />
Sukhoi S‐33‐Flugzeuge – sind zwar<br />
bereits von Land aus geflogen, aber noch<br />
nicht serienreif. Chinas Piloten sind für<br />
Landungen auf einem Träger nicht ausgebildet.<br />
Bei ersten Testfahrten der „Liaoning“<br />
waren daher nur Modelle der Flieger an<br />
Bord. Bis dort echte J‐15 landen, werden<br />
noch Jahre vergehen.<br />
Christiane Kühl<br />
lebt seit 2000 in China und<br />
erkundet von Peking aus als freie<br />
Korrespondentin das Land<br />
82 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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Wenn Bob Marley<br />
das Wüsste<br />
Das Wort<br />
der Priesterin<br />
„Daughter Baby I“<br />
hat in der Rastafari-<br />
Gemeinschaft<br />
Gewicht<br />
84 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Inmitten Äthiopiens ist eine kleine Gemeinschaft von Rastafaris entstanden. Die Menschen<br />
leben nach ganz eigenen Gesetzen, und manchmal verirren sich Deutsche dorthin<br />
von Philipp Hedemann<br />
Foto: Michael Tsegayes<br />
N<br />
och schnell einen Joint, dann<br />
hat Brother Moody Zeit, von seinen<br />
guten Freunden zu erzählen.<br />
Der eine ist ein Gott und Kaiser,<br />
der andere nur ein Musikgott.<br />
Sie heißen Haile Selassie und Bob Marley.<br />
Der 86 Jahre alte Brother Moody kannte<br />
beide gut. Sagt er. Der Mann mit den langen<br />
Dreadlocks und dem trotz Tausenden<br />
von Joints immer noch wachen Blick ist<br />
der älteste Bewohner Shashamanes, jener<br />
Rastafari-Siedlung im Süden Äthiopiens,<br />
die dem vor 37 Jahren verstorbenen Kaiser<br />
und seinem vor 31 Jahren verstorbenen<br />
musikalischen Propheten huldigt.<br />
„Haile Selassie und Bob, das waren<br />
zwei sehr anständige Männer. Ganz unterschiedliche<br />
Typen, aber beide sehr anständig.<br />
Sie haben uns hier in Shashamane besucht“,<br />
sagt Brother Moody, der auf einem<br />
Stuhl vor seinem bescheidenen Haus sitzt.<br />
Der Besuch ist fast 40 Jahre her. Doch in<br />
der 100 000-Einwohner-Stadt ist das ungleiche<br />
Duo noch immer allgegenwärtig.<br />
Bob Marleys Hymnen plärren überall aus<br />
schrammeligen Lautsprechern, kaum ein<br />
Bewohner der etwa 300-köpfigen Rastafari-<br />
Gemeinschaft, der nicht bisweilen seine<br />
Aussagen mit den abgedroschenen Phrasen<br />
aus Marleys Songs aufpeppt.<br />
Shashamane ist nicht schön. Eigentlich<br />
ist die vier Stunden südlich der äthiopischen<br />
Hauptstadt gelegene ehemalige<br />
Garnisonsstadt ziemlich hässlich. Während<br />
der Trockenzeit staubig, in der Regenzeit<br />
schlammig. Doch für mehrere Millionen<br />
Anhänger der Rastafari-Bewegung ist es das<br />
Paradies, das gelobte Land, der Ursprung<br />
und das Ziel. Und das kam so:<br />
„Schaut nach Afrika! Wenn sie dort einen<br />
schwarzen König krönen, dann ist der<br />
Tag der Befreiung nahe“, predigte Marcus<br />
Garvey 1920. Die Worte des radikalen<br />
jamaikanischen Panafrikanisten fielen bei<br />
den Nachfahren der aus Afrika verschleppten<br />
Sklaven in den Elendsvierteln der jamaikanischen<br />
Hauptstadt Kingston auf<br />
fruchtbaren Boden. Garveys Anhänger<br />
blickten nach Afrika, und zehn Jahre später<br />
sollten sie sehen, was ihnen prophezeit war:<br />
Am 2. November 1930 wurde Ras (Fürst)<br />
Tafari Makonnen in der äthiopischen<br />
Hauptstadt Addis Abeba als Haile Selassie<br />
(zu Deutsch: „Macht der Dreifaltigkeit“)<br />
zum Kaiser von Äthiopien gekrönt. Gleichzeitig<br />
fing es nach einer langen Dürre in<br />
Jamaika plötzlich an zu regnen. Garveys<br />
Jünger waren überzeugt, die Prophezeiung<br />
habe sich erfüllt. In Afrika hatte nicht nur<br />
ein weltlicher Herrscher, sondern auch der<br />
schwarze Messias den Thron bestiegen.<br />
In der Bibel hatten die Nachfahren der<br />
Sklaven die Geschichte der Gefangenschaft<br />
der Israeliten in Ägypten gelesen und sie<br />
mit ihrem Dasein in der Karibik gleichgesetzt.<br />
Im kleinen Kaiser aus Äthiopien sahen<br />
sie den schwarzen Moses, der sie in einem<br />
neuen Exodus, dem später von Bob<br />
Marley besungenen „Movement of Jah people“,<br />
aus dem Babylon des weißen Mannes<br />
zurück in ihre afrikanische Heimat führen<br />
sollte. Haile Selassie war den Rastafaris<br />
nicht nur der Neguse Negest („König der<br />
Könige“), sondern auch der König aus dem<br />
Hause Davids, der Auserwählte Gottes, der<br />
rechtmäßige Herrscher auf Erden, von dem<br />
schon Johannes in seiner Offenbarung gesprochen<br />
hatte. Mit dem 255. Nachfahren<br />
König Salomons und reichlich Geschichtsklitterung<br />
sollte das von Johannes<br />
verheißene tausendjährige Friedensreich<br />
beginnen.<br />
Doch zunächst kam es anders. Nur fünf<br />
Jahre nach der Krönung in Addis Abeba<br />
marschierte Mussolini in Äthiopien ein,<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 85
| W e l t b ü h n e | R a s t a f a r i s i n A f r i k a<br />
200 km<br />
SUDAN<br />
SÜD-<br />
SUDAN<br />
UGANDA<br />
führte mit Giftgas einen brutalen Eroberungskrieg<br />
gegen Abessinien, das heutige<br />
Äthiopien. Der Kaiser floh ins Exil nach<br />
England, während seine Landsleute unter<br />
den italienischen Imperialisten darbten.<br />
Erst als die Äthiopier mit britischer<br />
Hilfe Mussolini vertrieben hatten, kehrte<br />
der Herrscher 1941 nach Äthiopien zurück.<br />
Für die Rastafaris erfüllte sich damit der in<br />
der Offenbarung des Johannes<br />
angekündigte Sieg über Babylon.<br />
Als Dank für die Unterstützung<br />
der Schwarzen in<br />
aller Welt schenkte der zurückgekehrte<br />
Kaiser ihnen<br />
ein Stückchen Land in eben<br />
jenem Shashamane, der Stadt<br />
am transafrikanischen Highway<br />
Kairo-Kapstadt.<br />
Am 21. April 1966 reiste<br />
Haile Selassie schließlich zum<br />
Staatsbesuch in die jamaikanische<br />
Heimat Marcus Garveys,<br />
des Propheten, der sein Kommen<br />
46 Jahre zuvor angekündigt<br />
hatte. Tagelang hatte es<br />
auf der Karibikinsel heftig geregnet.<br />
Doch als die kaiserliche<br />
Maschine aufsetzte, brach<br />
plötzlich die Sonne durch die<br />
Wolken. Ein Wetterphänomen<br />
als Theophanie. „Ich bin<br />
nicht Gott. Ich bin kein Prophet.<br />
Ich bin ein Sklave Gottes“,<br />
erklärte Haile Selassie. Doch die Tausenden,<br />
die sich in Jamaika mittlerweile<br />
nach Ras Tafari Makonnen Rastafaris<br />
nannten, wollten das nicht hören. Für sie<br />
war der autokratische Herrscher nichts anderes<br />
als der prophezeite Messias. Endlich<br />
kam Schwung in die von Marcus Garvey<br />
„Deine Fragen<br />
sind so deutsch!<br />
Woher soll ich<br />
wissen, wo mein<br />
Gott mich in fünf<br />
Jahren braucht?“<br />
Free I<br />
Nil<br />
begründete „Black Zionism“-Bewegung,<br />
der Afrika als utopischer Ort für Tradition<br />
und Einheit galt. Das willkürliche neoreligiöse<br />
Konglomerat aus Legenden und mystischen<br />
Heilserwartungen materialisierte<br />
sich im real existierenden Shashamane.<br />
Brother Moody folgte dem Genius Loci<br />
Shashamanes und kam 1972 nach Äthiopien.<br />
„Der Kaiser kam hier regelmäßig mit<br />
ERITREA<br />
Blauer Nil<br />
KENIA<br />
R o t e s M e e r<br />
Addis Abeba<br />
Ä T H I O P I E N<br />
Shashamane<br />
SAUDI-ARABIEN<br />
JEMEN<br />
Golf von<br />
DSCHIBUTI Aden<br />
SOMALIA<br />
SOMALIA<br />
seinem Mercedes vorbei. Er wollte sich vergewissern,<br />
dass es seinen Leuten gut geht.<br />
Wenn es uns an etwas fehlte, mussten wir<br />
es ihm nur sagen, und er hat sich persönlich<br />
darum gekümmert“, erzählt Brother<br />
Moody. Wenn er spricht, hören sie in Shashamane<br />
ehrfurchtsvoll zu, schließlich ist er<br />
so etwas wie der Prophet des Propheten.<br />
Auch das Wort der Priesterin „Daughter<br />
Baby I“ hat in der Rastafari-Gemeinschaft<br />
Gewicht. Ihr Name steht in Kontrast<br />
zu ihrer äußeren Erscheinung. Eine<br />
große, schwere Frau mit einem langen<br />
weißen Kinnbart schleppt sich in breiten<br />
Schuhen an mir vorbei. Als ich sie frage, ob<br />
sie mir einige Fragen beantworten könne,<br />
entgegnet sie: „You have money?“ Ganz<br />
so schlimm finden die Rastafaris den Materialismus<br />
scheinbar doch nicht. Als die<br />
Priesterin wieder auftaucht, fragt sie erneut:<br />
„You have money?“, und geht, ohne die<br />
Antwort abzuwarten. „Was willst du von<br />
meiner Mutter?“, faucht ein Rastamann.<br />
„Mit ihr sprechen“, erwidere ich. „Listen!<br />
I tell you what, brother“, leitet der Rastamann<br />
die meisten seiner folgenden Sätze<br />
ein. Schließlich erklärt er, dass seine Mutter<br />
nur für Geld sprechen werde. Da sie auch<br />
das Wissen von zwei weiteren weisen Priestern<br />
offenbaren könne, müsse sie drei Interviews<br />
in Rechnung stellen. Widerwillig<br />
entrichte ich die geforderte Summe.<br />
Kurz darauf erscheint<br />
Indischer<br />
Ozean<br />
„Daughter Baby I“, begegnet<br />
mir jetzt schon freundlicher<br />
mit dem Gruß der Rastafaris,<br />
den zum Herz geformten<br />
Daumen und Zeigefingern<br />
der rechten und linken Hand<br />
und einem lang gezogenen<br />
„Rastafareiiiii“. „Wir feiern<br />
heute den Geburtstag seiner<br />
Majestät. Er ist der Schöpfer<br />
des Lebens“, sagt die Frau<br />
über den Despoten, unter<br />
dessen Herrschaft Hunderttausende<br />
verhungerten, während<br />
Haile Selassie in seinem<br />
Palast Bankette gab. Auf diesen<br />
Einwand erwidert sie: „Er<br />
ist der König.“ Schließlich hat<br />
Bob Marley in „Black Man<br />
Redemption“ über den Äthiopier<br />
bereits gesungen: „Coming<br />
from the root of King<br />
David, through to the line of<br />
Solomon, His Imperial Majesty<br />
is the Power of Authority“ (Aus dem<br />
Hause König Davids stammend, in direkter<br />
Linie von König Salomon, hat seine kaiserliche<br />
Majestät die Macht der Autorität).<br />
Das hat in Shashamane bis heute Gültigkeit.<br />
Kritik an dem Mann, der ihnen ein<br />
Stück Land schenkte, ist nicht erlaubt.<br />
Schnell wechselt „Daughter Baby I“<br />
das Thema. „Die Marihuana-Pfeife muss<br />
brennen. Das Kraut ist die Heilung für<br />
unser Volk“, sagt die 69-Jährige, die unter<br />
Asthma leidet und jeden Tag mindestens einen<br />
Joint raucht. Natürlich nur, um ihrem<br />
Gott nahe zu sein. Kiffen als heiliges Sakrament.<br />
Je öfter, desto frommer. Ob hier<br />
eine Sucht zur religiösen Pflicht uminterpretiert<br />
wird oder ob die religiöse Pflicht<br />
zur Sucht wird, bleibt unklar.<br />
„Ganja ist unsere spirituelle Nahrung<br />
und unsere spirituelle Reinigung. So wie<br />
du dir die Hände wäschst, bevor du isst, so<br />
reinigen wir unseren Geist mit Marihuana,<br />
Grafik: <strong>Cicero</strong><br />
86 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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bevor wir zu Jah beten. Steht schon in der<br />
Bibel“, sagt Brother Moody und zitiert<br />
aus Matthäus, Kapitel 12, Vers 20. „Das<br />
geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,<br />
und den glimmenden Docht wird er nicht<br />
auslöschen.“<br />
Als ich einwerfe, dass ich mir nicht<br />
sicher bin, ob der Evangelist damit das<br />
Kiffen rechtfertigen wollte, legt Brother<br />
Moody mit der Offenbarung des Johannes<br />
(„und die Blätter der Bäume dienen zur<br />
Heilung der Völker“) und dem 18. Psalm<br />
nach. „Rauch stieg aus seiner Nase auf, aus<br />
seinem Mund kam verzehrendes Feuer“,<br />
heißt es dort über den Herrn. Für Brother<br />
Moody, für den auch das in der Schöpfungsgeschichte<br />
erwähnte „Kraut“ das<br />
Kraut ist, das er mehrmals täglich raucht,<br />
ist die Sache damit klar. Ich mache den<br />
gleichen Einwand wie bei Matthäus. Da<br />
dreht der Rastafari den argumentativen<br />
Spieß um. „Schon viele sogenannte Christen<br />
wollten uns erzählen, dass man nicht<br />
Marihuana rauchen soll. Ich habe sie gefragt,<br />
wo das in der Bibel geschrieben steht.<br />
Bislang hat es mir niemand zeigen können.“<br />
Während Brother Moody den spirituellen<br />
Nutzen des Marihuanas in den Vordergrund<br />
stellt, versucht „Daughter Baby I“s<br />
Kingman, ihr Ehemann, eine Krankheit<br />
mit dem heiligen Kraut zu heilen. Als Bob<br />
Marley sich 1977 beim Fußballspielen den<br />
Fuß ver<strong>letzte</strong>, versuchte auch er, die Verletzung<br />
mit dem heilenden Kraut zu kurieren.<br />
Geklappt hat es nicht, doch „Daughter<br />
Baby I“s Kingman will der Homöopathie<br />
eine weitere Chance geben.<br />
Bevor die Priesterin aufsteht, um nach<br />
dem Kranken zu schauen, fragt sie: „Wo ist<br />
mein Geld?“ Ich sage, dass ich bereits bei<br />
ihrem Sohn gezahlt habe, damit er mich<br />
an ihrem Wissen teilhaben lässt. „Meine<br />
Söhne sind auf Jamaika“, erwidert die<br />
Priesterin. Der selbst ernannte Sohn und<br />
Pressesprecher hat es mit der Wahrheit offensichtlich<br />
nicht so genau genommen.<br />
Mir fallen Bob Marleys Worte ein: „You<br />
can fool some people sometimes, but you<br />
can’t fool all the people all the time“ (Man<br />
kann manchmal einige Menschen täuschen,<br />
aber man kann nicht ständig dem<br />
ganzen Volk etwas vormachen). Mit den<br />
Worten des Meisters lässt sich in Shashamane<br />
fast alles erklären. Und darum hätten<br />
die Bewohner ihren Bob auch so gerne<br />
bei sich. Als seine Witwe Rita in einem<br />
„So wie du dir die<br />
Hände wäschst,<br />
bevor du isst,<br />
so reinigen wir<br />
unseren Geist mit<br />
Marihuana, bevor<br />
wir zu Jah beten“<br />
Brother Moody<br />
Interview anlässlich des 60. Geburtstags<br />
ihres verstorbenen Ex-Mannes dessen Exhumierung<br />
in Jamaika und Beisetzung in<br />
Shashamane ins Gespräch brachte, war die<br />
Aufregung auf beiden Seiten des Atlantiks<br />
groß. In Jamaika, wo mit der disneyesken<br />
Ruhestätte ordentlich Geld gemacht wird,<br />
gab es heftige Proteste, in Äthiopien hofften<br />
die Rastafaris, dass Brother Bobs <strong>letzte</strong>r<br />
Wille endlich erfüllt würde. Der Leichnam<br />
blieb in Jamaika, Rita Marley sagte später,<br />
sie sei falsch verstanden worden.<br />
Während Bob Marley es – abgesehen<br />
von einem Besuch in Shashamane – im<br />
warmen Jamaika beim Besingen der spirituellen<br />
Heimat beließ, ging Sonja (Name<br />
geändert) aus Weiden in der kalten Oberpfalz<br />
einen Schritt weiter. „Achter Monat“,<br />
sagt sie, als sie sich die Hand auf den kugelrunden<br />
Bauch legt und am Joint zieht,<br />
den ihr Mann Samuel (Name geändert) aus<br />
Trinidad ihr reicht. Die werdende Mutter<br />
sieht erschöpft aus. Körperlich und psychisch.<br />
Mit ihrem halbwüchsigen Sohn aus<br />
einer vorherigen Beziehung, ihrem Mann<br />
und der gemeinsamen kleinen Tochter lebt<br />
sie in einem einfachen Haus.<br />
Warum ist sie nach Shashamane gekommen?<br />
Sie schaut mich an, als hätte sie<br />
gerade die dümmste Frage ihres Lebens gehört.<br />
„Na, um dem second death zu entgehen“,<br />
antwortet sie. Was ist der second<br />
death? Wieder der gleiche Blick. „Das ist<br />
der spirituelle Tod. Der erste, der fleischliche,<br />
ist ja nicht so schlimm, aber wenn<br />
du auch den second death gestorben bist,<br />
dann ist es wirklich aus. Das kannst du<br />
als Rastafari nur vermeiden, wenn du nach<br />
Shashamane ziehst“, erklärt die Frau mit<br />
den langen blonden Dreadlocks. Dann<br />
verliert sich ihr leerer Blick irgendwo im<br />
Raum, während der Blick ihres deutlich älteren<br />
Mannes sich ganz ungeniert auf dem<br />
Po einer deutlich jüngeren Frau festheftet.<br />
„Die hätte ich früher klargemacht“, prahlt<br />
der Rastamann.<br />
Sonja scheint das nicht zu stören, sie ist<br />
die Machosprüche ihres Mannes offenbar<br />
gewohnt. Ein Schicksal, das sie mit vielen<br />
ihrer Rasta-Sisters teilt. Auf niederträchtige<br />
Art hatten die Plantagenbesitzer<br />
in Jamaika versucht, ihren steten Bedarf<br />
an Arbeitskräften zu stillen. Sie förderten<br />
die Promiskuität unter ihren Sklaven,<br />
denn für sie waren die Sklavinnen nicht<br />
nur Arbeiterinnen, sondern auch Gebärmaschinen.<br />
Manche Soziologen sehen daran<br />
bis heute eine der Ursachen des bei<br />
den Rastafaris stark ausgeprägten Machotums.<br />
Auch wenn die Männer ihre Frauen<br />
„Sister“ oder „Queen“ nennen: Die Rastagesellschaft<br />
wird von Männern dominiert,<br />
das musste auch Sonja nach ihrem Exodus<br />
aus Weiden schnell begreifen. Ihrem<br />
Mann gilt der Gehorsam der Frau als von<br />
Gott geboten, andersrum müsse man es da<br />
nicht so genau nehmen, schließlich hatte<br />
Bob Marley auch mehr als eine Frau. Bis<br />
zu 46 Kinder werden ihm zugeschrieben,<br />
alleine während seiner Ehe mit Rita Marley<br />
sollen sieben uneheliche Marleys zur Welt<br />
gekommen sein – und was Bob getan hat,<br />
kann so falsch nicht gewesen sein.<br />
Auch „Free I“ ist dem Ruf nach Äthiopien<br />
gefolgt. Dabei hätte er sich eigentlich<br />
gar nicht angesprochen fühlen sollen,<br />
zumindest, wenn es nach Marcus Garvey<br />
88 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Fotos: Michael Tsegayes, privat (Autor)<br />
gegangen wäre. Denn dem Begründer der<br />
Rastafari-Bewegung, der mit dem Ku-<br />
Klux-Klan kooperierte, weil ihm offene<br />
Feinde der Schwarzen lieber waren als vermeintliche<br />
Freunde, war ein strenger Befürworter<br />
der Rassentrennung. Doch „Free I“,<br />
der seinen bürgerlichen Namen schon vor<br />
langem abgelegt hat, ist weiß, ziemlich<br />
blass sogar. In Shashamane leben mittlerweile<br />
Rastafaris aller Hautfarben. „Äthiopien<br />
ist Jah-Country. Ich habe gespürt, dass<br />
ich hierher gehöre, auch wenn das Leben<br />
hier nicht immer einfach ist. Aber life is<br />
struggle“, sagt der Physiotherapeut aus<br />
Norddeutschland. Will er für immer bleiben?<br />
„Deine Fragen sind so deutsch! Woher<br />
soll ich wissen, wo mein Gott mich in<br />
fünf Jahren braucht?“ Wozu er ihn gerade<br />
jetzt hier braucht, bleibt unklar, denn weitere<br />
Fragen will „Free I“ nicht beantworten.<br />
Er möchte in der offenen Rundkirche lieber<br />
mit Haile-Selassie-Gesängen dem „rechtmäßigen<br />
Herrscher auf Erden“ huldigen.<br />
Zu Ehren des Kaisers hat der Priester Marihuana<br />
auf den Altar gelegt, an dem alle sich<br />
kostenlos bedienen dürfen. „Heute hat der<br />
Lord of Lords Geburtstag. Zur Feier des Tages<br />
darf sie auch schon mal“, sagt ein junger<br />
Mann und haucht seinem Baby in der<br />
Kirche Rauch seines Joints ein. Die Mutter<br />
schaut wohlwollend zu, das Baby fängt<br />
an zu weinen.<br />
Einige Stunden und unzählige Joints<br />
später soll der Höhepunkt des Festes steigen:<br />
ein Reggae-Konzert zu Ehren des<br />
Kaisers. Auf einer Bühne haben sich zwölf<br />
Priester in langen Gewändern vor den Bildern<br />
des Jubilars aufgebaut. „Wir haben<br />
uns hier versammelt, um den Geburtstag<br />
des Königs der Könige zu feiern. Also benehmt<br />
euch. Der Lord of Lords will keine<br />
Gewalt!“, mahnen sie immer wieder. Zwei<br />
Polizisten in blauen Tarnfleck-Kampfanzügen<br />
und Kalaschnikows haben sich mittlerweile<br />
eingefunden, um den Worten<br />
der Gottesmänner Nachdruck zu verleihen.<br />
Obwohl die Rastafaris eigentlich keinen<br />
Alkohol trinken, sind viele der jungen<br />
Männer sturzbetrunken, nicht alle hat das<br />
Marihuana friedlicher gemacht oder ihrem<br />
Gott nähergebracht.<br />
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Die deutsch-französischen Beziehungen sind so unterkühlt wie<br />
lange nicht mehr. Ein Zustand, den Europa sich nicht leisten darf<br />
Von KLAUS HARPPRECHT<br />
E<br />
ine Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach<br />
konstatierte noch Mitte März dieses Jahres, dass<br />
50 Prozent der Deutschen von den Franzosen sagten:<br />
„Ich mag sie.“ Wie kann es dann sein, dass das französische<br />
Meinungsforschungsinstitut Ifop wenige Monate später zu der<br />
alarmierenden Feststellung gelangte, nur noch 18 Prozent der<br />
Deutschen sähen in den Franzosen die „bevorzugten Partner“<br />
und nur noch 31 Prozent der Franzosen in den Deutschen? Dazwischen<br />
die Wahl von François Hollande zum Staatschef, den<br />
Madame Merkel nicht empfangen hatte, als er noch im Wahlkampf<br />
war.<br />
Hollande zeigte keinen Groll, als er schließlich seinen obligaten<br />
Antrittsbesuch im Kanzleramt absolvierte. Allerdings war<br />
unübersehbar, wie fremd sich die beiden waren, als sie wie die<br />
Ölgötzen in der Kathedrale von Reims nebeneinandersaßen, um<br />
den 50. Jahrestag der großen Versöhnungsgeste zwischen Charles<br />
de Gaulle und Konrad Adenauer zu feiern. Hollande hat sich<br />
wohl auch nicht für den Spruch des Linksaufsteigers Arnaud<br />
Montebourg entschuldigt, die Kanzlerin sei die Wiedergeburt<br />
Bismarcks und wolle – mit anderen Mitteln – die Vorherrschaft<br />
der Deutschen in Europa etablieren. Der Maulheld wurde vielmehr<br />
mit dem Industrieministerium belohnt.<br />
Merkel unter der Pickelhaube: eine Steilvorlage für die Karikaturisten.<br />
Das Paar „Merkozy“ ist vergessen, samt der Bewunderung<br />
für das „deutsche Modell“. Mit dem Wechsel im<br />
Élysée scheint unversehens das Misstrauen gegen den hyperpotenten<br />
Nachbarn alle guten Erfahrungen der „Vernunftehe“ zu<br />
verscheuchen. Die Schwüre, auch das sozialistische Frankreich<br />
werde an der engen Partnerschaft festhalten – allerdings „nicht<br />
exklusiv“, wie Hollande betonte –, konnten die Vorbehalte<br />
kaum dämpfen, sosehr sich auch die sozialdemokratische Troika<br />
bei ihrem Besuch im Élysée-Palast um einen Ausgleich bemühte.<br />
Die bitterste Folge: So heftig wie seit langem nicht mehr regen<br />
sich die alten Nationalismen in einigen der neuen Mitgliedsländer.<br />
In Ungarn versucht die Rechtsregierung, den unseligen<br />
Vertrag von Trianon (aus dem Jahre 1919, wonach zwei Drittel<br />
des Königreichs Österreich-Ungarn Nachbar- und Nachfolgestaaten<br />
zufielen) durch Verfügungen zu revidieren, die den ungarischen<br />
Minderheiten in Rumänien, der Slowakei, in Kroatien<br />
und Serbien die gleichen Rechte wie den Bürgern des ungarischen<br />
Staates zuerkennen, samt Pass und Wahlrecht. Im Inneren<br />
beschneidet Budapest die Freiheit der Medien wie auch die Unabhängigkeit<br />
des Richterstands – ganz zu schweigen vom zunehmenden<br />
Antisemitismus und dem Hass gegen Roma, der sich<br />
im Nachbarland Rumänien nicht minder gewalttätig äußert. In<br />
Bukarest wurde durch den Machtkampf zwischen dem Präsidenten<br />
und dem Premierminister die Demokratie de facto außer<br />
Kraft gesetzt.<br />
Durch die Eurokrise, die nur kraft einer Einigung Frankreichs<br />
und Deutschlands gebannt werden kann, schien auch<br />
Brüssel partiell paralysiert zu sein. Die Nationaltrommler in<br />
den Medien und die Profiteure der Ängste vom Schlage eines<br />
Thilo Sarrazin sagen schon lange den Untergang des Euro voraus.<br />
Welt-Autor Alan Posener etwa präsentierte die Uraltlegende,<br />
dass die Vereinigung Europas von Beginn an nichts als die Konstruktion<br />
einer Allianz zur Zementierung des französischen Weltmachtanspruchs<br />
(als Ausgleich für das verlorene Kolonialreich)<br />
gewesen sei – angefangen mit der Montanunion, die nur den<br />
Zugriff auf die deutsche Kohle tarnen sollte.<br />
In der Tat war die europäische Planung des genialen Jean<br />
Monnet von der Einsicht geprägt, dass eine wirksame Kontrolle<br />
Deutschlands nur möglich sei, wenn sich die Partner der<br />
europäischen Gemeinschaften selber den Regeln unterstellten,<br />
die für die Deutschen gelten sollten. Kein zweites Versailles!<br />
Der Koloss in der Mitte Europas, der immer wieder das innere<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
90 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Gleichgewicht des Kontinents erschütterte, sollte durch seine<br />
Europäisierung ein für allemal gezähmt werden. Auch Charles<br />
de Gaulle akzeptierte schließlich die Logik dieses Konzepts. Er<br />
sorgte dafür, dass die Deutschen – kraft ihres wirtschaftlichen<br />
und technischen Potenzials – zur zweiten Macht in der Gemeinschaft<br />
aufstiegen, als Frankreichs wichtigster Partner.<br />
Aber stand, wie in der Welt behauptet, die Unterzeichnung<br />
der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />
in unmittelbarem Zusammenhang mit dem<br />
Scheitern des französisch-britisch-israelischen Krieges um den<br />
Sueskanal im Sommer 1956? Die Intervention Präsident Dwight<br />
D. Eisenhowers war nicht zuletzt durch den Aufstand in Ungarn,<br />
sein tragisches Ende und die sowjetische Kriegsdrohung<br />
bestimmt. Die Römischen Verträge aber waren zu jenem Zeitpunkt<br />
längst ausgearbeitet. Europa war für Frankreich nicht der<br />
„Plan B“.<br />
Der damals amtierende französische Ministerpräsident Guy<br />
Mollet war kein passionierter Europäer, sondern – wie so viele<br />
französische Sozialisten – tief im Nationalbewusstsein der Großen<br />
Revolution verwurzelt. Es gab nur wenige Sozialisten, die anders<br />
dachten, etwa Premierminister Michel Rocard, Kommissionspräsident<br />
Jacques Delors (in seinem Herzen ein Christdemokrat)<br />
und Präsident François Mitterrand (ein Kalkül-Sozialist, der die<br />
Partei als Vehikel für die Eroberung der Präsidentschaft brauchte).<br />
Die deutsche Wiedervereinigung wäre vermutlich an seinem Veto,<br />
dem der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher, dem der<br />
Polen und Tschechen gescheitert, hätten sie daran gezweifelt, dass<br />
auch das größere Deutschland in die Europäische Union (und<br />
die Nato) eingebunden bleiben würde. Mitterrand verlangte als<br />
entscheidende Garantie die gemeinsame Währung. Der Europäer<br />
Kohl akzeptierte. Der kleine Fuchs in Paris und der große in<br />
Bonn wussten, dass der Euro nur lebensfähig sein würde, wenn er<br />
von einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftspolitik getragen<br />
würde. Er sollte die politische Union erzwingen.<br />
Indes, die Euroländer drückten sich an der Konsequenz<br />
vorbei. Bis heute, da Griechenland, Irland, Portugal und Spanien<br />
vom Bankrott bedroht sind (und sich Italien der Gefahrenzone<br />
