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Nº11<br />
NOVEMBER<br />
2014<br />
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CHF 13<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €, Spanien: 9.50 € , F<strong>in</strong>nland: 12.80 €<br />
11<br />
4 196392 008505<br />
Paul Nolte<br />
Die Grünen s<strong>in</strong>d am Ende<br />
<strong>Terrorexport</strong>: <strong>Wie</strong> <strong>junge</strong> <strong>Deutsche</strong><br />
<strong>zu</strong> <strong>Gotteskriegern</strong> <strong>werden</strong><br />
Tom Enders<br />
Der Ukra<strong>in</strong>ekrieg ist e<strong>in</strong> Weckruf<br />
Clemens Meyer<br />
Als ich wiedervere<strong>in</strong>igt wurde
CALIBRE DE CARTIER DIVER<br />
MANUFAKTUR-UHRWERK 1904 MC<br />
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ATTICUS<br />
N°-11<br />
SELBST GEZÜCHTET<br />
Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
Mit Schaudern und Schrecken blickte<br />
man <strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />
immer wieder nach Großbritannien.<br />
Zwei Männer schlachteten dort im Mai<br />
2013 e<strong>in</strong>en <strong>junge</strong>n britischen Soldaten<br />
mit e<strong>in</strong>em Fleischerbeil auf offener<br />
Straße <strong>in</strong> Südost-London ab. Oder die<br />
Bomben serie vom 7. Juli 2005 <strong>in</strong> der<br />
britischen Hauptstadt, die 52 Pendler <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Bus und drei U-Bahnen das<br />
Leben kostete. In allen diesen Fällen<br />
zeigte sich: Dieser islamistische Terror<br />
ist „home grown“, im eigenen Land<br />
gezüchtet. Junge Männer waren <strong>in</strong><br />
Moscheen und H<strong>in</strong>terzimmern von<br />
radikalen Predigern aufgestachelt und<br />
<strong>zu</strong> <strong>Gotteskriegern</strong> gemacht worden.<br />
Dieses Phänomen ist nicht mehr auf<br />
Großbritannien beschränkt. Die Armee<br />
des sogenannten „Islamischen Staates“<br />
rekrutiert ihre Kämpfer auch <strong>in</strong><br />
Deutschland. Besonders radikale Salafisten<br />
umwerben systematisch <strong>junge</strong><br />
<strong>Deutsche</strong> – Menschen, die auf der Suche<br />
nach S<strong>in</strong>n und Halt s<strong>in</strong>d und beides<br />
im Kampf gegen die „Ungläubigen“ <strong>zu</strong><br />
f<strong>in</strong>den glauben.<br />
Sie morden im Irak und <strong>in</strong> Syrien,<br />
sie sprengen sich dort <strong>in</strong> die Luft und<br />
töten viele Unschuldige. Auch Deutschland<br />
ist <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Exportland des islamistischen<br />
Terrors geworden. Und die<br />
Täter könnten <strong>zu</strong>rückkommen, auch hier<br />
bomben und morden und den Gottesstaat<br />
ausrufen. Im Internet kursiert<br />
bereits e<strong>in</strong> Video, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Islamist<br />
droht, er könne „für nichts garantieren“.<br />
Der erste Prozess gegen e<strong>in</strong>en Heimkehrer<br />
von der syrischen Front läuft gerade<br />
<strong>in</strong> Frankfurt an.<br />
Warum haben es die Menschenfänger<br />
<strong>in</strong> Deutschland so e<strong>in</strong>fach? Was<br />
macht <strong>junge</strong> Männer so empfänglich<br />
für ihre Angebote? Unser Titelautor<br />
Ulrich Kraetzer recherchiert schon seit<br />
Jahren <strong>in</strong> der deutschen Salafistenszene<br />
und beschreibt, wie <strong>junge</strong><br />
Menschen den e<strong>in</strong>fachen Wahrheiten<br />
von Hasspredigern folgen ( ab Seite 18 ).<br />
Peter Neumann, Direktor des Internationalen<br />
Zentrums für Studien <strong>zu</strong>r<br />
Radikalisierung <strong>in</strong> London, spricht<br />
über die Motive, die vermehrt vor<br />
allem <strong>junge</strong> Männer <strong>zu</strong>m Äußersten<br />
treiben ( ab Seite 28 ). Und die türkischstämmige<br />
Autor<strong>in</strong> Güner<br />
Yasem<strong>in</strong> Balci hält e<strong>in</strong> Plädoyer für<br />
e<strong>in</strong>e zeitgemäße Lesart des Koran – es<br />
ist die klare Abgren<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>er Muslim<strong>in</strong><br />
gegen diesen tödlichen Irrs<strong>in</strong>n im<br />
Namen Allahs ( Seite 32 ).<br />
Mit besten Grüßen<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
Chefredakteur<br />
5<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Nur, wenn weiterh<strong>in</strong><br />
so viel Kohle verbrannt wird.<br />
Erdgas aus Norwegen ist die emissionsarme und kosteneffektive Antwort<br />
auf Deutschlands Energiefragen. Aber die Politik setzt weiterh<strong>in</strong> auf Kohle –<br />
und das, obwohl Deutschland die Energiewende will. Denn im Vergleich <strong>zu</strong><br />
Kohle ist Erdgas umweltfreundlicher und bezahlbar.<br />
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INHALT<br />
TITELTHEMA<br />
18<br />
TERROR MADE IN GERMANY<br />
In ihrem bisherigen Leben s<strong>in</strong>d sie gescheitert, die Salafisten locken<br />
sie mit Heilsversprechen. Im Namen Allahs ziehen die <strong>junge</strong>n<br />
Männer <strong>in</strong> den Krieg. E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> e<strong>in</strong> perfides System<br />
Von ULRICH KRAETZER<br />
Foto: DDP Images/DAPD [M]<br />
28<br />
„AUCH BEI UNS WIRD ES<br />
ENTHAUPTUNGEN GEBEN“<br />
Der Londoner Wissenschaftler<br />
Peter Neumann über e<strong>in</strong>en<br />
schier unaufhaltsamen Trend<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
32<br />
EIN AUFRUF<br />
E<strong>in</strong>e deutsche Muslim<strong>in</strong> wendet<br />
sich an ihre Geschwister<br />
im Glauben. Im Namen<br />
Allahs, des Barmherzigen<br />
Von GÜNER YASEMIN BALCI<br />
33<br />
„DIE AUFKLÄRUNG<br />
GEHÖRT ZUM ISLAM“<br />
Der amerikanische Imam<br />
Feisal Abdul Rauf sieht<br />
nichts Muslimisches im IS<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
7<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />
36 DER SPIELMANN<br />
Guido Wolf will die CDU im<br />
Südwesten <strong>zu</strong>rück an die Macht führen.<br />
Se<strong>in</strong>e Spezialitäten: Reime und Xylofon<br />
Von CONSTANTIN MAGNIS<br />
58 DER PROTEST-VETERAN<br />
Joshua Wong Chi-fung ist<br />
das Gesicht der Hongkonger<br />
Proteste. Mit 18 Jahren<br />
Von INNA HARTWICH<br />
84 DER WAHRE<br />
MISTER KARSTADT<br />
Unfreiwilliger Karstadt-<br />
Sanierer: Betriebsrat<br />
Hellmut Patzelt<br />
Von TIL KNIPPER<br />
38 VON DER LIEBE VERTRIEBEN<br />
Britta Ernst macht als Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> Kiel Karriere. In Hamburg g<strong>in</strong>g das<br />
nicht, denn dort regiert ihr Mann<br />
Von HARTMUT PALMER<br />
60 PUTINS SPRACHROHR<br />
Margarita Simonjan, Star der<br />
Moskauer Schickeria, gebietet<br />
über e<strong>in</strong> Fernsehimperium<br />
Von MORITZ GATHMANN<br />
86 PINK UND TAFF<br />
Jasm<strong>in</strong> Taylor verließ den<br />
Iran und wurde Millionär<strong>in</strong><br />
Von DANIELA SINGHAL<br />
40 MACHT GEGEN GEDULD<br />
Der Berl<strong>in</strong>er Anwalt Wolfgang<br />
Kaleck geht beharrlich gegen<br />
Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen vor<br />
Von CHRISTOPH SEILS<br />
42 VERBLÜHT<br />
Von wegen Volkspartei. Warum das<br />
Zeitalter der Grünen vorbei ist<br />
Von PAUL NOLTE<br />
49 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… ob es e<strong>in</strong> P<strong>in</strong>k- und e<strong>in</strong><br />
Pistolen-Gen gibt<br />
Von AMELIE FRIED<br />
50 TATORT DEUTSCHE BANK<br />
Das größte deutsche Kredit<strong>in</strong>stitut<br />
ist Stoff für e<strong>in</strong>en Krimi<br />
Von FRANK A. MEYER<br />
52 DAS KIND IST DIE POLITIK<br />
E<strong>in</strong> Downsyndrom-Baby und<br />
dann Vollzeit-Politiker<strong>in</strong>?<br />
Unterwegs mit Dagmar Schmidt<br />
Von PETRA SORGE<br />
42<br />
Geknickt. Wo<strong>zu</strong> braucht es<br />
die Grünen?<br />
62 JUNCKERS HAUSHÄLTERIN<br />
Die Bulgar<strong>in</strong> Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa<br />
ist die mächtigste Frau <strong>in</strong> Brüssel<br />