nähert). Die Solidarität 1 der 09.10.12 Großen, 16:26 die für Seite Hunderte 1 taz_geldzurueck_cicero_210x94_4c_Layout von<br />
Foto: Picture Alliance/DPA<br />
Milliarden bürgen, fordert zwingend eine gemeinsame Kontrolle<br />
der Staatsfinanzen und der Banken, kurz: ein Finanzministerium<br />
der Euroländer, der entscheidende Schritt zur politischen<br />
Union. Mit kühler Bestimmtheit verlangt die Kanzlerin<br />
den institutionellen Fortschritt, ehe Deutschland zu weiteren<br />
Leistungen bereit ist. Dafür hatte sie dem bisherigen französischen<br />
Präsidenten, Nicolas Sarkozy, die prinzipielle Zustimmung<br />
abgerungen. Wohl wissend, dass die Widerstände im eigenen<br />
Land gegen die Aufgabe weiterer „Souveränitätsrechte“<br />
beträchtlich sein würden. Der neue Hausherr im Élysée-Palast<br />
ist hingegen von der national-etatistischen Tradition der Sozialisten<br />
geprägt. Hatte Hollande nicht verkündet, keine französische<br />
Regierung werde das nationale Budget von einer fremden<br />
Instanz kontrollieren lassen?<br />
Eine gemeinsame Finanzpolitik aber fordert gleiche Regeln<br />
für alle. Erst dann ist ein organisierter Ausgleich zwischen Reich<br />
und Arm denkbar, durch Eurobonds oder eine Ordnung, die<br />
sich am Finanzausgleich der deutschen Länder orientiert.<br />
Das Ziel ist, wie von Jean Monnet abgesteckt, die Auflösung<br />
der „deutschen Frage“ durch die Einbindung in den europäischen<br />
Bundesstaat – zunächst aber in die Föderation der Euroländer.<br />
In Deutschland mag dieser Schritt ein Referendum<br />
verlangen (obwohl die Vereinigung Europas im Grundgesetz<br />
verankert ist). Die französischen Sozialisten, für die der Glaube<br />
an den republikanischen Nationalstaat eine ersatzreligiöse Bedeutung<br />
hat, ist der Verzicht auf weitere „Souveränitätsrechte“<br />
schwierig (so ausgehöhlt sie auch sind). Aber wer mit dem Euro<br />
A gesagt hat, muss den Mut zu B haben. Präsident Hollande<br />
muss sich zu Europa bekennen. Die Kanzlerin, die Mehrheit ihrer<br />
Partei, die Sozialdemokraten und Grünen werden es nicht<br />
zulassen, dass Europa aus Feigheit oder Kurzsichtigkeit hinter<br />
das Jahr 1914 zurücktreibt.<br />
Klaus harpprecht<br />
wirkte von 1972 bis 1974 als Redenschreiber<br />
im Bundeskanzleramt. Zuletzt erschien von<br />
ihm: „Arletty und ihr deutscher Offizier“<br />
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| K a p i t a l<br />
Europas Vorstopper<br />
Bieder, aber einflussreich – der Start des ESM gibt EU-Währungskommissar Olli Rehn noch mehr Macht<br />
von Eric Bonse<br />
S<br />
chütteres graues Haar, biedere<br />
Brille von der Stange, ein ausweichender,<br />
unsicherer Blick. Sieht<br />
so etwa Europas erster Finanzminister aus?<br />
Olli Rehn hat so gar nichts von der beißenden<br />
Strenge eines Wolfgang Schäuble,<br />
auch die geschmeidige Art von IWF‐Chefin<br />
Christine Lagarde geht ihm ab. Doch<br />
der EU-Währungskommissar aus der finnischen<br />
Provinz ist schon jetzt einer der<br />
mächtigsten Politiker Europas.<br />
Das gilt erst recht, seitdem der dauerhafte<br />
Europäische Stabilitätsmechanismus<br />
Anfang Oktober seine Arbeit aufgenommen<br />
hat. Denn auf Grundlage der Länderberichte<br />
aus Rehns Generaldirektion<br />
entscheidet der ESM, unter welchen Bedingungen<br />
er seine Mittel an die Krisenländer<br />
vergibt.<br />
Wenn Rehn eine Rede hält, ist ihm<br />
höchste Aufmerksamkeit sicher. Seine<br />
Worte bewegen die Märkte, Reporter verfolgen<br />
ihn auf Schritt und Tritt. Dabei<br />
muss man verdammt aufpassen, wenn man<br />
ihm folgen will. Rehn nuschelt, er räuspert<br />
sich, ganze Sätze bringt er nur stockend<br />
hervor. Klare Botschaften oder gar<br />
Pointen darf man von ihm nicht erwarten,<br />
im Gegenteil.<br />
„Der Kommissar beherrscht die hohe<br />
Kunst der Beruhigung durch Einschläferung“,<br />
sagt der Grünen-Europaabgeordnete<br />
Sven Giegold, Rehns Gegenspieler im<br />
Wirtschaftsausschuss. Er rede nicht nur in<br />
einem ermüdenden Ton, sondern weiche<br />
auch in der Sache immer wieder aus. „Rehn<br />
nimmt jeder politischen Veranstaltung die<br />
Energie“, klagt der Finanzexperte. Doch<br />
genau das ist es, was ihn aus Sicht der Euroretter<br />
zu einer Idealbesetzung in Brüssel<br />
macht.<br />
Denn Krise ist schon genug in Europa.<br />
Gebraucht wird ein Verteidiger – kein<br />
Stürmer, schon gar kein Libero. Und genau<br />
diese Rolle füllt Rehn perfekt aus. Genau<br />
wie früher als Vorstopper im örtlichen<br />
Fußballclub in Mikkeli, seiner Heimat,<br />
kümmert er sich jetzt im Berlaymont, dem<br />
Sitz der EU‐Kommission, darum, dass<br />
nichts anbrennt. Rehn wacht über die Einhaltung<br />
der Defizitkriterien, er kontrolliert<br />
die Umsetzung von Reformauflagen und<br />
warnt, wenn eine Schieflage droht.<br />
Er ist der Buchhalter des Euro und der<br />
Diplomat der Währungsunion. Wenn andere<br />
poltern und drohen, feilt er an den<br />
Zahlen und Fakten. Rehn entscheidet, ob<br />
seine 550 Mitarbeiter in der Generaldirektion<br />
Wirtschaft und Finanzen den Daumen<br />
über Krisenländer heben oder senken.<br />
Wenn er will, verhängt er harte Spardiktate,<br />
wie in Griechenland – oder gewährt<br />
ein Jahr Aufschub, wie zuletzt in Spanien<br />
und Portugal.<br />
Dem promovierten Politologen mit Vorlieben<br />
für „politische Ökonomie, Lesen,<br />
Rock und Jazz“ (Rehn über Rehn) ist dieser<br />
Job wie auf den Leib geschneidert. Bevor<br />
er EU‐Kommissar wurde, diente er<br />
dem finnischen Premier als Berater – und<br />
half, die Bankenkrise des Landes zu lösen.<br />
Als überzeugter Liberaler setzte er auf den<br />
Markt, nicht auf den Staat.<br />
In der Griechenland-Krise sprach sich<br />
Rehn für harte Sparmaßnahmen aus. In<br />
Berlin hörte man dies ebenso gern wie seine<br />
Einschätzung, der Euro lasse sich nicht allein<br />
mit Gemeinschaftsanleihen retten.<br />
Zwar fordert die EU‐Kommission weiter<br />
unverdrossen die Einführung sogenannter<br />
Eurobonds – doch der Währungskommissar<br />
warnt, ohne „genuine Stabilitätskultur“<br />
sei die Krise nicht zu meistern.<br />
Ganz so akribisch, wie er sich gerne<br />
gibt, ist Rehn dann doch nicht. Vor seinem<br />
Job als Währungskommissar war er für<br />
die EU‐Erweiterung zuständig – und holte<br />
die korrupten und wirtschaftlich unterentwickelten<br />
Balkanländer Bulgarien und Rumänien<br />
in die Union. Im Fall des Schuldensünders<br />
Ungarn drückte er beide Augen<br />
zu, um den ungarischen EU‐Vorsitz Anfang<br />
2011 nicht zu stören. Auch Deutschland<br />
und Frankreich hat er geschont. Paris<br />
ließ bis vor kurzem unbehelligt das Budgetdefizit<br />
schleifen. Für Deutschland formulierte<br />
Rehn die neuen EU-Regeln gegen<br />
„wirtschaftliche Ungleichgewichte“ sogar<br />
extra so, dass Deutschland weiter fleißig<br />
in die Defizitländer der Eurozone exportieren<br />
kann, ohne eine amtliche Überprüfung<br />
oder gar Strafen fürchten zu müssen.<br />
Anfang dieses Jahres geriet Rehn kurz<br />
selbst in die Schusslinie: Ein Pressebriefing<br />
in der Sauna der EU-Behörde sorgte<br />
für Wirbel in Brüssel. Denn zum Hintergrundgespräch<br />
im Dampfbad waren nur<br />
Männer eingeladen. „Altherrenschwitze“<br />
nannte das die Süddeutsche, und ein italienischer<br />
Korrespondent fragte nach dem<br />
Dresscode.<br />
Rehn ließ erklären, er treffe Journalisten<br />
„in verschiedenen Kontexten“ und<br />
freue sich über das rege Interesse. Geschadet<br />
hat es ihm nicht. Im Gegenteil: Sein<br />
Name fällt immer wieder, wenn es um Zukunftspläne<br />
wie den ersten Euro-Finanzminister<br />
geht. EU‐Kommissionschef José<br />
Manuel Barroso weist seinem Vertrauten<br />
ständig neue Aufgaben zu, Ratspräsident<br />
Herman Van Rompuy möchte ihm sogar<br />
ein eigenes Budget geben.<br />
Im Europaparlament hat Rehn weniger<br />
Fans. Er sei nicht gewählt und müsse erst<br />
einmal beweisen, dass er es ernst meine mit<br />
der Stabilitätskultur, heißt es. Unter ihm<br />
und seinen Vorgängern seien die Maastricht‐Kriterien<br />
86 Mal gebrochen worden,<br />
kritisiert der Grüne Giegold: „Ich<br />
wünschte mir in der Position eine stärkere<br />
Persönlichkeit.“<br />
Eric Bonse, Weltbürger<br />
und überzeugter Europäer<br />
aus Düsseldorf, beobachtet seit<br />
2004 das Raumschiff Brüssel<br />
als Korrespondent<br />
Fotos: Photoshot, privat (Autor)<br />
92 <strong>Cicero</strong> 11.2012
„Der<br />
Kommissar<br />
beherrscht<br />
die hohe<br />
Kunst der<br />
Beruhigung<br />
durch<br />
Einschläfern“<br />
Sven Giegold, Europaparlamentarier,<br />
über EU-Kommissar Olli Rehn<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 93
| K a p i t a l<br />
Freude am Anschlag<br />
Früher reparierte er Trabis, heute panzert Fred Stoof die Staatskarossen des afghanischen Präsidenten<br />
von Steffen Uhlmann<br />
I<br />
n Borkheide bei Potsdam ist die<br />
Gefahr, in seinem Auto unter Kalaschnikow-Dauerfeuer<br />
zu geraten,<br />
eher gering. Auch Minen- und Sprengstoffanschläge<br />
hat es hier noch nicht gegeben.<br />
Und es ist auch einem Zufall zu verdanken,<br />
dass Fred Stoof mit seinem in Borkheide<br />
ansässigen Unternehmen Stoof International<br />
zum Weltmarktführer für gepanzerte<br />
Fahrzeuge aufgestiegen ist. Seine Kunden<br />
sitzen dagegen ganz woanders: Erst vor wenigen<br />
Wochen hat Stoof 30 Geländewagen<br />
per Luftfracht nach Damaskus transportieren<br />
lassen und dort in der syrischen Hauptstadt<br />
an UN-Mitarbeiter übergeben. „Für<br />
uns ein <strong>Bombe</strong>ngeschäft“, sagt er und nickt<br />
dann fast verschämt, „wir sind ganz eindeutig<br />
Krisengewinnler.“<br />
Stoof ist 51, und man sieht ihm immer<br />
noch an, dass er früher Gewichtheber<br />
war. Heute steckt er denselben Ehrgeiz in<br />
sein Unternehmen: Fast 250 Wagen unterschiedlichster<br />
Bauart bekommen pro Jahr<br />
von seinen 170 Mitarbeitern in aufwendiger<br />
Kleinarbeit ein Schutzschild aus Spezialstahl<br />
und -glas verpasst. Hinzu kommen<br />
jede Menge Elektronik und Mechanik, die<br />
so einen Wagen erst zum mobilen Sicherheitstrakt<br />
machen. Millionenschwere Besitzer<br />
gepanzerter Luxuskarossen müssen auch<br />
auf die gewohnten Extras nicht verzichten:<br />
Bar nebst Kühlschrank, feinste Lederpolsterung<br />
oder Flachbildschirm und schnelles<br />
Internet. „Wir haben bislang noch jeden<br />
bizarren Wunsch erfüllt“, sagt Stoof.<br />
Ein Scheich habe bei ihm mal zwei gepanzerte<br />
Mercedes-S-Klassen bestellt, weil er<br />
sich nicht festlegen konnte, ob er türkise<br />
oder kanariengelbe Lederbezüge bevorzugt.<br />
Beim Stückpreis von 400 000 Euro<br />
eine kostspielige Entscheidungsschwäche.<br />
Stoof zuckt mit den Achseln: „Uns ist das<br />
recht, wir leben gut davon.“<br />
Mindestens genauso „bizarr“ wie ein Teil<br />
seiner Kunden ist Stoofs Geschichte. Aufgewachsen<br />
ist er im märkischen Busendorf.<br />
Das Familienunternehmen gibt es seit fünf<br />
Generationen. Anfangs, im 19. Jahrhundert,<br />
bauten die Stoofs Fuhrwerke aus Holz.<br />
Später entstand eine kleine Speditionsfirma<br />
und schließlich ein Karosseriebetrieb für<br />
Wartburg und Trabant. Fred<br />
Stoof, der den Betrieb von<br />
seinem Vater übernommen<br />
hat, legte schon zu DDR-<br />
Zeiten großen Wert darauf,<br />
selbstständig zu bleiben.<br />
Der Wechsel in die Marktwirtschaft<br />
fiel dem Karosseriebaumeister<br />
und Möbeltischler<br />
trotzdem nicht leicht.<br />
Zuerst importierte Stoof Gebrauchtwagen<br />
aus dem Westen.<br />
Später versuchte er sich<br />
mehr schlecht als recht als<br />
Autovermieter.<br />
Nebenbei reparierte er<br />
weiter Autos und wartete die<br />
Fahrzeuge einer Geldtransportfirma.<br />
Für einen beschädigten<br />
Transporter benötigte<br />
er 1991 Panzerstahl, den er<br />
von einem bayerischen Unternehmer<br />
geliefert bekam –<br />
mit einem hämischen Ratschlag<br />
gratis dazu: Lass die Finger davon,<br />
Ihr Ossis seid für solche Spezialaufträge<br />
einfach zu „dumm“.<br />
Stoof hat das nur angespornt – und<br />
er hatte Erfolg: „Der Kunde war hochzufrieden<br />
mit unserer Arbeit. Wir haben<br />
von ihm weitere Aufträge erhalten und<br />
waren plötzlich drin im Sicherheitsgeschäft.“<br />
Und wie: Schon zwei Jahre später<br />
war Stoof International erstmalig auf<br />
der Essener Sicherheitsmesse mit einem<br />
selbst gebauten Geldtransporter vertreten.<br />
„15 Quadratmeter belegten wir damals“, erinnert<br />
sich der Firmengründer, -chef und<br />
-eigner. Heute braucht er mindestens das<br />
Zehnfache. Viel wichtiger als die Standgröße<br />
ist aber die inzwischen stattliche<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
„Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht<br />
haben? Den<br />
Mittelstand!“, sagt jetzt<br />
auch der Deutsche-<br />
Bank-Chef Anshu Jain.<br />
<strong>Cicero</strong> weiß das schon<br />
länger und stellt den<br />
Mittelstand in einer<br />
Serie vor. Die bereits<br />
erschienenen Porträts<br />
gibt es unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Kundenliste. Seine Geldtransporter, von<br />
denen er pro Jahr mindestens 130 Stück<br />
baut, sind für die libysche Zentralbank<br />
genauso unterwegs wie für die Bank von<br />
England. Außerdem kurven weit mehr als<br />
500 gepanzerte Geländewagen<br />
aus dem Hause Stoof<br />
Diplomaten, Minister und<br />
Staatschefs durch internationale<br />
Krisengebiete. Allein<br />
an den afghanischen Präsidenten<br />
Hamid Karsai hat<br />
das Brandenburger Unternehmen<br />
sieben Toyota-Spezialgeländewagen<br />
geliefert.<br />
2004 ist Stoof von Busendorf<br />
in das benachbarte<br />
Borkheide umgezogen und<br />
hat sich dort einen komplett<br />
neuen Betrieb hinbauen<br />
lassen. Die Auftragsbücher<br />
sind voll, weswegen<br />
der Chef schon über einen<br />
neuen Ausbau nachdenkt:<br />
„Wir werden weiter wachsen<br />
– mit Sicherheit.“<br />
In der Montagehalle<br />
wird gerade ein Hyundai<br />
Equus bis aufs Gerippe<br />
zerlegt. Für das Luxusmobil haben Stoofs<br />
Ingenieure Fahrgestell und Bremssystem<br />
komplett neu entwickelt, damit der Fahrer<br />
das dank Panzerung bald tonnenschwere<br />
Fahrzeug sicher auf der Straße<br />
halten kann. „Der südkoreanische Autohersteller<br />
arbeitet bei gepanzerten Fahrzeugen<br />
exklusiv mit uns zusammen“, erzählt<br />
Stoof. Der künftige Fahrgast des<br />
Equus stehe auch schon fest: UN‐Generalsekretär<br />
Ban Ki‐moon.<br />
Steffen Uhlmann<br />
schreibt als freier Journalist für<br />
die Süddeutsche Zeitung. Er lebt<br />
und arbeitet in Berlin<br />
Fotos: Götz Schleser, privat (Autor)<br />
94 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Fred Stoofs Autos schützen gegen<br />
Kalaschnikow‐Feuer und Sprengsätze.<br />
„Ein <strong>Bombe</strong>ngeschäft“, sagt er<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 95
| K a p i t a l<br />
„Die haben keinen<br />
blassen Schimmer!“<br />
Bestsellerautor Rolf Dobelli über Irrtümer, den Goldstandard und die Überforderung des Politikergehirns<br />
H<br />
err Dobelli, Sie sind Experte für<br />
falsches Denken. Was sind die<br />
einschlägigen Denkfehler, die in<br />
Wirtschaft und Politik begangen werden?<br />
Es sind viele. Am häufigsten ist wohl der<br />
Planungsirrtum – also das systematische<br />
Überschätzen der Fähigkeiten bei der Planung<br />
großer Projekte – sei es beim Umbau<br />
eines Bahnhofs oder der Regulierung<br />
des Finanzmarkts.<br />
Sie sagen: Nicht an Dingen festhalten, nur<br />
weil man schon viel in sie investiert hat.<br />
Klingt nach Griechenland.<br />
Das ist die „Sunk Cost Fallacy“. Wir tendieren<br />
dazu, bei neuen Entscheidungen<br />
verlorene und unwiederbringlich ausgegebene<br />
Gelder in Betracht zu ziehen. Ein<br />
fataler Fehler. Es wird argumentiert: Jetzt<br />
haben wir schon so viel investiert in die<br />
Rettung Griechenlands oder in den Bestand<br />
des Euro, jetzt müssen wir weitermachen.<br />
So darf man das aber nicht sehen.<br />
Die Frage muss lauten – unabhängig<br />
davon, wie viel wir schon reingesteckt haben,<br />
ob einen Euro oder eine Trillion: Wie<br />
sieht die Situation heute aus? Ist es das<br />
wert, weiterhin den Euro zu verteidigen<br />
oder Griechenland in der EU zu halten?<br />
Was man schon reingebuttert hat, darf bei<br />
der Entscheidung keine Rolle spielen.<br />
Machen es sich Bestsellerautoren und<br />
Leitartikler nicht vielleicht ein bisschen<br />
leicht und übersehen die Bedingungen,<br />
unter denen Politik abläuft?<br />
Sie haben in einem Punkt recht mit<br />
der Frage: Politische Prozesse sind im<br />
Grunde viel zu komplex für unser Hirn.<br />
Unser Hirn ist für eine Umgebung unserer<br />
evolutionären Vergangenheit gebaut,<br />
die sehr einfach war: 50 Menschen in einer<br />
Kleingruppe, Jäger und Sammler, davon<br />
etwa die Hälfte Kinder, darunter ein<br />
paar Alte. Vielleicht 20 wirklich produktive<br />
Erwachsene, zehn Frauen und zehn<br />
Männer. Immer die gleiche Umgebung,<br />
ein kleiner Bewegungsradius von vielleicht<br />
zehn Kilometern. Und jetzt haben<br />
wir uns eine Welt geschaffen, die viel zu<br />
komplex ist. Unser Hirn ist dafür nicht<br />
geschaffen. Wir verstehen diese Dinge<br />
nicht, auch wenn wir es wollen. Die Welt<br />
mit ihren Handlungsfeldern, wie Politik<br />
oder Finanzmarkt, sind zu komplex geworden.<br />
Deshalb darf man Politikern keinen<br />
Vorwurf machen. Sie haben einen<br />
unmöglichen Job. Ich habe größten Respekt<br />
vor ihnen. Wie auch vor Vorstandschefs<br />
großer Firmen, die stecken genau in<br />
der gleichen Situation.<br />
Wieso soll uns das nicht fit für die neue<br />
Welt gemacht haben? Survival of the<br />
fittest …<br />
Die biologische Evolution hatte gar keine<br />
Zeit, unser Hirn an so etwas wie „globale<br />
Finanzmärkte“ anzupassen. Darum laufen<br />
wir heute mit einer Menge systematischer<br />
Denkfehler durch die Welt. Zum<br />
Beispiel war es seinerzeit in der Steppe<br />
sinnvoll, das Verhalten der anderen zu<br />
kopieren. Raschelte es in den Büschen<br />
und rannten die anderen davon, lohnte<br />
es sich, den anderen hinterherzurennen<br />
und nicht lange zu grübeln. So haben wir<br />
überlebt. Darum gibt es die menschliche<br />
Rasse, darum gibt es dieses Hotel, gibt es<br />
die Stadt Berlin. Menschen, die den anderen<br />
nicht hinterhergerannt sind, haben<br />
nicht überlebt, die sind aus dem Genpool<br />
verschwunden. Wir sind die Nachfolger<br />
jener, die das Verhalten der anderen kopiert<br />
haben.<br />
Wo ist das Problem dabei?<br />
In der heutigen Zeit brauchen wir diesen<br />
Herdentrieb nicht mehr. Er ist sogar<br />
Rolf Dobelli, 46, steht seit<br />
Monaten mit seinen beiden<br />
Sachbüchern „Die Kunst des<br />
klugen Denkens“ und „Die Kunst<br />
des klugen Handelns“, die im<br />
Hanser-Verlag erschienen sind,<br />
weit vorne auf den Sachbuch-<br />
Bestsellerlisten. Nach seinem<br />
BWL-Studium und anschließender<br />
Promotion in St. Gallen<br />
arbeitete er als Geschäftsführer<br />
verschiedener Tochterfirmen<br />
der Swissair. Später gründete er<br />
„get abstract“, den mittlerweile<br />
größten Anbieter für komprimierte<br />
Wirtschaftsliteratur. Obwohl er<br />
selbst Nachrichtenkonsum ablehnt,<br />
erscheinen seine Texte regelmäßig<br />
in der FAZ, der Zeit, im Wall<br />
Street Journal und dem Economist<br />
Foto: Herbert Zimmermann/13 Photo<br />
96 <strong>Cicero</strong> 11.2012
11.2012 <strong>Cicero</strong> 97
| K a p i t a l<br />
schädlich. Besonders am Finanzmarkt,<br />
in der Wirtschaft generell, lohnt es sich,<br />
selbstständig zu denken und zu handeln.<br />
Natürlich, es gibt Fälle, in denen<br />
man unter Druck gerät. Nicht dass ich<br />
es möchte, aber ich kann jetzt hier nicht<br />
meine Kleider ausziehen und splitternackt<br />
durch die Lobby laufen, da muss<br />
ich mich auch anpassen an die Konvention.<br />
Aber es lohnt sich, viel öfter selbstständig<br />
zu denken, als es früher der Fall<br />
gewesen war.<br />
Weil Sie gerade die Finanzmärkte ansprechen.<br />
Sie beziehen sich in Ihren Büchern<br />
oft auf prominente Akteure an den<br />
Finanzplätzen, die Sie offenbar gut kennen.<br />
Lachen diese Leute sich eigentlich kaputt<br />
über die Ahnungslosigkeit der Politik, was<br />
die Finanzwelt anlangt?<br />
Sie lachen sich tot! Weil die Politik keinen<br />
Schimmer hat, was abgeht. Die<br />
Geldmenge zum Beispiel. Wir denken<br />
immer, die Geldmenge wird von der<br />
Zentralbank festgesetzt. Aber das stimmt<br />
nicht. Die Geldmenge wird nur zu vielleicht<br />
20 Prozent von den Notenbanken<br />
geschaffen, zu 80 Prozent aber durch die<br />
Geschäftsbanken. Natürlich nicht über<br />
physisches Notendrucken, sondern über<br />
elektronische Einträge in den Computersystemen<br />
– was auf das Gleiche hinausläuft.<br />
Geschäftsbanken vergeben Kredite.<br />
Das ist nichts anderes als eine elektronische<br />
Buchung auf das Konto des Kreditnehmers.<br />
Doch die Geschäftsbanken<br />
müssen das Geld für diese Kredite nicht<br />
wirklich besitzen.<br />
Wo kommt es dann her?<br />
Sie können Geld aus dem Nichts schöpfen,<br />
und damit machen sie unheimliche<br />
Gewinne und schanzen sich Boni zu. Bevor<br />
sich das zusätzliche Geld über die anbahnende<br />
Inflation bemerkbar macht,<br />
haben sie sich schon lauter schöne<br />
Sachen davon gekauft. Die Banken, die<br />
Geld schöpfen, und die Banker, die es<br />
als erste persönlich abschöpfen, profitieren<br />
von diesem System – und sie werden<br />
es mit allen Mitteln verteidigen. Und<br />
die Gesellschaft guckt in die Röhre. Seit<br />
wir den Goldstandard abgeschafft haben,<br />
1971, lachen die sich schlapp und bereichern<br />
sich an diesem System, ohne dass<br />
es ein Politiker merkt. Sie machen Kasse,<br />
und die Politik, die Staaten kommen für<br />
die Risiken auf.<br />
„Unser Hirn will immer noch<br />
Herdentrieb, aber wir sollten<br />
viel öfter selbständig denken“<br />
Hat die Politik überhaupt eine Chance, die<br />
Sache wieder in den Griff zu kriegen?<br />
Na klar. Es gibt eine Lösung. In dem Fall<br />
sogar eine ganz einfache: Wir müssen zurück<br />
zum Goldstandard. Sobald wir wieder<br />
den Goldstandard haben, ist dieser<br />
Zauber vorbei. Das wäre das Ende<br />
der Selbstbereicherung durch die Banker.<br />
Sie wären wieder ganz einfache Angestellte,<br />
die einen ganz normalen Job machen:<br />
Ah, der will ein Häuschen bauen,<br />
ist er kreditwürdig, ja oder nein. Also<br />
dieses ganz einfache Bankengeschäft im<br />
Dienste des Kunden. Die Welt wäre langweilig,<br />
aber es herrschte wieder Ordnung.<br />
Die alte 3-6-3-Regel fürs Banking käme<br />
wieder zum Tragen: „Du gibst den Sparern<br />
3 Prozent Zins. Du vergibst darauf<br />
Kredite für 6 Prozent. Und um 3 Uhr<br />
nachmittags stehst du schon auf dem<br />
Golfplatz.“<br />
Die Repubikaner in den USA wollen zurück<br />
zum Goldstandard.<br />
Ach ja? Habe ich noch gar nicht gehört.<br />
Ich konsumiere keine News.<br />
Wie bitte?<br />
News-Konsum ist Zeitverschwendung.<br />
Das meiste ist Nachrichtenmüll. Was<br />
habe ich davon zu wissen, dass hier ein<br />
Flugzeug abgestürzt ist oder dort ein Senator<br />
fremdgeht? Überlegen Sie doch<br />
mal: Sie konsumieren vielleicht 30 Nachrichten<br />
pro Tag. Das sind ungefähr<br />
10 000 pro Jahr. Sagen Sie mir eine einzige,<br />
die es Ihnen erlaubt hätte, eine bessere<br />
Entscheidung zu treffen – für Ihr Leben<br />
oder für Ihren Beruf –, als wenn Sie<br />
diese Nachrichten nicht gehabt hätten.<br />
Bei mir gab es mal eine: Ich fuhr zum<br />
Flughafen, und dann war der Flug abgesagt,<br />
weil eine Aschewolke von diesem isländischen<br />
Vulkan in der Luft lag. Die<br />
Zeit hätte ich mir sparen können, wenn<br />
ich die Zeitung gelesen hätte. Aber das ist<br />
das Einzige, sonst habe ich eine Menge<br />
Zeit gespart, eine Menge Zeit, etwa einen<br />
halben Arbeitstag pro Woche locker,<br />
sieben Stunden. Das zweite Problem ist,<br />
wenn Sie News konsumieren, laufen Sie<br />
mit einer falschen Risikokarte durch die<br />
Welt.<br />
Was heißt das?<br />
Zeitungen, Radio, Fernsehen und<br />
News‐Portale im Internet müssen ja die<br />
Aufmerksamkeit des Lesers erheischen,<br />
damit sie Werbung verkaufen können.<br />
Das geht aber nur mit Storys, die laut<br />
sind, grell sind, sensationell, zugespitzt.<br />
Also halten Sie als News-Konsument<br />
Flugzeugabstürze und Terroranschläge für<br />
viel wahrscheinlicher, als sie in Wahrheit<br />
sind. Sie haben eine völlig falsche Risikokarte<br />
im Kopf und treffen dann auch falsche<br />
Entscheidungen, sowohl privat als<br />
auch in Ihrem Berufsleben, weil Sie Gefahren<br />
falsch einschätzen.<br />
Aber entgeht Ihnen auf diese Weise nicht<br />
eine Menge?<br />
Es passieren vermutlich schlimme Dinge<br />
auf anderen Planeten, aber wir finden es<br />
total okay, nichts davon zu wissen. Offenbar<br />
funktioniert es da, aber wenn irgendein<br />
Flugzeug in Sibirien abstürzt<br />
und wir das nicht wissen, dann fühlen<br />
wir uns unterinformiert. Und noch etwas:<br />
Wenn der Nachrichtenkonsum tatsächlich<br />
einen Wettbewerbsvorteil verschaffen<br />
würde, wären Journalisten die<br />
reichsten Menschen auf diesem Planeten.<br />
Dem ist nachweislich nicht so. Ich<br />
jedenfalls habe mir die Nachrichtenhetze<br />
erfolgreich abgewöhnt. Ich fühle mich<br />
besser seither und treffe die besseren Entscheidungen.<br />
Das Gespräch führte Christoph Schwennicke<br />
98 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Wir sind das<br />
in<br />
orgsmarienhütte,<br />
weil wir die Chancen des Unternehmens erkannt<br />
und es zukunftsfähig gemacht haben.<br />
Als Teil eines der größten Technologiekonzerne der Welt versteht GE Capital seine Kunden oft besser<br />
und kann ihnen so optimale Lösungen für Leasing, Factoring und Fuhrparkmanagement bieten.<br />
Wie der Georgsmarienhütte Gruppe, einem der führenden Edelbaustahl-Hersteller Europas, mit dem<br />
wir seit fast 20 Jahren zusammenarbeiten.<br />
Wir gestalten Deutschland: www.ge.com/de<br />
Wir sind das in rmany.
| K a p i t a l | E u r o f i g h t e r<br />
SUPERVOGELs<br />
Sinkflug<br />
Im Kalten Krieg brauchte Deutschland ein Jagdflugzeug.<br />
Lobbyisten und Politiker pumpten das Waffensystem<br />
zum teuersten Rüstungsprojekt der Bundesrepublik<br />
auf. Jetzt werden sie den Kampfjet nicht los<br />
von Constantin Magnis und Thomas Wiegold<br />
E<br />
S muss an der feilgebotenen Ware<br />
liegen, an der Kombination aus<br />
milliardenschwerer Hightech<br />
und tödlichem Kriegsgerät, dass<br />
es auf der Farnborough Fair in<br />
Südengland, der größten Flug- und Rüstungsmesse<br />
der Welt, nur so wimmelt von<br />
Männern, die auf dicke Hose machen.<br />
Breitbeinig stehen die Manager der Waffenkonzerne<br />
vor den VIP‐Chalets, Zigarre<br />
in der einen, Champagnerglas in der anderen<br />
Hand, und betrachten die Kampfjets,<br />
die über ihnen durch den Himmel brüllen.<br />
Und breitbeinig sitzen ihre Kunden, Generäle<br />
aus aller Welt, mit goldbehängten<br />
Schultern in den Golfbuggys, mit denen sie<br />
über die Flugfelder chauffiert werden. Das<br />
Geschehen im Security-gesicherten Pavillon<br />
des Kampfjets Eurofighter erinnert an<br />
diesem Morgen ein wenig an Action-Thriller<br />
aus den Neunzigern. An der Wand stehen,<br />
olivgrün aufgereiht, vier Piloten, die<br />
Brust herausgedrückt. Auf dem mannshohen<br />
Wandbildschirm läuft stumm ein<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
100 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Werbefilm, ein computeranimierter Eurofighter<br />
saust über digitale Wüsten und<br />
nimmt Fabrikhallen ins blinkende Fadenkreuz.<br />
Davor sitzt Enzo Casolini mit lakonischem<br />
Blick. Der hagere Italiener ist<br />
der CEO der Eurofighter GmbH und hält<br />
eine flammende Laudatio auf sein Waffensystem.<br />
Es sei schlichtweg, erklärt er, das<br />
„beste Flugzeug seiner Art“. In seinem Rücken<br />
lösen sich <strong>Bombe</strong>n aus der Flügelhalterung<br />
und kreisen in Zeitlupe auf eine<br />
Halle zu. „Nirgendwo auf der Welt“, bilanziert<br />
Casolini, „werden Sie Vergleichbares<br />
finden.“ Flammen schlagen aus dem<br />
Wellblechdach, eine Explosion macht das<br />
Gebäude dem Wüstenboden gleich. Eine<br />
Machtdemonstration ganz im Sinne des<br />
Firmenslogans: „Eurofighter Typhoon –<br />
Nothing comes close.“<br />
Wieder mal so ein Punkt, an dem der Eurofighter<br />
höher geredet wird, als er fliegen<br />
kann. Je trüber, je schwieriger die<br />
Zukunftsaussichten für das europäische<br />
Rüstungsprojekt, desto greller wird es in<br />
Szene gesetzt, wie schon so oft in seiner<br />
turbulenten Geschichte. Und Probleme hat<br />
das Vier-Nationen-Herstellerkonsortium<br />
aus Deutschland, Großbritannien, Spanien<br />
und Italien derzeit genug: Der europäische<br />
Rüstungsmarkt liegt als Folge der Finanzkrise<br />
am Boden, noch ist unklar, ob die<br />
klammen Staaten die <strong>letzte</strong> Tranche der Jets<br />
überhaupt abnehmen werden. Zum boomenden<br />
Exportgeschäft der Schwellenländer<br />
findet der Eurofighter ebenfalls keinen<br />
Zugang. Nach verlorenen Ausschreibungen<br />
von Singapur bis Japan scheiterte kürzlich<br />
auch der wichtigste angestrebte Rüstungsdeal<br />
des Konsortiums: der rund 20-Millarden-Dollar<br />
schwere Auftrag aus Indien für<br />
126 Kampfjets, der dringend nötige Befreiungsschlag.<br />
Zu allem Überfluss verhinderte<br />
die Politik nun auch noch die geplante Fusion<br />
der beiden Rüstungsfirmen EADS<br />
und der britischen BAE Systems – unter<br />
dem Dach der beiden agniert die Eurofighter<br />
GmbH. Der Zusammenschluss hätte<br />
Eurofighter<br />
Entwicklung: Der Eurofighter wurde<br />
zunächst als Jagdflugzeug geplant und<br />
dann zum Mehrzweckkampfflugzeug<br />
weiterentwickelt. Beteiligt sind EADS<br />
(Deutschland, Spanien), BAE Systems<br />
(Großbritannien) und Alenia Aeronautica<br />
(Italien). In Dienst seit 2003<br />
Daten: Länge 15,96 Meter, maximale<br />
Zuladung 7500 kg, maximale<br />
Geschwindigkeit Mach 2,35 (2400 km/h),<br />
maximale Flughöhe 19 812 m<br />
Nutzer: Deutschland, Großbritannien,<br />
Spanien, Italien, Österreich, Saudi‐Arabien<br />
Stärken: Exzellent im Luftkampf,<br />
Einsatzerfahrung in Libyen<br />
Probleme: Recht teuer in Anschaffung<br />
und Betrieb, bislang nur wenige Waffen für<br />
Bodenziele integriert<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 101
| K a p i t a l | E u r o f i g h t e r<br />
nicht nur den größten Waffenkonzern der<br />
Welt hervorgebracht, sondern auch ein<br />
krisenfesteres Umfeld für den Eurofighter.<br />
Stattdessen kämpft das Projekt inzwischen<br />
nicht mehr nur um sein Image. Bis 2018 ist<br />
die Produktion noch gesichert. Doch wenn<br />
nicht bald weitere Flugzeuge bestellt werden<br />
oder neue Kunden dazukommen, wird<br />
sie eingestellt. Dann wäre das größte Rüstungsprojekt<br />
in der Geschichte der Bundesrepublik<br />
vorzeitig am Ende. 26 Milliarden<br />
Euro an Steuergeldern – und dann geht es<br />
nicht weiter. Der Absturz eines Supervogels.<br />
Der Mann, bei dem dieses Projekt ursprünglich<br />
seinen Anfang nahm, trägt<br />
heute Rentnerweste und akkuraten Silberscheitel.<br />
Eberhard Eimler, General a. D.,<br />
blickt in den Himmel über Rheinbach, seinem<br />
Wohnort im Bonner Hinterland. Als<br />
er Chef der Luftwaffe war, hieß die Hauptstadt<br />
noch Bonn, die Anschaffung des Eurofighters<br />
fiel in seine Amtszeit. „Ich wollte<br />
damals nur preisgünstig das Dach über<br />
Deutschland abdichten“, sagt er, und formt<br />
dabei ein Schirmchen mit den Händen. Im<br />
Kalten Krieg war mit russischen Luftangriffen<br />
zu rechnen, Eimler hielt die deutsche<br />
Abwehr für lückenhaft und bat Helmut<br />
Kohl 1983 um Unterstützung für ein<br />
neues Jagdflugzeug. Er bekam sie.<br />
Noch mehr Begeisterung löste Eimlers<br />
Vorschlag bei der bayerischen Waffenschmiede<br />
MBB aus. Seit den Siebzigern<br />
hatte das Unternehmen, das später im<br />
EADS-Konzern aufging, an einem Flugzeug<br />
getüftelt, Arbeitstitel: Taktisches<br />
Kampfflugzeug, kurz: TKF. Es galt, sich<br />
vorausschauend Folgeaufträge für die in<br />
den Neunzigern auslaufende Tornado-<br />
Produktion zu sichern. Doch am damaligen<br />
SPD-Verteidigungsminister Hans<br />
Apel hatte sich die bayerische Lobby die<br />
Zähne ausgebissen. Gerade erst waren<br />
Phantom-Jäger aus den USA angeschafft<br />
worden, das neue Projekt schien Apel<br />
„Die Deutschen können aus dem Projekt<br />
nicht mehr aussteigen, Thatcher würde<br />
Kohl zu Tode prügeln“<br />
Aus dem Branchenblatt Aviation Weekly, 1988<br />
weder notwendig noch bezahlbar: „Das<br />
TKF wird es nicht geben.“<br />
Dann kam Kohl. Und mit ihm kam<br />
auch Franz Josef Strauß, CSU-Chef, Airbus-Aufsichtsrat<br />
und alter MBB-Amigo.<br />
Inzwischen hatten sich die Luftwaffen<br />
Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und<br />
Spaniens vorgenommen, gemeinsam mit<br />
Deutschland ein neues Kampfflugzeug zu<br />
planen, um Kosten zu sparen und größere<br />
Stückzahlen bauen zu können. „Jäger 90“<br />
sollte es heißen – sprachlich eine perfekte<br />
Symbiose aus Fortschrittsglaube und dem<br />
Sound der Bonner Republik. Eimler hatte<br />
dafür plädiert, nur Karosserie und Elektronik<br />
neu fertigen zu lassen, aber Triebwerke<br />
und Radargeräte der USA zu nutzen, um<br />
„exotische, teure Lösungen“ zu vermeiden.<br />
Dass aus Eimlers zweckmäßigem Anliegen<br />
30 Jahre später der Luftferrari des Enzo<br />
Casolini wurde, ist nur durch die Gemengelage<br />
aus bayerischer Lobbyarbeit und<br />
europäischer Politik zu erklären, die rasch<br />
eine Eigendynamik entwickelte. Aus simpler<br />
Bedarfsdeckung wurde ein internationales<br />
Prestigeprojekt. Je mehr Industrielle<br />
und Politiker involviert wurden, erinnert<br />
sich Eimler, desto teurer und komplizierter<br />
wurde es.<br />
Bereits 1985, Frankreich hat das Projekt<br />
inzwischen verlassen, soll jede Schraube<br />
von der europäischen Industrie neu erfunden<br />
werden. Mit den Anforderungen des<br />
Militärs hat das bald nichts mehr zu tun.<br />
1987 kommt es trotz öffentlicher Proteste<br />
zu einer „unverbindlichen“ Festlegung der<br />
geplanten Stückzahlen: je 250 für die Bundesrepublik<br />
und Großbritannien, 160 für<br />
Italien, 100 für Spanien – das ist praktisch<br />
ein Kaufversprechen, Jahrzehnte vor der<br />
Serienreife des Produkts. Für die Rüstungsindustrie<br />
ist das normal, gar überlebensnotwendig<br />
– setzt aber gleichzeitig Marktmechanismen<br />
außer Kraft, die mancher<br />
bald schmerzlich vermisst. CDU-Verteidigungsexperte<br />
Willy Wimmer bilanziert<br />
damals trocken: „Die Abgeordneten hatten<br />
keine Chance, den Jäger 90 zu verhindern,<br />
nachdem sich die Exekutive mit Franz Josef<br />
Strauß und MBB einig war.“ Oder, wie das<br />
Branchenblatt Aviation Weekly einen britischen<br />
Industriellen zitiert: „Wir sind inzwischen<br />
zu weit, als dass die Deutschen<br />
noch aussteigen könnten. Maggie Thatcher<br />
würde Helmut Kohl zu Tode prügeln.“<br />
Als Verteidigungsminister Manfred Wörner<br />
1988 schließlich den Vertrag zur voraussichtlich<br />
sieben Milliarden D‐Mark teuren<br />
Entwicklung des Jäger 90 unterschreibt,<br />
war er „nicht in Hochstimmung“, wie er<br />
sich später erinnert.<br />
1990 fällt die Mauer, der Warschauer<br />
Pakt bricht zusammen, der Bundeshaushalt<br />
ächzt unter der Wiedervereinigung. Eigentlich<br />
ein günstiger Moment, das Projekt<br />
abzublasen, dessen Grundlage die Gefahr<br />
aus dem Osten gewesen war. Tatsächlich<br />
fordern genau das auch immer mehr Mitglieder<br />
der Regierungsfraktionen, aber das<br />
Industrieargument, ein Ausstieg sei teurer<br />
als die Fertigstellung, hält sie vorerst<br />
im Zaum. Der Preis pro Flugzeug ist inzwischen<br />
von rund 65 auf 134 Millionen<br />
D‐Mark gestiegen.<br />
Volker Rühe, ab 1992 Verteidigungsminister,<br />
bezweifelt, dass man „angesichts<br />
der veränderten sicherheitspolitischen<br />
Lage diesen Supervogel braucht“, und<br />
urteilt dann: „Der Jäger 90 ist tot.“ Die<br />
Presse feiert seinen Widerstand gegen die<br />
Rüstungslobby – zu früh. Aus der Industrie<br />
und Großbritannien geht ein Kampagnensturm<br />
über Deutschland nieder, der<br />
Gefahren für Arbeitsmarkt, Hochtechnologie<br />
und wehrtechnische Potenz des Landes<br />
beschwört, und als sich die Ausstiegskosten<br />
als wirklich unerschwinglich entpuppen,<br />
knickt Rühe ein. Kleinlaut fordert<br />
er nun eine Sparversion des Jäger 90. Das<br />
Ergebnis: neuer Liefertermin, neuer Preis,<br />
neuer Name. Für 2002, fünf Jahre später<br />
als geplant, wird nun der „Eurofighter“ angekündigt<br />
– ein Name wie die Verheißung<br />
einer Vision, wie das Europa von übermorgen.<br />
Und der Supervogel, der nun nicht<br />
mehr zu stoppen ist, wird wieder großgeredet:<br />
„Die Luftwaffe braucht das neue<br />
Flugzeug dringend“, erklärt Rühe 1996.<br />
Ein Jahr später winkt der Bundestag den<br />
Produktionsvertrag durch. 620 der Kampfjets<br />
sollen nun für alle vier Partnerländer<br />
gebaut werden, davon 180 für Deutschland,<br />
das Stück für 128,7 Millionen Mark.<br />
102 <strong>Cicero</strong> 11.2012
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Rafale Gripen F-35<br />
Entwicklung: Leichtes, national<br />
entwickeltes Mehrzweckkampfflugzeug<br />
des französischen Herstellers Dassault<br />
Aviation. Inbetriebnahme: 2000<br />
Daten: Länge 15,27 m, maximale<br />
Zuladung 9500 kg, maximale<br />
Geschwindigkeit Mach über 1,97<br />
(2125 km/h), maximale Flughöhe circa<br />
16 800 m<br />
Nutzer: Frankreich, künftig eventuell<br />
Indien (Vertragsverhandlungen)<br />
Stärken: Kleiner, leichter und etwas<br />
günstiger als der Eurofighter, etwas<br />
geringere Fähigkeiten, Luft-Boden-<br />
Bewaffnung integriert<br />
Probleme: Bislang kein Export; falls<br />
der Indien-Auftrag (10 bis 20 Milliarden<br />
US-Dollar) scheitert, steht das Projekt vor<br />
dem Aus<br />
Entwicklung: Schwedisches<br />
Mehrzweckkampfflugzeug aus dem<br />
Hause Saab, wird in weiter entwickelter<br />
Form als Gripen NG angeboten,<br />
Inbetriebnahme: 1996<br />
Daten: Länge 14,10 m, maximale<br />
Zuladung 4200 kg, maximale<br />
Geschwindigkeit Mach 2 (2200 km/h),<br />
maximale Flughöhe circa 18 000 m<br />
Nutzer: Schweden, Großbritannien,<br />
Südafrika, Ungarn, Tschechien, Thailand<br />
Stärken: Niedrige Anschaffungs- und<br />
Wartungskosten, sehr zuverlässig, Luft-<br />
Boden-Bewaffnung integriert<br />
Probleme: Nur ein Triebwerk, Technik<br />
und Leistung sind der Konkurrenz<br />
unterlegen, Weiterentwicklung zur Version<br />
NG noch nicht gesichert<br />
Entwicklung: Das Mehrzweckkampfflugzeug<br />
F-35 wird in drei Versionen<br />
in den USA unter Führung von Lockheed<br />
und unter Beteiligung von acht Nationen<br />
entwickelt<br />
Daten: Länge 15,67 m, Waffenlast<br />
8165 kg, maximale Geschwindigkeit<br />
Mach 1,6 (1700 km/h)<br />
An Nutzung interessierte Länder: USA,<br />
Italien, Großbritannien, Niederlande, Türkei,<br />
Australien, Norwegen, Dänemark, Kanada,<br />
Japan, Israel, Singapur<br />
Stärken: Erstes Kampfflugzeug der<br />
5. Generation, erstes voll digitalisiertes<br />
Kampfflugzeug<br />
Probleme: Die Entwicklungskosten<br />
explodieren, das Flugzeug könnte deutlich<br />
teurer werden als der Eurofighter und<br />
technische Entwicklungsziele verfehlen<br />
Natürlich dauert am Ende alles länger<br />
als geplant. Erst 2004 wird das 1983<br />
bei Kohl bestellte Flugzeug in Dienst genommen,<br />
von Eberhard Eimlers Nach-<br />
Nach-Nach-Nach-Nach-Nachfolger,<br />
Luftwaffeninspekteur Klaus-Peter Stieglitz,<br />
heute ein durchtrainierter Pensionär<br />
mit eisgrauem Stoppelhaar und Fliegerabzeichen<br />
am Jackett. Wenn Stieglitz<br />
von dem kalten Februarmorgen erzählt,<br />
an dem er 2005 bei Rostock das erste<br />
„Der Eurofighter ist in Europa<br />
konkurrenzlos und neben der F-22 das<br />
beste Flugzeug, das es momentan gibt“<br />
Klaus-Peter Stieglitz, ehemaliger Luftwaffeninspekteur der Bundeswehr<br />
Mal den brandneuen Eurofighter getestet<br />
hat, bewegen sich seine buschigen Augenbrauen<br />
wie Eulenflügel. Stieglitz hat<br />
fast alle Kampfjets schon geflogen, von der<br />
MIG bis zur F‐16. Schon beim Einsteigen<br />
imponiert ihm das erhabene Sitzgefühl,<br />
das ungewohnt geräumige Cockpit.<br />
Nach allen Sicherheitschecks setzt der General<br />
die Sauerstoffmaske auf, der Techniker<br />
entfernt die Bremse unter dem Reifen,<br />
die Sonne scheint durch die offenen<br />
Hallentore, und Stieglitz rollt langsam auf<br />
die Startbahn. Er schaltet den Nachbrenner<br />
ein, gibt Gas, zieht den Steuerknüppel<br />
nach hinten. Er beschleunigt so rasch,<br />
dass er in den Sitz gepresst wird, innerhalb<br />
von zehn Sekunden hebt sich die<br />
Nase der Maschine, und sie donnert mit<br />
250 Kilometer pro Stunde durch die Luft.<br />
Über die Bordbildschirme flimmern Zahlen<br />
und Graphen, Stieglitz beschleunigt<br />
auf 450 Kilometer pro Stunde, notfalls<br />
schaffen die Triebwerke doppelte Schallgeschwindigkeit.<br />
Er weiß noch, wie die<br />
Winterlandschaft aus den Seitenfenstern<br />
verschwindet, bis um ihn herum nur noch<br />
Himmel ist und sanftes Dröhnen in den<br />
Kopfhörern. Stieglitz entspannt total.<br />
Anders als bei anderen Kampfjets<br />
muss er den Kurs nicht nachsteuern, einmal<br />
per Joystick programmiert, fliegt<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
104 <strong>Cicero</strong> 11.2012
der Eurofighter wie auf Schienen. Etwa<br />
5000 Meter über den glitzernden Flüssen<br />
des Havellands fliegt Stieglitz aerodynamische<br />
Manöver. Als er eine Stunde später<br />
landet, ist er beeindruckt. Ergonomie,<br />
Triebwerke, Cockpit, Radar, Manövrierbarkeit:<br />
„Der Eurofighter“, bilanziert er,<br />
„ist in Europa konkurrenzlos und neben<br />
der F‐22 das beste Flugzeug, das es momentan<br />
auf der Welt gibt.“<br />
Doch große Teile der Welt sehen das<br />
immer wieder anders. Zuerst, weil den Eurofighter<br />
heftige Kinderkrankheiten plagen:<br />
Triebwerke zünden nicht, Tankanzeigen<br />
fallen aus, Bordkanonen klemmen, Computerbildschirme<br />
streiken während des Fluges.<br />
Und durch das fieberhafte Nachbessern<br />
in den Fabrikhallen steigen die Kosten<br />
derart, dass London und Rom versuchen,<br />
die bestellte Fliegerzahl zu reduzieren.<br />
Mit den nachbestellten Systemen hat sich<br />
der Preis von 1998 nun mehr als verdoppelt:<br />
Auf 138,5 Millionen Euro und über<br />
80 000 Euro pro Flugstunde. Der Eurofighter,<br />
schreibt Rüdiger Wolff, Staatssekretär<br />
im Verteidigungsministerium, 2008 „in<br />
tiefster Sorge“ an seine europäischen Amtskollegen,<br />
sei in einer „kritischen Lage“.<br />
Kritisch steht es bald auch um das von<br />
EADS versprochene „sehr gute Exportpotenzial“<br />
des Eurofighters. Schlimm genug,<br />
dass der Eurofighter in Fernost keinen einzigen<br />
Käufer findet. Indonesien, Malaysia<br />
und Vietnam bestellen lieber die russischen<br />
Suchois, Japan, Singapur und Südkorea<br />
kaufen bei der pazifischen Schutzmacht<br />
USA, Thailand kommt gar mit den<br />
Schweden ins Geschäft.<br />
Kurios auch, dass dort, wo schließlich<br />
erfolgreich Exportverträge geschlossen<br />
wurden, schnell Ungereimtheiten auftauchen.<br />
Nachdem 2003 Österreich 18 Eurofighter<br />
bestellt hatte, stolpert ein Untersuchungsausschuss<br />
über dubiose Geldflüsse<br />
zwischen EADS-Lobby und einem Luftwaffenfunktionär,<br />
über den späteren Beratervertrag<br />
des damaligen Verteidigungsministers<br />
sowie mehrere Millionen Euro, die<br />
von EADS an die PR-Firma des Ex-Generalsekretärs<br />
der damaligen Regierungspartei<br />
FPÖ geflossen sein sollen. Auch<br />
der zweite Exporterfolg stinkt. 2005 bestellte<br />
Saudi-Arabien 72 Eurofighter. Dem<br />
EADS-Partner BAE Systems wurde später<br />
vorgeworfen, Mitglieder des saudischen<br />
Königshauses geschmiert zu haben. Für<br />
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eine Millionenzahlung wurde das Verfahren<br />
schließlich eingestellt.<br />
Am peinlichsten sind jedoch die<br />
Schlappen vor der eigenen Türe. Aus erhofften<br />
Deals mit den Nato-Partnern Griechenland,<br />
Norwegen oder den Niederlanden<br />
wird nie etwas, seit vergangenem Jahr<br />
scheint auch der lukrative Auftrag für<br />
22 Flugzeuge in der Schweiz verloren. Laut<br />
einem an die Presse durchgesickerten Auswertungsbericht<br />
genügten den Eidgenossen<br />
die technischen Anforderungen nicht.<br />
Und der Schweizer Luftwaffenchef Markus<br />
Gygax erklärte dem Branchenblatt Shownews<br />
später: „Selbst wenn wir den Eurofighter<br />
gewollt hätten, wir hätten ihn uns<br />
nicht leisten können.“<br />
Das alles wäre im Rückblick egal gewesen,<br />
hätten die Eurofighter-Verantwortlichen<br />
den Indien-Deal erfolgreich über die<br />
Bühne gebracht. 126 neue Kampfflugzeuge<br />
für insgesamt rund 20 Milliarden<br />
US‐Dollar wollen die Inder in ihre Luftstreitkräfte<br />
eingliedern – Ausschreibungen<br />
dieser Größe sind in der Branche ein<br />
Jahrhundertereignis. Kein Wunder, dass<br />
es ab 2009 zum Showdown fast aller großen<br />
Hersteller kommt, zwischen den traditionellen<br />
Lieferanten USA und Russland<br />
ebenso wie zwischen den Westeuropäern<br />
mit ihren drei konkurrierenden Modellen<br />
Eurofighter, der französischen Rafale und<br />
der Gripen aus Schweden.<br />
Anders als beim Vertrag mit Saudi-Arabien<br />
hatten in Indien die Deutschen die<br />
Federführung. Grund genug für die Bundeswehr,<br />
den Herstellern freundlich auszuhelfen.<br />
Und das durchaus auch aus Eigeninteresse:<br />
Die Anzahl der <strong>letzte</strong>n, noch<br />
an Deutschland zu liefernden Eurofighter<br />
soll laut Koalitionsvertrag mit künftigen<br />
Exporten verrechnet werden – im Erfolgsfall<br />
also eine enorme Ersparnis für<br />
den Verteidigungshaushalt. Dafür verlegte<br />
die Bundeswehr 2009 mit einem<br />
Millionenaufwand gleich vier Jets samt<br />
Tankflugzeugen, Begleitpersonal und Technik<br />
nach Indien, um auf der „Aero India<br />
2009“ der Bieterschlacht neuen Schwung<br />
zu verleihen. Sogar die Bundeskanzlerin<br />
griff in die staatliche Verkaufsförderung<br />
ein: Ende vergangenen Jahres rühmte sie<br />
in einem Brief an Indiens Premier Manmohan<br />
Singh das Flugzeug in höchsten Tönen<br />
und bot Indien an, als „fünfte Partnernation“<br />
in das Herstellerkonsortium<br />
einzusteigen.<br />
In den kommenden zwei Jahrzehnten<br />
werden weltweit 800 neue Kampfjets<br />
verkauft. 200 davon sollen Eurofighter<br />
sein – ein sehr ehrgeiziges Ziel<br />
Doch Anfang 2012 entscheiden sich<br />
die Inder für den kostengünstigeren Eurofighter-Konkurrenten<br />
Rafale des französischen<br />
Dassault-Konzerns. Frankreich, damals<br />
noch unter Präsident Nicolas Sarkozy,<br />
hatte sich aggressiv für den Export des bislang<br />
noch an kein Land verkauften französischen<br />
Kampfjets eingesetzt. Ob die Franzosen<br />
einen Preisnachlass gewährten oder<br />
den Rüstungsexport geschickt mit anderen<br />
Deals koppelten, lässt sich nur vermuten.<br />
Immerhin waren französische Unternehmen<br />
zuvor schon mit Neu-Delhi über<br />
die Lieferung von Atomkraftwerken und<br />
konventionellen U-Booten handelseinig<br />
geworden.<br />
Dass der Vier-Nationen-Kampfjet –<br />
wie zuvor schon in der Schweiz – zu teuer<br />
angeboten wurde, mag beim Hersteller<br />
EADS niemand hören. Und ob der Preis<br />
wirklich den Ausschlag gab, bleibt vorerst<br />
das Geheimnis der Inder. Kein Geheimnis<br />
ist dagegen, dass der einst als reines Jagdflugzeug<br />
begonnene Eurofighter auch acht<br />
Jahre nach seiner Inbetriebnahme weit davon<br />
entfernt ist, ein modernes Mehrzweckkampfflugzeug<br />
zu sein. Denn bisher sind<br />
seine Fähigkeiten, Bodenziele zu bekämpfen,<br />
äußerst beschränkt, erst langsam wird<br />
nachgerüstet. So schafften es die Briten<br />
nur mit massivem finanziellen Aufwand,<br />
ihre Maschinen für die demonstrative Bekämpfung<br />
von Bodenzielen in Libyen fit<br />
zu machen.<br />
Die Arbeiten an der Weiterentwicklung<br />
des Eurofighters zu einem Jagdbomber<br />
laufen zwar in den beteiligten<br />
Nationen auf Hochtouren, doch „work<br />
in progress“ ist gegenüber potenziellen<br />
Kunden ein schwaches Verkaufsargument.<br />
Denn in den zwei Jahrzehnten seit Ende<br />
des Kalten Krieges hat sich herausgestellt,<br />
dass es zwar immer noch Bedarf an Jagdflugzeugen<br />
gibt, die die Luftüberlegenheit<br />
sichern. Strategisch weitaus wichtiger sind<br />
aber Kampfjets, die Ziele am Boden angreifen<br />
können – möglichst exakt und<br />
ohne Kollateralschäden.<br />
Auf der Messe in Farnborough gucken<br />
die beiden Testpiloten vor dem Eurofighter-Stand<br />
etwas betrübt, als General Juniti<br />
Saito, Chef der brasilianischen Luftwaffe,<br />
vorbeimarschiert, ohne auch nur ein<br />
einziges Mal sein schlohweiß gescheiteltes<br />
Haupt zu wenden. Der 69-Jährige wird<br />
von seinem Stab eskortiert, Offiziere mit<br />
Sonnenbrillen, mächtigen Schnurrbärten<br />
und braun gebrannten Glatzen. Seit Jahren<br />
plant Brasilien, 36 neue Kampfflugzeuge<br />
zu kaufen, kann sich aber für kein Modell<br />
entscheiden.Wo Juniti Saito auftaucht,<br />
blinken deshalb Dollarzeichen in den Augen<br />
der Waffenhersteller. Das Ziel der Delegation<br />
steht funkelnd in der Sonne: Es<br />
ist die schwedische Gripen, das Discountangebot<br />
unter den Kampfjets. Technisch<br />
gilt er seiner Konkurrenz als weit unterlegen,<br />
doch insbesondere Flugstunden und<br />
Wartung sind im Vergleich spottbillig, die<br />
Gripen ist das Prinzip Ikea auf dem Flugzeugmarkt,<br />
der Anti-Eurofighter. Südafrika<br />
fliegt sie schon, Tschechien, Thailand, Ungarn,<br />
bald auch die Schweiz.<br />
Die Brasilianer legen die Köpfe schief,<br />
betrachten kritisch das Fahrwerk, zücken<br />
ihre Handykameras, Saitos Hand streicht<br />
zärtlich über den Seitenflügel. Ob sie<br />
sich nicht auch mal den Eurofighter anschauen<br />
wollen? „Pah“, macht Saitos Adjutant,<br />
winkt ab und schiebt sich ein neues<br />
Kaugummi in den Mund.<br />
Dabei kommt es in Zukunft auf die<br />
Schwellenländer an. Denn während die<br />
Rüstungsbudgets der Nato-Partnerstaaten<br />
schrumpfen, boomt der Markt in der<br />
Ferne: Um 22 Prozent will Brasilien seinen<br />
Verteidigungshaushalt bis 2015 erhöhen,<br />
Indien stockt auf 27 Prozent auf,<br />
Saudi-Arabien um fast 40 Prozent. Prognosen<br />
erkennen für die kommenden<br />
106 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Fotos: Andrea Bienert, privat<br />
zwei Jahrzehnte eine Nachfrage nach 800<br />
neuen Kampfflugzeugen. 200 Stück davon<br />
will die Eurofighter GmbH verkaufen,<br />
das ist das erklärte Ziel. Mindestens<br />
sechs Kampagnen führt sie dafür gerade<br />
rund um den Globus, von Malaysia bis Katar,<br />
nicht ohne Aussicht. Der Eurofighter<br />
mag vielen zu teuer sein, doch noch immer<br />
gilt er der europäischen Konkurrenz<br />
als technisch überlegen. Die Indien-Erfahrung<br />
hat das Team Eurofighter wach gerüttelt.<br />
Regierungen und Industrie arbeiten<br />
an allen Fronten, um nicht endgültig<br />
abgehängt zu werden. Längst fällige Upgrades<br />
wie der elektronische AESA-Radar<br />
sollen nun eilig integriert werden, und bei<br />
EADS rollen inzwischen Köpfe. Diverse<br />
Wechsel im Vorstand der Rüstungssparte<br />
„Cassidian“ wurden angekündigt, Spartenchef<br />
Stefan Zoller ging bereits, auch wegen<br />
der Eurofighter-Pleiten, heißt es. Weitere<br />
Rückschläge kann sich das Konsortium<br />
auch nicht leisten, denn aus Übersee drängen<br />
bereits Kampfflugzeuge der nächsten<br />
Generation auf den Markt, allen voran die<br />
amerikanische F‐35, die laut einer Studie<br />
des britischen Institute of Strategic Studies<br />
bald den europäischen Flugzeugmarkt beherrschen<br />
soll. Und schon Ende der Dekade<br />
könnte die russisch-indische Suchoi<br />
T‐50 exportfähig sein und den Mitbewerbern<br />
gefährlich werden. Die Uhr tickt, das<br />
Zeitfenster schließt sich allmählich.<br />
Das alles kümmert Bob Smith nicht,<br />
als er in Farnborough Ausschau nach seinem<br />
Baby hält. Der Eurofighter-Chefingenieur<br />
bei BAE Systems sieht aus wie<br />
Rod Stewart mit seiner Matte und der getönten<br />
Brille. Er zeigt auf den schwarzen<br />
Punkt, der am Horizont aus den Wolken<br />
bricht, rasch näher kommt, erst zum Keil<br />
wird und schließlich zum rasenden Dreieck<br />
mit blinkendem Bauch. Erst klingt der<br />
Eurofighter wie ein angezündetes Deospray,<br />
dann wie der tiefe Bass eines Flammenwerfers,<br />
die Erschütterung kitzelt unangenehm<br />
in den Backenzähnen. Über den<br />
Köpfen der Zuschauer dreht er eine qualmende<br />
Kurve. „Wenn Sie sehen könnten,<br />
wie Kunden gucken, nachdem sie das erste<br />
Mal den Eurofighter geflogen sind“, ruft<br />
Bob Smith. „Diese Gesichter!“ Er blickt<br />
mit leichtem Pathos in den Himmel. „Ich<br />
nenne es das Eurofighter-Lächeln.“ Über<br />
die Jahre haben sich die Mitarbeiter des<br />
Eurofighter-Projekts offenbar angewöhnt,<br />
immer dann ein fast schon demonstratives<br />
Selbstbewusstsein an den Tag zu legen,<br />
wenn es heftig kriselt. Bob Smith ist da<br />
keine Ausnahme. Über ihm dreht sich der<br />
Kampfjet jetzt mehrmals um die eigene<br />
Achse, um dann senkrecht aufzusteigen, bis<br />
die rot flammenden Triebwerke wie zwei<br />
Zigarettenstummel im Nebel verschwinden.<br />
„Ganz ehrlich“, sagt das Eurofighter-<br />
Pressefräulein neben ihm, „wenn ich da<br />
drinsäße: Ich würde kotzen.“<br />
Thomas Wiegold<br />
arbeitet als freier Journalist<br />
im Bereich Verteidigungs- und<br />
Sicherheitspolitik<br />
Constantin Magnis<br />
ist Reporter bei <strong>Cicero</strong><br />
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Ein Interessengemälde<br />
Per Wahlkampfspende sichern die US-Banken ihre Macht, allen voran Goldman Sachs<br />
D<br />
As Duell Obama gegen Romney hat beide Parteien etwa 2,5 Milliarden<br />
US-Dollar gekostet – der teuerste Wahlkampf der Geschichte. Traditionell<br />
mit Millionenspenden dabei ist der amerikanische Finanzsektor. Ein Blick<br />
hinter die Kulissen zeigt, welch enge Verstrickung der amerikanischen Politik mit<br />
den großen Wall-Street-Institutionen daraus erwachsen ist. Besonders engmaschig<br />
und gleichzeitig weit verzweigt ist das Netzwerk von Goldman Sachs, einer der erfolgreichsten<br />
Investmentbanken der Welt. Ehemalige Goldmänner waren Finanzminister<br />
unter Bush und Clinton, stehen aktuell an der Spitze der Europäischen<br />
Zentralbank und der Bank of Canada oder kontrollieren die mächtige New Yorker<br />
Notenbank. Da ist es fast egal, wer unter Goldman im Oval Office sitzt?<br />
Wall Street<br />
CITIGROUP<br />
SANFORD I. WEILL<br />
Ehemaliger Vorstandschef der<br />
Citigroup, wollte Timothy<br />
Geithner als CEO zur<br />
Citigroup holen.<br />
JP MORGAN<br />
JAMIE DIMON<br />
CEO der Investmentbank<br />
JP Morgan und Board Member<br />
der New Yorker Federal Reserve<br />
seit 2007. Mithilfe eines 30-<br />
Milliarden-Dollar-Kredits der<br />
US-Notenbank übernahm<br />
JP Morgan 2008 den kriselnden<br />
Konkurrenten Bear Sterns.<br />
Timothy Geithner war als<br />
Präsident der New Yorker Fed<br />
in die Entscheidung über die<br />
Kreditvergabe direkt involviert.<br />
Größte Wahlkampfspender<br />
BARACK OBAMA<br />
University of California $ 706 931<br />
Microsoft $ 544 445<br />
Google $ 526 009<br />
Harvard University $ 433 860<br />
Regierungsmitarbeiter $ 389 100<br />
MITT ROMNEY<br />
Goldman Sachs $ 891 140<br />
Bank of America $ 668 139<br />
JP Morgan $ 663 219<br />
Morgan Stanley $ 649 847<br />
Credit Suisse Group $ 554 066<br />
Spenden nach Branchen in Millionen US-Dollar:<br />
Finanzsektor<br />
Anwälte, Lobbyisten<br />
Gesundheit<br />
Medien, Internet<br />
Energie<br />
0 10 20 30 40 50 60 70<br />
Demokraten Republikaner<br />
US - Politik<br />
Legende:<br />
= arbeitet für<br />