Von MICHAEL LACZYNSKI<br />
64 VOM STIL ZUR SUBSTANZ<br />
Kann Indiens Premier<br />
Narendra Modi se<strong>in</strong>e Versprechen<br />
halten? E<strong>in</strong> Brief<strong>in</strong>g über die<br />
größte Demokratie der Welt<br />
Von BRITTA PETERSEN<br />
74 JENSEITS VON EDEN<br />
Die Flüchtl<strong>in</strong>ge, die Grenzer<br />
und die Retter. E<strong>in</strong> Fotoessay<br />
vom Rand Europas<br />
Von CARLOS SPOTTORNO<br />
74<br />
Gerührt. Nur wenige schaffen<br />
es nach Europa<br />
88 WIE DER VATER<br />
IN CHARMANT<br />
Die Spanier<strong>in</strong> Ana Botín hat<br />
von ihrem Vater die größte<br />
Bank Europas übernommen<br />
Von THILO SCHÄFER<br />
90 WIE IM FLUG<br />
An der Ampel hängt man<br />
den Daimler ab. Mit dem<br />
Elektrorad durch Stuttgart<br />
Von TIL KNIPPER<br />
92 „WIR DUCKEN UNS WEG“<br />
E<strong>in</strong> Gespräch mit Airbus-<br />
Chef Tom Enders<br />
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
100 ENERGIE ALS WAFFE<br />
<strong>Wie</strong> abhängig s<strong>in</strong>d wir wirklich<br />
von Put<strong>in</strong>s Gas? E<strong>in</strong>e Analyse<br />
Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />
92<br />
Genervt. Airbus-Chef Enders<br />
und die Rüstungsbürokratie<br />
Illustration: Susann Stefanizen; Fotos: Carlos Spottorno/Panos Pictures , Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />
8<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
STIL<br />
SALON<br />
CICERO<br />
STANDARDS<br />
104 WARUM SO ERNST?<br />
Ehemals seichte<br />
Schauspieler wie Matthew<br />
McConaughey erobern<br />
das seriöse Fach<br />
Von SARAH-MARIA DECKERT<br />
118 EIN SCHMERZ IST<br />
ES UND SCHÖN<br />
Für den Tango gab sie ihr altes<br />
Leben auf – und wurde e<strong>in</strong> Star.<br />
Die Geschichte der Nicole Nau<br />
Von FRIEDERIKE EBELING<br />
5 ATTICUS<br />
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
10 STADTGESPRÄCH<br />
14 FORUM<br />
16 IMPRESSUM<br />
146 POSTSCRIPTUM<br />
106 RUND UM DIE UHR<br />
Zeig mir de<strong>in</strong> Handgelenk und<br />
ich sage dir, wer du bist: kle<strong>in</strong>e<br />
Typologie des Uhrenträgers<br />
120 DAS LEBEN VERKLÄREN<br />
<strong>Wie</strong> der Chansonnier<br />
Sebastian Krämer Masseur<br />
der deutschen Seele wurde<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
Von LENA BERGMANN<br />
Von ALEXANDER KISSLER<br />
114 „SADO-MASO IST<br />
MAINSTREAM“<br />
Buchautor Gerhard Haase-<br />
H<strong>in</strong>denberg im Interview über<br />
Gangbang und Blümchensex<br />
122 STURKOPF TRIFFT<br />
BEKLOPPTEN<br />
Der bissige Schriftsteller Eckhard<br />
Henscheid entdeckt Dostojewski<br />
Von HOLGER FUSS<br />
Von LENA BERGMANN<br />
Illustrationen: Susann Stefanizen, Jens Bonnke<br />
116 WARUM ICH TRAGE,<br />
WAS ICH TRAGE<br />
Große haben nur e<strong>in</strong>e<br />
Chance: italienische Mode<br />
Von CHARLY HÜBNER<br />
106<br />
Getaktet. Was die Uhr<br />
über ihre Besitzer<strong>in</strong> sagt<br />
126 „ZERSTÖRUNG IST HEITER“<br />
Blixa Bargeld erklärt<br />
den neuen Sound der<br />
E<strong>in</strong>stürzenden Neubauten<br />
Von TIMO STEIN<br />
128 DAS GROSSE VERSCHWINDEN<br />
<strong>Wie</strong> roch es? <strong>Wie</strong> fühlte es<br />
sich an? Rückblende nach<br />
Leipzig <strong>in</strong>s Jahr 1989<br />
Von CLEMENS MEYER<br />
134 25 FEHLER<br />
Was wir bei der nächsten<br />
deutschen Vere<strong>in</strong>igung<br />
tunlichst vermeiden sollten<br />
Von PETRA SORGE und CHRISTOPH SEILS<br />
136 MAN SIEHT NUR,<br />
WAS MAN SUCHT<br />
William Turners berühmtes<br />
Kriegsschiff<br />
Von BEAT WYSS<br />
138 LITERATUREN<br />
Bücher von Teffy, <strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs,<br />
Thomas Piketty und Sofi Oksanen<br />
144 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />
Freibad, Champagner und<br />
jede Menge Klartext<br />
Von MAREN KROYMANN<br />
Der Titelkünstler<br />
Manch e<strong>in</strong>er kennt die<br />
bärtigen Männer mit den<br />
Häkelmützen vielleicht aus<br />
deutschen Fußgängerzonen.<br />
Dort stehen sie immer<br />
mal wieder h<strong>in</strong>ter ihren mit<br />
Propagandamaterial beladenen<br />
Tischen und machen<br />
Werbung für ihre ganz<br />
besonders rückwärtsgewandte<br />
Lesart des Koran:<br />
Salafisten <strong>in</strong> Deutschland.<br />
Dabei gilt: Nicht jeder von<br />
ihnen ist e<strong>in</strong> Unterstützer<br />
der brutalen Terrormilizen<br />
des „Islamischen Staates“.<br />
Aber gleichzeitig hat eben<br />
fast jeder, der sich aus<br />
unserem Kulturkreis nach<br />
Syrien oder <strong>in</strong> den Irak<br />
aufmacht, um dort für<br />
den IS <strong>zu</strong> kämpfen, vorher<br />
Kontakt <strong>zu</strong> salafistischen<br />
Gruppen gehabt. Unser<br />
Titelkünstler Jens Bonnke,<br />
der für <strong>Cicero</strong> <strong>zu</strong>letzt im<br />
Juli das Cover mit Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />
Ursula von<br />
der Leyen illustriert hat,<br />
setzt diesen Zusammenhang<br />
wirkmächtig <strong>in</strong>s Bild:<br />
e<strong>in</strong> Salafist, dessen Bart<br />
militante Islamisten entsprießen.<br />
Es s<strong>in</strong>d Kämpfer,<br />
die bereit s<strong>in</strong>d, für ihre<br />
Weltsicht <strong>zu</strong> töten und<br />
<strong>zu</strong> sterben. Sie kommen<br />
aus Deutschland. Terror –<br />
„<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong>“.<br />
9<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
CICERO<br />
Stadtgespräch<br />
Der Berl<strong>in</strong>er Intendant Claus Peymann macht <strong>in</strong> Marmelade, e<strong>in</strong><br />
Staatssekretär braucht Spickzettel – und M<strong>in</strong>ister Müller bereitet die Bühne<br />
Frankfurter Buchmesse<br />
Hotelsuite statt Halle<br />
Break<strong>in</strong>g Jam<br />
Peymann kocht e<strong>in</strong><br />
Staatssekretär Fuchtel<br />
Leichte Wissenslücken<br />
Irgendwann muss auch mal Schluss<br />
se<strong>in</strong>. Dieser Satz gilt auf der Frankfurter<br />
Buchmesse (<strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest aus Sicht<br />
der Gäste) weniger für die Partys der<br />
Verlage. Sondern vielmehr für die Hotelzimmerpreise,<br />
die Getränketarife im<br />
Frankfurter Hof – und für die Standmieten<br />
<strong>in</strong> den Messehallen. Dort hatte<br />
der Branchenriese Taschen bisher immer<br />
e<strong>in</strong>e Ausstellungsfläche gemietet,<br />
die von ihrer Größe her durchaus<br />
dem Format se<strong>in</strong>er opulenten XXL-<br />
Bildbände entsprach. Dieses Jahr verzichtete<br />
Taschen jedoch auf e<strong>in</strong>en Messeauftritt<br />
und präsentierte se<strong>in</strong> neues<br />
Programm lieber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Suite <strong>in</strong> besagtem<br />
Frankfurter Hof, der nicht nur<br />
mit se<strong>in</strong>er Bar <strong>zu</strong> den teuersten Adressen<br />
der Stadt zählt. Für Taschen dem<br />
Vernehmen nach trotzdem die weitaus<br />
günstigere Wahl. Wenn die Buchmesse<br />
nicht aufwacht, könnte das Beispiel<br />
durchaus Schule machen. mar<br />
E<strong>in</strong> Lustspiel <strong>in</strong> vier Akten. Drei Mal<br />
Brom-, Him- oder Stachelbeere. Und<br />
e<strong>in</strong> Mal Bio-Gelier<strong>zu</strong>cker. Und als Zugabe<br />
e<strong>in</strong> Schuss Zitronensaft. Das ist<br />
das Marmeladen-Geheimrezept von<br />
Claus Peymann, dem Intendanten des<br />
Berl<strong>in</strong>er Ensembles. Die Beeren aus se<strong>in</strong>em<br />
Köpenicker Garten kocht er nun<br />
schon im zweiten Jahr e<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong> Pressesprecher<br />
leitet Peymann dabei an,<br />
der „ungeduldig ist, bis er das Ergebnis<br />
sieht“. E<strong>in</strong> süßes Resultat. Etwa gegen<br />
die Brecht’sche Bitterkeit des Spielplans?<br />
Vielleicht arbeitet Peymann aber<br />
auch schon an se<strong>in</strong>er Karriere nach dem<br />
Berl<strong>in</strong>er Ensemble, das er nur noch zwei<br />