= hat gearbeitet für<br />
= ein Vorgänger von<br />
= Berater/Aufseher<br />
= hat ernannt<br />
HENRY PAULSON<br />
Vorgänger von Timothy Geithner<br />
als US-Finanzminister von 2006<br />
bis 2009 unter George W. Bush.<br />
Von 1999 bis 2006 CEO der<br />
Investmentbank Goldman<br />
Sachs. Lehman Brothers<br />
verweigerte er als Minister<br />
staatliche Unterstützung und<br />
ließ den Goldman-Konkurrenten<br />
pleitegehen.<br />
GEORGE W. BUSH<br />
US-Präsident von 2000 bis 2008.<br />
MARK PATTERSON<br />
arbeitet als Chief of Staff von<br />
Timothy Geithner im<br />
US‐Finanzministerium. Vorher<br />
war er von 2004 bis 2008 als<br />
Lobbyist für Goldman Sachs in<br />
Washington D.C. tätig.<br />
ROBERT RUBIN<br />
US-Finanzminister unter Bill<br />
Clinton von 1995 bis 1999. In<br />
seine Amtszeit fiel die<br />
Aufhebung des Glass‐Steagall-<br />
Act, der eine strikte Trennung<br />
von Investment- und<br />
Geschäftsbanken vorsah.<br />
Es kam zu einer Welle von<br />
Großfusionen. Nach seinem<br />
Rückzug aus der Politik<br />
wechselte er zur Citigroup.<br />
Bis 2009 bekleidete<br />
er dort verschiedene<br />
Managementpositionen<br />
und erhielt für seine Tätigkeiten<br />
insgesamt 126 Millionen Dollar.<br />
Rubin war vor seinem Wechsel<br />
in die Politik 26 Jahre bei<br />
Goldman Sachs beschäftigt.<br />
Im Wahlkampf 2008 beriet er<br />
Barack Obama.<br />
MITT ROMNEY<br />
Obamas Herausforderer verfügt<br />
als Gründer des Private-Equity-<br />
Unternehmens Bain Capital<br />
über beste Beziehungen zur<br />
US-Finanzindustrie, die zu seinen<br />
wichtigsten Unterstützern und<br />
Spendern im Wahlkampf gehört<br />
(siehe Grafiken links).<br />
108 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Notenbanken &<br />
Aufsichtsbehörden<br />
LLOYD BLANKFEIN<br />
CEO von Goldman Sachs seit<br />
2006, als Nachfolger von Henry<br />
Paulson. Bei der drohenden<br />
Insolvenz des US-Versicherungsriesen<br />
AIG 2009 empfahl<br />
Blankfein seinem alten Chef<br />
Henry Paulson, die Versicherung<br />
mit Steuergeldern zu retten. AIG<br />
war einer von Goldmans<br />
wichtigsten Kunden. Die<br />
Investmentbank erhielt bei der<br />
Rettung der Versicherung<br />
13 Milliarden US-Dollar aus der<br />
Staatskasse.<br />
EDWARD CORRIGAN<br />
Partner und Managing Director<br />
bei Goldman. Begann 1968 seine<br />
Karriere bei der New Yorker<br />
Federal Exchange, arbeitete dort<br />
zeitweilig als Assistent für den<br />
damaligen US-Notenbankchef<br />
Paul Volcker. Von 1985 bis 1993<br />
war Corrigan Präsident der New<br />
Yorker Fed.<br />
Goldman Sachs<br />
JOHN THAIN<br />
Heute CEO der Mittelstandsbank<br />
CIT Group. Vorher bekleidete er<br />
Vorstandsposten beim<br />
Börsenbetreiber NYSE und bei<br />
den Investmentbanken<br />
Merrill Lynch und Goldman Sachs.<br />
Beriet Finanzminister Geithner<br />
zu Beginn von dessen Amtszeit.<br />
STEPHEN FRIEDMAN<br />
arbeitete 28 Jahre bei Goldman<br />
Sachs, von 1992 bis 1994 als<br />
Vorstandschef. Er war von 2006<br />
bis 2008 Geheimdienstberater<br />
von Präsident George W. Bush.<br />
US-NOTENBANK<br />
Die wichtigste Zentralbank<br />
der Welt ist ein Hybrid einer<br />
staatlich-privaten Institution:<br />
Ihr Direktorium wird vom US-<br />
Präsidenten ernannt, gehört aber<br />
den privaten Mitgliedsbanken des<br />
Federal Reserve Systems.<br />
BEN BERNANKE<br />
US-Notenbankpräsident seit<br />
Februar 2006, wurde von<br />
George W. Bush vorgeschlagen.<br />
Vorher zwei Jahre Vorsitzender<br />
des Council of Economic<br />
Advisors, dem wichtigsten<br />
wirtschaftspolitischen<br />
Ratgebergremium der<br />
US-Regierung.<br />
Überschwemmt die Märkte<br />
seit dem Ausbruch der<br />
Krise regelmäßig mit Geld,<br />
damit die US-Wirtschaft<br />
kreditfinanziert aus der Krise<br />
wachsen kann. Will die Zinsen<br />
bis mindestens 2014 bei<br />
0 Prozent belassen.<br />
NEW YORK<br />
FEDERAL RESERVE<br />
Die wichtigste der zwöllf<br />
regionalen Notenbanken. Da<br />
sie den in New York ansässigen<br />
privaten Banken gehört, wird ihr<br />
traditionell eine zu große Nähe<br />
zur Wall Street nachgesagt.<br />
WILLIAM C. DUDLEY<br />
Präsident der New Yorker Federal<br />
Reserve als Nachfolger von<br />
Timothy Geithner. Mitglied des<br />
Federal Open Market Committee<br />
der US-Notenbank, das die<br />
Zinssätze festlegt. Bevor er 2007<br />
zur New Yorker Fed kam, war er<br />
Partner und Managing Director<br />
bei Goldman Sachs.<br />
EZB<br />
MARIO DRAGHI<br />
Der Präsident der EZB arbeitete<br />
2004/2005 für Goldman<br />
Sachs in London.<br />
SEC<br />
ADAM STORCH<br />
CEO der Vollzugsabteilung<br />
der amerikanischen Börsenaufsicht<br />
SEC, vorher Managing<br />
Director bei Goldman Sachs.<br />
PAUL VOLCKER<br />
Ehemaliger US-Notenbankchef<br />
unter Carter und Reagan.<br />
Beriet Präsident Obama in<br />
der Finanzkrise. Die nach ihm<br />
benannte Volcker-Rule soll den<br />
Banken den Eigenhandel mit<br />
Wertpapieren untersagen.<br />
TIMOTHY GEITHNER<br />
Obama machte ihn 2008 zum<br />
US-Finanzminister. Vorher, von<br />
2003 bis 2008 Präsident der<br />
New Yorker Federal Exchange und<br />
als solcher ständiges Mitglied des<br />
Federal Open Market Committee<br />
der US-Notenbank, das die<br />
Zinssätze festlegt.<br />
BARACK OBAMA<br />
Die Gunst der Finanzindustrie<br />
hat Obama in vier Jahren fast<br />
vollständig verloren, obwohl sich<br />
auch in seinem Beraterstab und<br />
im Kabinett zahlreiche Experten<br />
aus der Finanzwelt tummelten.<br />
ROBERT ZOELLICK<br />
war bis Juni 2012 Chef der<br />
Weltbank, berät jetzt Mitt<br />
Romney in außenpolitischen<br />
Fragen. Arbeitete 2006/2007<br />
als Berater von Goldman Sachs.<br />
BANK OF CANADA<br />
MARK CARNEY<br />
Seit 2008 Chef der Bank of<br />
Canada, seit 2011 gleichzeitig<br />
Vorsitzender des Financial<br />
Stability Boards (FSB) der<br />
G 20 als Nachfolger von Mario<br />
Draghi. Hauptaufgabe des FSB:<br />
Vorschläge zu einer besseren<br />
Regulierung des Finanzsektors<br />
erarbeiten. Vor seinem Wechsel<br />
in den öffentlichen Dienst war<br />
Carney 13 Jahre bei Goldman<br />
Sachs tätig.<br />
Grafik: Olaf Simon; Fotos: Getty Images (2), Corbis (2), Picture Alliance/DPA (12), Archiv (2), DDP Images/AP, Treasury.gov<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 109
| K a p i t a l | M o h n s s ü S S e R a c h e<br />
Liz Mohn, die Bertelsmann-Matriarchin, will die Familie Jahr aus ihrem Verlag am Hamburger Baumwall herauskaufen<br />
Sekretärin vertreibt<br />
Chefredakteurin<br />
Der Kampf um die Macht bei Gruner und Jahr ist ein Duell zwischen Liz Mohn und Angelika<br />
Jahr, zwischen westfälischer Provinz und hanseatischem Verlagsadel. Nach jahrelanger<br />
Demütigung steht die Bertelsmann-Erbin nun kurz vor einem ihrer größten Triumphe<br />
von Thomas Schuler<br />
Fotos: Werner Bartsch/Agentur Focus, Anna Mutter/Fotogloria, Breuel-Bild<br />
110 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Angelika Jahr wehrte sich jahrzehntelang gegen Übernahmeversuche aus Gütersloh, ihr Einfluss scheint aber zu schwinden<br />
A<br />
Uf langen Tafeln lagen rote<br />
Schokoherzen und rote Rosen.<br />
Es gab Sushi, das Dessert hatte<br />
sich der Küchenchef der Zeitschrift<br />
Essen und Trinken ausgedacht.<br />
TV‐Koch Tim Mälzer präsentierte<br />
eine Feinschmecker-Show. Die verlagsinterne<br />
Allstar-Band sang zum Wechsel von<br />
Angelika Jahr-Stilcken vom Gruner-und-<br />
Jahr-Vorstand in den Aufsichtsrat im April<br />
2008 den Rolling-Stones-Hit „Angie“,<br />
und Stern-Redakteure überreichten ihr eine<br />
Sonderausgabe. Für den emotionalen Höhepunkt<br />
sorgte die sonst eher zurückhaltende<br />
Tochter des Verlagsgründers John Jahr senior<br />
aber selber, als sie im schwarzen Hosenanzug<br />
in der Hamburger Fischauktionshalle<br />
vor 700 Gästen auf die Bühne trat und ein<br />
Bekenntnis zu ihrem Verlag aussprach, das<br />
in den Worten gipfelte: „Es ist Liebe.“<br />
Auf dem vermeintlichen Ehrenplatz ihr<br />
gegenüber saß Liz Mohn, deren Familie<br />
den Medienkonzern Bertelsmann kontrolliert,<br />
zu dem auch 74,9 Prozent von Gruner<br />
und Jahr (G+J) gehören. Jeder in der<br />
Halle wusste, dass Liz Mohn und Bertelsmann<br />
den Jahrs ihre Sperrminorität gerne<br />
entreißen würden, um den Verlag endlich<br />
ganz für sich alleine zu haben. Für Liz<br />
Mohn waren Jahrs Worte eine Kampfansage.<br />
Die Platzierung an ihrem Tisch erschien<br />
plötzlich nicht mehr als Ehrenplatz,<br />
sondern als sorgfältig geplanter Affront, der<br />
ihr zeigen sollte, wer die eigentliche Chefin<br />
bei G+J ist. Teilnehmer erinnern sich,<br />
dass Liz Mohn das Fest mit ihrem Gefolge<br />
vorzeitig verließ.<br />
Es ist die Kernfrage, die seit Jahren immer<br />
wieder am Hamburger Baumwall gestellt<br />
wird: Übernimmt Bertelsmann die<br />
Macht bei G+J komplett und kauft die<br />
alt eingesessene hanseatische Verlegerfamilie<br />
heraus? Was lange Zeit undenkbar<br />
schien, das ist jetzt, gut vier Jahre nach<br />
dem Liebesversprechen in der Fischauktionshalle,<br />
für Liz Mohn und Bertelsmann<br />
in greifbare Nähe gerückt. Gleichzeitig<br />
schwindet der Einfluss von Angelika Jahr-<br />
Stilcken in der eigenen Familie. Bertelsmann<br />
hat selbst bestätigt, dass Deutschlands<br />
größter Medienkonzern und die<br />
Jahr-Holding, in der die Beteiligungen der<br />
Familie gebündelt sind, über eine vollständige<br />
Übernahme von G+J durch Bertelsmann<br />
verhandeln. Noch ist nichts entschieden,<br />
aber noch nie sprach so viel für einen<br />
Verkauf oder Anteilstausch.<br />
Bis es so weit kam, haben sich beide Seiten<br />
nichts geschenkt. Bertelsmann und die<br />
Jahrs haben zwei ihrer Vorstandsvorsitzenden<br />
zermürbt, indem sie sich blockierten<br />
und notwendige Investitionen versäumten.<br />
Im September erst trat der Verlagschef<br />
Bernd Buchholz entnervt und enttäuscht<br />
zurück, weil ihm keiner seiner Gesellschafter<br />
von den Verkaufsverhandlungen erzählt<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 111
| K a p i t a l | M o h n s s ü S S e R a c h e<br />
hatte. Er erfuhr es aus dem Manager Magazin,<br />
an dem Gruner und Jahr beteiligt ist,<br />
und musste in dem Artikel zudem lesen,<br />
dass er seiner Aufgabe nicht gewachsen sei.<br />
In Gütersloh, dem Stammsitz von Bertelsmann,<br />
hielt man es nicht mal für nötig, einen<br />
neuen G+J-Vorstandschef zu ernennen.<br />
Die Belegschaft in Hamburg ist verunsichert.<br />
Bisher waren es die G+J-Mitarbeiter<br />
gewohnt, dass jedes Übernahmeansinnen<br />
aus Gütersloh von Angelika<br />
Jahr-Stilcken im Keim erstickt wurde. So<br />
war es 2001, als der damalige Bertelsmann-<br />
Chef Thomas Middelhoff im Spiegel sein<br />
Interesse am Kauf der Jahr-Anteile bekundete.<br />
Sofort hielt ihm Angelika Jahr in einem<br />
Zeitungsinterview entgegen: „Wir<br />
tauschen nicht und wir verkaufen nicht.“<br />
Wenn angeblich, wie kolportiert, eine Investmentbank<br />
im Auftrag von Bertelsmann<br />
den Wert der Jahr-Beteiligung am Verlag<br />
errechne, sei das „unnötig“, sagte sie: „Zu<br />
keinem Preis sind wir gewillt zu verkaufen.“<br />
Bei den vier Familienstämmen gebe es „keinerlei<br />
Dissens“. Jeder Angriff werde „ins<br />
Leere“ laufen. So war es auch 2008, als Jahr<br />
vom Vorstand in den Aufsichtsrat wechselte<br />
und in der Fischauktionshalle sagte:<br />
„Der Jahr-Clan wächst, und er hält zusammen<br />
wie Pech und Schwefel. Und wenn<br />
es wirklich einmal so weit kommen sollte<br />
mit dem Verkauf, dann werden wir zu Gruner<br />
und Jahr stehen, denn wie ich schon<br />
sagte, es ist Liebe, und dies ist ein Versprechen.“<br />
Mit anderen Worten: Eher würde<br />
der Mehrheitsgesellschafter Bertelsmann<br />
seine Anteile zu Geld machen als dass die<br />
Jahrs jemals aussteigen würden. Das war<br />
das große Versprechen. Gilt es viereinhalb<br />
Jahre später noch?<br />
Der Wert des Verlags sinkt, Gruner und<br />
Jahr verliert gegenüber Burda, Springer<br />
und Bauer Marktanteile. Im immer wichtigeren<br />
Digitalgeschäft drohen Stern, Brigitte<br />
und Geo den Anschluss zu verlieren,<br />
weil die Gesellschafter die Entwicklung in<br />
den vergangenen zehn Jahren verschlafen<br />
haben. Vor allem Bertelsmann drängte G+J,<br />
jährlich im Schnitt 200 Millionen Euro<br />
an beide Gesellschafter auszuzahlen, um<br />
Schulden zu begleichen. Diese Schulden,<br />
darin liegt eine Ironie, waren entstanden,<br />
weil Bertelsmann einen fremden Investor<br />
rausgekauft hatte. Die Jahrs mussten also<br />
zusehen, wie die Gütersloher den Verlag<br />
auspressten, weil der Mitgesellschafter im<br />
eigenen Haus keine fremde Mitsprache<br />
duldete. Im Hamburger Verlagshaus aber<br />
Der Wert des Verlags sinkt, Gruner und Jahr<br />
verliert weiter Marktanteile und droht den<br />
Anschluss an die Konkurrenz zu verpassen<br />
Bertelsmann-CEO Thomas Rabe braucht Geld für den von ihm<br />
geplanten Konzernumbau – ein Argument für die Zerschlagung von G+J<br />
fehlte diese Milliardensumme, sodass über<br />
Jahre notwendige Investitionen unterblieben.<br />
Den Jahrs selber waren die Hände gebunden,<br />
da sie mit ihrer Sperrminorität nur<br />
verhindern, aber nichts durchsetzen können<br />
– und andererseits haben auch sie die<br />
jährlichen Ausschüttungen gerne genommen,<br />
um in Immobilien, Spielbanken und<br />
andere Projekte zu investieren.<br />
Überhaupt muss man inzwischen am<br />
von Angelika Jahr beschworenen Zusammenhalt<br />
der Familie zweifeln. Die ihr nachfolgende<br />
zweite Erben-Generation arbeitet<br />
nicht mehr im Verlag und hat kaum Interesse<br />
am Journalismus. In der Jahr-Holding<br />
hat seit 2011 Winfried Steeger als<br />
Geschäftsführer das Sagen, der sich gut<br />
mit Bertelsmann-Chef Thomas Rabe versteht.<br />
Zu den aktuellen Entwicklungen bei<br />
G+J schweigen die Jahrs. Als der NDR jetzt<br />
Angelika Jahr an ihr Versprechen von 2008<br />
erinnerte, sagte sie, es sei „nicht der richtige<br />
Zeitpunkt für Spekulationen“. Dass sie<br />
ihr Versprechen, die Familie stehe zu G+J,<br />
nicht erneuerte, verunsicherte ihre Mitarbeiter<br />
erst recht.<br />
Angelika Jahr ist eine journalistische Autorität<br />
bei Gruner und Jahr, und sie hat sich<br />
diese Position erarbeitet. Die 71-Jährige studierte<br />
Psychologie, Germanistik und Philosophie,<br />
absolvierte ein Volontariat bei der<br />
Welt. Sie arbeitete in den USA bei Glamour,<br />
Vogue und Time Magazine und stieg in den<br />
väterlichen Verlag als stellvertretende Chefredakteurin<br />
der Petra und Schöner Wohnen<br />
ein, der Einrichtungsfibel für Besserverdienende.<br />
1972 entwickelte sie mit essen & trinken<br />
das erste Magazin dieser Art in Deutschland.<br />
1988 übernahm sie die Chefredaktion<br />
von Schöner Wohnen, fungierte als Herausgeberin<br />
weiterer Titel und leitete schließlich<br />
bis 2008 acht Hochglanztitel in der Verlagsgruppe<br />
G+J-Life als Geschäftsführerin. Angelika<br />
Jahr spielte zwei Rollen: Sie war angestellte<br />
Chefredakteurin und zugleich das<br />
wachsame Auge der Besitzer als Wahrerin<br />
der Familientradition.<br />
Foto: Michael Jungblut/Laif<br />
112 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Anzeige<br />
Ihre Gefühle gegenüber Liz Mohn<br />
und Bertelsmann versteht man nur vor<br />
dem Hintergrund, dass schon ihr Vater<br />
John Jahr die Gütersloher von Anfang<br />
an als ungeliebte Eindringlinge empfand.<br />
Der ehemalige Sportreporter und Anzeigenvertreter<br />
hatte einst einen Verlag mit<br />
Axel Springer gegründet, jahrelang hielt<br />
er 50 Prozent an Rudolf Augsteins Spiegel,<br />
die er wegen dessen politischer Ausrichtung<br />
wieder verkaufte. 1965 gründete<br />
John Jahr gemeinsam mit dem Verlegerkollegen<br />
Gerd Bucerius und dem Drucker<br />
Richard Gruner den Verlag Gruner und<br />
Jahr. Gruner verkaufte an Reinhard Mohn.<br />
Als Bucerius ebenfalls verkaufen wollte, bekundete<br />
John Jahr Interesse, um für seine<br />
Kinder eine Mehrheit zu erstehen. Doch<br />
Bertelsmann-Chef Reinhard Mohn kam<br />
ihm zuvor, indem er Bucerius anbot, dessen<br />
Verlagsanteil gegen eine Beteiligung bei<br />
Bertelsmann zu tauschen. Seitdem sitzen<br />
die Vorbehalte gegen Bertelsmann in der<br />
Familie Jahr tief und gehören zur Verlagskultur<br />
von G+J. An seinem 80. Geburtstag<br />
sagte Jahr, er habe mehrfach frustriert einen<br />
Verkauf erwogen, aber seine vier Kinder<br />
hätten ihn davon abgebracht. Das war<br />
1980. Alle vier arbeiteten damals im Verlag,<br />
und er kommandierte sie auch im erwachsenen<br />
Alter noch vor Angestellten herum.<br />
Die ererbte Skepsis prägte auch die Rollenverteilung<br />
zwischen Angelika Jahr und<br />
Liz Mohn: Hier die Tochter des angesehenen<br />
Hamburger Verlegers, die sich souverän<br />
und sicher in ihren Kreisen bewegt.<br />
Auf der anderen Seite die Tochter einer armen<br />
Hutmacherin, die als Telefonistin bei<br />
Bertelsmann anfing, als Geliebte des verheirateten<br />
Unternehmenschefs Reinhard<br />
Mohn drei Kinder von ihm bekam, aber<br />
lange Zeit gezwungen war, in einer Scheinehe<br />
mit einem anderen leitenden Bertelsmann-Angestellten<br />
zu leben. Sie arbeitete<br />
in Mohns Büro, stand ihm in der Position<br />
einer Schülerin an der Seite – bis sie als<br />
Witwe die Macht im größten Medienkonzern<br />
Europas erbte und endlich so auftreten<br />
konnte, wie sie sich eine (erfolg-)reiche<br />
Unternehmerin vorstellte.<br />
Angelika Jahr hat Bücher über Innenarchitektur<br />
herausgegeben. Liz Mohn hat<br />
zwei Bücher über ihr Leben unter Prominenten<br />
und ihr gemeinnütziges Engagement<br />
verfassen lassen: 2001 „Liebe<br />
öffnet Herzen“ und zehn Jahre später<br />
„Schlüsselmomente“. Beide wurden von<br />
Ghostwriterinnen geschrieben. Beide sind<br />
PR in eigener Sache. Liz Mohn hetze von<br />
Termin zu Termin, von Feier zu Feier, sagen<br />
Mitarbeiter. Sie delegiere alles. Interviews<br />
werden nach Prawda-Manier von Beratern<br />
geschrieben, Reden, Beiträge ebenso. Ihre<br />
Mitarbeiter sind sich nicht sicher, ob sie je<br />
einen Text selbst verfasst hat. „Der publizistische<br />
Anspruch von Liz Mohn ist gleich<br />
null“, sagt ein ehemaliges Vorstandsmitglied<br />
von Bertelsmann. Wenn das stimmt,<br />
macht das aus ihr keinen schlechten Menschen.<br />
Aber für die Chefin des weltgrößten<br />
Buchverlags ist es zumindest ungewöhnlich.<br />
Das Verhältnis von Angelika Jahr und<br />
Liz Mohn sei geprägt von „aufgesetzten<br />
Freundlichkeiten“, sagt ein ehemaliges<br />
Mitglied des Vorstands, das beide bei<br />
zahlreichen Begegnungen beobachtete.<br />
Sie wüssten nichts miteinander anzufangen.<br />
Auf beiden Seiten sei „freundliche Distanz“<br />
bis zu „tiefer Missachtung“ zu spüren.<br />
Sie gingen sich aus dem Weg, hätten<br />
sich nichts zu sagen. Ein kühler Händedruck;<br />
formale Freundlichkeit – man will<br />
im Grunde nichts voneinander wissen. „Liz<br />
Mohn und Angelika Jahr könnten unterschiedlicher<br />
nicht sein.“ Der Widerspruch<br />
zwischen beiden sei augenfällig, sagen Mitarbeiter<br />
in Gütersloh und Hamburg. Dass<br />
der Verlag G+J auch in Glanzzeiten hinsichtlich<br />
Umsatz und Gewinn nur die kleinere<br />
Tochter des großen Medienkonzerns<br />
Bertelsmann war, das habe man am Auftreten<br />
der beiden nicht bemerkt. Angelika<br />
Jahr fühlte sich der unsicher wirkenden Liz<br />
Mohn stets überlegen.<br />
Gerne würde man Angelika Jahr fragen,<br />
ob ihre Treueschwüre von 2001 und<br />
2008 noch Geltung haben. Man würde<br />
gerne wissen, ob es vielleicht nicht so weit<br />
gekommen wäre, wenn sie und Liz Mohn<br />
wirklich miteinander gesprochen hätten;<br />
vielleicht hätten sich die beiden Gesellschafterfamilien<br />
dann nicht gegenseitig<br />
blockiert. Aber sie und die anderen Mitglieder<br />
ihrer Familie schweigen und lassen<br />
ihre Mitarbeiter mit Gerüchten und Spekulationen<br />
alleine.<br />
Fest steht, dass die komplette Übernahme<br />
von G+J für Bertelsmann nicht billig<br />
wird. Im Gespräch ist ein Anteilstausch,<br />
bei dem die Jahrs am Ende mit 4 bis<br />
5 Prozent an Bertelsmann beteiligt werden.<br />
Familie Jahr erhält bisher eine Garantiedividende<br />
und würde wohl auch als<br />
Bertelsmann-Gesellschafter Sonderrechte<br />
Ihr Monopol<br />
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11.2012 <strong>Cicero</strong> 113
| K a p i t a l | M o h n s s ü S S e R a c h e<br />
Fotos: Julia Zimmermann/Laif, Barbara Dombrowski/Laif, privat (Autor)<br />
Bernd Buchholz trat im September entnervt zurück, nachdem er<br />
von den Übernahmeverhandlungen aus den Medien erfahren hatte<br />
Julia Jäkel ist in den Vorstand aufgerückt. Hält Bertelsmann an<br />
G+J fest, könnte Jäkel die neue, starke Frau im Verlag werden<br />
beanspruchen. Aber wie sehen die strategischen<br />
Konsequenzen aus, wenn Bertelsmann<br />
100 Prozent von G+J gehören? Hätten<br />
die neuen Herren Interesse am Ausbau<br />
des Magazingeschäfts und würden die Redaktionen<br />
personell verstärken? Eher nicht.<br />
Wird Bertelsmann die Braut nur schön<br />
schminken, damit sie teuer verkauft werden<br />
kann? Davor haben sie in Hamburg<br />
trotz gegenteiliger Versicherungen Angst.<br />
Denkbar ist, dass Bertelsmann zunächst<br />
einen Kernbereich von G+J aus Stern, Brigitte<br />
und Geo behält und den Rest aufteilt<br />
und verkauft. Denn Liz Mohn versteht<br />
vielleicht nichts vom Journalismus,<br />
aber sie weiß, wie man sich Macht und<br />
Relevanz verschafft. Dass ihre Beteiligungen<br />
am Stern und Spiegel ihr Bedeutung<br />
in Berlin verschaffen, und vor allem auch<br />
dem Ruf ihrer Stiftung nutzen, steht für<br />
sie außer Frage.<br />
In ihrer Rede 2008 sprach Angelika<br />
Jahr in der Fischauktionshalle davon, dass<br />
die Jahrs in Hamburg anders seien als „die“<br />
im Süden und zum Verlag stehen werden<br />
und nicht ihr Wort brechen. Die Gäste<br />
aus Gütersloh betrachteten sich in Hamburg<br />
als „die im Süden“ – ihre Feierlaune<br />
war angeblich schlagartig vorbei. Sie verstanden<br />
Angelika Jahrs Worte als weitere<br />
Breitseite, obwohl diese – wie in Hamburg<br />
später versichert wurde – gar nicht Bertelsmann<br />
gemeint hatte. Das „die im Süden“<br />
habe sich auf die SPD-Politikerin Ypsilanti<br />
in Hessen bezogen, die trotz gegenteiliger<br />
Wahlkampfankündigung eine Koalition<br />
mit der PDS anstrebte. Gesagt hat sie es<br />
aber nicht. Jedenfalls klärte Angelika Jahr<br />
das Missverständnis nach der Feier gegenüber<br />
Hartmut Ostrowski, dem Vorgänger<br />
von Thomas Rabe, auf.<br />
Kürzlich gab es wieder eine Abschiedsfeier<br />
bei Bertelsmann, diesmal für Bernd<br />
Buchholz, der angeblich eine Abfindung<br />
in Millionenhöhe erhielt. Zurück blieben<br />
Mitarbeiter, die ihren Glauben an den Arbeitgeber<br />
verloren haben. Als Buchholz<br />
sich in der Kantine verabschiedete, kamen<br />
600 Gäste, die minutenlang applaudierten,<br />
als er auf die Bühne ging – nicht, weil er<br />
ging, sondern weil er gegen Bertelsmann<br />
aufgestanden war.<br />
Von Buchholz sprechen sie, als gehe mit<br />
ihm der <strong>letzte</strong> echte Vorstandsvorsitzende<br />
von Gruner und Jahr. Das neue Vorstands-<br />
Trio mit Julia Jäkel, Torsten-Jörn Klein und<br />
Achim Twardy wird im Verlag als Beleidigung<br />
angesehen. Sie klagen: Nicht mal einen<br />
echten Vorstandsvorsitzenden installieren<br />
die Miteigentümer aus Gütersloh<br />
noch, als würden sie den Verkauf abwarten.<br />
Vielleicht seien die drei aber doch eine<br />
dauerhafte Lösung, sagen andere. Alle waren<br />
verunsichert. Es flossen Tränen.<br />
Und wieder standen, wie bei Angelika<br />
Jahrs Abschied, die 20 Mitglieder der G+J-<br />
Allstar-Band auf der Bühne – zum <strong>letzte</strong>n<br />
Mal mit Buchholz an der Gitarre.<br />
Nach den Reden betrat plötzlich Angelika<br />
Jahr den Raum und erklomm die Bühne.<br />
Sie umarmte Buchholz. Sie hielt keine Rede,<br />
sagte nichts zu den Verhandlungen, wechselte<br />
nur ein paar Sätze mit Buchholz, den<br />
sie hat ziehen lassen, ohne ihm den Rücken<br />
zu stärken. Es wirkte wie ein verzweifeltes<br />
Eingeständnis Angelika Jahrs, die den<br />
Kampf gegen Liz Mohn und Bertelsmann<br />
verloren zu haben glaubt und auch keine<br />
allzu großen Hoffnungen mehr in den eigenen<br />
Clan setzt. Die Stimmung schwankte<br />
zwischen Betretenheit und Sentimentalität.<br />
Angelika Jahr ging, und Buchholz feierte mit<br />
seiner Frau, seiner Band und seinen Mitarbeitern<br />
weiter bis um 2 Uhr morgens. Es<br />
könnte für längere Zeit die <strong>letzte</strong> Gelegenheit<br />
für eine Verlagsparty gewesen sein.<br />
Thomas Schuler ist freier<br />
Medienjournalist. Seine Bücher<br />
„Die Mohns“ und „Bertelsmannrepublik<br />
Deutschland“ sind bei<br />
Campus erschienen<br />
114 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Energiewende. Wir fördern das.<br />
Fokussierung auf erneuerbare Energien, Klimawandel, Ressourcenschonung und Risikominimierung – es gibt viele Motive für die Energiewende.<br />
Die KfW hat den Umwelt- und Klimaschutz im ersten Halbjahr 2012 bereits mit mehr als 12 Mrd. EUR gefördert und somit<br />
vielen Einzelnen ermöglicht, einen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Ganz gleich, ob Sie die Steigerung der Energieeffizienz Ihres Hauses<br />
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Grenzen der Anpassung<br />
In einer eng vernetzten Welt ist der Kampf gegen den<br />
Klimawandel konkreter Selbstschutz und keine Entwicklungshilfe<br />
Von Anders Levermann<br />
A<br />
usgerechnet Katar. Der Reichtum<br />
des kleinen Staates auf der arabischen<br />
Halbinsel gründet fast ausschließlich<br />
auf dem Verkauf fossiler Brennstoffe,<br />
die maßgeblich sind für den Anstieg des<br />
weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen.<br />
Und gerade hier findet nun Ende November<br />
der Weltklimagipfel statt. Tausende<br />
Delegierte treffen sich bereits<br />
zum 18. Mal. Voran geht kaum etwas.<br />
Der internationale Politikbetrieb hat andere<br />
Prioritäten – und der durchschnittliche<br />
deutsche Fernsehzuschauer auch.<br />
Zu Unrecht.<br />
Sollten die Treibhausgase weiter<br />
ansteigen wie bisher, wird unsere<br />
Erde Ende dieses Jahrhunderts im Mittel etwa fünf Grad wärmer<br />
sein als vor Beginn der Industrialisierung. Das entspricht<br />
der Temperaturdifferenz zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit,<br />
freilich mit einem feinen Unterschied: Die Natur lässt sich<br />
für einen solchen Übergang ein paar Tausend Jahre Zeit. Die<br />
Menschheit ist dabei, die gleiche Erwärmung um das 50- bis<br />
100-Fache schneller zu erreichen. Da wir uns erdgeschichtlich<br />
bereits in einer Warmzeit befinden, sind wir jetzt also entsprechend<br />
auf dem Weg in eine Heißzeit. Dergleichen hat es seit Beginn<br />
der menschlichen Zivilisation noch nie gegeben.<br />
Die Politik kann auf Dauer die Realität der Physik nicht ignorieren.<br />
Wir Menschen verbrennen fossile Energieträger in<br />
Fabriken, Autos, Heizanlagen, und das dabei freigesetzte CO2<br />
führt als Treibhausgas zur Erwärmung unseres Planeten. Der<br />
Weltklimarat IPCC erarbeitet derzeit den nur alle sieben Jahre<br />
erscheinenden großen Sachstandsbericht. Zum fünften Mal<br />
wird darin der Wissensstand zum Klimawandel zusammengefasst.<br />
Die hierfür von Instituten weltweit erstellten Klimasimulationen<br />
stehen bereits allen Wissenschaftlern zur Verfügung und<br />
werden derzeit analysiert. Neu ist dabei, dass viele Modelle nicht<br />
mehr im Jahr 2100 stoppen, sondern bis 2300 weiterrechnen.<br />
Die Ergebnisse des höchsten Erwärmungs-Szenarios – und auf<br />
diesem Pfad befinden wir uns – lassen aufhorchen. Denn sie zeigen,<br />
dass im Inneren der Erde genügend Kohlenstoff lagert, um<br />
die Temperaturen bis 2200 um mehr als zehn Grad zu erhöhen.<br />
Der Blick auf die vergangenen Jahre mag veranschaulichen,<br />
wie bereits jetzt, bei einer globalen<br />
Erwärmung um 0,7 Grad, das Erdsystem zu<br />
reagieren beginnt. Wir haben zuletzt eine verblüffende<br />
Häufung von Wetterextremen beobachtet:<br />
2010 eine wochenlange Dürre in Russland<br />
mit verheerenden Bränden und<br />
einem daraus resultierenden Exportverbot<br />
für Weizen, gleichzeitig Extremniederschläge<br />
in Pakistan, die vorübergehend<br />
den größten Süßwassersee der Erde<br />
entstehen ließen und großes menschliches<br />
Leid verursachten. Ebenfalls 2010<br />
wurden die australischen Kohlefördergebiete<br />
in Queensland erst überschwemmt<br />
und gleich darauf vom Wirbelsturm<br />
Yasi getroffen. Europa hat in den vergangenen Jahren<br />
extrem kalte und schneereiche Winter erlebt; anders, als viele<br />
denken, ist dies kein Widerspruch zur Erderwärmung, sondern<br />
ist sogar mit dieser zu erklären, weil sie das arktische Meereis<br />
schrumpfen lässt und damit das Hereinsaugen arktischer Luft<br />
nach Europa begünstigt. Dieses Jahr erlebten wir einen weiteren<br />
Schmelzrekord am Nordpol mit 23 Prozent weniger Eisbedeckung<br />
als beim vorherigen Rekord 2007. Von der Öffentlichkeit<br />
weitgehend unbemerkt, vor allem aber von den Medien fast<br />
vollständig ignoriert, hat sich das Schmelzgebiet auf dem grönländischen<br />
Eisschild in diesem Jahr schlagartig (und glücklicherweise<br />
nur kurzzeitig) von normalerweise 50 Prozent auf 97 Prozent<br />
fast verdoppelt. Die Dürre in den USA sorgte für einen<br />
weltweiten Anstieg des Sojapreises.<br />
Diese Entwicklungen zeigen, dass wir den eingeschlagenen<br />
Pfad nicht bis zum Ende gehen können. Die rasante Veränderung<br />
der Temperaturen trifft auf eine extrem verwundbare, weil<br />
hochvernetzte Weltwirtschaft. Schon 2010 ist zweimal in einem<br />
Jahr das Verkehrssystem in Deutschland zusammengebrochen.<br />
Lufthansa hat viel Geld verloren, nur weil ein isländischer<br />
Vulkan für zwei Wochen den Luftverkehr lahmgelegt hat. Nach<br />
dem Tsunami 2004 gab es bei uns zeitweilig keine Festplatten<br />
mehr, weil die Produktionsstätten in Thailand zerstört waren.<br />