Spielzeiten leitet. „In der Staatsoper<br />
s<strong>in</strong>d sie regelrecht süchtig nach me<strong>in</strong>en<br />
Gelees“, gestand der Intendant e<strong>in</strong>er<br />
Berl<strong>in</strong>er Zeitung. Peymann, der Marmeladen-Dealer?<br />
In se<strong>in</strong>em Keller sollen<br />
bereits 80 Gläser mit fe<strong>in</strong>stem Stoff lagern:<br />
Stachelbeer-Gelee. v<strong>in</strong><br />
Was qualifiziert den baden-württembergischen<br />
CDU-Volksvertreter<br />
Hans-Joachim Fuchtel eigentlich<br />
für se<strong>in</strong>en Job als Staatssekretär im<br />
Bundesentwicklungshilfem<strong>in</strong>isterium?<br />
Gängige Antwort: Nichts, außer dass<br />
se<strong>in</strong>er Heimat, dem Nordschwarzwald,<br />
ebenfalls Entwicklungshilfe nottäte.<br />
Auf Youtube war jetzt e<strong>in</strong> Interview mit<br />
Fuchtel <strong>zu</strong> sehen, <strong>in</strong> dem er <strong>zu</strong>r Bedeutung<br />
des <strong>Deutsche</strong>n Instituts für Entwicklungspolitik<br />
(die) befragt wurde.<br />
Das Institut sollte e<strong>in</strong> Staatssekretär<br />
eigentlich <strong>in</strong>- und auswendig kennen,<br />
denn es ist die Denkfabrik <strong>zu</strong>r <strong>in</strong>ternationalen<br />
Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit.<br />
Fuchtel konnte die Fragen jedoch<br />
nur beantworten, <strong>in</strong>dem er umständlich<br />
e<strong>in</strong>en Spickzettel aus der Hosentasche<br />
zog, um dort se<strong>in</strong>e Antwort <strong>in</strong> vier<br />
Punkten stotternd ab<strong>zu</strong>lesen. Der Kameramann<br />
hielt penibel drauf; das Interview<br />
wurde <strong>in</strong>zwischen gelöscht. tz<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
10<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Die Metamorphose -<br />
e<strong>in</strong>e Geschichte von Hermès<br />
Doubleface-<br />
Kaschmirmantel<br />
mit Gürtel<br />
Gerade geschnittene<br />
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Stiefeletten aus<br />
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CICERO<br />
Stadtgespräch<br />
Abrechnung mit Dirk Niebel<br />
Gerd Müllers Theater<br />
Australische Charmeoffensive<br />
Ritchie Rich<br />
Telefonseelsorge<br />
Guter Ruf<br />
Es kommt nicht oft vor, dass e<strong>in</strong><br />
Bundesm<strong>in</strong>ister gegen se<strong>in</strong>en<br />
Amtsvorgänger <strong>zu</strong> Felde zieht – und<br />
dies auch noch unter E<strong>in</strong>satz von<br />
Steuergeldern. Bei Ex-Entwicklungsm<strong>in</strong>ister<br />
Dirk Niebel (FDP) und se<strong>in</strong>em<br />
Nachfolger im Amt, Gerd Müller (CSU),<br />
ist das der Fall. Müller hält offensichtlich<br />
überhaupt nichts von Niebels<br />
künftiger Tätigkeit <strong>in</strong> der Dritten Welt<br />
als Cheflobbyist für den Waffenkonzern<br />
Rhe<strong>in</strong>metall. Denn er fördert jetzt<br />
e<strong>in</strong> Theaterstück der Berl<strong>in</strong>er Compagnie,<br />
die schon mit dem Aachener<br />
Frie dens preis ausgezeichnet worden ist,<br />
weil sie sich auf der Bühne gern mit<br />
aktuell brisanten politischen Themen<br />
ause<strong>in</strong>andersetzt. „Stille Macht“ heißt<br />
das Stück, mit dem die Truppe diesen<br />
Herbst auf Tournee geht. Agrar- und<br />
Waffenlobbyisten treten dar<strong>in</strong> als<br />
Schurken auf, die Streubomben als<br />
smarte Munition an Entwicklungsländer<br />
verkaufen. Müllers „Reisegeld“<br />
für die Theaterleute stammt aus e<strong>in</strong>em<br />
speziellen Sondertitel, wie se<strong>in</strong>e<br />
Sprecher<strong>in</strong> Kathar<strong>in</strong>a Mänz bestätigt:<br />
„Die Subvention kommt aus e<strong>in</strong>em Etat,<br />
mit dem der Entwicklungshilfem<strong>in</strong>ister<br />
Bildungsarbeit <strong>in</strong> Sachen Entwicklungspolitik<br />
fördert und klarmachen will,<br />
dass Waffenverkauf <strong>in</strong> die Dritte<br />
Welt mit Entwicklungspolitik aus se<strong>in</strong>er<br />
Sicht nichts <strong>zu</strong> tun hat.“ Von der<br />
FDP-Führung war ke<strong>in</strong> Kommentar <strong>zu</strong><br />
dem Vorgang <strong>zu</strong> erhalten, obwohl dort<br />
auch e<strong>in</strong>ige von Niebels neuem Job als<br />
Waffenlobbyist nicht viel halten. tz<br />
Der australische Botschafter David<br />
Ritchie hat nur e<strong>in</strong>en Wunsch: Angela<br />
Merkel möge doch nach dem G-<br />
20-Gipfel <strong>in</strong> Brisbane Mitte November<br />
noch etwas länger <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Land bleiben.<br />
Zwei, drei Tage vielleicht. „Das<br />
wäre wunderschön“, schwärmte Ritchie<br />
vor Journalisten, die er <strong>zu</strong>r Charmeoffensive<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong> Haus geladen hatte. Der<br />
Diplomat servierte We<strong>in</strong> von Down Under,<br />
Garnelenspießchen, M<strong>in</strong>ced Pie<br />
und australische Lam<strong>in</strong>gtons – Sandkuchen<br />
<strong>in</strong> Schokoglasur und Kokosflocken.<br />
Denn Ritchie hat große Sorgen: Se<strong>in</strong><br />
Chef, Premierm<strong>in</strong>ister Tony Abbott, beobachtet<br />
eifersüchtig, wie die EU mit<br />
Kanada und den USA e<strong>in</strong> Freihandelsabkommen<br />
aushandelt. Australien überlege<br />
noch, se<strong>in</strong>en Wunsch ebenfalls an<strong>zu</strong>melden,<br />
verrät der Botschafter. Doch<br />
bislang seien die Handelsbeziehungen<br />
<strong>zu</strong>r Bundesrepublik schlichtweg<br />
„erbärmlich“. Von wegen Autos oder<br />
Schwer<strong>in</strong>dustrie: „Australia loves German<br />
Schlösser“, sagt Ritchie pikiert –<br />
und die <strong>Deutsche</strong>n importieren am<br />
liebsten goldene Prägemünzen (Sammler<br />
schwören auf Känguru-, Koalabären-<br />
und König<strong>in</strong>-Elizabeth-Konterfeis).<br />
Der Botschafter hofft, dass sich das mit<br />
dem G-20-Gipfel ändert. Und mit Merkel.<br />
Ihr Besuch <strong>in</strong> Australien sei ja erst<br />
der zweite e<strong>in</strong>es deutschen Regierungsoberhaupts<br />
<strong>in</strong> 70 Jahren. Wenn er auf<br />
deutsche Unternehmer trifft, sagt Ritchie,<br />
würde er sie manchmal am liebsten<br />
schütteln und fragen: „Wollen Sie<br />
nicht das große Geld verdienen?“ ps<br />
Im Berl<strong>in</strong>er Bahnhof Friedrichstraße<br />
reagiert man grundsätzlich vorsichtig,<br />
wenn man von e<strong>in</strong>em Fremden angesprochen<br />
wird, der etwas will. Dieser<br />
Bahnhof ist e<strong>in</strong> sehr eigenes Soziotop:<br />
viele Obdachlose, Verrückte, Schattengewächse.<br />
Aber dieser freundliche, etwas<br />
rundliche <strong>junge</strong> Mann macht e<strong>in</strong>en<br />
vertrauenswürdigen E<strong>in</strong>druck, wie<br />
er da so verzweifelt vor e<strong>in</strong>em Münzfernsprecher<br />
steht und <strong>in</strong> gebrochenem<br />
Englisch um Hilfe bittet. In der Hand<br />
e<strong>in</strong> Handy, deutet er ratlos auf e<strong>in</strong>e Telefonliste<br />
voller griechischer Namen<br />
und will wissen, was er nun von der<br />
deutschen Vorwahl weglassen soll, um<br />
am Münzfernsprecher durch<strong>zu</strong>kommen.<br />
Er wirft 20 Cent e<strong>in</strong>, wir versuchen es<br />
geme<strong>in</strong>sam, der Versuch schlägt fehl,<br />
die 20 Cent s<strong>in</strong>d weg. Ich werfe kurzerhand<br />
20 Cent nach, der Mann ist ganz<br />
perplex. „Hey, warum tun Sie das?“,<br />
fragt er. Na ja, 20 Cent, da muss man<br />
doch nicht lange rummachen. Also, wie<br />
ist jetzt die Nummer? Er schüttelt den<br />
Kopf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mischung aus Freude und<br />
Staunen. Unglaublich, ihr Berl<strong>in</strong>er, sagt<br />
er, „ihr seid e<strong>in</strong>fach großartig!“ Und<br />
dann klappt auch noch die Verb<strong>in</strong>dung.<br />
„I love you, man!“, ruft er aus und redet<br />
dann auf Griechisch <strong>in</strong> die Muschel.<br />
Schön, wenn man mit so wenig Aufwand<br />
so viel Glück erzeugt. Und als sozialisierter<br />
Schwabe auch noch etwas<br />
für den Ruf Berl<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Griechenland<br />
tun kann. Noch nicht so lange her, dass<br />
Merkel da auf Plakaten mit Hitlerbart<br />
gezeigt wurde. swn<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
12<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
∆<strong>Wie</strong> wachsen Fachkräfte nach?<br />
Der deutsche Mittelstand bildet 86 % aller Aus<strong>zu</strong>bildenden aus, im weltweit vorbildlichen<br />
dualen Ausbildungssystem. Und das ist nur e<strong>in</strong>er von vielen Gründen, warum es sich lohnt,<br />
Verantwortung <strong>zu</strong> übernehmen. Als e<strong>in</strong>e der größten Förderbanken der Welt <strong>in</strong>vestiert<br />
die KfW <strong>in</strong> Unternehmen und Arbeitsplätze – und ermöglicht jeder Generation, ihre Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
nachhaltig <strong>zu</strong> verbessern.<br />
Veränderung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
FORUM<br />
Es geht viel um Fußball, aber auch um Shakespeare,<br />
die katholische Kirche und das Duzen<br />
Zum Beitrag „Faules Spiel“ von Jens We<strong>in</strong>reich, Oktober 2014<br />
Die Fifa hat e<strong>in</strong> Transparenzproblem<br />
Bei der Fifa haben wir es mit e<strong>in</strong>em Transparenzproblem <strong>zu</strong> tun. Das führt <strong>zu</strong>r<br />
Unglaubwürdigkeit des Sports. Der Fußball trägt große Begriffe wie Ethik oder<br />
Fairplay vor sich her, handelt aber selbst nicht danach. Nun stellt sich die Frage,<br />
wie man das <strong>in</strong> Zukunft besser machen kann. Wir müssen diese Begriffe wieder<br />
mit Inhalt füllen, dann hat Heuchelei ke<strong>in</strong>e Chance mehr. Warum sich kaum aktive<br />
Spieler der Kritik an der Fifa anschließen, kann ich schwer beurteilen. Aber<br />
ich weiß, dass das alles prima Jungs s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs steht jeder, der sich an solchen<br />
sportlichen Großveranstaltungen beteiligt, unter öffentlicher Aufmerksamkeit.<br />
Die kann so stark se<strong>in</strong>, dass sich viele e<strong>in</strong> Abwehrverhalten <strong>zu</strong>legen.<br />
Theo Zwanziger, ehemaliger DFB-Präsident<br />
Zum Beitrag „Faules Spiel“ von Jens<br />
We<strong>in</strong>reich, Oktober 2014<br />
Dem Treiben e<strong>in</strong> Ende setzen<br />
Ich gehe mit Ihren Ausführungen<br />
absolut e<strong>in</strong>ig. Dem Treiben der Fifa<br />
unter dem Diktat von Sepp Blatter<br />
muss endlich e<strong>in</strong> Ende bereitet <strong>werden</strong>.<br />
Selbstherrlichkeit ist seit Jahren<br />
an der Tagesordnung (verschwenderischer<br />
Umgang mit den F<strong>in</strong>anzen,<br />
Vetternwirtschaft, diktatorisches<br />
Auftreten des Bosses usw.).<br />
Sepp Blatter befiehlt, die „auserkorenen“<br />
Länderverantwortlichen tanzen<br />
nach se<strong>in</strong>er Pfeife – und die Bevölkerung<br />
zahlt das Desaster.<br />
Erw<strong>in</strong> Laesser, CH-Bellikon<br />
Boykotte s<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>nlos<br />
Rote Karte alle<strong>in</strong> für <strong>Cicero</strong>! Nichts<br />
gegen e<strong>in</strong>e seriöse Recherche über<br />
die Machenschaften und Korruption<br />
im <strong>in</strong>ternationalen Sport. Aufrufe<br />
<strong>zu</strong>m Boykott s<strong>in</strong>d aber s<strong>in</strong>nlos, wie<br />
die Geschichte zeigt.<br />
Wolfgang Reuther, Leipzig<br />
Ke<strong>in</strong>e sachlichen Gründe<br />
Dem Protest gegen Katar kann ich<br />
mich nur anschließen. Für die Entscheidung<br />
<strong>zu</strong>gunsten Katars gab<br />
es ke<strong>in</strong>erlei sachliche, strukturelle,<br />
sportliche, historische oder sonstige<br />
nachvollziehbare Begründungen.<br />
Da ich nicht davon ausgehe, dass die<br />
Entscheider nicht folgerichtig denken<br />
und urteilen können, muss es<br />
also andere Gründe gegeben haben.<br />
Aber welche?<br />
Manfred Michels, Bremen<br />
Korrupt und regelvergessen<br />
Die WM <strong>in</strong> Katar war von vornhere<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Korruptionssumpf<br />
und ist e<strong>in</strong> elender ökologischer und<br />
politischer Schwachs<strong>in</strong>n. Die E<strong>in</strong>verleibung<br />
ukra<strong>in</strong>ischer Fußballclubs<br />
<strong>in</strong> die russische Liga widerspricht<br />
klar den Fifa/Uefa-Regeln, die dafür<br />
Sanktionen vorsehen – das ist nur<br />
e<strong>in</strong> weiterer Grund, Russland und<br />
Put<strong>in</strong> die WM <strong>zu</strong> entziehen.<br />
Kar<strong>in</strong> Diana Deckenbach, Berl<strong>in</strong><br />
Drei Rote Karten<br />
Die erste Rote Karte geht an den<br />
<strong>Cicero</strong>-Newsletter, dem es nicht gel<strong>in</strong>gt,<br />
sich klar darüber <strong>zu</strong> äußern,<br />
was Frau Gör<strong>in</strong>g-Eckardt wirklich<br />
will. Hat sie Hoffnung auf irgendwas,<br />
oder fordert sie irgendwas?<br />
Und wenn ja, was?<br />
Die zweite Rote Karte geht an<br />
Frau Gör<strong>in</strong>g-Eckardt, wenn sie die<br />
Fifa auffordert, etwas <strong>zu</strong> überdenken.<br />
Will sie denn bei dieser krim<strong>in</strong>ellen<br />
Vere<strong>in</strong>igung wirklich e<strong>in</strong>e<br />
veränderte E<strong>in</strong>schät<strong>zu</strong>ng erwarten?<br />
Die dritte Rote Karte geht<br />
an den DFB, der mal irgendwann<br />
Farbe bekennen und e<strong>in</strong>e klare Position<br />
beziehen sollte, statt semantisch<br />
rum<strong>zu</strong>eiern.<br />
Dr. W<strong>in</strong>fried Hildebrandt, Oberursel<br />
Unter Drogene<strong>in</strong>fluss<br />
Es sche<strong>in</strong>t so, als hätten sich die<br />
Funktionäre bei e<strong>in</strong>er Wasserpfeife<br />
für Katar entschieden. Da war was<br />
dr<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem Tabak. Entscheidungen,<br />
welche unter Drogene<strong>in</strong>fluss<br />
gefällt <strong>werden</strong>, s<strong>in</strong>d nichtig. Deswegen:<br />
Rote Karte und Stadionverbot<br />
für die Funktionäre, welche<br />
sich für dieses Ergebnis starkgemacht<br />
haben.<br />
Holger Bremser, Langenfeld<br />
Nonsens<br />
Mit Nonsens wie der „Roten Karte“<br />
macht sich <strong>Cicero</strong> lächerlich. Ansonsten<br />
ohne Zweifel e<strong>in</strong> ordentliches<br />
Blatt.<br />
Rüdiger W<strong>in</strong>ter, Hamburg<br />
14<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WER HÄTTE GEDACHT,<br />
DASS SCHÄTZE SO EINFACH<br />
ZU ENTDECKEN SIND.<br />
1<br />
4<br />
2<br />
1 | SALZBURGER MISSALE<br />
aus dem Besitz Salamanca-<br />
Ortenburg, Venedig, 1515<br />
2 | SPÄTGOTISCHER<br />
KETTENEINBAND<br />
Drei Dekretalien, Venedig, 1485/86<br />
3 | BETBUCH DES KURFÜRSTEN<br />
AUGUST VON SACHSEN<br />
Dresden, 1568 & Luthers Psalter,<br />
Wittenberg, 1541<br />
3<br />
4 | HARTMANN SCHEDEL<br />
Liber Chronicarum, Nürnberg, 1493<br />
5<br />
5 | AUGUSTINUS<br />
De Civitate Dei, Basel, 1479<br />
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Sie <strong>Cicero</strong> bei Ihrem Pressehändler nicht<br />
erhalten sollten, bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei se<strong>in</strong>em<br />
Großhändler nach<strong>zu</strong>bestellen. <strong>Cicero</strong> ist dann <strong>in</strong> der<br />
Regel am Folgetag erhältlich.<br />
Fehlende Fankultur<br />
Unabhängig von Politik/Fußballweisen<br />
muss ich me<strong>in</strong>en Protest <strong>zu</strong>r<br />
Vergabe der WM an Katar <strong>zu</strong>m Ausdruck<br />
br<strong>in</strong>gen, denn me<strong>in</strong>e Frau<br />
lässt mich nicht fahren, da sie sich<br />
nicht vorstellen kann, im Wüstenzelt<br />
(oder davor) im Spaghettiträger-<br />
T‐Shirt <strong>zu</strong> sitzen und mit mir und<br />
Freunden johlend das F<strong>in</strong>ale <strong>zu</strong> feiern.<br />
Außerdem kann ich gar nicht<br />
so viele Flaschen tr<strong>in</strong>ken, um dem<br />
Elend der fehlenden Fankultur <strong>zu</strong><br />
entgehen, Herr Blatter!<br />
Kurt Stehmeyer, Konstanz<br />