Firmen in Deutschland bekamen nach der Katastrophe von Fukushima<br />
keine dringend benötigten Einzelteile mehr aus Japan.<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
116 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Foto: Karkow<br />
Keines dieser Ereignisse kann auf den Klimawandel zurückgeführt<br />
werden. Aber sie illustrieren die Verletzlichkeit unserer<br />
Zivilisation – eine Verletzlichkeit, die eine Anpassung an den<br />
Klimawandel nur mindern, nicht aber beseitigen kann. Klar erscheint,<br />
dass wir in einer sich rasant und ungebremst erwärmenden<br />
Welt an die Grenzen unserer Anpassungsfähigkeit gelangen<br />
werden. Die vermeintlich größten Gefahren infolge der Erderwärmung<br />
gehen von Kipppunkten im Klimasystem aus. Regionen<br />
wie das westantarktische Eisschild könnten bereits durch<br />
relativ kleine äußere Störungen ins Kippen geraten, also ihren<br />
derzeitig stabilen Zustand dauerhaft ändern. Dies würde<br />
langfristig einen Meeresspiegelanstieg verursachen, an den sich<br />
Hamburg, Schanghai oder Kalkutta nicht mehr anpassen könnten.<br />
Welche Erwärmung dafür nötig ist, kann man nur abschätzen.<br />
Für den kilometerdicken Eispanzer auf Grönland, der ein<br />
Potenzial von mehreren Metern Meeresspiegelanstieg birgt, liegt<br />
die jüngste Abschätzung bei 0,8 bis 3,2 Grad.<br />
Irgendwann werden wir entlang des Pfades, auf dem wir uns<br />
derzeit befinden, aufhören müssen, den Klimawandel als Luxusproblem<br />
zu behandeln, wie wir es derzeit tun. Wir reden dann<br />
nicht mehr über den Verlust des Lebensraums von Eisbären.<br />
Dann geht es an die Substanz. Was geschieht, wenn ein Bombardement<br />
von Extremereignissen auf ein hocheffektives Produktionsnetzwerk<br />
trifft? Was geschieht, wenn auf eine Oderflut direkt<br />
eine Sturmflut an der Nordseeküste folgt – und die Sturmflutopfer<br />
nur unzureichende Unterstützung erfahren, weil die Ressourcen<br />
für die Oderflutopfer benötigt werden? Wenn dann der<br />
folgende Sommer eine Hitzewelle wie die von 2003 bringt und<br />
der Winter extreme Kälte? Die gemeinhin verwendete Definition<br />
von Risiko als Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schadenshöhe<br />
wird ad absurdum geführt, wenn es um Schäden geht, die<br />
eine Gesellschaft zum Kippen bringen können.<br />
Das alles ist wissenschaftlich bislang kaum untersucht. Wir<br />
wissen noch nicht genau, wie stark die Extreme in der Zukunft<br />
zunehmen. Wir haben noch keine Simulationen für die genaue<br />
ökonomische Antwort unseres global verzweigten Netzwerks.<br />
Und daher ist es auch nicht sicher, dass wir uns auf solch drastische<br />
Szenarien einstellen müssen. Aber es gehört zu den Aufgaben<br />
von Wissenschaft und Gesellschaft, die richtigen Fragen zu<br />
stellen; abzuwägen, welche Folgen man für erträglich hält und<br />
welche nicht.<br />
Die Fähigkeit zur Anpassung setzt Wissen voraus. Es ist<br />
möglich, unser globales Versorgungsnetz umzustellen von Effektivität<br />
auf Widerstandsfähigkeit, sofern wir den Firmen die notwendigen<br />
Informationen zur Verfügung stellen und sie das Problem<br />
ernst nehmen. In jedem Fall aber muss der Klimawandel in<br />
handhabbaren Grenzen gehalten werden – und dafür brauchen<br />
wir auch weiterhin Klimakonferenzen wie die in Katar.<br />
Anders Levermann ist Koleiter des Forschungsbereichs<br />
„Nachhaltige Lösungsstrategien“ am Potsdam-Institut<br />
für Klimafolgenforschung, Professor für Physik an<br />
der Universität Potsdam und einer der Leitautoren im<br />
nächsten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC<br />
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100 Jahre mussten<br />
wir warten<br />
Mark Twain verfügte, dass seine Autobiographie erst<br />
100 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden darf.<br />
Jetzt erstmals auf Deutsch: sein <strong>letzte</strong>s, größtes Werk.<br />
Meine geheime<br />
Autobiographie –<br />
»so frank und<br />
frei und schamlos<br />
wie ein Liebesbrief«.<br />
MARK<br />
TWAIN<br />
Foto: Albert Bigelow Paine (1906)
Fotos: Mark Twain House and Museum, Hartford (oben), Herbert Tomlinson (Mitte), Albert Bigelow Paine (unten)<br />
Das Buch, fast 800 Seiten<br />
stark und rund 2 Kilogramm<br />
schwer, landete<br />
sofort an der Spitze der<br />
amerikanischen Bestsellerlisten.<br />
Bislang wurden<br />
über eine halbe Million<br />
Exemplare verkauft.<br />
Als Mark Twain seine<br />
Autobiographie im Dezember 1909<br />
fertiggestellt hatte, sollte die Öffentlichkeit<br />
sie auf keinen Fall zu Gesicht<br />
bekommen. »Ich teile die weitverbreitete<br />
Angewohnheit, in vertrauten<br />
Gesprächen mit Freunden meine<br />
privatesten Ansichten über Politik,<br />
Religion und die Menschheit zu<br />
verkünden, es würde mir aber nicht<br />
im Traum einfallen, je eine davon<br />
drucken zu lassen.« Erst die Entscheidung,<br />
sein Werk 100 Jahre unter<br />
Verschluss zu halten, ermöglichte<br />
ihm, kein Blatt mehr vor den Mund<br />
nehmen zu müssen. »Ein Buch, das<br />
ein Jahrhundert nicht veröffentlicht<br />
werden darf, gewährt dem Autor<br />
Freiheiten, die er auf keinem anderen<br />
Weg erreichen kann. Es ermöglicht<br />
ihm, Menschen so zu beschreiben,<br />
wie er sie kennt, ohne sich Sorgen<br />
machen zu müssen, ihre Gefühle<br />
oder die ihrer Söhne oder Enkel zu<br />
verletzen.« mark twain<br />
Leidenschaftlich<br />
und radikal<br />
Sein ungewöhnlicher Entschluss<br />
verschaffte ihm eine Freiheit von<br />
völlig neuer Qualität. Zwar kannte<br />
man Twain schon zu Lebzeiten als<br />
scharfzüngigen Kritiker – wenn er<br />
durch das Land reiste, um die Leute<br />
mit seiner Gesellschaftskritik zu<br />
unterhalten, hieß es etwa auf den<br />
Plakaten: »Einlass ab 7:30.<br />
Der Ärger beginnt um 8.«<br />
Erst hier aber schuf er<br />
sich ein neues Publikum,<br />
die Nachwelt, zu dem<br />
er frei und offen sprechen<br />
konnte wie sonst höchstens<br />
im engsten Kreis<br />
seiner Freunde. Wenn er<br />
Im Arbeitszimmer der Quarry<br />
Farm, Elmira, N. Y., 1903<br />
die Außenpolitik, die<br />
skrupellosen Geldsäcke,<br />
die Gier der Wall Street<br />
und den Steuerhinterzieher<br />
Rockefeller<br />
an den Pranger stellt,<br />
klingt es, als kritisierte<br />
er die aktuellen Ereignisse,<br />
die uns<br />
heute mehr denn je bewegen.<br />
Aber auch lustig, liebevoll, mit<br />
großen Gefühlen erzählt er<br />
von seiner Familie und von<br />
Schicksalsschlägen, von skurrilen<br />
Begegnungen mit den<br />
Großen und mit den verachtenswerten<br />
»Zwergen« seiner<br />
Zeit. Er gewährt Einblicke in<br />
die unglaubliche Phantasie,<br />
mit der er schon als kleiner<br />
Junge die Welt sah und seinen<br />
Schabernack trieb. Er schwärmt vom<br />
Essen jener Tage und ermutigt zu<br />
mehr Lebensfreude: »Ich finde es<br />
bedauerlich, dass die Welt so viele<br />
gute Dinge ablehnt, nur weil sie<br />
ungesund sind. Ich bezweifle, dass<br />
Gott uns irgendetwas geschenkt hat,<br />
was, in Maßen genossen, ungesund<br />
ist, ausgenommen Mikroben.«<br />
Mark Twain<br />
erfand Amerika<br />
Mark Twain erreichte schon zu Lebzeiten<br />
Weltruhm. Er war es, der mit<br />
»Tom Sawyer« und »Huckleberry<br />
Finn« Amerika erfunden hatte, der<br />
als Erster über die einfachen Leute<br />
schrieb. Er war zudem der Reiseschriftsteller,<br />
der mit »Bummel<br />
durch Europa« internationale Erfolge<br />
feierte. Die Reihen seiner Bewunderer<br />
sind endlos, sie umfassen Autoren<br />
wie Ernest Hemingway oder Stephen<br />
King, Jonathan Franzen oder J. K.<br />
Rowling. Jede neue Generation entdeckt<br />
»ihren« Twain<br />
– kaum ein Schriftsteller<br />
der Weltliteratur hat<br />
eine derartige Nachwirkung<br />
erreicht.<br />
1906, nachdem Mark<br />
Twain über 35 Jahre<br />
In seiner Wohnung, New York,<br />
1906<br />
vergeblich versucht hatte, seine<br />
Memoiren zu schreiben, wusste er<br />
endlich, wie es ihm gelingen könnte:<br />
nicht chronologisch, sondern einzig<br />
dem aktuellen Erzählinteresse folgend<br />
und daher Textformen vorwegnehmend,<br />
die erst im Internet allge mein üblich<br />
wurden. Er fing an, fast täglich einer<br />
Stenographin<br />
Erinnerungs stücke<br />
zu diktieren.<br />
Außerdem prüfte<br />
er seine früheren<br />
Versuche und<br />
ent schied, was<br />
davon er übernehmen<br />
wollte. So<br />
kamen bis Dezember<br />
1909 mehr als<br />
1 500 Seiten zusammen,<br />
und Twain konnte das Werk<br />
für vollendet erklären. Vier Monate<br />
später starb er.<br />
Vor dem Haus seiner Kindheit<br />
in Hannibal, Missouri, 1902<br />
Ein Bestseller<br />
für die Nachwelt<br />
Schon als 40-Jähriger hatte Twain<br />
verkündet, dass er eine Autobiographie<br />
schreiben werde, um sie der Nachwelt<br />
zu hinterlassen. Den lachenden Einwurf<br />
seiner Frau Livy, sie werde die<br />
anstößigen Passagen streichen, hatte<br />
er damals ernsthaft zurück gewiesen:<br />
»Sie soll so erscheinen, wie sie geschrieben<br />
wird, die ganze Geschichte<br />
so wahrheitsgetreu erzählt, wie es mir<br />
möglich ist.«<br />
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„Nicht wegjodeln lassen“<br />
Als Komponistin muss sich Olga Neuwirth immer wieder in einer männlich dominierten Kunstsparte behaupten<br />
von irene bazinger<br />
W<br />
ohl kaum jemand findet es ungewöhnlich,<br />
wenn eine Frau von<br />
Berufs wegen singt oder Klavier<br />
spielt. Aber wenn sie zu komponieren beginnt,<br />
wird es meistens schwierig. Denn<br />
Musik, sagt Olga Neuwirth, ist eigentlich<br />
immer noch eine Männerdomäne: „Frauen<br />
können reproduzierende Künstler sein,<br />
doch sobald sie sich das quasi väterliche<br />
Prinzip aneignen und selbst etwas erschaffen<br />
wollen, kriegen sie ernsthafte Probleme.“<br />
Die Österreicherin weiß nur zu gut,<br />
wovon sie spricht. Bereits am Anfang ihres<br />
Studiums in Wien hat sie sich für elektronische<br />
Musik interessiert und später auch<br />
am renommierten Pariser Forschungsinstitut<br />
für Akustik/Musik „Ircam“ gearbeitet.<br />
Begeistert von den Möglichkeiten der<br />
modernen Klangmaschinen, schrieb sie<br />
Werke mit komplizierter Live-Elektronik –<br />
und musste feststellen, dass sie sich deswegen<br />
häufig vor Konzertveranstaltern und<br />
Intendanten rechtfertigen musste. Was bei<br />
einem komponierenden Mann als künstlerische<br />
Setzung akzeptiert wird, hat sie erkannt,<br />
wird nicht direkt auf eine Frau übertragen.<br />
Inzwischen beschränkt sich Olga<br />
Neuwirth „eh schon brav“ lieber auf vorproduzierte<br />
Samples und sonstige Zuspielungen.<br />
Zwischendurch musste sie eine<br />
längere Schaffenspause einlegen, weil sie<br />
einfach nicht mehr konnte. Ob sie manchmal<br />
daran dachte, zu kapitulieren und mit<br />
dem Komponieren aufzuhören? „Oh, öfter!<br />
Aber ich wollte mich nicht unterkriegen<br />
lassen wie viele meiner Kolleginnen,<br />
die den Druck nicht aushielten. Traurigerweise<br />
gibt es viele Frauen, die plötzlich verschwunden<br />
sind, selbst wenn sie noch so<br />
begabt waren.“<br />
Die kosmopolitische Olga Neuwirth,<br />
1968 in Graz geboren, ist bei aller schmalen<br />
Mädchenhaftigkeit eine starke Persönlichkeit.<br />
Trotz ihrer Jahre in New York, San<br />
Francisco, Paris, Berlin und Venedig hört<br />
man ihr die österreichische Herkunft an,<br />
wenn sie auf ihre weiche, melodische Art<br />
erzählt. Zum Beispiel davon, dass sie als<br />
Tochter des Jazzpianisten Harry Neuwirth<br />
ursprünglich „ein weiblicher Miles Davis<br />
mit roter Trompete“ werden wollte. Doch<br />
bei einem Autounfall erlitt sie schwere<br />
Kieferverletzungen, die alle Trompetenpläne<br />
unmöglich machten. Deshalb beschloss<br />
Olga Neuwirth, Komponistin zu<br />
werden – und sich dabei mindestens so<br />
frei, kühn und zeitgenössisch auszudrücken<br />
wie „The Man with the Horn“. Heute<br />
zählt sie zu den bedeutendsten Komponisten<br />
der jüngeren Generation. Ihre Vokalund<br />
Instrumentalwerke werden weltweit<br />
aufgeführt, ihre Musiktheaterstücke waren<br />
beim Steirischen Herbst, an der Hamburgischen<br />
Staatsoper oder der English<br />
National Opera zu hören. In tollkühnen<br />
Crossover-Projekten widmete sie sich dem<br />
Pop-Countertenor Klaus Nomi, dem Filmregisseur<br />
David Lynch („Lost Highway“)<br />
oder zeigte in einer filmischen Klanginstallation<br />
auf der Documenta 2007, wie sie<br />
Note um Note aufs Papier schreibt, denn<br />
„ich kann meine Musik nur durch meine eigene<br />
Handschrift wirklich erkennen“.<br />
Aufsehen erregte sie sogar mit nicht<br />
realisierten Projekten, wie 2004 mit der<br />
Oper „Der Fall Hans W.“ über einen wahren<br />
Fall von Kindesmissbrauch. Das Libretto<br />
zu diesem Auftragswerk der Salzburger<br />
Festspiele stammte von ihrer Freundin<br />
Elfriede Jelinek, die – empört über die<br />
Umstände der Absage – mit Oper nichts<br />
mehr zu tun haben wollte. Das hat Olga<br />
Neuwirth nicht verwunden: „Man spricht<br />
immer von der wunderbaren Zusammenarbeit<br />
zwischen Schriftstellern und<br />
Komponisten, wie Hugo von Hofmannsthal<br />
und Richard Strauss. Aber unsere erfreuliche<br />
Zusammenarbeit wurde zerstört!<br />
Warum dürfen nicht zwei Frauen ein kongeniales<br />
Paket bilden?“<br />
In der Berliner Hotellobby, wo wir uns<br />
treffen, weil es von dort nahe zur Komischen<br />
Oper ist, an der Ende September ihre<br />
Oper „American Lulu“ uraufgeführt wurde,<br />
erscheint Olga Neuwirth nicht bloß wegen<br />
der intensiven Proben erschöpft. Sie<br />
musste sich auch gegen den Vorwurf des<br />
Ideenklaus wehren, den der Videokünstler<br />
Stan Douglas kurz vor der Premiere gegen<br />
sie erhoben hatte, der jedoch vom Landgericht<br />
Berlin eindeutig abgewiesen wurde.<br />
Auf die Frage, wie man das schafft, fantasievoll<br />
und kreativ zu bleiben und trotzdem<br />
gegen das ganze, nicht eben frauenfreundliche<br />
Musikbetriebssystem zu kämpfen, antwortet<br />
sie gefasst: „Da muss man sehr stark<br />
sein und wissen, was man wirklich will, um<br />
sich nicht irritieren, nicht zerbrechen zu<br />
lassen.“ So ist überdies das Verhältnis zu ihrem<br />
Heimatland Österreich, das sich gern<br />
mit Künstlern schmückt, ohne sie tatsächlich<br />
zu unterstützen, nicht ungetrübt, obwohl<br />
sie 2010 den Großen Staatspreis erhielt<br />
– als erste Frau in der Sparte Musik.<br />
Beim Festival „Wien modern“ ist sie im<br />
November mit einem eigenen Schwerpunkt<br />
vertreten, der einen Querschnitt durch ihr<br />
Oeuvre präsentiert. Eine Genugtuung für<br />
Olga Neuwirth, die der einstige FPÖ-Obmann<br />
Jörg Haider auch gemeint hatte, als<br />
er die Neue Musik als „Weltkatzenmusik“<br />
verunglimpfte. Auf einer Großdemonstration<br />
im Jahr 2000 wehrte sie sich dann mit<br />
den für sie bis heute gültigen Worten: „Ich<br />
weiß, dass man mit Kunst nichts ändern<br />
kann, aber Kunst kann Erstarrtes aufzeigen<br />
und den desolaten Zustand von Gesellschaft<br />
und Politik sichtbar machen. Ich will<br />
mich nicht wegjodeln lassen.“<br />
Irene Bazinger<br />
ist Theaterkritikerin und<br />
veröffentlichte Bücher über die<br />
Regisseurinnen Andrea Breth<br />
und Ruth Berghaus<br />
Fotos: Markus Wächter, Max Lautenschläger (Autorin)<br />
120 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Als Tochter des<br />
Jazzpianisten Harry<br />
Neuwirth wollte sie<br />
ursprünglich ein<br />
„weiblicher Miles<br />
Davis“ werden<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 121
| S a l o n<br />
Politische Sprechblasen<br />
Der Zeichner Christophe Blain reüssiert mit einem Comic über den ehemaligen französischen Außenminister<br />
von Matthias Heine<br />
A<br />
ls der französische Comiczeichner<br />
Christophe Blain vor zwei<br />
Jahren den ersten Teil eines realistisch-satirischen<br />
Comicromans über die<br />
Vorgänge hinter den Kulissen des Pariser<br />
Außenministeriums am „Quai d’Orsay“<br />
veröffentlichte, war das ein spektakulärer<br />
Wechsel des Genres – vergleichbar dem<br />
Neuanfang, den Joanne K. Rowling nach<br />
acht „Harry Potter“-Romanen mit ihrem<br />
ersten sozialkritischen Gesellschaftsroman<br />
wagte, aber künstlerisch erfolgreicher.<br />
Denn während Rowling von den Kritikern<br />
zerrissen wurde, feierte man „Quai<br />
d’Orsay“, das jetzt im Verlag Reprodukt<br />
auf Deutsch erschienen ist, in Frankreich<br />
als Offenbarung, als einen Meilenstein der<br />
satirischen Darstellung großer Politik.<br />
Zuvor hatte Blain vor allem im Abenteuergenre<br />
Aufsehen erregt. Seine bekanntesten<br />
Schöpfungen sind das mehrteilige<br />
Seeräuberepos „Isaak der Pirat“ und die komische<br />
Cowboy-Serie „Gus“. In die Sphäre<br />
der Politik katapultierte den 42‐jährigen<br />
Blain die Begegnung mit Abel Lanzac.<br />
Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich<br />
ein Pariser Intellektueller, der als junger<br />
Mann Anfang der Nullerjahre zum Berater<br />
und Redenschreiber des Außenministers<br />
Dominique de Villepin berufen wurde.<br />
„Quai d’Orsay“ beruht auf den Erlebnissen<br />
Lanzacs (in der Graphic Novel heißt<br />
er Arthur Vlaminck) in jener bewegten<br />
Zeit, als Villepin bestrebt war, den Krieg<br />
der USA gegen den Irak zu verhindern. In<br />
Frankreich ist es ganz selbstverständlich,<br />
dass in Comics politische Vorgänge dargestellt<br />
werden: „Quai d’Orsay“ stand auf<br />
den Bestsellerlisten direkt neben „Sarkozy<br />
et les Riches“, in dem Nicolas Sarkozy als<br />
Schoßhündchen der französischen Superreichen<br />
dargestellt wird.<br />
Der Außenminister heißt im Comic<br />
Alexandre Taillard de Vorms: „Wir haben<br />
die Figur nicht ,Dominique de Villepin‘ genannt,<br />
weil es uns darum ging, eine gewisse<br />
künstlerische Freiheit zu bewahren“,<br />
berichtet Blain. „Aber alles Erzählte ist<br />
wahr, mit der kleinen Einschränkung, dass<br />
es in Wirklichkeit viel mehr Berater mit<br />
viel komplexeren Verzweigungen im Amt<br />
gibt. Einige Figuren sind also die Synthese<br />
aus mehreren real existierenden Personen.“<br />
Nur die Person des Ministers selbst und<br />
der Beauftragte für den Nahen Osten seien<br />
„chemisch rein“.<br />
Das Storygerüst, das Blain normalerweise<br />
selbst schreibt, verfasste er diesmal<br />
zusammen mit Abel Lanzac. Der holte sich<br />
die Erlaubnis seines ehemaligen Arbeitgebers:<br />
„Villepin sagte nur: ,Macht, was ihr<br />
wollt, ich bin nicht so leicht kaputt zu kriegen‘“,<br />
erzählt Blain. Mittlerweile signiert<br />
Villepin die „Quai d’Orsay“-Bände sogar,<br />
und „manchmal schreibt er Widmungen<br />
in das Buch“, hat Blain erfahren. Dabei<br />
wird Alexandre Taillard de Vorms in dem<br />
Comic keineswegs ein Denkmal errichtet:<br />
Der Minister ist als ein sprunghafter, von<br />
Eingebungen getriebener, intellektueller<br />
Blender dargestellt, der mit Lektürefundstücken<br />
um sich wirft. Aber eben auch als<br />
ein faszinierender Charismatiker mit großem<br />
persönlichen Mut. Einmal bringt er<br />
in Afrika einen wütenden Mob dazu, den<br />
Weg zum Flughafen frei zu geben, indem er<br />
sich direkt unter die Leute begibt und mit<br />
ihnen redet – während seine Bodyguards<br />
nervös schwitzen.<br />
Zum Comiczeichnen kam Christophe Blain<br />
nach einem Kunststudium in Cherbourg,<br />
als er Ende der neunziger Jahre in Paris der<br />
Gruppe um die Zeichner Lewis Trondheim,<br />
Joann Sfar, David B. und Emile Bravo begegnete.<br />
An der Fantasy-Parodie „Donjon“<br />
arbeitete er gemeinsam mit Trondheim<br />
und Sfar. Mit der kafkaesken Geschichte<br />
„Das Getriebe“ über drei seekranke Matrosen<br />
auf einem Schlachtschiff verarbeitete<br />
er seine eigene Militärzeit auf der<br />
Fregatte „Tourville“. 2002 bekam er den<br />
großen Preis des Festivals in Angoulême<br />
für den ersten Band von „Isaak der Pirat“.<br />
Spätestens damit war er als einer der Erneuerer<br />
der französischen „Bandes dessinées“<br />
etabliert.<br />
„Quai d’Orsay“ ist Blains größter kommerzieller<br />
Erfolg geworden. Die beiden<br />
Bände verkauften sich in Frankreich mehrere<br />
100 000 Mal. Kenner des dortigen Literaturbetriebs<br />
erklären sich das nicht nur<br />
mit der Qualität des Werkes, sondern auch<br />
mit der Seelenlage der Nation: In der Endphase<br />
der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys<br />
habe es eine nostalgische Sehnsucht<br />
nach nobleren Politikern gegeben. Bei allem<br />
Spott, den Blain und Lanzac über den<br />
Minister ausgießen, sei doch auch dessen<br />
Kampf vor der Uno gegen den Irakkrieg<br />
gewürdigt worden. Sarkozy selbst kommt<br />
im Buch zwar nicht vor, obwohl er als Innenminister<br />
ja Villepins Kabinettskollege<br />
war. Dafür hat der deutsche Außenminister<br />
Joschka Fischer einen kurzen Auftritt<br />
als Redner vor der Uno-Vollversammlung,<br />
und Italiens Ministerpräsident wird<br />
ganz lebensgetreu als Satyr gezeichnet: „Es<br />
stimmt tatsächlich, dass er die Frau von<br />
Abel Lanzac im Fahrstuhl angebaggert hat“,<br />
amüsiert sich Blain.<br />
Gemeinsam mit Lanzac arbeitet er<br />
nun an einem Drehbuch für den „Quai<br />
d’Orsay“-Film, den Bertrand Tavernier<br />
drehen will. Danach planen die beiden<br />
möglicherweise eine Art Fortsetzung unter<br />
dem Arbeitstitel „Matignon“ – benannt<br />
nach dem Hôtel de Matignon in Paris, wo<br />
Villepin 2005 bis 2007 als Premierminister<br />
amtierte: „Das politische Milieu ist<br />
wie eine Droge. Wer einmal dazugehörte,<br />
hat Schwierigkeiten, sich davon loszumachen“,<br />
kommentiert der Zeichner. Das gilt<br />
für Villepin genauso wie für Blains Partner<br />
Lanzac.<br />
Matthias Heine<br />
ist Redakteur im Feuilleton der<br />
Tageszeitung Die Welt<br />
Fotos: Eric Fougere/VIP Images/Corbis, Privat (Autor)<br />
122 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Christophe Blain ist einer der<br />
Erneuerer der französischen<br />
„Bandes dessinées“. Sein<br />
„Quai d’Orsay“ war auch<br />
kommerziell ein Riesenerfolg<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 123
| S a l o n<br />
Babylons Ehrenrettung<br />
Gemeinsam mit Peter Sloterdijk hat Jörg Widmann eine Oper über die sagenhafte Stadt der Sünde geschrieben<br />
von Eva Gesine Baur<br />
J<br />
örg Widmann sitzt an einem<br />
Münchner Kaffeehaustisch, vor<br />
ihm liegt gebunden ein Drittel<br />
der Partitur zu seiner neuen Oper. Sie hat<br />
das Format eines Serviertabletts. Widmann<br />
streicht über den dunkelroten Band und<br />
schlägt ihn auf. „Wie schön das ist, rein<br />
grafisch. Und was da passiert in der Vertikalen!“<br />
Für die meisten seiner Zeitgenossen<br />
ist das, was in der Vertikalen passiert,<br />
ein Rätsel. „Ja, ich weiß“, sagt er, „Komponist<br />
gilt als mysteriöser Beruf.“ Vor allem,<br />
wenn er im 21. Jahrhundert wie Jörg<br />
Widmann Streichquartette, Violinkonzerte,<br />
Messen oder Opern komponiert. Hört sich<br />
unzeitgemäß an, und Widmann ist das<br />
auch. Internet, Facebook, Tonsatzsoftware?<br />
„Keine Ahnung, kein Interesse.“ Von Hand<br />
schreibt er jedes Werk, Note für Note.<br />
Die Oper „Babylon“ wird am 27. Oktober<br />
an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt.<br />
Drei Stunden wird sie dauern,<br />
seine Oper nach einem Libretto des Philosophen<br />
Peter Sloterdijk. Seit anderthalb<br />
Jahren arbeitet Widmann daran. Seit Kent<br />
Nagano, scheidender Chefdirigent der Bayerischen<br />
Staatsoper, ihn gefragt hatte, ob<br />
er nicht für München ein Bühnenwerk<br />
schreiben wolle. Und seit er selbst Peter<br />
Sloterdijk gefragt hatte, ob er für ihn das<br />
Libretto dazu verfassen könne. „Das war<br />
eine Lebensentscheidung. Nicht für ein<br />
vertontes Philosophieseminar. Sondern für<br />
ein Thema, das in seiner Vielstimmigkeit<br />
bedrängend gegenwärtig ist.“<br />
Jörg Widmann hatte wohl immer<br />
schon eine andere Lebenstemperatur als<br />
die Menschen um ihn herum. Die meisten<br />
kühlen ab, wenn sie für die Schule Heinrich<br />
Heines Ballade von Belsazar auswendig<br />
lernen müssen. Jörg Widmann stand in<br />
Flammen, als er die Zeilen hörte und sich<br />
vorstellte, wie auf nackter Wand die warnenden<br />
Worte aus Feuer erscheinen. Viele<br />
haben Bruegels Bild vom babylonischen<br />
Turmbau irgendwo einmal gesehen. Doch<br />
ihm hat es sich eingebrannt. Seither trieb<br />
ihn die Frage um: Kann das so gewesen<br />
sein, wie es die Bibel beschreibt? Kann es<br />
sein, dass Babylon nur schlimm, die Babylonier<br />
nur schlecht, ihre Kultur nur verderbt<br />
war? „Uns“, sagt er, „geht es um die<br />
Ehrenrettung von Babylon.“<br />
Mit sieben Jahren hatte Jörg Widmann<br />
Klarinette gelernt und darauf improvisiert.<br />
„Am nächsten Tag wusste ich nicht mehr,<br />
was. Also wollte ich lernen, es aufzuschreiben.<br />
Damals hieß für mich Komponieren<br />
nur, das Improvisierte festzuhalten.“ Mit<br />
elf begann der Unterricht in Komposition.<br />
Sein erstes Werk? Er kichert. „Ein Walzer<br />
in F-Dur, der mit einem Auftakt anfängt.“<br />
Entscheidend waren für den 13-Jährigen<br />
„Schockerlebnisse im positiven Sinn“: Live<br />
erlebte er Pierre Boulez mit seinem Werk<br />
„Dialogue de l’ombre double“, ein Konzert<br />
für Klarinette und Tonband, auf dem derselbe<br />
Klarinettist die andere Stimme eingespielt<br />
hat, und ein Jazzkonzert mit Miles<br />
Davis. „Das sind für mich gleichberechtigte<br />
Götter am Firmament. Unerreichbar.“<br />
Die Arbeit an seiner neuen Oper, sagt<br />
der 39-Jährige, habe ihn „an den Rand<br />
gebracht“. Nicht nur, weil sie ihm so viel<br />
Ausdauer abforderte und den Nachtarbeiter<br />
auch noch tagsüber an den Schreibtisch<br />
jagte. Nicht nur, weil seine Schreibhand<br />
müde wurde und schmerzte. Nicht<br />
nur, weil er „auf einmal rechnen musste“.<br />
Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater Physiker<br />
für Mikroelektronik, der Sohn nach<br />
eigenen Angaben „in Physik und Mathematik<br />
schrecklich schlecht“. Was ihn an<br />
die Klippe trieb, war zum einen das Stück<br />
selbst, das ihm viele Vorsätze zunichtemachte.<br />
„Die Figuren haben eine gewaltige<br />
Eigenmächtigkeit entwickelt. Und ich gab<br />
nach. Denn sie hatten recht.“ Das andere,<br />
was ihm zusetzte, war der Text. Da gibt<br />
es zwar das Lied der Liebesgöttin Inanna.<br />
„Das ist ein Popsong, den jeder nachsingen<br />
kann.“ Ein Lied auf den Text von Ruth<br />
aus der Bibel: Wo du hingehst, da will ich<br />
auch hingehen. Aber da gibt es auch Stellen<br />
wie die: Tochter Babel, du Zerstörerin.<br />
Wohl dem, der dir heimzahlt, was du getan.<br />
Wohl dem, der deine Kinder packt und sie<br />
am Felsen zerschmettert. „Als ich das vertont<br />
hatte, musste ich mich krank ins Bett<br />
legen.“ Sein Librettist Sloterdijk sagte nur:<br />
„Krank wärst du, wenn du danach nicht<br />
krank geworden wärst.“<br />
Widmann hat sich nach dem Kaffee<br />
noch eine Cola bestellt. Wie hielt er<br />
durch? „Durch den Rausch, den erhellenden<br />
Rausch im Sinn von Baudelaire.“ Man<br />
muss immer trunken sein. Das ist alles: das<br />
einzige Geheimnis. Um die schreckliche Last<br />
nicht zu spüren, die deine Schultern zerbricht.<br />
So beginnt eines von Baudelaires Prosagedichten.<br />
Nur in diesem Ausnahmezustand,<br />
sagt Widmann, sei er imstande, „Pflöcke in<br />
den Sumpf des Unmäßigen zu schlagen“.<br />
Nur dann könne er die hereinbrechende<br />
Ideenflut kanalisieren und steuern.<br />
Babylon ist eine Oper der Extreme geworden.<br />
Zwischen leisem Liebeslied und jener<br />
Hymne auf die Rache für 94 Choristen,<br />
54 Streicher, 13 Blechbläser, 16 Holzbläser,<br />
zwei Harfen, eine Celesta, ein Akkordeon<br />
und drei Schlagzeuge. Extrem inszeniert<br />
von einem anarchischen Fantasten, Carlus<br />
Padrissa von der katalanischen Theatergruppe<br />
„La Fura dels Baus“. Sie wird<br />
erschüttern, begeistern und den Ruf nach<br />
der nächsten Oper laut werden lassen. Einer<br />
ähnlichen? Jörg Widmann schüttelt<br />
den Kopf. „Ich bleibe mir nur treu, wenn<br />
ich mich verändere.“<br />
Eva Gesine Baur<br />
schreibt Biografien und<br />
Romane, die von Musik handeln.<br />
Zuletzt erschien ihr Buch über<br />
„Emanuel Schikaneder“<br />
Fotos: Marco Borggreve, Privat (Autorin)<br />
124 <strong>Cicero</strong> 11.2012
„Als ich das<br />
vertont hatte,<br />
musste ich<br />
mich krank<br />
ins Bett legen“<br />
Jörg Widmann über eine Stelle<br />
aus seiner Babylon-Oper<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 125
| S a l o n | s p u r e n s u c h e i n i s r a e l<br />
Die Heimkehr<br />
Familiengeschichte aus den Wirren der Kriege: Ein in Südafrika geborener Schriftsteller<br />
kommt bei Tel Aviv zum ersten Mal an das Grab seines Vaters, den er nie gekannt hat<br />
von Christopher Hope<br />
M<br />
ein Vater verschwand aus<br />
meinem Leben, bevor ich<br />
ihn kennenlernte. Als 1939<br />
der Zweite Weltkrieg ausbrach,<br />
meldete er sich für den<br />
Kampfeinsatz, was in Südafrika, wo niemand<br />
zum Militärdienst verpflichtet war,<br />
einen politischen Akt bedeutete. Vor allem<br />
Angehörige der englischsprachigen Bevölkerung<br />
meldeten sich freiwillig; die meisten<br />
Afrikaner, noch immer verbittert wegen<br />
des Todes so vieler Frauen und Kinder<br />
in den Konzentrationslagern, die die Briten<br />
im Burenkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
errichtet hatten, solidarisierten sich<br />
mit Deutschland und blieben daheim.<br />
Mein Vater wurde zum Jagdflieger ausgebildet,<br />
doch meine Tante, die wusste,<br />
dass die Lebenserwartung von Jagdfliegern<br />
sehr gering war, überredete ihn, zu<br />
den <strong>Bombe</strong>rn zu wechseln. Ein gut gemeinter<br />
Versuch. Eine Zeit lang flog er Boston<br />
Marauders, einen Kampfflugzeugtyp,<br />
der sich so zuverlässig abwürgen ließ, dass<br />
man ihn „Witwenmacher“ nannte. Dann<br />
stieg er auf Wellington um, und eines Tages,<br />
kurz nach dem Abflug, ein paar Kilometer<br />
südlich des Luftwaffenstützpunkts der Royal<br />
Airforce in Aqir, stürzte sein Flugzeug<br />
ab und riss ihn, seinen Steuermann und<br />
seinen Kanonier in den Tod. Er war 25,<br />
als er an jenem Ort starb, der damals Britisch-Palästina<br />
hieß und heute Israel heißt,<br />
ganz in der Nähe der Stadt, die man damals<br />
Ramleh nannte. Es war ein schlimmer<br />
Schicksalsschlag für meine Mutter, die<br />
schon vorher während des Krieges mit einem<br />
Jagdflieger verlobt gewesen war. Sie<br />
und mein Vater waren noch nicht lange<br />
verheiratet, und ich war sechs Monate alt.<br />
Meine Mutter sprach nie von meinem<br />
Christopher Hope mit seinem Sohn Daniel an der Grabstätte<br />
seines Vaters Dennis Hubert Tully in Ramla, Israel<br />
Vater, doch ich besaß eine kleine Sammlung<br />
Schwarz-Weiß-Fotografien von ihm in<br />
Airforce-Uniform, als er ungefähr 23 Jahre<br />
alt gewesen sein musste. Mit diesen Fotos<br />
schuf ich mir eine eigene Vorstellung von<br />
meinem Vater. Ich hatte die Angewohnheit,<br />
mich zu fragen, was er wohl getan<br />
hätte, wenn er an meiner Stelle gewesen<br />
wäre. Der Mann, den ich erfand, war der<br />
Freund an meiner Seite, der Kompagnon,<br />
der mich nicht enttäuschte. Ich habe aber<br />
nie wirklich daran geglaubt, dass mein Bild<br />
von ihm der Wahrheit entspricht.<br />
Ich wusste insgesamt nur vier oder<br />
fünf Dinge über ihn: Sein Name war<br />
Dennis Hubert Tully; er sang gern, und<br />
seine Freunde gaben ihm den Spitznamen<br />
„Bing“. Kurz nachdem ich geboren war,<br />
wurde ich sehr krank und benötigte Bluttransfusionen,<br />
und da nur der Bluttyp meines<br />
Vaters passte, bekam er aus familiären<br />
Gründen die Erlaubnis, von Palästina nach<br />
Johannesburg zurückzufliegen. Ich überlebte,<br />
doch meiner Tante erzählte er, dass<br />
er, auch wenn mein Leben gerettet worden<br />
war, das Gefühl hatte, er würde sein eigenes<br />
verlieren.<br />
Es gab Piloten aus dem Krieg, einige<br />
von ihnen in meine Familie eingeheiratet,<br />
die meinen Vater gekannt hatten, und ich<br />
erinnere mich, dass sie mir – sicherlich aus<br />
Rücksichtnahme – erzählten, er habe „die<br />
Farm gekauft“ (to buy the farm: den Löffel<br />
abgeben, Anmerkung der Übersetzerin).<br />
Foto: Eddie Gerald/Laif<br />
126 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Foto: Live Books (Autor)<br />
Der Ausdruck verwirrte mich; ich fragte<br />
mich, um was für eine Farm es sich wohl<br />
handeln mochte. Es dauerte eine ganze<br />
Weile, bis ich begriff, dass sie seinen Absturz<br />
und seinen Tod meinten. Die Fotos,<br />
die ich aufhob, waren am Tag seiner Beisetzung<br />
auf einem viel genutzten Friedhof<br />
in Ramleh aufgenommen worden. Sie zeigten,<br />
dass sein Nachname, Tully, falsch geschrieben<br />
worden war. Ich habe mich darüber<br />
immer geärgert, weil es wichtig ist,<br />
dass der Name stimmt.<br />
Wie sich später herausstellte, war die<br />
Tatsache, dass mein Vater niemals zurückkehrte,<br />
auch eine Art Gnade. Viele derjenigen,<br />
die überlebt hatten und nach Südafrika<br />
zurückkehrten, mussten feststellen,<br />
dass diejenigen, die Hitler unterstützt<br />
hatten, nun das Land regierten; sie griffen<br />
dabei auf das Modell der Nazis, auf<br />
ihren Traum von Rassenhygiene zurück<br />
und betrieben dieses Experiment<br />
während der kommenden<br />
50 Jahre. Manchmal bin<br />
ich froh – manchmal auch<br />
nicht –, dass meine Söhne<br />
nicht den gleichen Hintergrund<br />
haben wie ich, dass<br />
sie nicht die gleichen Erinnerungen<br />
an einen hysterischen<br />
Nationalismus mit sich herumtragen,<br />
der die Menschen<br />
in die engen Schranken von<br />
Rasse und Hautfarbe verweist; ein Lebensstil,<br />
den man als geisteskrank bezeichnen<br />
könnte, der aber im alten Südafrika als<br />
ziemlich normal galt.<br />
Andererseits lässt manche Menschen<br />
ihre Familiengeschichte nicht los. Als ich<br />
zum ersten Mal zurückkehrte, um das<br />
Grab meines Vaters zu besuchen, hatte<br />
ich das Glück, mit meinem Sohn Daniel<br />
zu reisen. Auf meiner Seite der Familie ist<br />
Daniel irischer, katholischer, südafrikanischer<br />
Abstammung. Mütterlicherseits ist<br />
er der Enkel von jüdischen Deutschen,<br />
die in den dreißiger Jahren aus Berlin und<br />
Wien nach Südafrika flohen. Wir waren<br />
beide fasziniert – und zuweilen abgestoßen<br />
– von den Menschen und Orten, die<br />
aus uns das gemacht haben, was wir sind,<br />
der Reichtum und die Merkwürdigkeit eines<br />
Familienstammbaums.<br />
Als wir am Flughafen in Tel Aviv ankamen<br />
und uns die Beamtin an der Passkontrolle<br />
fragte, warum wir gekommen seien<br />
und wohin wir wollten, gab ich offenbar<br />
Der Mann,<br />
den ich<br />
erfand, war<br />
der Freund<br />
an meiner<br />
Seite<br />
die falsche Antwort: „Um das Grab meines<br />
Vaters zu sehen. In Ramallah.“<br />
Sie korrigierte mich: „Sie meinen<br />
Ramla. Die Namen sind wichtig hier. Ein<br />
paar Buchstaben können einen großen Unterschied<br />
ausmachen.“<br />
Ja, das können sie in der Tat. Ramallah<br />
ist die palästinensische Stadt in der West<br />
Bank. Mein Vater dagegen liegt in Ramleh<br />
begraben, dessen Name an die von den<br />
Arabern gegründete und später von den<br />
Mamelucken, Kreuzfahrern und Türken<br />
und zuletzt von Israelis umgebaute Stadt<br />
erinnert. Ramleh heißt heute Ramla und<br />
liegt in der Nähe von Tel Aviv.<br />
Der Gefallenenfriedhof Ramleh hat seinen<br />
alten Namen behalten; hier liegen Soldaten,<br />
Piloten, Rettungssanitäter und Polizisten<br />
aller Seiten, aus beiden Weltkriegen,<br />
sowie die Opfer anderer Kriege, die seither<br />
noch geführt wurden. Es ist eine außergewöhnliche<br />
Mischung von<br />
Gefallenen: Ägypter, Deutsche,<br />
Juden, Moslems, Inder,<br />
Türken, Palästinenser, Neuseeländer,<br />
Australier, Polen<br />
und Südafrikaner liegen hier<br />
beisammen. Viele der Gräber<br />
stammen aus dem Zweiten<br />
Weltkrieg, doch auch<br />
Soldaten haben hier ihre<br />
<strong>letzte</strong> Ruhestätte, die getötet<br />
wurden, als er schon vorbei<br />
war, als zionistische Kämpfer britische<br />
Ziele angriffen. Darunter befinden sich<br />
auch die Gräber zweier britischer Stabsoffiziere,<br />
die von der zionistischen Untergrundorganisation<br />
Irgun gehängt wurden,<br />
als Vergeltung für ihre von den Briten getöteten<br />
Mitglieder. In Ramleh wurde auch –<br />
offenbar wegen der entsprechenden Einrichtung<br />
– Adolf Eichmann gehängt.<br />
Das Grab meines Vaters ist gepflegter<br />
als auf meinem Foto, das eine kleine<br />
Aufschüttung von Erde und ein paar zerzauste<br />
Blumen zeigt, unter einem hölzernen<br />
Kreuz, am Tag seines Begräbnisses,<br />
damals im August 1944. Weit vorgebeugt,<br />
um die Inschrift zu lesen, bin ich überrascht<br />
über meine Trauer um einen Vater,<br />
den ich nie gekannt habe, und um die jungen<br />
Soldaten, die gleich neben ihm begraben<br />
liegen. Ich bin aber auch merkwürdig<br />
erleichtert. Es ist, als begänne ich durch<br />
den Anblick des väterlichen Grabes zu fühlen,<br />
dass er real und nicht nur eine schattenhafte<br />
Figur ist, die ich ersonnen habe, so<br />
wie ich mein Leben lang in meinen Romanen<br />
Charaktere erfunden habe. Die Grabinschrift<br />
ist schlicht: „Dennis Hubert Tully,<br />
Pilot, 12. August 1944“. Eingraviert auf<br />
dem Sockel des Grabsteins stehen die Zeilen:<br />
„In stolzer und liebender Erinnerung<br />
an Dennis – Ehemann von Kay. Greater<br />
Love Has No Man.“ Ich komme nicht umhin<br />
zu bemerken, dass „Tully“ inzwischen<br />
zwar richtig geschrieben ist, nun aber ein<br />
„n“ in „Dennis“ fehlt.<br />
„Die Namen sind wichtig hier …“<br />
Dieser Friedhof mit seinen auffälligen<br />
Grabsteinen und seinem wunderschönen<br />
gepflegten Rasen, auf dem Tauben herumflattern,<br />
lässt einen die Tatsache vergessen,<br />
dass Krieg nicht wie ein Gefallenenfriedhof<br />
ist. Die Schlachtfelder, die ich gesehen<br />
habe, in der Explosion, die Jugoslawien<br />
in Stücke gerissen hat, waren ein großes<br />
Durcheinander: Sie hatten keine Konturen,<br />
keinen Sinn und keine Form. Das ist<br />
etwas, das nur in Hollywood geschieht:<br />
Man dekoriert den Schauplatz, formt die<br />
Geschichte – doch der Krieg ist konturlos,<br />
ein ständiges Sich-Überschlagen unerwarteter<br />
Ereignisse.<br />
Man braucht nicht weit zu schauen,<br />
um zu sehen, dass sich ein solcher Krieg im<br />
Hier und Jetzt ereignet. Über dem Friedhof<br />
von Ramleh erhebt sich eine riesige Fabrik,<br />
nachts erleuchtet wie ein Jahrmarkt,<br />
die einen Großteil des Zements für die Sicherheitsmauer<br />
produziert hat, die die Israelis<br />
quer durch das Land gebaut haben,<br />
um dafür zu sorgen, dass niemand mehr<br />
Ramla mit Ramallah oder Israel mit Palästina<br />
verwechseln kann.<br />
Als wir vom Ben-Gurion-Flughafen<br />
wieder abfliegen, fragt mich der Beamte<br />
an der Passkontrolle unerwartet, ob ich<br />
einen israelischen Pass besitze. Ich nehme<br />
an, dass er den Eintrag von meiner Begegnung<br />
mit seiner Kollegin bei meiner Einreise<br />
bemerkt hat; das Wissen, dass mein<br />
Vater in Israel begraben liegt, hat wohl zu<br />
seiner Frage geführt. Ich habe keinen israelischen<br />
Pass, aber vielleicht sollte ich einen<br />
haben. Immerhin liegt ein großer Teil<br />
von mir dort.<br />
Aus dem Englischen von Luisa Seeling<br />
Christopher Hope<br />
ist Schriftsteller und Dichter. Der<br />
gebürtige Südafrikaner, Vater<br />
des Violinisten Daniel Hope, lebt<br />
inzwischen in Südfrankreich<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 127
| S a l o n | z e i t g e s c h i c h t e<br />
Protokoll eines<br />
kommenden weltkriegs<br />
Vor 75 Jahren sprach Adolf Hitler auf einer Geheimkonferenz vom „Anrecht auf größeren<br />
Lebensraum“ – der Wehrmachtsadjutant Friedrich Hoßbach hat sie der Nachwelt überliefert<br />
von Konstantin Sakkas<br />
Friedrich Hoßbach, Oberst im Generalstab,<br />
war am 5. November 1937 als Protokollant<br />
der einzige Statist in der Geheimbesprechung,<br />
die Hitler mit seinen führenden Militärs<br />
abhielt. Hoßbachs Niederschrift diente<br />
bei den Nürnberger Prozessen als eines<br />
der wichtigsten Zeugnisse der Anklage<br />
B<br />
erlin, Reichskanzlei, am 5. November<br />
1937. Die Spitzen der<br />
deutschen Reichsregierung und<br />
der Wehrmacht sind zu einer Geheimbesprechung<br />
zusammengekommen.<br />
Den Vorsitz hat der Führer und<br />
Reichskanzler Adolf Hitler. Neben ihm<br />
sind anwesend: der Reichsminister des<br />
Auswärtigen, Konstantin Freiherr von<br />
Neurath, der Reichskriegsminister und<br />
Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Generalfeldmarschall<br />
Werner von Blomberg,<br />
sowie die ihm unterstellten Oberbefehlshaber<br />
der drei Wehrmachtteile: Generaloberst<br />
Werner Freiherr von Fritsch (Heer),<br />
Generaladmiral Erich Raeder (Kriegsmarine)<br />
und Generaloberst Hermann Göring<br />
(Luftwaffe), der zugleich Preußischer<br />
Ministerpräsident, Reichsluftfahrtminister<br />
und Beauftragter für den Vierjahresplan<br />
ist. Der einzige Statist in dieser Personnage:<br />
Oberst im Generalstab Friedrich<br />
Hoßbach, Wehrmachtsadjutant des Führers,<br />
der das Kriegsende acht Jahre später<br />
als Vollgeneral und Oberbefehlshaber der<br />
4. Armee erleben wird. Überliefert wird die<br />
Besprechung durch seine Aufzeichnungen:<br />
die Hoßbach-Niederschrift. Im Nürnberger<br />
Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher<br />
1945/46 wird sie eines der wichtigsten<br />
Zeugnisse der Anklage sein.<br />
Das Jahr 1937 gilt in der NS-Forschung<br />
als „ruhiges Jahr“. Es gehört in<br />
den Abschnitt zwischen der Zeit der ersten<br />
Gewaltmaßnahmen, mit denen die<br />
Diktatur sich zwischen 1933 und 1934<br />
im Innern etablierte, und dem Aktionismus<br />
der Jahre 1938 und 1939, als Hitler<br />
zielgenau und durch kein Zugeständnis<br />
beirrt auf den Kriegsausbruch zusteuerte.<br />
Selbst der Terror, den das Regime gegen<br />
seine – wahren und vermeintlichen – Gegner<br />
ausübte, erreichte in diesem Jahr einen<br />
formellen Tiefststand: Mit 7500 Menschen<br />
waren so wenige NS‐Opfer wie niemals<br />
sonst in den sechs Konzentrationslagern<br />
inhaftiert, die die SS damals in Deutschland<br />
unterhielt. Die Olympischen Spiele<br />
1936 hatten dem nationalsozialistisch regierten<br />
Deutschland internationalen Glamour<br />
verliehen (und die Machthaber zu<br />
einer gewissen Zurückhaltung gegenüber<br />
Foto: BPK/Bayerische Staatsbibliothek/Archiv Heinrich, BPK<br />
128 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Generalfeldmarschall Werner von Blomberg, Generaloberst Hermann Göring, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch<br />
und Adolf Hitler (v. l. n. r.) im September 1937 auf der Ehrentribüne beim „Reichsparteitag der Arbeit“ in Nürnberg<br />
ihren Opfern gezwungen); mit der Wiedergewinnung<br />
des Saarlands 1935 und der Remilitarisierung<br />
des Rheinlands 1936 hatte<br />
Hitler glänzende außenpolitische Triumphe<br />
gefeiert. Deutschland zahlte keine<br />
Kriegsentschädigungen mehr, und die<br />
Wiederaufrüstung war eine beschlossene<br />
und vom Ausland (wenn auch zähneknirschend)<br />
anerkannte Tatsache. Seit 1935<br />
galt im Deutschen Reich wieder die allgemeine<br />
Wehrpflicht, und ein Flottenabkommen<br />
mit Großbritannien aus demselben<br />
Jahr manifestierte die behutsame Wiederaufnahme<br />
Deutschlands in den Kreis der<br />
europäischen Großmächte. Adolf Hitler<br />
hätte sich zufrieden zurücklehnen können.<br />
Doch Hitler wäre nicht Hitler gewesen,<br />
hätte er nicht erneut die Eskalation<br />
gesucht, die Entzweiung mit ganz Europa.<br />
Das große Drama, auf das seine Politik zusteuerte,<br />
der Weltkrieg, stand noch bevor.<br />
Bereits im Februar 1933, wenige Tage nach<br />
seiner Ernennung zum Reichskanzler, hatte<br />
Hitler in einer vertraulichen Besprechung<br />
die damalige Reichswehrführung auf die<br />
Ziele Aufrüstung und Krieg eingeschworen.<br />
Das erste Ziel war erreicht; nun galt es, das<br />
konkrete Kriegsszenario zu planen; darum<br />
sollte es in der Besprechung vom November<br />
1937 gehen – und zugleich darum, ob<br />
er sich hierbei auf seine militärische und diplomatische<br />
Elite verlassen konnte.<br />
Gegenstand der Besprechung war offiziell<br />
die Rüstungslage des Reiches. Doch<br />
Hitler lenkte die Konferenz<br />
schnell auf das eigentliche,<br />
sein Thema: „Das Ziel der<br />
deutschen Politik“, so resümiert<br />
Hoßbach in seiner einige<br />
Tage später ohne dienstlichen<br />
Auftrag angefertigten<br />
Niederschrift <strong>Hitlers</strong> Eröffnungsvortrag,<br />
„sei die Sicherung<br />
und die Erhaltung<br />
der Volksmasse und deren<br />
Vermehrung. Somit handele<br />
es sich um das Problem des<br />
Raumes.“ Das deutsche Volk mit seinen<br />
85 Millionen Angehörigen – die Bevölkerung<br />
des bis dahin immer noch selbstständigen<br />
Österreich wird hier geflissentlich<br />
mitgezählt – stelle „in Europa einen in<br />
Besprochen<br />
wurde offiziell<br />
die Rüstungslage.<br />
Doch Hitler lenkte<br />
schnell auf sein<br />
eigentliches Thema<br />
sich so fest geschlossenen Rassekern [dar],<br />
wie er in keinem anderen Land wieder anzutreffen<br />
sei und wie er andererseits das<br />
Anrecht auf größeren Lebensraum mehr<br />
als bei anderen Völkern in sich schlösse.<br />
Wenn kein dem deutschen Rassekern entsprechendes<br />
politisches Ergebnis auf dem<br />
Gebiet des Raumes vorläge, so sei das eine<br />
Folge mehrhundertjähriger<br />
historischer Entwicklung<br />
und bei Fortdauer dieses<br />
politischen Zustandes die<br />
größte Gefahr für die Erhaltung<br />
des deutschen Volkstums<br />
auf seiner jetzigen<br />
Höhe.“<br />
Die Deutschen als „Volk<br />
ohne Raum“ – Hitler greift<br />
hier zeitgenössische Topoi<br />
auf, die bei Konservativen<br />
aller Couleur durchaus gängig<br />
waren: das Denken in einer deutschnationalen<br />
„longe durée“, die beim glorreichen<br />
Hochmittelalter mit seinem<br />
(angeblichen) deutsch-staufischen Großreich<br />
beginnt, im Dreißigjährigen Krieg, in<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 129
| S a l o n | z e i t g e s c h i c h t e<br />
dem Deutschland als Spielball auswärtiger<br />
Mächte auftritt, ihren Tiefpunkt erreicht<br />
und mit Bismarcks Reichsgründung 1871<br />
ihren Wiederaufschwung nimmt, dessen<br />
Vollendung nach dem verlorenen Weltkrieg<br />
freilich noch aussteht. Das Zerreißen<br />
des „Diktats von Versailles“, das Hitler in<br />
unzähligen Reden beschwor, war nur ein<br />
Nahziel gewesen; tatsächlich, so der Tenor<br />
seines Vortrags, gehe es um 1648, um die<br />
Revision des Westfälischen Friedens,<br />
und zwar unter rassischen<br />
Gesichtspunkten: Die deutschen<br />
Minderheiten in ganz Europa<br />
sollten peu à peu „heim ins Reich“<br />
überführt werden – allen voran<br />
ganz Österreich sowie das Sudetenland,<br />
der nordwestliche Zipfel<br />
der Tschechoslowakei, 1918 aus<br />
der Konkursmasse dreier habsburgischer<br />
Kronländer entstanden<br />
und der Stachel im Fleische<br />
aller Deutschnationalen.<br />
Darum geht es Hitler in seinem wie<br />
immer weitschweifigen, aber erstaunlich<br />
sachlichen (von Judentum ist gar nicht,<br />
vom Bolschewismus nur einmal, ganz am<br />
Rande die Rede) Referat; die Wirtschaftslage<br />
dient ihm nur als pragmatischer Aufhänger:<br />
Dass nach dem Aufschwung der<br />
zurückliegenden Jahre Deutschlands Rüstungsvorsprung<br />
gegenüber seinen Feinden<br />
nur noch schrumpfen könne, ist<br />
<strong>Hitlers</strong> Argument für ein rasches militärisches<br />
Vorgehen. Deutschland müsse spätestens<br />
1943 handeln, doch dann sei es<br />
womöglich schon zu spät. Auch die, zur<br />
Bedarfsdeckung angeblich benötigten, zusätzlichen<br />
„Rohstoffgebiete seien zweckmäßiger<br />
im unmittelbaren Anschluss<br />
an das Reich in Europa“ zu suchen als<br />
in Übersee. Unter günstigen Bedingungen<br />
– einer Verschärfung des Gegensatzes<br />
zwischen Mussolinis Italien, Deutschlands<br />
Verbündetem, und Frankreich –, so<br />
Hitler, sei auch an ein Losschlagen gegen<br />
Österreich und Tschechien bereits 1938<br />
zu denken. Wie sich zeigen wird, wird es<br />
genau darauf hinauslaufen. Das eigentliche<br />
Hauptthema der Konferenz, die Wirtschaftslage,<br />
wird nach hinten verschoben:<br />
„Der zweite Teil der Besprechungen“, heißt<br />
es nüchtern, „befasste sich mit materiellen<br />
Rüstungsfragen.“ Mit diesem Satz enden<br />
Hoßbachs Notizen.<br />
Dem Oberst im Generalstab war die<br />
Bedeutungslosigkeit der ökonomischen<br />
Hitler war außer<br />
sich: Wenn<br />
ein deutscher<br />
Feldmarschall<br />
eine Hure heirate,<br />
sei alles möglich<br />
Werner von Blomberg mit seiner zweiten Frau Luise Margarethe Gruhn<br />
wenige Tage nach der Hochzeit bei einem Spaziergang in Leipzig<br />
Details vor dem Panorama von <strong>Hitlers</strong> Eroberungs-<br />
und Raumfantasien offensichtlich<br />
klar. Weniger klar dürften ihm die<br />
personellen Konsequenzen gewesen sein,<br />
welche die Besprechung haben sollte.<br />
Hitler selbst charakterisierte sein Verhältnis<br />
zur militärischen Führungsebene<br />
Jahre später bei einem Frontbesuch im<br />
Osten so: „Als ich noch nicht Reichskanzler<br />
war, habe ich gemeint, der Generalstab<br />
gleiche einem Fleischerhund, den man fest<br />
am Halsband haben müsse, weil er sonst<br />
jeden anderen Menschen anzufallen drohe.<br />
Nachdem ich Reichskanzler geworden war,<br />
habe ich feststellen müssen, dass der deutsche<br />
Generalstab nichts weniger als ein<br />
Fleischerhund ist. Dieser Generalstab hat<br />
mich immer gehindert, das zu tun, was ich<br />
für nötig halte. Ich bin es, der diesen Fleischerhund<br />
immer erst antreiben muss.“<br />
Tatsächlich, so hält Hoßbach es in<br />
seiner Niederschrift fest, fanden sich die<br />
größten Bedenkenträger in <strong>Hitlers</strong> unmittelbarem<br />
Umfeld; besonders die beiden<br />
Spitzenmänner der Wehrmacht, Blomberg<br />
und Fritsch, äußern mehrmals in<br />
der Besprechung Zweifel an der Realisierbarkeit<br />
von <strong>Hitlers</strong> Plänen und mahnen<br />
zur Vorsicht. Sie werden mit stereotypen<br />
Beschwichtigungen abgebügelt:<br />
„Zu den seitens des Feldmarschalls von<br />
Blomberg und des Generalobersten von<br />
Fritsch hinsichtlich des Verhaltens Englands<br />
und Frankreichs angestellten Überlegungen<br />
äußerte der Führer in Wiederholung<br />
seiner bisherigen Ausführungen,<br />
dass er von der Nichtbeteiligung Englands<br />
überzeugt sei und daher an eine kriegerische<br />
Aktion Frankreichs gegen Deutschland<br />
nicht glaube.“<br />
Foto: Ullstein Bild<br />
130 <strong>Cicero</strong> 11.2012
I m p r e s s u m<br />
Nach der Novemberbesprechung ist<br />
Hitler klar: Mit diesen beiden Militärs alter<br />
Schule kann er seine Feldzüge nicht<br />
führen. So kommt es am 4. Februar zum<br />
großen Frühjahrsrevirement, das auch als<br />
Blomberg-Fritsch-Krise bekannt wird: Der<br />
Reichskriegsminister und sein Heereschef<br />
werden durch eine Intrige gestürzt.<br />
Blomberg, frisch verliebt in die 24-jährige<br />
Luise Margarethe Gruhn, Sekretärin<br />
im „Reichsnährstand“, hatte sich vertrauensvoll<br />
und vertrauensselig an Göring gewandt<br />
und um Akzeptanz für seine Angebetete<br />
geworben, die nicht nur keine<br />
standesgemäße Braut für einen adeligen<br />
Generalfeldmarschall war, sondern auch<br />
eine „Frau mit Vergangenheit“ (unter anderem<br />
als Pornodarstellerin in einschlägigen<br />
Publikationen). Göring, ganz der joviale<br />
Generalskamerad, hatte den leicht<br />
beeinflussbaren Blomberg seiner Unterstützung<br />
versichert – mit dem Standesdünkel<br />
sei im Nationalsozialismus ja nun gerade<br />
Schluss! – und gleich noch hilfsbereit<br />
einen Luftwaffenoffizier, der ebenfalls für<br />
Fräulein Gruhn schwärmte, auf eine lange<br />
Dienstreise nach Südamerika wegbefördert.<br />
Doch kaum war die Trauung vollzogen, lief<br />
der Luftwaffenchef, auf einmal gar nicht<br />
mehr loyal, zu Hitler, unterm Arm die Kriminalakte<br />
der nunmehrigen Frau Feldmarschall<br />
(inklusive anschaulichen Bildmaterials<br />
aus dem Archiv der Sittenpolizei). Der<br />
Führer gerät außer sich, im engsten Kreis<br />
erklärt er laut und nachdrücklich: Wenn<br />
ein deutscher Feldmarschall eine Hure heirate,<br />
sei in der Welt alles möglich, und zeigt<br />
sich noch hysterisch indigniert darüber,<br />
dass er „dieser Person“ die Hand geküsst<br />
habe. Das Ergebnis: Blomberg muss gehen.<br />
Anschließend trifft es Fritsch. Der<br />
Reichsführer-SS Heinrich Himmler, dem<br />
die konservative Heeresgeneralität stets<br />
ein Dorn im Auge ist, streut das Gerücht,<br />
Fritsch, der nur mit seinem Beruf verheiratet<br />
ist, sei homosexuell – was nicht nur mit<br />
dem Ehrenkodex des Offizierstands unvereinbar<br />
ist, sondern auch mit dem Strafgesetz.<br />
Fingierte Beweise und unwahre, teils<br />
durch die Gestapo erpresste Zeugenaussagen<br />
bringen Fritsch, der wacker seine<br />
Unschuld verteidigt, in die Bredouille –<br />
schließlich nimmt auch er, gezwungenermaßen,<br />
seinen Abschied. (Monate später<br />
wird der Vorwurf offiziell entkräftet und<br />
Fritsch von Hitler „rehabilitiert“ – doch<br />
abgeschoben bleibt abgeschoben.)<br />
verleger Michael Ringier<br />
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11.2012 <strong>Cicero</strong> 131
| S a l o n | z e i t g e s c h i c h t e<br />
Damit ist der Weg frei für die von<br />
Hitler ersehnte Umgliederung der Wehrmachtspitze.<br />
Das Reichskriegsministerium<br />
wird gestrichen, oberster Befehlshaber der<br />
Wehrmacht (und damit Inhaber nicht nur<br />
der formellen Befehls-, sondern auch der<br />
ungleich wichtigeren Kommandogewalt)<br />
wird der „Führer“ selbst; ihm unterstellt<br />
ist das neu geschaffene „Oberkommando<br />
der Wehrmacht“ unter seinem Chef, dem<br />
General der Artillerie Wilhelm Keitel: niedersächsisches<br />
Großbürgertum, eine „fantasielose<br />
Null“ (Will Berthold), aber genau<br />
der Typ Bürovorsteher, den Hitler für dieses<br />
dienstbare Amt braucht; sein Spitzname<br />
wird bald „Lakaitel“ sein.<br />
Neuer Oberbefehlshaber des Heeres anstelle<br />
des geschassten Fritsch wird Generaloberst<br />
Walther von Brauchitsch. Auch<br />
er preußischer Schwertadel, auch er wie<br />
Blomberg zahnlos und gefügig, unter anderem<br />
durch die 80 000 Reichsmark, die<br />
ihm Hitler zur Abfindung seiner Frau –<br />
noch ein frisch Geschiedener im zweiten<br />
Frühling – hat zukommen lassen. Marine<br />
und Luftwaffe behalten ihre Oberbefehlshaber;<br />
der geschmeidige, notorisch faule<br />
und prunkliebende Göring, dem Hitler<br />
insgeheim nicht einmal eine vernünftige<br />
Truppenvisite zutraut, wird für sein hilfreiches<br />
Zuträgertum mit dem Feldmarschallsrang<br />
belohnt. Außenminister Konstantin<br />
von Neurath, ein alter Deutschnationaler<br />
und Relikt des „Kabinetts der Barone“<br />
von 1932, der auf der Hoßbach-Konferenz<br />
ebenfalls Bedenken geäußert hatte, wird<br />
durch Joachim von Ribbentrop ersetzt,<br />
„<strong>Hitlers</strong> Papagei“, der schon als Botschafter<br />
in London durch den völligen Mangel<br />
an diplomatischer Qualifikation glänzte, es<br />
dafür aber liebt, in seiner Uniform als SS-<br />
Obergruppenführer ehrenhalber im Auswärtigen<br />
Amt herumzustolzieren.<br />
Mit dieser Mannschaft kann Hitler den<br />
Griff nach den Nachbarn seines Reiches<br />
wagen. Noch im März 1938 annektiert er<br />
im Handstreich Österreich; im Oktober<br />
folgt, nach entwürdigendem Gezerre, das<br />
Sudetenland. Die „Hassgegner England<br />
und Frankreich“, denen „ein starker deutscher<br />
Koloss inmitten Europas ein Dorn<br />
im Auge“ hätte sein müssen, geben klein<br />
bei und erfüllen unwissend, was Hitler auf<br />
der Novemberkonferenz – durchaus ohne<br />
seine skeptischen Generäle zu überzeugen<br />
– orakelt hatte: „An sich glaube der<br />
Führer, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
England, voraussichtlich aber auch Frankreich<br />
die Tschechen bereits im Stillen abgeschrieben<br />
und sich damit abgefunden<br />
hätten, dass diese Frage eines Tages durch<br />
Deutschland bereinigt würde. Die Schwierigkeiten<br />
des Empire und die Aussicht, in<br />
Nach der Besprechung ist<br />
Hitler klar, dass er neue<br />
Militärs braucht, um<br />
seine Feldzüge zu führen<br />
einen lang währenden europäischen Krieg<br />
erneut verwickelt zu werden, seien bestimmend<br />
für eine Nichtbeteiligung Englands<br />
an einem Kriege gegen Deutschland. Die<br />
englische Haltung werde gewiss nicht ohne<br />
Einfluss auf die Frankreichs sein.“<br />
Hitler behielt recht: Auf der Münchner<br />
Konferenz im Oktober 1938 wurde<br />
ihm das deutsch besiedelte Sudetenland<br />
zugesprochen; die Annexion der „Rest-<br />
Tschechei“ im folgenden März war zwar<br />
offen vertrags- und versprechungswidrig<br />
(„Deutschland ist gesättigt“) und wurde<br />
von den Westmächten entsprechend missbilligt;<br />
aber auch diesmal griff niemand<br />
ein, und die Standfotos vom deutschen<br />
Einmarsch in Prag überliefern die zornigen<br />
Gesichter tschechischer Passanten, in<br />
deren Hass auf die Invasoren sich Wut<br />
über die Nichtintervention der westlichen<br />
Schutzmächte mischen mochte. Ein <strong>letzte</strong>s<br />
Mal hatte Hitler auf volles Risiko gespielt<br />
und gewonnen.<br />
Doch auch diesmal war er nicht saturiert.<br />
Er wollte weitermarschieren, wenn<br />
auch alles in Scherben fiel, wie schon seine<br />
Pimpfe und Jungmädel auf den Heimabenden<br />
sangen. In der Novemberbesprechung<br />
mimte er, wie später noch oft, noch in den<br />
Tagen des Zusammenbruchs, den souveränen<br />
Spieler am Pokertisch der Macht; der<br />
Nihilist setzte die Maske des Machiavellisten<br />
auf, der zwar nicht die Moral, wohl<br />
aber – wenigstens – die Vernunft als Ratgeberin<br />
achtet; in Wahrheit achtete er weder<br />
die eine noch die andere. Er war der „Revolutionär<br />
des Nihilismus“, als den Hermann<br />
Rauschning, einst nationalsozialistischer<br />
Senatspräsident in Danzig, der<br />
sich früh vom Regime losgesagt hatte, in<br />
einem damals (im Exil) erschienenen Buch<br />
beschrieb.<br />
Und so war der Diktator auch nach<br />
der Annexion Tschechiens, dem er in der<br />
Rechtsform des „Reichsprotektorats Böhmen<br />
und Mähren“ ein brutales Besatzungsregime<br />
oktroyierte, nicht mit seinem Raub<br />
zufrieden. Schon liefen die Planspiele für<br />
den Überfall auf Polen. Doch diesmal<br />
sollten die Garantiemächte England und<br />
Frankreich (das faschistische Italien war<br />
mittlerweile offizieller Verbündeter des<br />
Deutschen Reiches) Wort halten: Am<br />
3. September 1939, zwei Tage nach dem<br />
Überfall, gingen, nach fristlos verstrichenem<br />
Ultimatum, die Kriegserklärungen<br />
beider Mächte in der Reichskanzlei ein.<br />
Bis zuletzt hatte Hitler gehofft, England<br />
würde neutral bleiben; doch diese Illusion<br />
erfüllte sich nicht.<br />
Ihm, dem Nihilisten und „Vollstrecker<br />
des Bösen“ – so nannte ihn Graf Berthold<br />
Stauffenberg, der nach dem Attentatsversuch<br />
auf Hitler vom 20. Juli 1944 seinem<br />
Bruder auf dem Schafott folgte –, dürfte<br />
diese Enttäuschung letztlich gleichgültig<br />
gewesen sein; er hatte nun, was er wollte<br />
und was er auf der Hoßbach-Konferenz,<br />
wenngleich unter taktischen Klauseln verborgen,<br />
als sein eigentliches Ziel skizziert<br />
hatte: den europäischen Krieg, den er mit<br />
dem gleichen fatalen Zielbewusstsein zur<br />
europäischen Katastrophe machen sollte,<br />
vor deren Grausamkeit selbst die Düsternis<br />
von 1648, der Schrecken des Dreißigjährigen<br />
Krieges, verblassen würde.<br />
Konstantin Sakkas<br />
ist freier Autor und Historiker.<br />
Er schreibt Essays und<br />
Reportagen für Presse und<br />
Rundfunk<br />
Fotos: Bundesarchiv, Privat (Autor)<br />
132 <strong>Cicero</strong> 11.2012
WeLT.De/neu<br />
Die Welt gehört denen,<br />
die nicht lang fackeln,<br />
sondern für was brennen.<br />
Die WeLT gehörT Denen, Die neu Denken.