Warum erst jetzt?<br />
Ich frage mich sowieso, warum das<br />
schon so laaaaange geht! Warum<br />
wehrt sich ke<strong>in</strong>er?<br />
Kathr<strong>in</strong> Lechner-Hartert, Biebertal<br />
Ke<strong>in</strong> Umdenken, nirgends<br />
Oslo, München und Graubünden haben<br />
etwas geme<strong>in</strong>sam. Alle wollen<br />
2022 ke<strong>in</strong>e Olympischen W<strong>in</strong>terspiele<br />
austragen. Eigentlich logisch.<br />
Wer will schon für e<strong>in</strong>e kurze Zeit<br />
Glamour und nachher jahrelang bezahlen<br />
müssen. Geht die Entwicklung<br />
der Megasportanlässe weiterh<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> dieselbe Richtung, wird es<br />
wohl <strong>in</strong> absehbarer Zeit ke<strong>in</strong>e Olympischen<br />
Spiele mehr <strong>in</strong> demokratischen<br />
Staaten geben. Die Kosten-<br />
Nutzen-Rechnung solcher Anlässe<br />
steht <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Verhältnis mehr.<br />
Kommt h<strong>in</strong><strong>zu</strong>, dass die großen<br />
Sportverbände wie das IOC oder<br />
auch die Fifa vor allem <strong>in</strong> Demokratien<br />
mit Pressefreiheit ke<strong>in</strong> positives<br />
Image mehr haben. Die regelmäßigen<br />
Schlagzeilen <strong>in</strong> Be<strong>zu</strong>g auf<br />
Intransparenz und Korruption sprechen<br />
Bände. All dies müsste den Repräsentanten<br />
dieser großen Sportorganisationen<br />
massiv <strong>zu</strong> denken<br />
geben. Doch ihre Beratungsresistenz<br />
ist tatsächlich rekordverdächtig.<br />
E<strong>in</strong> Umdenken wird wohl erst<br />
dann e<strong>in</strong>setzen, wenn die Gelder<br />
nicht mehr so üppig fließen und die<br />
Zuschauer sich von diesen Anlässen<br />
abwenden.<br />
Pascal Merz, CH-Sursee<br />
16<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
Zum Beitrag „Shakespeare veraltet nie“<br />
von Alexander Kissler, September 2014<br />
Karikatur: Hauck & Bauer<br />
Hamlet <strong>zu</strong> religiös<br />
Im Hamlet wird me<strong>in</strong>es Erachtens<br />
dem Religiösen all<strong>zu</strong> viel Gewicht<br />
beigemessen. E<strong>in</strong> Beispiel hierfür<br />
bildet die Aussage von Herrn Ostermeier:<br />
„Im protestantischen Wittenberg<br />
ist ihm (d. h. Hamlet) der katholische<br />
Glaube, der <strong>in</strong> dieser Zeit<br />
auch e<strong>in</strong>en großen Anteil Aberglaube<br />
hatte, ausgetrieben worden …<br />
Aus Hamlet spricht e<strong>in</strong>e metaphysische<br />
Unsicherheit. Ihm ist das Weltbild<br />
abhandengekommen.“<br />
Ich sehe <strong>in</strong> diesem Werk eher<br />
e<strong>in</strong>e Hommage an e<strong>in</strong>e der berühmtesten<br />
Persönlichkeiten dieser Zeit,<br />
den von Goethe respektvoll so genannten<br />
dänischen Astronomen<br />
Tycho Brahe. E<strong>in</strong> Anstoß <strong>zu</strong>r Erstellung<br />
des Werkes könnten die<br />
Feierlichkeiten <strong>zu</strong>r E<strong>in</strong>weihung des<br />
neuen Königsschlosses <strong>in</strong> Els<strong>in</strong>ore<br />
am 15. April 1582 gewesen se<strong>in</strong>.<br />
Die Reformation <strong>in</strong> Dänemark<br />
1536 war mit e<strong>in</strong>er Säkularisierung<br />
der Kirchengüter verbunden, die der<br />
Krone <strong>zu</strong>gutekam und ihr Projekte<br />
wie den Schlossbau ermöglichte sowie<br />
auch e<strong>in</strong> Liebl<strong>in</strong>gsobjekt des<br />
Königs, den Bau und Betrieb e<strong>in</strong>es<br />
Observatoriums unter der Leitung<br />
von Tycho Brahe. Dieser kannte<br />
zwar die Schriften des 1543 verstorbenen<br />
Nikolaus Kopernikus, dessen<br />
heliozentrisches Weltbild erstmalig<br />
an der Universität Wittenberg<br />
bekannt gemacht wurde und damit<br />
zahlreiche Studenten anzog; er entwickelte<br />
dagegen se<strong>in</strong> eigenes Weltbild,<br />
das auch dem König auf der<br />
Bühne besser entsprach als das neue,<br />
revolutionäre: Der Mensch auf se<strong>in</strong>er<br />
Erde lässt Mond und Sonne samt<br />
Planeten um sich kreisen.<br />
Hatte Hamlet nicht <strong>zu</strong> viel der<br />
Sonne? Der reale Dänenkönig starb<br />
1588; se<strong>in</strong> Nachfolger vertrieb den<br />
Astronomen.<br />
Hans Kle<strong>in</strong>holdermann, Hofheim am Taunus<br />
Zum Beitrag „Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, nochmals ne<strong>in</strong>“<br />
von Karl Kard<strong>in</strong>al Lehmann, Juli 2014<br />
Strukturelle Gewalt<br />
Bei so vielen Schreckensmeldungen<br />
von Barbarei, gesellschaftlicher<br />
Stigmatisierung und sexuellem<br />
Missbrauch <strong>in</strong> den Reihen und<br />
im Umfeld der römisch-katholischen<br />
Kirche sah sich selbst e<strong>in</strong>er ihrer<br />
Amtsträger genötigt, e<strong>in</strong>en klagenden<br />
Zwischenruf verlautbaren <strong>zu</strong><br />
lassen, um dann allerd<strong>in</strong>gs schnell<br />
auf e<strong>in</strong>es der Liebl<strong>in</strong>gsthemen des<br />
Katholizismus über<strong>zu</strong>leiten: den<br />
Schutz des ungeborenen Lebens.<br />
Dagegen wäre nichts e<strong>in</strong><strong>zu</strong>wenden,<br />
wenn Kard<strong>in</strong>al Lehmanns Amtskirche<br />
nicht das geborene Leben <strong>in</strong>sofern<br />
verachten würde, als sie dessen<br />
sexuelle Pluralität nach wie vor<br />
verteufelt. E<strong>in</strong>e solche Sexualmoral<br />
ist nichts anderes als strukturelle<br />
Gewalt, die zwangsläufig <strong>zu</strong> physischen<br />
wie psychischen Übergriffen<br />
führen muss. Als evangelischer<br />
Christ und Pfarrer sage ich: Ne<strong>in</strong>,<br />
ne<strong>in</strong>, nochmals ne<strong>in</strong>!<br />
Christian Reich, Oranienburg<br />
Zum Beitrag „Gib mir me<strong>in</strong> Sie <strong>zu</strong>rück!“<br />
von Holger Fuß, September 2014<br />
Endlich sagt es jemand<br />
Auch wenn <strong>in</strong>zwischen schon die<br />
Oktober-Ausgabe von <strong>Cicero</strong> vorliegt,<br />
möchte ich dennoch e<strong>in</strong>en<br />
Kommentar <strong>zu</strong>m September-Heft<br />
abgeben. Ich lese <strong>Cicero</strong> seit der<br />
ersten Ausgabe und stimme meistens<br />
den veröffentlichten Artikeln<br />
<strong>zu</strong>. Zu dem Artikel von Holger<br />
Fuß über das Duzen …<br />
DANKE DANKE DANKE<br />
DANKE DANKE DANKE!<br />
Endlich jemand, dem das<br />
ganze Geduze auch so auf die<br />
Nerven geht.<br />
Vera Zimmerer, Würzburg<br />
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe <strong>zu</strong> kürzen.<br />
Wünsche, Anregungen und Me<strong>in</strong>ungsäußerungen<br />
senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />
17<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
TERROR MADE<br />
IN GERMANY<br />
Von ULRICH KRAETZER<br />
Sie verherrlichen Gräueltaten. Und manche<br />
reisen <strong>in</strong> den Krieg. <strong>Wie</strong> <strong>junge</strong> Männer<br />
<strong>in</strong> Deutschland <strong>zu</strong> Dschihadisten <strong>werden</strong><br />
Foto: Di Matti/Picture Alliance/DPA [M]<br />
18<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
„ Die Scharia ist die Mediz<strong>in</strong><br />
gegen die Krankheit Demokratie<br />
und Integration “<br />
DENIS CUSPERT<br />
wird 1975 als Sohn e<strong>in</strong>es<br />
Ghanaers und e<strong>in</strong>er <strong>Deutsche</strong>n<br />
<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> geboren.<br />
Drogen, Gewalt, Raub bestimmen<br />
se<strong>in</strong>e Jugend.<br />
Als Gangsta-Rapper Deso<br />
Dogg verarbeitet er diese<br />
Erfahrungen, dann bricht<br />
er mit se<strong>in</strong>em alten Leben.<br />
2011 verteufelt er – als Prediger<br />
Abou Maleeq – die<br />
Musik allgeme<strong>in</strong> und die<br />
Demokratie. E<strong>in</strong> Jahr später<br />
setzt er sich als Abu<br />
Talha al Almani nach Ägypten<br />
ab, <strong>in</strong>szeniert sich dann<br />
für Isis <strong>in</strong> Syrien. Se<strong>in</strong>e Propaganda<br />
verbreitet er über<br />
die Medienstelle des IS, das<br />
Al Hayat Media Center.
„ Es wird die Zeit kommen, wo wir<br />
sie alle abschlachten <strong>werden</strong> “<br />
MORITZ HECHT<br />
Name geändert, Foto verfremdet.<br />
Mit 13 wird er von<br />
se<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong>erziehenden<br />
Mutter vor die Tür gesetzt.<br />
Ke<strong>in</strong> Hauptschulabschluss,<br />
dafür Alkohol und Drogen.<br />
Über se<strong>in</strong>en Schwager<br />
kommt er <strong>in</strong> die Hamburger<br />
Taiba-Moschee. Er gelangt<br />
mit dem Salafismus<br />
<strong>in</strong> Kontakt und wird Muslim.<br />
Wegen Unterstüt<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>er<br />
Terrororganisation <strong>zu</strong> mehreren<br />
Jahren Haft verurteilt.<br />
Heute auf freiem Fuß.<br />
<strong>Deutsche</strong> Sicherheitsbehörden<br />
beobachten ihn.
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
Foto: DDP Images/DAPD [M]<br />
Unter anderen Umständen wäre er wohl längst<br />
<strong>in</strong> Syrien oder im Irak. Um am Aufbau des<br />
„Islamischen Staates“ mit<strong>zu</strong>wirken. Um<br />
die Scharia durch<strong>zu</strong>setzen. Um im „Heiligen<br />
Krieg“ <strong>zu</strong> kämpfen. Doch wer schon e<strong>in</strong>mal Propagandafilme<br />
weiterverbreitet hat, weil er – so sagte<br />
er es vor Gericht – den „edlen Mudschahedd<strong>in</strong>“ helfen<br />
wollte, der steht unter Beobachtung der deutschen<br />
Behörden.<br />
Er könnte also nicht e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>e Sachen packen,<br />
<strong>zu</strong>m Flughafen fahren und <strong>in</strong> die Türkei fliegen, um<br />
von dort weiter <strong>in</strong> die vom IS beherrschten Gebiete <strong>in</strong><br />
Syrien oder im Irak <strong>zu</strong> reisen. Er ist nur auf Bewährung<br />
auf freiem Fuß. Den Versuch, <strong>in</strong> den bewaffneten<br />
Dschihad <strong>zu</strong> ziehen, würde die Justiz ziemlich sicher<br />
als Verstoß gegen die Bewährungsauflagen werten.<br />
E<strong>in</strong> Blick des Grenzbeamten <strong>in</strong> den Fahndungscomputer<br />
und er säße fest.<br />
Er ist ja erst seit e<strong>in</strong> paar Monaten raus aus dem<br />
Gefängnis. Die Verurteilung liegt schon e<strong>in</strong>ige Jahre<br />
<strong>zu</strong>rück. In welchem Jahr er vor welchem Gericht stand,<br />
muss unbeantwortet bleiben. Auch der Name und e<strong>in</strong>ige<br />
Details s<strong>in</strong>d geändert. In diesem Text soll er Moritz<br />
Hecht heißen, e<strong>in</strong> deutscher Name, denn er ist<br />
<strong>Deutsche</strong>r, ke<strong>in</strong>erlei Migrationsh<strong>in</strong>tergrund. Die Anonymisierung<br />
ist Bed<strong>in</strong>gung für das Gespräch gewesen,<br />
und eigentlich ist es auch angemessen, se<strong>in</strong>e Identität<br />
<strong>zu</strong> schützen, denn es ist offen, ob dieser Moritz<br />
Hecht, 23 Jahre alt, e<strong>in</strong> Aussteiger se<strong>in</strong> wird oder e<strong>in</strong><br />
<strong>Wie</strong>dere<strong>in</strong>steiger.<br />
Er ist e<strong>in</strong> ruhiger Typ. Er spricht mit e<strong>in</strong>er eher leisen,<br />
fast schon sanften Stimme. Gelegentlich versucht<br />
er sich <strong>in</strong> Ironie. Wenn er lächelt, me<strong>in</strong>t man, nicht e<strong>in</strong>en<br />
radikalen Islamisten, sondern e<strong>in</strong>en ziemlich normalen<br />
<strong>junge</strong>n Mann vor sich <strong>zu</strong> haben.<br />
Bevor er verurteilt wurde, hatte er, so sah er es<br />
damals, am „wahren Weg Allahs“ festgehalten. Da<strong>zu</strong><br />
gehörte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen auch, den Vorsteher e<strong>in</strong>er jüdischen<br />
Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>en „dreckigen Juden“ <strong>zu</strong> nennen<br />
und ihm mit dem Tod <strong>zu</strong> drohen. Oder sich auf se<strong>in</strong>em<br />
Facebook-Account mit e<strong>in</strong>em umgeschnallten Sprengstoffgürtel<br />
<strong>zu</strong> präsentieren. Oder Sätze über die „Ungläubigen“<br />
<strong>zu</strong> posten wie: „Es wird die Zeit kommen,<br />
wo wir sie alle abschlachten <strong>werden</strong>.“<br />
Auf se<strong>in</strong>er Internetseite hatte Moritz Hecht Werbung<br />
für islamistische Terrororgansationen verbreitet,<br />
darunter Videoclips des „Islamischen Staates im<br />
Irak“. Die Vorläuferorganisation des IS machte bereits<br />
damals mit brutalen Enthauptungsvideos auf sich aufmerksam.<br />
Der Richter verurteilte Moritz Hecht wegen<br />
der Unterstüt<strong>zu</strong>ng ausländischer Terrororganisationen<br />
<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er mehrjährigen Haftstrafe. Heute ist er<br />
wieder <strong>in</strong> den sozialen Netzwerken aktiv. Wenn es um<br />
den Dschihad oder den „Islamischen Staat“ geht, hält<br />
er sich <strong>zu</strong>rück. Er behauptet zwar, es wäre ihm egal,<br />
wenn er wieder <strong>in</strong>s Gefängnis käme. Aber ganz so ist<br />
es wohl doch nicht.<br />
Er könnte nicht e<strong>in</strong>fach<br />
<strong>in</strong>s Kampfgebiet<br />
fahren. Die Behörden<br />
beobachten ihn<br />
Andere sprechen deutlich aus, was sie denken –<br />
und sie handeln. Das Bundesamt für Verfassungsschutz<br />
hat erklärt, dass rund 450 Islamisten aus Deutschland<br />
<strong>in</strong> die Kampfgebiete gereist s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>ige br<strong>in</strong>gen Medikamente,<br />
Tarnwesten oder Nachtsichtbrillen nach Syrien<br />
oder <strong>in</strong> den Irak. Andere kämpfen – und gefallen<br />
sich dar<strong>in</strong>, ihre Brutalität <strong>zu</strong>r Schau <strong>zu</strong> stellen. Der<br />
D<strong>in</strong>slakener Mustafa K. posierte Anfang des Jahres <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Propagandavideo mit dem abgeschlagenen Kopf<br />
e<strong>in</strong>es „Ungläubigen“. Der Bonner Fared S. stolzierte<br />
vor wenigen Monaten über e<strong>in</strong> Feld, das mit Leichen<br />
syrischer Regierungssoldaten übersät war, und nannte<br />
sie „Dreck, nichts als Dreck“. Erhan A. aus Kempten<br />
im Allgäu vernetzte im Handy-Nachrichtendienst<br />
Whatsapp e<strong>in</strong>e Gruppe namens „Dawlatul Islam“ – e<strong>in</strong>er<br />
anderen Bezeichnung für den IS; die Polizei nahm<br />
ihn fest, um ihn <strong>in</strong> die Türkei ab<strong>zu</strong>schieben. Der Berl<strong>in</strong>er<br />
Denis Cuspert, von dem noch ausführlicher die<br />
Rede se<strong>in</strong> wird, sondert e<strong>in</strong>e Videobotschaft nach der<br />
anderen ab, <strong>in</strong> der er se<strong>in</strong>e „Glaubensbrüder“ auffordert,<br />
ihm <strong>in</strong> den Dschihad <strong>zu</strong> folgen, und mit Weggefährten<br />
darüber schwadroniert, e<strong>in</strong>em „Ungläubigen“<br />
möglichst bald den Kopf abschlagen <strong>zu</strong> wollen.<br />
Trotz aller Inszenierung gehen Sicherheitsexperten<br />
davon aus, dass deutsche Dschihadisten auf die<br />
Durchschlagskraft des IS ke<strong>in</strong>en wesentlichen E<strong>in</strong>fluss<br />
haben. Doch früher oder später <strong>werden</strong> die meisten<br />
von ihnen <strong>zu</strong>rück nach Deutschland kommen – geübt<br />