| S a l o n | B e n o t e t<br />
Requiem für<br />
Dennis<br />
Unser Autor reist an das Grab seines Großvaters<br />
nach Israel und lässt dort seine Geige sprechen<br />
Von Daniel Hope<br />
A<br />
ls ich vor einigen jahren mein erstes Buch „Familienstücke“<br />
schrieb, begab ich mich auf eine Spurensuche<br />
durch meinen Stammbaum. Mütterlicherseits hatte ich<br />
eine starke deutsche Komponente in meiner Vorgeschichte entdeckt,<br />
überschattet freilich vom unheilvollen Ende, das die meisten<br />
Familien jüdischer Abstammung fanden. Die Familie väterlicherseits<br />
war für mich aber nicht minder interessant. Kurz vor Ausbruch<br />
des Zweiten Burenkriegs 1899 wurde der britische Oberst<br />
Robert Baden-Powell zusammen mit einer Handvoll Offiziere in<br />
die Kapregion nach Südafrika geschickt, um die Mafeking-Provinz<br />
zu schützen. Am 12. Oktober 1899 brachen die Kampfhandlungen<br />
aus. Die Buren marschierten in die Kapkolonie und Natal ein<br />
und belagerten die britischen Garnisonen Ladysmith, Kimberley<br />
und Mafeking. Um seine wenigen Soldaten zu entlasten, stellte<br />
Baden-Powell ein Korps von elf- bis 16-jährigen Jungen zusammen,<br />
die als Boten, Signalgeber und Sanitäter dienten – einer dieser<br />
Jungen war Daniel McKenna, mein irisch-katholischer Urgroßvater,<br />
nach dem ich benannt wurde. Gegen eine Übermacht von<br />
9000 Buren gelang es Baden-Powell schließlich, mit nur knapp<br />
1000 Mann und viel List der Belagerung, die 217 Tage dauerte,<br />
standzuhalten und Mafeking zu verteidigen.<br />
Als 1944 mein Vater, der Schriftsteller Christopher Hope, in<br />
Südafrika auf die Welt kam, wütete ein anderer Krieg. Sein Vater,<br />
Dennis Tully, hatte sich im August 1940 freiwillig zur britischen<br />
Luftwaffe gemeldet. Bald wurde er nach Kairo versetzt, Rommels<br />
Armee rückte auf die Stadt vor. Als Dennis’ Sohn – mein<br />
Vater – zu früh geboren wurde, durfte Dennis nach Hause reisen.<br />
Das Baby litt unter schweren Blutungen. Mein Großvater hatte<br />
dieselbe Blutgruppe, er spendete sein Blut und saß drei Tage vor<br />
dem Zimmer seines Sohnes. Als sich die Gesundheit meines Vaters<br />
besserte, sagte Dennis: „Gott hat das Leben meines Sohnes<br />
gerettet, dafür wird er meines nehmen.“ An einem Sonntag flog<br />
er wieder in Richtung Norden. Am Sonnabend darauf war er tot:<br />
Abgestürzt im Flugzeug, die Ursache wurde nie bekannt.<br />
Während der Recherche für das Buch besuchte ich meinen<br />
Vater in Südfrankreich, wo er heute lebt. Plötzlich fing er an, von<br />
seinem Vater zu sprechen. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo Dennis<br />
begraben sei. Nein, in der Familie heiße es immer nur: „irgendwo<br />
in Nordafrika“. Als ich am Abend wieder zu Hause in London war,<br />
suchte ich im Internet nach Spuren. Zuerst erfolglos, aber schließlich<br />
stieß ich auf eine Webseite der „Commonwealth War Graves<br />
Commission“. Ich gab seinen Namen und das Jahr seines Todes in<br />
die Suchmaske ein. Einige Sekunden später las ich: „Dennis Hubert<br />
Tully Lieutenant, Son of William and Mary Tully; Husband<br />
of Kathleen Tully, of Johannesburg, Transvaal, South Africa. Remembered<br />
with honour.“ Nur einen Mausklick weiter ein Foto:<br />
das Grab meines Großvaters. Dennis Tully starb am 12. August<br />
1944, begraben wurde er in Ramla, einer kleinen Stadt in Palästina,<br />
heute Israel. Er war 25 Jahre alt. Ich sah auf die Datumsanzeige<br />
meiner Uhr: Es war der 12. August 2004 – auf den Tag<br />
genau 60 Jahre danach. Als ich meinem Vater berichten konnte,<br />
wann genau sein Vater gestorben sei, war das ein bewegender Moment<br />
für uns beide.<br />
Erst in diesem Sommer ist es mir jedoch gelungen, einen gemeinsamen<br />
Besuch mit meinem Vater nach Israel zu organisieren<br />
(siehe den Bericht auf Seite 126). Bis zu den Kreuzzügen im<br />
11. Jahrhundert war Ramla die Hauptstadt Palästinas, berühmt<br />
für seine extravaganten Moscheen und Paläste. Heute ist Ramla<br />
eine eher nüchterne Industriestadt unweit des Flughafens Tel Aviv.<br />
Zwischen einer Autobahn und einem Fabrikgelände liegt ein britischer<br />
Friedhof mit grünem, perfekt getrimmtem Rasen.<br />
Das Grab meines Großvaters haben wir sofort gefunden. Es<br />
liegt gegenüber einem wunderschönen Baum, umringt von den<br />
Kriegsgräbern Tausender anderer Männer, die alle um die 20 Jahre<br />
alt waren, als sie fielen. Nachdem mein Vater fast sieben Jahrzehnte<br />
nach dessen Tod Abschied von seinem Vater nehmen konnte, saß<br />
er schweigsam unter dem Baum, zückte seinen Füller und ein Notizblatt<br />
und fing an, seine Gedanken niederzuschreiben. Und ich<br />
tat das, was ein Musiker in einem solchen Moment am besten tun<br />
kann: Ich spielte ein Stück auf meiner Geige, ein Stück für meinen<br />
Großvater Dennis. Musik schien für mich in diesem Moment<br />
das einzig Richtige. Schweigen konnte ich nie. Vielleicht bin ich<br />
auch deshalb Musiker geworden: „Die Musik drückt das aus, was<br />
nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich<br />
ist.“ Das ist ein Satz von Victor Hugo, der mir immer gefallen hat.<br />
Und so klingen die Stücke meiner Familie nun nach.<br />
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />
„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />
toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />
CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />
illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />
134 <strong>Cicero</strong> 11.2012
WeLT.De/neu<br />
Die Welt gehört denen,<br />
die ausbrechen,<br />
statt einzuknicken.<br />
Die WeLT gehörT Denen, Die neu Denken.
| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />
136 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Der Dionysos von Basel<br />
Das Porträt als memento mori: Arnold Böcklins<br />
„Selbstbildnis mit fiedelndem Tod“ aus dem Jahr 1872<br />
versteht sich als Testament für die Nachgeborenen<br />
Von Beat Wyss<br />
Fotos: Jörg P. Anders/BPK/Nationalgalerie SMB, artiamo (Autor)<br />
W<br />
enden wir uns im Totenmonat<br />
November einem Gemälde<br />
zu, das vom Tod zu handeln<br />
scheint. Arnold Böcklin malt sich im<br />
Moment, da er sich im Spiegel betrachtet,<br />
dessen Reflex er mit Pinsel und Palette<br />
auf die Leinwand überträgt: „So hat<br />
mein Schöpfer im Alter von 45 Jahren<br />
ausgesehen“, soll sein Gemälde uns sagen,<br />
uns, die wir wissen, dass Böcklin schon<br />
111 Jahre tot ist.<br />
Jedes Porträt ist memento mori. Das<br />
abgemalte Gesicht versteht sich als Testament<br />
an die Nachgeborenen. In diesem<br />
Sinne schaut Böcklin die Betrachtenden<br />
an, als wollte er prüfen, ob wir<br />
seiner, des großen Malers, auch gebührend<br />
gedenken. Um das Todesträchtige<br />
in seinem Bildnis zu untermalen, lässt er<br />
den Tod hinter seinem Rücken auftreten.<br />
Er malt ihn auf herkömmliche Art<br />
als grinsenden Spielmann mit der Fiedel.<br />
So kennt ihn die Kunstgeschichte aus<br />
den Totentänzen des 15. Jahrhunderts:<br />
den großen Gleichmacher, der die Menschen<br />
aller Stände, von Kaiser und Papst<br />
über Mönch und Lebemann bis hin zur<br />
Dirne und zum Tagelöhner alle mit gleicher<br />
Melodie heimholt. Der Totentanz<br />
erinnert an den Massentod der Pest, der<br />
damals in den überfüllten, florierenden<br />
Städten des Spätmittelalters reiche Ernte<br />
einfuhr. Einer der Berühmtesten zierte<br />
einst die Friedhofsmauer der Predigerkirche<br />
zu Basel, Böcklins Heimatstadt. Der<br />
Bürger und das standesbewusste Patriziat<br />
identifizierten sich gern mit einer Darstellung,<br />
die von der gerechten Natur des<br />
Todes handelt. Er war einer, der auch vor<br />
den Pfaffen nicht haltmachte.<br />
Bleiben wir jetzt aber bei dieser besinnlichen<br />
Betrachtung über das Unabänderliche<br />
im Leben stehen, so haben<br />
wir das Gemälde nicht ganz verstanden.<br />
Schauen wir dem Maler noch einmal genau<br />
in die Augen: Sieht er sich denn überhaupt<br />
an im Spiegel? Oder unterbricht er<br />
nicht vielmehr gerade jetzt seinen prüfenden<br />
Blick auf sich selbst? Ja, er vergisst in<br />
diesem Moment sein Geschäft des Sehens,<br />
weil er der Melodie des fiedelnden Todes<br />
lauscht. Und diese Melodie mag ihn an<br />
eine Textstelle in Jean Pauls „Vorschule der<br />
Ästhetik“ erinnert haben, die das Genie<br />
mit der Saite einer Windharfe vergleicht,<br />
die von der Eingebung berührt wird. Der<br />
knochige Fiedler ist nichts anderes als jener<br />
„überirdische Engel des inneren Lebens“,<br />
der den Künstler antreibt, „Todesengel<br />
des Weltlichen im Menschen“ zu<br />
spielen: jenen Genius, der uns in ein Jenseits<br />
alltäglicher Banalität entführt. Böcklins<br />
Tod verkörpert die Inspiration.<br />
Diese Idee ist weit entfernt von den<br />
makabren Totentänzen des Mittelalters.<br />
Modern ist die Umwertung des Todes als<br />
Leben. Böcklins Selbstbildnis mit Tod<br />
stammt von 1872, dem Erscheinungsjahr<br />
von der „Geburt der Tragödie“, verfasst<br />
von Friedrich Nietzsche, dem Basler<br />
Dionysos. Zu gering war die Verbreitung<br />
von dessen Erstauflage, als dass der Künstler<br />
das Buch gekannt hätte. Doch Ideen<br />
haben ihre Fahrpläne. Die einschlägigen<br />
Stichworte einer Epoche raunt die Zeitgenossenschaft<br />
ihren Agenten direkt zu.<br />
Böcklin porträtiert sich als apollinischen<br />
Helden, der der dionysischen<br />
Melodie von Urlust und Urleiden bleibende<br />
Gestalt abringt. Dass im Wollen<br />
immer auch das Vergehen-Wollen enthalten<br />
sei, hat Arthur Schopenhauer gelehrt.<br />
Sigmund Freud wird die gemeinsame<br />
Wurzel von Eros und Thanatos das<br />
Nirvanaprinzip nennen, nach dem Ort,<br />
wo höchste Selbstvergessenheit ist. Der<br />
Rausch, die Liebe, der Schlaf sind die<br />
kleinen Tode vor der Rückkehr zum großen.<br />
Sie alle enthalten das schmeichelnde<br />
Versprechen, auf das der Künstler jetzt<br />
hinhorcht: Er weiß sich verführbar, aber<br />
er will wach bleiben! Der malende Zeitgenosse<br />
Nietzsches versteht sein Schaffen<br />
als ein Bannen des tödlichen Sirenengesangs.<br />
Kunstgenuss sei, wie Traum und<br />
Liebe, ein kleiner Tod, der durch das dauerhafte<br />
Werk immer wieder gefahrlos und<br />
mit heilender Wirkung wiederholt werden<br />
kann.<br />
B e at W y s s<br />
ist einer der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes.<br />
Er lehrt in Karlsruhe<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 137
| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />
Keine schlechte<br />
Nummer<br />
138 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Geduldiges Warten –<br />
einer der täglich etwa<br />
500 Kunden bei der<br />
KFZ‐Zulassungsstelle<br />
Kreuzberg<br />
Neuerdings können<br />
Kunden Termine auch<br />
vorab vereinbaren. Alle<br />
anderen müssen etwas<br />
Zeit mitbringen<br />
Momentaufnahme<br />
KFZ-Meldestelle<br />
Die tumultartigen Aufstände wartender<br />
Kunden sind inzwischen unter Kontrolle, die<br />
Autokennzeichen-Dealer und ihre Kleinkriege auf<br />
der Straße noch nicht: Eine Fotoreportage von Anne<br />
Schönharting und Julian Röder aus dem größten<br />
KFZ-Amt der Bundesrepublik in Berlin-Kreuzberg<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 139
| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />
Tumulte gibt es hier keine<br />
mehr – Eingangshalle<br />
der KFZ-Behörde<br />
Geraucht wird trotzdem –<br />
das Ex‐Kasernengebäude<br />
als Trutzburg wider<br />
den Zeitgeist<br />
140 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Strandromantik –<br />
ein Sachbearbeiter<br />
macht das Beste<br />
aus seinem Büro<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 141
| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />
Zack, der Nächste bitte –<br />
einer von 120 Mitarbeitern<br />
bei der Arbeit<br />
142 <strong>Cicero</strong> 11.2012
H<br />
m, hm! der Herr aus der Abteilungsleitung<br />
weiß nicht so genau,<br />
er wiegt nachdenklich<br />
den Kopf. Sein Gesicht sagt: „Au Backe,<br />
Presse, jetzt geht das Ganze von vorne<br />
los.“ Tatsächlich sagt er: „Wir wollen<br />
gerne helfen, nur haben wir gewisse Bedenken.<br />
Wir haben auch Erfahrungen gemacht,<br />
die nicht so gut waren.“<br />
Man versteht, dass das Personal der<br />
KFZ‐Zulassungsstelle in Berlin-Kreuzberg<br />
nicht sofort in Jubel ausbricht, als<br />
wir für eine Fotoreportage anfragen. Die<br />
größte der 440 bundesweiten Zulassungsbehörden,<br />
untergebracht in einer baufälligen<br />
Ex-Kaserne an der Jüterboger Straße,<br />
war lange das Lieblingshassobjekt der Lokalpresse.<br />
„Ein ganz großer Albtraum“,<br />
schrieben sie, „ein Haus, das verrückt<br />
macht“, um dann mit fasziniertem Grausen<br />
chaotische Zustände in einer Großbehörde<br />
zu beschreiben. Von ausgelaugten<br />
Mitarbeitern war die Rede, von Warteschlangen<br />
bis auf den Bürgersteig und<br />
Kunden, die vor lauter Warterei erst ins<br />
apathische Wachkoma verfallen sein sollen<br />
und dann regelrechte Tumulte veranstaltet<br />
haben sollen, vor den verrammelten<br />
Türen des verängstigten Personals.<br />
Heute können wir berichten: So<br />
schlimm ist es nicht. Im Gegenteil. In einer<br />
Stadt, die allenthalben über die sogenannte<br />
Gentrifizierung ihrer Kieze klagt<br />
und über die sogenannte Disneyisierung<br />
ihrer Mitte, ist das Kreuzberger KFZ‐Amt<br />
eine Insel der Authentizität. Zugegeben,<br />
der stacheldrahtumzäunte Backsteinkomplex<br />
mit den vergitterten Fenstern<br />
und teils zellenartigen Amtsstuben irritiert<br />
erst mal. Aber im Grunde ist das hier<br />
keine schlechte Attraktion, nicht so rausgeputzt<br />
wie das Brandenburger Tor und<br />
auch nicht so abgelatscht wie der Checkpoint<br />
Charly.<br />
Im KFZ-Amt gibt es was zu sehen.<br />
Täglich werden hier etwa 500 Kunden<br />
und rund 1500 Meldevorgänge<br />
Warteschlange auf den Amtsfluren – immerhin nicht mehr bis auf den Bürgersteig<br />
Trost im tristen Behördenalltag – Zimmerpflanze, Radio, Ventilator<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 143
| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />
„Wir bedauern ausdrücklich …“ – die Behörde entschuldigt<br />
sich für das Treiben vor ihren Türen<br />
Fachlektüre im Wartesaal – irgendwie muss man die Zeit ja herumbekommen<br />
abgefertigt von 120 Mitarbeitern, die Unterlagen<br />
prüfen, Daten erfassen, Papiere<br />
ausfertigen, Kennzeichen versiegeln und<br />
Einzahlungsquittungen prüfen. Der Bildung<br />
zorniger Warteschlangenmobs versucht<br />
das Amt seit über einem Jahr vorzubeugen,<br />
indem es Termine im Voraus<br />
anbietet. Über 40 Prozent der Kunden<br />
nutzen den Service heute, den Publikumsverkehr<br />
hat das entzerrt.<br />
Noch nicht so ganz gelöst dagegen ist<br />
das Problem vor den Türen. „Hey, Kollege,<br />
hier, brauchst du Hilfe? Psst!“, flüstert<br />
ein Mann im Kapuzenpullover vor<br />
dem Haupteingang. „Komm zu uns, ich<br />
mach dir den besten Preis“, ruft ein anderer<br />
vom Straßenrand. „60 für zwei.“ Was<br />
die Männer feilbieten, sind Nummernschilder.<br />
Weil das KFZ‐Amt selber keine<br />
anfertigt, haben sich Dutzende Schilderpräger<br />
in angemieteten, bunten Bürocontainern<br />
auf der Jüterboger Straße niedergelassen.<br />
Sie buhlen um Kundschaft mit<br />
einer Entschlossenheit, die man nur von<br />
den Eis- und Schmuckverkäufern an Mittelmeerstränden<br />
kennt. Aus den Fenstern<br />
der Behörde beobachtet man das Treiben<br />
auf der Straße mit Argwohn. Nicht nur,<br />
weil die Preise im Stundenrhythmus zwischen<br />
Schnäppchen und Wucher schwanken<br />
und das aggressive Werben die Amtsbesucher<br />
verschreckt, sondern auch, weil<br />
unter den Händlern seit Jahren ein Kleinkrieg<br />
schwelt, der bestenfalls in gegenseitigen<br />
Anzeigen ausartet.<br />
Noch ist unklar, ob all das in Kreuzberg<br />
eine Zukunft hat. Der Senat steht<br />
vor der Entscheidung, das denkmalgeschützte<br />
Gebäude zu sanieren oder<br />
die Behörde woanders unterzubringen.<br />
Erst 2008 scheiterte der Plan, in ein<br />
Auto‐Service‐Zentrum in Charlottenburg<br />
umzuziehen, am Widerstand der<br />
Abgeordneten von SPD und Linkspartei.<br />
Ansonsten wäre Berlin schon ärmer,<br />
um eine seiner eigentlichen Attraktionen.<br />
<br />
Constantin Magnis<br />
144 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Verkaufsmeile auf der<br />
Jüterboger Straße – Dutzende<br />
Budenbesitzer handeln<br />
mit Autokennzeichen<br />
„Komm zu uns, ich mach<br />
dir den besten Preis“ –<br />
Autokennzeichendealer<br />
buhlen um Kundschaft<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 145
| S a l o n | K ü c h e n k a b i n e t t<br />
Sushi Bolognese<br />
Der Speiseplan als Objekt der Sozialforschung:<br />
Was bedeutet es eigentlich für den Zusammenhalt<br />
unserer Gesellschaft, wenn gutbürgerliche<br />
Küche nicht mehr als Lebensart gilt, sondern<br />
als gastronomisches Kuriositätenkabinett?<br />
Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />
W<br />
er weiss noch, was hunger ist? Der Berliner Spitzenkoch<br />
Tim Raue behauptet schon im Titel seiner Autobiografie,<br />
in Kindertagen Opfer einer armutsbedingten Unterernährung<br />
geworden zu sein – als handelte es sich bei seinem<br />
Heimatbezirk Kreuzberg um eine Favela, die von den Sozialleistungen<br />
des deutschen Gemeinwesens links liegen gelassen wurde.<br />
Tatsächlich haben Wachstum, sozialer Ausgleich und vor allem die<br />
industrielle Produktion von Lebensmitteln die verfügbare Kalorienmenge<br />
als Maßstab für Arm und Reich entwertet. Trotzdem<br />
lässt sich auch weiterhin die soziale Zugehörigkeit an Speisen ablesen<br />
– es geht aber eher um die Qualität der Nahrungsmittel und<br />
ihre Zubereitung. Ärmliche Verhältnisse sind nicht mehr durch<br />
den Mangel an Fleisch charakterisiert – ganz im Gegenteil: Würste,<br />
Fleischsalat und Grillhähnchen bilden die Nahrungsgrundlage der<br />
Unterschicht. Wer sich auf der sozialen Skala nach oben geboxt<br />
hat, ist skrupulöser, wenn es um den massenhaften Tod von Tieren<br />
für das eigene Wohlbefinden geht; in Familien höheren Standes<br />
finden sich oft vegane Mitglieder.<br />
Die Differenzierung der Bevölkerungsschichten anhand von<br />
Speiseplänen und Rezepten ist ein wenig beackertes Feld der Sozialforschung.<br />
Dabei lässt sich vieles aus Koch- und Haushaltsbüchern<br />
ablesen. Die gutbürgerliche Küche zum Beispiel hat seit<br />
dem Biedermeier eine Lebensart definiert, die zum Leitbild des<br />
gesamten Gemeinwesens wurde. Man denkt an Rouladen mit<br />
Salzkartoffeln, an Gulasch, Königsberger Klopse und Mischgemüse<br />
oder Schweinebraten, Kassler und Sauerkraut: Traditionsgerichte,<br />
die mit viel Bratensoße und Kartoffeln Sättigung versprechen.<br />
Als Würzmittel reichen meist Pfeffer und Salz; höchstens<br />
noch Lorbeer, Muskat und manchmal Paprika runden die Speisen<br />
ab. Diese aufs Fleisch konzentrierte Küche stellte früher den<br />
Alltag der Mittelschicht dar. Der Sonntagsbraten war das Kennzeichen<br />
eines Standes, mit dem sich ganze Familien ihrer gesellschaftlichen<br />
Stellung versicherten. Solange man sich diesen Höhepunkt<br />
der kulinarischen Woche noch leisten konnte, schienen<br />
die Dinge im Lot. Dabei spiegelte die Ausgestaltung des Menüs<br />
die materiellen Verhältnisse und den Bildungsstand wider. In<br />
der oberen Mittelschicht ging etwa noch eine Rindsbrühe mit<br />
Markklößchen voraus und ein Dessert beschloss das Mittagsmahl.<br />
Weiter unten auf der gesellschaftlichen Leiter blieb es zum Beispiel<br />
bei einem Hackbraten ohne Vorspeise und Nachtisch. Ritual<br />
und Rezeptur dieser deutschesten aller Küchen waren aber<br />
überall gleich und stifteten einen Zusammenhalt, der über Kriege<br />
und Krisen hinweg Bestand hatte – als Ideal eines stetig wachsenden<br />
Bürgertums.<br />
Doch jetzt scheint es fast zum Schreckbild einer Generation<br />
geworden zu sein, die ihre Inspirationen aus der ganzen Welt bezieht.<br />
Für jemanden, der mit Pizza, Sushi und Burger groß geworden<br />
ist, stellt das Angebot eines Ratskellers, von dem man die<br />
Traditionsküche seit jeher in Vollendung erwartet, ein nachgerade<br />
abstoßendes Kuriositätenkabinett dar. Deutschlands Mensen<br />
können mit Hühnerfrikassee und Krautwickeln allenfalls noch<br />
das Personal beköstigen – die Studenten bedienen sich aus einem<br />
Mix asiatischer und mediterraner Spezialitäten, zunehmend auch<br />
in vegetarischer Ausprägung. Vor unseren Gaumen entsteht eine<br />
Patchworkküche, die das als eintönig empfundene Gutbürgerliche<br />
mit einer Mobilisierung aller Geschmackssinne beantwortet.<br />
Dieses Sammelsurium aus der Weltküche lässt allerdings einen<br />
übergreifenden Gedanken vermissen. Der Kanon der deftigen<br />
bürgerlichen Küche hat auch für Zusammenhalt gesorgt, nicht<br />
nur am Mittagstisch. Stattdessen steht jetzt eine Beliebigkeit auf<br />
dem Menü, die zwar Weltläufigkeit suggeriert, aber eine Identität<br />
vermissen lässt.<br />
Es ist diese Identität des Bürgerlichen, auf die die großen Volksparteien<br />
immer gesetzt haben – und für die Zukunft dieser Parteien<br />
ist der Niedergang der traditionellen deutschen Küche ein<br />
Menetekel: Wenn es schon über den Speisezettel keine Einigkeit<br />
mehr gibt, werden die Bürger auch in der Wahlkabine à la carte<br />
bestellen.<br />
Julius Grützke und Thomas Platt<br />
sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />
Beide leben in Berlin<br />
illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />
146 <strong>Cicero</strong> 11.2012
WOHNEN LEICHT<br />
GEMACHT<br />
DIE NEUE AD-AUSGABE JETZT AUCH<br />
ALS EPAPER ERHÄLTLICH.
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
Jaguar und Spiegelei<br />
Der Kölner Mediziner Reiner Speck hortet nicht nur zeitgenössische Kunst, sondern auch Bücher –<br />
speziell über Proust und Petrarca. Ein Bibliotheksbesuch bei einem manischen Sammler<br />
Von Claudia Rammin<br />
148 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Foto: Marcus Gloger<br />
Als Sammler ist Reiner Speck wie<br />
Petrarca „sein eigener Bibliothekar<br />
oder Museumswärter“: Bildnis<br />
des Hausherrn mit Hunden<br />
K<br />
eine Hausnummer, kein Namensschild an der Klingel,<br />
auch nicht am von Efeu umwucherten Briefkasten neben<br />
dem Gartentor. Offenbar ist bekannt, wer in der stillen<br />
Straße im noblen Kölner Stadtteil Lindenthal wohnt.<br />
Reiner Speck öffnet die Pforte, an der früher „Dr. Jekyll<br />
und Mr. Hyde“ zu lesen war. Das habe jedoch zu Irritationen und<br />
der Vermutung geführt, hier verberge sich ein Arzt mit obskuren<br />
Obsessionen. Speck entfernte das Schild. Das ironische Spiel mit<br />
Bezügen und Querverbindungen scheint ihm Spaß zu machen:<br />
„Proust nahm im Hotel immer das <strong>letzte</strong> Zimmer links, unser Haus<br />
ist das <strong>letzte</strong> auf der linken Seite.“ Gleich hinter der stattlichen Villa<br />
aus den zwanziger Jahren liegt der Stadtwald und beginnt die von<br />
Speck initiierte „Marcel-Proust-Promenade“, die erste nach dem<br />
Schriftsteller benannte Straße in Deutschland.<br />
Specks kokette Idolatrie für den Franzosen geht so weit, dass<br />
auf seinem Briefpapier statt der Kontonummer „Je hais les correspondances<br />
– Marcel Proust“ steht. Er hasse Briefwechsel, schrieb<br />
der Romancier im Frühjahr 1916 an seinen Freund Lucien Daudet.<br />
Ungeachtet dessen verfasste Proust manisch und atemlos Briefe,<br />
schrieb wie besessen an seiner „Recherche“. Urologe Speck, dessen<br />
Tochter Laura in der fünften Generation die medizinische Tradition<br />
der Familie fortsetzt, ist missionarischer Vorsitzender der<br />
1982 in Köln gegründeten Proust-Gesellschaft. Er produziert ebenfalls<br />
einen nicht abreißenden Strom von Rezensionen, Vorträgen,<br />
Kritiken und Essays über Kunst, Medizin, Literatur. Er hat Bücher<br />
herausgebracht wie „Proust für Gestresste“ – eine Art Hausapotheke<br />
für spezielle Seelenlagen. Seit Jahrzehnten jagt der von<br />
Joseph Beuys im „Dr. Speck Multiple“ Verewigte wie ein Süchtiger<br />
nach allem, was er über den Proust’schen Romangiganten<br />
finden kann. Der 71-Jährige beruft sich dabei auf Goethe: „Und<br />
so liebe ich den Besitz nicht der besessenen Sache, sondern meiner<br />
Bildung wegen.“<br />
Das zweite Objekt seiner Sammel- und Wissensleidenschaft<br />
ist der italienische Humanist und Dichter Francesco Petrarca, der<br />
als einer der ersten obsessiven Bibliophilen schlechthin gilt. Zwischen<br />
Proust und Petrarca liegen Welten und Jahrhunderte, aber<br />
beide „sind in ihrer Zeitzeugenschaft so genial und allumfassend,<br />
dass sie Epochen überragen und überleben“, sagt Speck. Beide<br />
seien Künstler par excellence gewesen, was die Anlage ihres Werkes,<br />
deren Formvollendung, die Selbstreflexion und ihren Ruhm<br />
betreffe. Ein auch heute noch beachtliches Werk sei beispielsweise<br />
Petrarcas „De remediis utriusque fortunae“, von den Heilmitteln<br />
gegen gutes und böses Schicksal, ein Nachschlagewerk mit Zitaten<br />
und einschlägigen Beispielen. Der Enthusiast Reiner Speck<br />
besitzt die erste deutsche Übersetzung von 1532 und freut sich<br />
über sein Beuteglück.<br />
Auf allen Reisen führt ihn der erste Weg ins Antiquariat und<br />
dann erst ins Hotel. Auch „Petrarca pflegte wie ein witternder<br />
Hund vom Weg abzuweichen, sobald er von einem Kloster und<br />
dessen Bücherschatz erfuhr“, erzählt Speck. Heute besucht er Antiquariatsmessen<br />
und ist in Fachkreisen so bekannt, dass vieles an<br />
ihn herangetragen wird – Inkunabeln wie Probleme der Forschung.<br />
Zunächst ist es die Kunst, die den Besucher beim Betreten<br />
des Speck’schen Domizils gleich hinter der Tür in großen Formaten<br />
empfängt: Cy Twombly, der Exlibris für die Büchersammlung<br />
schuf, Sigmar Polke, Marcel Broodthaers. Im anschließenden<br />
Raum keine Bilder mehr, nur noch Bücher, raumfüllend und<br />
deckenhoch in kontorähnlichen dunklen Holzregalen aufgereiht.<br />
Parkettboden, nichts Überflüssiges oder Nebensächliches, lediglich<br />
ein englischer Sekretär – eine Empfangs- und Lesebibliothek<br />
mit Blick in einen parkähnlichen Garten.<br />
Hier stehen die Zeitgenossen, das 19. Jahrhundert und die<br />
klassische Moderne, hier manifestiert sich Specks Literaturbesessenheit<br />
und sein enzyklopädisches Wissen: Bernanos, Bataille,<br />
Houellebecq, Ponge, Roussel, Walser, Wieland. Dazwischen<br />
die erste 1964 erschienene graufarbene Taschenbuch-Werkausgabe<br />
von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Sie<br />
ist gespickt mit weißen Zetteln, die alle medizinischen Stellen<br />
markieren. Dieses „l’univers medical bei Proust ist unglaublich.<br />
Die ‚Recherche‘ bietet das narrative medizinische Wissen und<br />
wird zu Recht von Walter Benjamin als ‚Wissen eines Gelehrten‘<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 149
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
Links: eine Trionfi-Handschrift von Petrarca aus dem Jahre 1472; das Bild im Regal zeigt sechs toskanische<br />
Dichter, im Vordergrund Dante und Petrarca, eine Kopie nach Giorgio Vasari um 1570<br />
Mitte: Reiner Speck im Vortragsraum seiner Petrarca-Bibliothek im ehemaligen Wohnhaus des Stararchitekten O. M. Ungers<br />
Rechts: Originalmanuskript von Marcel Proust aus „Im Schatten junger Mädchenblüte“, circa 1914<br />
bezeichnet“, sagt Dr. Speck, der abwechselnd lateinisch, englisch<br />
oder französisch zitiert.<br />
Die Bibliothek ist längst nicht mehr alphabetisch geordnet,<br />
vieles sogar in Dreierreihen hintereinander verstaut. „Irgendwann<br />
einmal musste ich die Bücher den Formaten entsprechend sortieren.<br />
Ich weiß, was ich habe, aber ich weiß nicht, wo es steht“,<br />
sagt Speck. Denn jedes Zimmer des großen Hauses ist bis unters<br />
Dach eine eigenständige Bibliothek. So auch im ersten Stock: Hier<br />
reihen sich umfangreiche Konvolute von Erstausgaben und Autografen<br />
von Louis-Ferdinand Céline neben Gottfried Benn, Alfred<br />
Döblin und Oskar Panizza, dessen „Liebeskonzil“ sogar in der<br />
Originalhandschrift – sämtlich geschätzte Schriftstellerärzte, über<br />
die Speck selbst publiziert hat. Neben einem antiken Bett, in dem<br />
er seit seinem vierten Lebensjahr schläft, türmen sich „manchmal<br />
für die Nacht bis zu 50 Bücher, und am nächsten Morgen ist<br />
doch vieles ungelesen“, sagt Speck resigniert, der sich selbst als<br />
„Bücherfresser“ bezeichnet. Ein einziger Raum ist ohne Buch: das<br />
Esszimmer. Dort hängen ausschließlich sieben großformatige Bilder<br />
mit erotischem Sujet von Pierre Klossowski – <strong>letzte</strong>n Endes<br />
doch nur wieder gemalte Literatur, wie der Gastgeber beinahe<br />
entschuldigend bemerkt.<br />
Schon als Schüler habe er davon geträumt, eine Universalbibliothek<br />
zu haben, die es einem erspart, in öffentliche Bibliotheken<br />
zu gehen. In seinem Zimmer in der elterlichen Villa hatte der<br />
Sohn der als Ärzte tätigen Eltern nicht nur drei, vier Regale an der<br />
Wand, sondern bereits raumhohe Bücherschränke. Es sollte ein<br />
Studiolo sein, ein Bücherspeicher mit der Aura einer Bibliothek.<br />
Die Sammelsucht begann später, schleichend. Als 20-Jähriger stöberte<br />
Speck zu Hause in den Regalen und stieß auf Prousts siebenbändige<br />
Ausgabe; dann blätterte er lustlos in „Tage der Freuden“.<br />
Aber erst bei „Tage des Lesens“ war es um ihn geschehen, und er<br />
wurde zum Proust-Leser und -Sammler. Eine Sternstunde sei der<br />
Moment gewesen, in dem er den Avant-Text, das Originalmanuskript<br />
„Sur la Lecture“, in Paris erwerben konnte.<br />
Die Bibliothek mit schätzungsweise 40 000 Büchern sei ein<br />
„Zeugnis der Kontextualität und Komparatistik, denen ich immer<br />
hinterher bin und die lebenslang meine Lesegewohnheiten<br />
bestimmt haben“. Aus Platzmangel „transplantierte“ Speck Anfang<br />
des Jahres die beiden Herzkammern seiner Bibliothek, die<br />
monomanisch aufgebaute „Bibliotheca Proustiana“ und die weltweit<br />
größte private „Bibliotheca Petrarchesca“, in die Casa senza<br />
qualità im nahe gelegenen Stadtteil Müngersdorf. Es handelt sich<br />
hierbei um das „architektonische Manifest“ des Kölner Stararchitekten<br />
O. M. Ungers, das dieser selbst bis zu seinem Tod bewohnte.<br />
Mehr als hundert Proust-Briefe, zahlreiche Manuskripte, private<br />
Dokumente und bibliophile Kostbarkeiten, illuminierte<br />
Handschriften auf Papier und Pergament, Frühdrucke berühmter<br />
Vorbesitzer haben am zweiten Standort der Speck’schen Bibliothek<br />
ein Refugium gefunden. Doch so etwas gehe nicht ohne<br />
Opfer. Das größte sei der Verzicht darauf, jedes Buch immer und<br />
sofort greifbar zu haben. Erworben hat Speck das Haus, auch Sitz<br />
der „Dr. Speck Literaturstiftung“, um darin „die Einmaligkeit meiner<br />
Obsession für die Nachwelt zu konservieren“, gleichzeitig betonend,<br />
diese Diktion entspreche nicht seiner Bescheidenheit. Ironische<br />
Distanz gegenüber sich selbst scheint bei Speck auch immer<br />
auf Erhöhung der Distinktion angelegt.<br />
Überhaupt, wie hat er sein Sammeln finanziert? Der freudige<br />
Verzicht auf die als banal eingeschätzten Begehrlichkeiten habe<br />
sein ganzes Leben geprägt. Der Arztberuf habe ihn zur „inneren<br />
und äußeren Disziplin“ gezwungen. „Ich bin kein Restaurantläufer,<br />
Luxushotels langweilen mich. Ich fahre immer zweiter Klasse<br />
und seit Jahrzehnten mit dem Fahrrad, selbst Hausbesuche habe<br />
ich damit gemacht.“ Und der Jaguar vor der Tür? „Ich habe immer<br />
alte, längst überholte Modelle.“ Der Wagen sei eine fahrende<br />
Hundehütte für Dobermann und Weimaraner. Ein feines, süffisantes<br />
Lächeln umspielt seine Lippen, als Speck sagt: „Meine Lebensformel<br />
ist eben Jaguar und Spiegelei.“ Seine Obsession sei ein<br />
<strong>letzte</strong>s Aufbegehren gegen den Verlust der Aura einer Bibliothek,<br />
die die Summe alles je von ihm Gelesenen ist. Und am Ende sei<br />
er als Sammler – wie von Proust vorgeschlagen – nicht Leser seiner<br />
selbst, sondern wie Petrarca „sein eigener Bibliothekar oder<br />
Museumswärter“.<br />
Claudia Rammin<br />
lebt als freie Journalistin in Hamburg<br />
Fotos: Marcus Gloger, Privat (Autorin)<br />
150 <strong>Cicero</strong> 11.2012
leine? los!<br />
Es gibt ein Leben nach der Cebit und vor der Hannover-Messe: dann präsentiert Hannover der Welt keine Produkte, sondern sich selbst.<br />
Niedersachsens Hauptstadt gehört zu den grünsten Städten Deutschlands, und ein Juwel unter den europäischen Parkanlagen sind<br />
die Herrenhäuser Gärten. Dort wird in Kürze auch das Herrenhäuser Schloss, die<br />
Sommerresidenz der Welfen, neu erstanden sein. Sehenswert auch die backsteingotische<br />
Marktkirche, das Alte Rathaus, der Erlebnis-Zoo. Außerdem stellt MERIAN die Kestner-<br />
Gesellschaft vor. im guten buch- und zeitschriftenhandel. per telefon<br />
unter 0 40/87 97 35 40 oder www.meranshop.de
| S a l o n | D a s S c h w a r z e s i n d d i e B u c h s t a b e n<br />
So ist das<br />
Auch die Beschreibung der Trostlosigkeit tröstet: ein Film und<br />
drei Bücher über den Tod und die rettende Kraft des Erzählens<br />
Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />
E<br />
s ist November, und es ist düster.<br />
Da können wir auch gleich über<br />
den Tod nachdenken. Vielleicht<br />
ändert sich gerade etwas an unserer Art,<br />
das zu tun. Vielleicht haben wir das Michael<br />
Haneke zu verdanken und seinem<br />
großen Film „Liebe“, der vom Ende einer<br />
Liebe durch Eintritt des Todes handelt.<br />
Diesen Film muss man gesehen haben.<br />
Was wir uns ansehen dürfen, darüber<br />
können wir reden. Worüber man reden<br />
kann, das muss man nicht mehr verdrängen.<br />
Bei Haneke darf man sich das hässliche<br />
Alter in seiner ganzen Würde ansehen.<br />
Die Bilder sind statisch: Die Kamera<br />
tut uns nicht den Gefallen wegzublicken.<br />
Wir werden nicht abgeschoben ins Jugendzentrum<br />
der wackelnden Handkamera, die<br />
uns unter Empathiezwang setzt, wir dürfen<br />
selber hinsehen. Auch uns lässt man<br />
so unsere Würde.<br />
Bei Hanser Berlin ist das schöne Buch<br />
zum Film erschienen. Es enthält Szenenfotos,<br />
das Drehbuch, Faksimiles von dessen<br />
Drehfassung und einen geradezu endgültig<br />
klugen Essay von Georg Seeßlen.<br />
Der Umschlag ist leicht, das Papier schwer<br />
und teuer (Michael Haneke: „Liebe – Das<br />
Buch“; Hanser Berlin, Berlin 2012; 208 Seiten,<br />
19,90 Euro). Man kann jetzt also noch<br />
einmal nachsehen und nachlesen. Und<br />
auch bei diesem zweiten Durchgang auf Papier<br />
beeindruckt der Stoizismus des alten<br />
Mannes, der seine sterbende Frau pflegt,<br />
besonders. Die Tochter rebelliert gegen den<br />
Tod, sie will nicht von der Mutter verlassen<br />
werden, es muss doch etwas geben, was man<br />
tun kann! Der Vater, Georg, weiß, dass man<br />
nichts machen kann als aushalten. Jeder seiner<br />
Blicke sagt: So ist das eben. Und dann<br />
sagt er: „Können wir jetzt von etwas anderem<br />
reden?“ Darin liegt seine ganze Würde<br />
und die seiner Frau. Und um den Schutz<br />
dieser Würde geht es, vor den Zudringlichkeiten<br />
der Jüngeren, die da pflegen und waschen<br />
und putzen kommen wollen, damit<br />
sie sich besser fühlen, und die dann sagen:<br />
„Willst du nicht noch einen anderen Arzt<br />
zu Rate ziehen?“<br />
Die <strong>letzte</strong> Szene schenkt Haneke der<br />
Tochter, Eva. Sie streift allein durch die verlassene<br />
Wohnung der Eltern. Sie setzt sich.<br />
Sie sitzt da. Mehr ist nicht mehr zu tun. So<br />
ist das eben. Es braucht eigentlich keinen<br />
anderen Satz als diesen, um uns von unserem<br />
bizarren Umgang mit dem Tod zu heilen.<br />
Wir verkitschen so gern! Und wie unter<br />
Zwang schieben wir dann die Alten ins<br />
Pflegeheim ab, um ihn weiter verdrängen<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
152 <strong>Cicero</strong> 11.2012
foto: Loredana Fritsch<br />
zu dürfen, so als wollten wir sie in Folterknästen<br />
dafür bestrafen, dass sie uns an das<br />
Ende erinnern. Nur um dieses „So ist das<br />
eben“ nicht hören zu müssen.<br />
Einmal denkt man, der Film „Liebe“<br />
könnte doch noch von etwas anderem<br />
handeln als von Liebe und Tod, nämlich<br />
vom Leben. Die <strong>letzte</strong> Geschichte aus seiner<br />
Kindheit, die Georg seiner gelähmten<br />
Frau Anna erzählt (denn vom Geschichtenerzählen<br />
handelt dieser Film natürlich<br />
auch), ist eine von der Trostlosigkeit des<br />
Lebens. Der kleine Georg ist im Ferienlager,<br />
und er ist sehr unglücklich. In einer<br />
Revolte seines Körpers gegen sein Unglück<br />
wird er schwer krank. Als die Mutter endlich<br />
kommt, um ihn zu erlösen, kann sie<br />
nicht zu ihm: Man hat ihn ins Krankenhaus<br />
gebracht, auf die Isolierstation, und<br />
sie darf nicht zu ihm. Das Leben ist ein Gefängnis,<br />
man bleibt allein. Es gibt keine Erlösung.<br />
Dann greift Georg zum Kissen, um<br />
Anna zu erlösen.<br />
***<br />
Édouard Levés Buch „Selbstmord“ ist ein<br />
eisklares Werk über die Trostlosigkeit des<br />
Lebens (Édouard Levé: „Selbstmord“; aus<br />
dem Französischen von Claudia Hamm,<br />
Matthes & Seitz, Berlin 2012; 112 Seiten,<br />
17,90 Euro; als E‐Book 9,99 Euro). Es ist<br />
eine Hommage an einen Jugendfreund<br />
des Autors, der sich mit 25 Jahren umgebracht<br />
hat, und nach der Fertigstellung<br />
hat er sich selbst das Leben genommen.<br />
Das ist der Horrormoment, den man bei<br />
der Lektüre des Klappentexts erleidet. Bei<br />
Haneke gehören die Hauptfiguren noch<br />
zu „uns“, man kann sie verstehen und sich<br />
in sie einfühlen. Levé beschreibt eine Störung,<br />
einen Menschen, den Depression<br />
und vielleicht auch ein Hauch von Autismus<br />
unheilbar von seiner Umwelt trennen.<br />
Er ist zur Fremdheit verurteilt. „Vielleicht<br />
warst du … eine Zufallserscheinung<br />
der Evolution. Eine kurzzeitige Anomalie,<br />
die nicht dazu bestimmt war, noch einmal<br />
aufzutreten.“<br />
Vielleicht. Ein Rätsel. Wenn man sich<br />
darauf einlässt, ist es von großer Schönheit.<br />
Auch das Herrische, das in der Entscheidung<br />
des Selbstmörders liegt, die Eitelkeit,<br />
die hier so klassisch französisch auf<br />
herrische Weise gefeiert wird, ist natürlich<br />
schön. Levés Erzählung stilisiert das Leid<br />
der Hauptfigur zum Ausdruck einer unbarmherzigen,<br />
heroischen Haltung: „Du<br />
bist gestorben, weil du das Glück suchtest –<br />
auf die Gefahr hin, die Leere vorzufinden.“<br />
Uns erlaubt diese Geschichte den süßen<br />
Schauder der Frage, ob „wir“, die Gemeinschaft<br />
derer, die sich für lebensfähig halten<br />
und das einander tagein, tagaus sportlich<br />
beweisen, wirklich so anders sind als dieses<br />
verlorene, gestörte Wesen und sein selbstmörderischer<br />
Erfinder. Ob wir uns nicht<br />
alle das erlösende „Wir“ immer wieder nur<br />
einbilden und am Abgrund des völligen<br />
Abgetrenntseins vorbeischrammen. Wieder<br />
ist es das Aussprechen und Beschreiben,<br />
das uns Trost spendet und Halt gibt.<br />
Auch die Beschreibung der Trostlosigkeit<br />
tröstet. Erzählen rettet. Nur den Erzähler<br />
selbst in diesem Fall nicht.<br />
***<br />
Der alte und beinahe vergessene König<br />
Mansolin ist todkrank. In seiner kupfernen<br />
Burg in den kupfernen Bergen hat er nur<br />
noch einen Diener, den Hasen. Der Wunderdoktor<br />
muss die richtige Medizin holen<br />
gehen. Und bis er wiederkommt, gibt<br />
es nur einen Weg, den König am Leben zu<br />
erhalten: Die Tiere müssen ihm Geschichten<br />
erzählen. So steht es in einem Kinderbuch<br />
von Paul Biegel (Paul Biegel: „Eine<br />
Geschichte für den König“; aus dem Niederländischen<br />
von Lotte Schaukal, mit Illustrationen<br />
von Linde Faas; Verlag Urachhaus,<br />
Stuttgart 2012; 158 Seiten, 14,90 Euro).<br />
In Büchern für Kinder, die natürlich alles<br />
über Trostlosigkeit wissen, ist das Trösten<br />
ja ganz offen erlaubt. Deshalb sind sie<br />
oft so schön. In diesem werden von den<br />
Tieren viele kleine Lebensweisheiten in die<br />
Geschichten eingeschmuggelt (die Giraffe<br />
will dem Eichhörnchen zum Beispiel nicht<br />
helfen, den verlorenen Sohn zu finden,<br />
und muss also ausgetrickst werden). Und<br />
wenn die Illustrationen nicht ganz so verschnarcht<br />
wären, dann wäre dies bestimmt<br />
das schönste Buch des Winters. Aber man<br />
kann nicht alles haben, liebe Kinder! „So<br />
ist das“, würde Georg in Michael Hanekes<br />
Film vielleicht sagen. Wir leben und erzählen<br />
einander Geschichten. Dann sterben<br />
wir. Können wir jetzt von etwas anderem<br />
reden?<br />
Robin Detje<br />
lebt als Autor, Übersetzer und<br />
Performancekünstler in Berlin<br />
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11.2012 <strong>Cicero</strong> 153<br />
www.psychologie-heute.de
154 <strong>Cicero</strong> 11.2012
D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />
Lauter <strong>letzte</strong> Lieder<br />
Er glaubt nicht ans Paradies. Deswegen feiert Rainald Grebe das<br />
Leben am Ende „mit allen Poren und Ableitungen“<br />
Foto: Christoph Busse<br />
I<br />
ch habe mal ein Lied geschrieben,<br />
in dem jemand einen Brief<br />
bekommt, in dem steht: Das ist<br />
dein <strong>letzte</strong>r Tag. So eine Nachricht erwischt<br />
einen immer kalt, und man fragt<br />
sich: Mache ich jetzt so weiter wie bisher?<br />
Zahnarzt? Online-Banking? Sofa waschen?<br />
Oder will ich jetzt all das nachholen,<br />
was ich versäumt habe? Koks?<br />
Nutten? Baum pflanzen? Das würde ja<br />
heißen, dass alles bisher falsch war. Über<br />
so etwas denke ich eigentlich ständig<br />
nach: was uns zum Glück fehlt oder zum<br />
guten Leben. Ich suche und sammle und<br />
knalle mein Bilderbuch voll mit extremen<br />
Momenten. Haben, Haben, Haben! Vielleicht<br />
liegt darunter ja auch die Angst vor<br />
dem Nichts. Entspannen, wie das andere<br />
immer erzählen, kann ich nicht. Da fühle<br />
ich mich nicht wohl.<br />
Der <strong>letzte</strong> Tag beginnt eigentlich mit<br />
der Nacht davor. Da war ich lange weg<br />
mit Freunden und stehe dann verkatert<br />
auf. Ich bin auf dem Land, in Brandenburg,<br />
es ist ein erstaunlich warmer Spätsommertag<br />
mit Wespen und Spinnweben.<br />
Ich trinke Kaffee und rauche, wie<br />
ich es immer zum Frühstück tue. Aber<br />
intensiver, sauge mich an den Objekten<br />
richtig fest und herze sie, weil sie mich<br />
bald nicht mehr haben. Mit einem dicken<br />
Brunch oder Frühstücksbuffet brauche<br />
ich jetzt auch nicht mehr anzufangen.<br />
In seine Bühnenshows packt der<br />
Theaterregisseur und Liedermacher<br />
Rainald Grebe, 41, gern so viel<br />
Leben wie möglich. Er sammelt<br />
manisch alles Menschliche<br />
und Alltägliche und tackert es<br />
dadaistisch zusammen. Mitte<br />
Oktober erscheint sein neues<br />
Album „Das Rainald Grebe Konzert“<br />
www.cicero.de/24stunden<br />
Draußen sitzen meine Leute und erinnern<br />
sich an die wilde Nacht, wie schön<br />
es doch war und wie betrunken alle waren<br />
und wer mit wem in der Kiste war.<br />
Ich habe mein altes Grammofon aufgebaut<br />
und lege Platten von Maria Callas,<br />
Enrico Caruso und Hans Albers auf.<br />
Später dann Jimmy Hendrix, Billy Joel<br />
und ein paar alte Sachen von Elton John.<br />
Neue Deutsche Welle vielleicht noch<br />
und natürlich „Bakerman“ – das kann<br />
ich eigentlich immer hören. Wir würden<br />
dann alle am Frühstückstisch tanzen und<br />
mitgrölen.<br />
Irgendjemand hätte Pilze dabei, die<br />
wir uns einfahren und die mir einen Vorgeschmack<br />
auf das geben, was nach dem<br />
Ende nicht kommt: das Paradies. Wir gehen<br />
auf eine Art von Reise, an die ich<br />
schöne Erinnerungen habe. Alle Farben<br />
der Natur leuchten, und die Zeit steht.<br />
Wir schwimmen und haben Sex und liegen<br />
im Schilf, bis wir keine Lust mehr auf<br />
diese ganze Stille haben. Dann steigen<br />
wir in drei Helikopter und fliegen in die<br />
Hauptstadt der Gefühle. Große Pose, das<br />
muss schon sein. Wir kreisen über Berlin,<br />
über der Waldbühne. Da stehen schon<br />
die Massen und warten auf den <strong>letzte</strong>n<br />
Akt. Alle wissen Bescheid. Ich singe meine<br />
Lieder mit all den Leuten, mit denen ich<br />
gern gespielt habe. Das Gefühl, dass etwas<br />
Einmaliges, Letztmaliges passiert, schwebt<br />
in der Luft, aber niemand sagt es. Bei<br />
meinem Atheisten-Ende wird das Leben<br />
mit allen Poren und Ableitungen gefeiert,<br />
denn danach ist das Nichts. Ich springe in<br />
die Menge, lasse mich tragen, verbrenne<br />
mich an Wunderkerzen und Feuerzeugen.<br />
Es riecht nach Schweiß und Verschwendung.<br />
Aber das macht alles nichts mehr,<br />
denn es ist sowieso gleich vorbei.<br />
Und dann sind alle plötzlich weg.<br />
Leere Bühne, alter Whisky, eine <strong>letzte</strong><br />
Zigarette. Ich habe alles noch einmal<br />
gefühlt, alle noch einmal gesehen, ich<br />
habe alle Leuchtstäbe noch einmal abgebrannt.<br />
Und dann, erst dann, fühlt sich<br />
die Einsamkeit auch schön an, nach dem<br />
Inferno.<br />
Aufgezeichnet von Greta Taubert<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 155
C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />
So nicht, Brüder!<br />
Von Alexander Marguier<br />
M<br />
al ganz ehrlich, wie war Ihre erste Reaktion auf die<br />
Bekanntgabe des diesjährigen Friedensnobelpreisträgers?<br />
Kopfschütteln? Hohngelächter? Ein zynischer<br />
Kommentar? Ich vermute, kein EU-Bürger hat vor Freude einen<br />
Luftsprung gemacht, als die Nachricht ihn erreichte. Eher beschlich<br />
einen doch das Gefühl, so etwas wie die <strong>letzte</strong> Salbung<br />
zu erleben: Drei Kreuze und ein Halleluja, möge der Patient in<br />
Frieden ruhen. De mortuis nil nisi bene. In der Tat mutet es einigermaßen<br />
grotesk an, dass ausgerechnet ein Komitee aus ehemaligen<br />
norwegischen Spitzenpolitikern diese Auszeichnung an<br />
eine Gemeinschaft vergibt, zu der zu gehören die eigene Bevölkerung<br />
zwei Mal abgelehnt hat. Und wenn in Norwegen morgen<br />
ein drittes Referendum über einen EU-Beitritt abgehalten<br />
würde, bekäme die Nein-Fraktion unter Garantie noch deutlich<br />
mehr Zulauf als beim <strong>letzte</strong>n Versuch: 52,2 Prozent waren es im<br />
Jahr 1994 – wohlgemerkt zu einer Zeit, da kein Wölkchen den<br />
Himmel über der Europäischen Union zu trüben schien. (Wie<br />
die Deutschen in dieser Frage abstimmen würden, wenn man<br />
sie denn ließe, darüber wollen wir an dieser Stelle ohnehin besser<br />
schweigen.)<br />
Und dann auch noch die aberwitzig scheinende Begründung,<br />
die uns der Osloer Rat der Friedensfreunde über die Grenze hinweg<br />
zuruft: „Die Arbeit der EU repräsentiert eine Bruderschaft<br />
zwischen den Nationen“, heißt es da zum Beispiel. Schon klar,<br />
wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.<br />
Oder meinen die das ernsthaft so? Dann wären wir und unsere<br />
mediterranen Brüder (und Schwestern) zumindest ein interessanter<br />
Fall für die gerade in Norwegen mit besonderer Überzeugung<br />
praktizierte Familientherapie.<br />
In dieser Art und Weise könnte ich jetzt noch seitenlang weiterschreiben<br />
– eine verächtliche Passage an die nächste reihen,<br />
garniert mit den ubiquitären Empörungsschlagworten wie „Bürokratiemonster“,<br />
„Regulierungswahn“, „Schuldenunion“ oder<br />
„Demokratiedefizit“. In Wahrheit ist es eine Schande, dass den<br />
meisten von uns, für die „Krieg zwischen Deutschland und<br />
Frankreich undenkbar“ ist, wie das Nobelpreiskomitee völlig zu<br />
Recht feststellt, der Defätismus ganz besonders leicht fällt, wenn<br />
von den europäischen Institutionen die Rede ist. Das geht auch<br />
mir so und funktioniert besonders prächtig in meiner Branche,<br />
dem Journalismus. Es soll nichts beschönigt werden, wo es<br />
nichts schönzureden gibt – aber warum eigentlich war selbst seriösen<br />
Medien über viele Jahre hinweg die berühmt-berüchtigte<br />
(und längst abgeschaffte) Vorschrift zum Krümmungsgrad von<br />
Gurken wichtiger als eine kontinuierliche Berichterstattung über<br />
die vielen von der EU in Gang gesetzten Reformen? Weil das<br />
Spiel mit der Empörung aber offenbar so gut funktioniert, spielen<br />
auch Politiker in den Mitgliedstaaten eifrig dabei mit – und<br />
schieben nur allzu gern „Brüssel“ den Schwarzen Peter zu, um<br />
von eigenen Versäumnissen abzulenken.<br />
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat es mit<br />
seinem unlängst erschienenen Buch „Der europäische Landbote“<br />
auf sich genommen, gängige Vorurteile gegenüber der EU und<br />
ihren Behörden zu hinterfragen und geradezurücken. In den<br />
Amazon-Verkaufscharts steht er damit irgendwo um Platz 1000.<br />
Thilo Sarrazins Titel „Europa braucht den Euro nicht“ hingegen<br />
war selbstredend ein Bestseller.<br />
Keine Frage, der Friedensnobelpreis für die EU ist etwas anderes<br />
als ein Meistertitel bei der EM: Große Emotionen weckt diese<br />
Trophäe trotz der vom Komitee beschworenen „Bruderschaft zwischen<br />
den Nationen“ nicht. Aber vielleicht sollten wir bei Gelegenheit<br />
einmal darüber nachdenken, warum uns die Fußballnationalmannschaft<br />
wichtiger ist als ein Europa ohne Krieg.<br />
Alexander Marguier<br />
ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />
156 <strong>Cicero</strong> 11.2012
Jetzt<br />
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MONARCHIE Die Residenz der Preußen-Könige<br />
INDUSTRIE Aufstieg der Arbeiterbewegung<br />
OST-BERLIN Honeckers Streben nach „Weltniveau“<br />
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