im Umgang mit Waffen und Sprengstoff, geprägt<br />
vom Krieg und hoch radikalisiert. Hans-Georg Maaßen,<br />
der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz,<br />
warnt, die Rückkehrer könnten Anschläge <strong>in</strong><br />
Deutschland verüben. Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>ister Thomas<br />
de Maizière sagt, die deutschen Dschihadisten hätten<br />
„gelernt <strong>zu</strong> hassen, <strong>zu</strong> töten und <strong>zu</strong> kämpfen“.<br />
Alle<strong>in</strong> mit Sicherheitsmaßnahmen wird sich das<br />
Problem der IS-Kämpfer <strong>in</strong>des nicht bewältigen lassen.<br />
Wer verh<strong>in</strong>dern will, dass <strong>junge</strong> Menschen aus<br />
Deutschland <strong>in</strong> den Dschihad ziehen, muss verstehen,<br />
warum sie das tun. E<strong>in</strong> Blick auf die Biografien und die<br />
Radikalisierungsgeschichte von Menschen, die behaupten,<br />
Gräueltaten mit der Weltreligion des Islam rechtfertigen<br />
<strong>zu</strong> können, lohnt sich – womit wir wieder bei<br />
der Geschichte von Moritz Hecht wären.<br />
21<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
Se<strong>in</strong>en „Weg <strong>zu</strong>m Islam“ hat Moritz Hecht vor Gericht<br />
und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Internetvideo geschildert – und im<br />
Gespräch mit dem Autor. Bei dem Treffen ist er höflich<br />
und <strong>zu</strong>vorkommend. Er gibt Kekse und Tee.<br />
Als er konvertierte, war er 17, sagt er. Davor sei<br />
se<strong>in</strong> Leben „e<strong>in</strong> Totalschaden“ gewesen. Der Vater verließ<br />
die Familie, als er zwei Jahre alt war. Se<strong>in</strong>e Mutter<br />
war überfordert. Als er 13 war, habe sie ihn <strong>zu</strong><br />
Hause rausgeschmissen. Er übernachtete mal hier und<br />
mal dort und schlug sich irgendwie durch. Die Hauptschule<br />
verließ er ohne Abschluss nach der neunten<br />
Klasse. „Schule, Familie, Freunde, f<strong>in</strong>anziell – ich hatte<br />
mit me<strong>in</strong>em ganzen Leben Probleme“, sagt er. Als er<br />
14 war, f<strong>in</strong>g er an, Alkohol <strong>zu</strong> tr<strong>in</strong>ken und Marihuana<br />
„ Ich bete <strong>in</strong> jedem<br />
Gebet: Allah, lass<br />
mich als Märtyrer<br />
sterben “<br />
IBRAHIM ABOU-NAGIE<br />
Er wird 1964 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Flüchtl<strong>in</strong>gslager <strong>in</strong> Gaza<br />
geboren. Geht nach<br />
Deutschland, um Elektrotechnik<br />
<strong>zu</strong> studieren. Bekommt<br />
mit 30 Jahren die<br />
deutsche Staatsbürgerschaft<br />
<strong>zu</strong>erkannt. Abou-<br />
Nagie ist der Kopf der<br />
Organisation „Die wahre<br />
Religion“, die 2011 die Kampagne<br />
„Lies!“ startet – e<strong>in</strong>e<br />
groß angelegte Koran-Verschenkaktion.<br />
Dafür kann<br />
er <strong>in</strong>sbesondere <strong>junge</strong><br />
Salafisten begeistern, die<br />
<strong>in</strong> Fußgängerzonen und<br />
auf öffentlichen Plätzen<br />
für ihre Auslegung des<br />
Islam werben. Abou-<br />
Nagie wettert gegen die<br />
„zionistischen, verlogenen<br />
Medien“ und tritt dafür<br />
e<strong>in</strong>, die Scharia auf der<br />
ganzen Welt e<strong>in</strong>führen.<br />
Er lebt <strong>in</strong> Köln.<br />
<strong>zu</strong> rauchen, später nahm er auch Ecstasy und Koka<strong>in</strong>.<br />
„Ich dachte, das würde mich beruhigen.“ Tatsächlich<br />
sei alles schlechter geworden.<br />
Mit Religion hatte er bis <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>wendung<br />
<strong>zu</strong>m Islam nie etwas <strong>zu</strong> tun. Irgendwann f<strong>in</strong>g er an,<br />
sich <strong>zu</strong> fragen, was der S<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es Lebens sei. „Und<br />
da kam ich auf den Gedanken an Gott.“<br />
Kurz vor dem 17. Geburtstag führte ihn e<strong>in</strong> Schwager<br />
an die salafistische Ideologie heran. Er nahm ihn<br />
mit <strong>in</strong> die berüchtigte und seit 2010 geschlossene Hamburger<br />
Taiba-Moschee, <strong>in</strong> der schon Attentäter der Anschläge<br />
des 11. September 2001 „ihren Islam“ gelernt<br />
hatten. Vier Tage später wurde Moritz Hecht Muslim.<br />
„Da habe ich etwas gesehen, was mir e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n gibt“,<br />
sagt er. „Woran ich glauben kann und was mir Halt<br />
gibt. Was mich weiter voranbr<strong>in</strong>gen kann, dass ich<br />
nicht so deprimiert durch die Welt laufe.“<br />
Nicht nur das, was er für Religion hielt, gefiel ihm.<br />
Durch den Schwager, der <strong>in</strong> der Szene bestens vernetzt<br />
war, fand er Anschluss. E<strong>in</strong>e salafistische Moschee<br />
wurde für ihn wie e<strong>in</strong> Zuhause. Vielleicht <strong>zu</strong>m<br />
ersten Mal im Leben hatte er das Gefühl, <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft<br />
<strong>zu</strong> gehören. Er war jetzt nicht mehr der<br />
Schulabbrecher ohne Vater – sondern e<strong>in</strong> stolzer Muslim.<br />
Die „Ungläubigen“ und die vielen „irregeleiteten<br />
Muslime“, alle also, die se<strong>in</strong> Leben so schwer gemacht<br />
hatten, würden dagegen <strong>in</strong> der Hölle schmoren. Im Internet<br />
hörte Moritz Hecht Vorträge des wohl bekanntesten<br />
deutschen Salafisten-Predigers – Pierre Vogel.<br />
Vogel – 1978 im nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen Frechen<br />
geboren, früher Profiboxer, 2001 <strong>zu</strong>m<br />
Islam konvertiert – wird <strong>in</strong> der öffentlichen<br />
Wahrnehmung gern als radikaler Schwätzer<br />
abgetan. Das Rüstzeug der salafistischen Ideologie beherrscht<br />
er jedoch bestens. Wenn er nicht gerade die<br />
Provokation sucht, damit die Medien über ihn berichten<br />
– etwa mit Aktionen wie der „Scharia-Polizei“ <strong>in</strong><br />
Wuppertal –, parliert Vogel über Methoden der islamischen<br />
„Beweisführung“ oder die Authentizität von<br />
Hadithen, Überlieferungen aus dem Leben des Propheten<br />
Mohammed. Immer wieder rezitiert er dabei auswendig<br />
und <strong>in</strong> arabischer Sprache aus dem Koran und<br />
nennt die exakten Belegstellen.<br />
Moritz Hecht lernte Vogel kennen. Er war angetan<br />
vom Auftreten und vom „Wissen“ des Predigers.<br />
Er lernte schnell. Was im Koran steht, ist das unverfälschte<br />
Wort Allahs. Dem Wort Allahs muss man folgen<br />
– egal, worum es geht, und egal, ob man es versteht.<br />
Fünfmal am Tag beten, ke<strong>in</strong> Alkohol, ke<strong>in</strong>e Frauen.<br />
Gott oder Satan. Verboten oder erlaubt. Muslim oder<br />
Ungläubiger. Gut oder böse. Das Leben, das Moritz<br />
so kompliziert erschien, war plötzlich ganz e<strong>in</strong>fach.<br />
Moritz fühlte sich von Vogel und se<strong>in</strong>en Anhängern<br />
verstanden. Aber nicht nur das: Er war sicher, auf<br />
dem richtigen Weg <strong>zu</strong> se<strong>in</strong> – und machte den nächsten<br />
Schritt. Bemüht darum, sich „noch mehr Wissen über<br />
Foto: DDP Images/DAPD [M]<br />
22<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Es ist uns<br />
nicht egal.
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
die Religion“ an<strong>zu</strong>eignen, entdeckte er die Prediger<br />
der Gruppe „Die wahre Religion“. Ihr organisatorischer<br />
Kopf, der Kölner Ibrahim Abou-Nagie, sorgte im<br />
Frühjahr 2012 mit se<strong>in</strong>er Koran-Verteilaktion „Lies!“<br />
für Schlagzeilen. Die Aktion selbst ist harmlos – das<br />
Gedankengut, das der gebürtige Paläst<strong>in</strong>enser und<br />
se<strong>in</strong>e Mitstreiter verkünden, ist es nicht. Denn während<br />
Vogel, m<strong>in</strong>destens bis vor zwei, drei Jahren, darauf<br />
bedacht war, sich von Aufrufen <strong>zu</strong> Gewalt <strong>zu</strong> distanzieren,<br />
verherrlicht Abou-Nagie den Märtyrertod:<br />
„Sobald der erste Blutstropfen aus se<strong>in</strong>em Körper rausfließt,<br />
<strong>werden</strong> alle se<strong>in</strong>e Sünden vergeben.“<br />
Der „Chefideologe“ der „wahren Religion“ ist der<br />
1982 geborene Said El Emrani, der sich Abu Dujana<br />
nennt. Auf Facebook sympathisierte der marokkanischstämmige<br />
Bonner mit Größen der <strong>in</strong>ternationalen<br />
Dschihadisten-Szene. Deren Konzepte greift er auch<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Predigten auf. Zum Beispiel das Konzept der<br />
„Fremden“ (ghuraba). Es geht <strong>zu</strong>rück auf e<strong>in</strong>en Ausspruch<br />
des Propheten Mohammed. Der Überlieferung<br />
<strong>zu</strong>folge soll er gesagt haben, dass der Islam als Fremder<br />
(gharib) kam und als Fremder <strong>zu</strong>rückkehren wird. Das<br />
Heil sei daher mit den Fremden, den ghuraba.<br />
Der ägyptische Dschihadisten-Führer Abdallah<br />
Azzam, e<strong>in</strong>st war er der Mentor Osama b<strong>in</strong> Ladens,<br />
bezeichnete mit dem Begriff der ghuraba Dschihadisten<br />
aus arabischen Ländern, die <strong>in</strong> den Achtzigern <strong>in</strong><br />
Afghanistan fern ihrer Heimat als Fremde gegen die<br />
sowjetischen Besatzer kämpften. El Emrani bezieht<br />
den Begriff dagegen auf die „wahrhaft Gläubigen“ <strong>in</strong><br />
Deutschland: auf die Gruppe der dschihadistisch orientierten<br />
Salafisten, die, weil sie tatsächlich e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />
M<strong>in</strong>derheit s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> Deutschland wie Fremde leben.<br />
Für <strong>junge</strong> Menschen wie Moritz Hecht ist das Konzept<br />
der ghuraba attraktiv. Ihr eigentlich negatives<br />
Gefühl, sich ausgegrenzt und unerwünscht <strong>zu</strong> fühlen,<br />
wird <strong>in</strong> etwas Positives und Erstrebenswertes umgedeutet.<br />
El Emrani sagt beispielsweise: „Die M<strong>in</strong>derheit,<br />
liebe Geschwister, ist im Koran immer positiv.“<br />
Das Konzept der ghuraba hilft Salafisten auch,<br />
neue Anhänger an sich <strong>zu</strong> b<strong>in</strong>den und sie gegen Ratschläge<br />
aus ihrem nichtsalafistischen Umfeld und<br />
Warnungen der Sicherheitsbehörden <strong>zu</strong> immunisieren.<br />
Auch der Prophet Mohammed habe anfangs nur<br />
Aus Jugendlichen, die<br />
sich als Verlierer fühlen,<br />
<strong>werden</strong> Anhänger<br />
e<strong>in</strong>er auserwählten<br />
Geme<strong>in</strong>schaft<br />
wenige Gefährten, aber umso mehr Gegner gehabt,<br />
schärft El Emrani se<strong>in</strong>en Zuhörern e<strong>in</strong>. „Deswegen<br />
sei nicht traurig, wenn du bekämpft wirst, wenn du<br />
bloßgestellt wirst, wenn du beleidigt wirst, wenn du<br />
fertiggemacht wirst, wenn du geschlagen wirst, wenn<br />
du festgenommen wirst.“ All das sei e<strong>in</strong> Zeichen dafür,<br />
„auf dem Weg Gottes“ <strong>zu</strong> se<strong>in</strong> – der <strong>in</strong>s Paradies führt.<br />
Wer vom Konzept der Fremden überzeugt ist, fürchtet<br />
weder soziale Ausgren<strong>zu</strong>ng noch staatliche Repression.<br />
Bei Moritz Hecht hat das funktioniert. „Im Endeffekt<br />
können sie mir sowieso nichts machen“, sagte<br />
er. „Weil ich weiß, dass es e<strong>in</strong>e Prüfung von Allah ist.“<br />
Das Konzept der Fremden korrespondiert mit<br />
dem der siegreichen Gruppe, der al taifa al mansura.<br />
Es geht auch auf e<strong>in</strong>en überlieferten Propheten-Ausspruch<br />
<strong>zu</strong>rück. Die Geme<strong>in</strong>schaft der Muslime werde<br />
sich <strong>in</strong> 73 Gruppen spalten, heißt es dort. „Alle <strong>werden</strong><br />
<strong>in</strong> der Hölle landen außer e<strong>in</strong>er.“ Diese „siegreiche<br />
Gruppe“ ist Mohammeds Ausspruch <strong>zu</strong>folge die, „die<br />
sich an das hält, an das ich und me<strong>in</strong>e Gefährten sich<br />
halten“. Prediger wie El Emrani haben ke<strong>in</strong>en Zweifel,<br />
wer geme<strong>in</strong>t ist: die Fremden, die von allen Seiten<br />
bekämpft <strong>werden</strong>. Es s<strong>in</strong>d die Salafisten.<br />
Die mit e<strong>in</strong>iger Fantasie aus überlieferten Propheten-Aussprüchen<br />
abgeleiteten Konzepte<br />
der Fremden und der siegreichen Gruppe<br />
s<strong>in</strong>d für <strong>junge</strong> Menschen wie Moritz Hecht<br />
wie geschaffen. Denn aus Jugendlichen, die sich bevormundet<br />
und diskrim<strong>in</strong>iert fühlen, aus ausgegrenzten<br />
Verlierern also, <strong>werden</strong> Anhänger e<strong>in</strong>er von Gott auserwählten<br />
Geme<strong>in</strong>schaft, standhafte Muslime, die im<br />
Besitz des „Wissens“ und der „Wahrheit“ s<strong>in</strong>d – und<br />
<strong>in</strong>s Paradies kommen. Missliebige Eltern, Lehrer und<br />
all jene, die den Entfremdeten das Leben so schwer gemacht<br />
haben, landen dagegen <strong>in</strong> der Hölle.<br />
Diese Umdeutung der Verhältnisse hebt das Selbstwertgefühl<br />
und kann sogar Rachegefühle befriedigen.<br />
Mit der Gewissheit, auf der richtigen Seite <strong>zu</strong> stehen<br />
und die Segnungen des Paradieses vor sich <strong>zu</strong> haben,<br />
ersche<strong>in</strong>en die Sorgen des weltlichen Lebens überschaubar.<br />
So g<strong>in</strong>g es Moritz Hecht. Wo kriege ich e<strong>in</strong><br />
Auto her, wie f<strong>in</strong>de ich e<strong>in</strong>e Arbeit, wie e<strong>in</strong>e Frau? All<br />
das sei ihm nicht mehr so wichtig, erzählte er.<br />
Wichtig war ihm dagegen se<strong>in</strong>e Internetseite. Mal<br />
präsentierte er dort Botschaften dschihadistischer<br />
Ideologen, mal Videos von aus Deutschland stammenden<br />
Islamisten, die <strong>in</strong> Terrorgruppen kämpften. Als er<br />
Videos <strong>in</strong>ternationaler Terrororganisationen verbreitete,<br />
nahm die Polizei ihn fest: Wer terroristische Vere<strong>in</strong>igungen<br />
unterstützt, macht sich strafbar.<br />
Moritz Hecht ist ke<strong>in</strong> typischer Salafist. Denn<br />
die meisten der laut Verfassungsschutz bundesweit<br />
6300 Anhänger der Ideologie werben weder für den<br />
Dschihad noch ziehen sie nach Syrien, um als Mitglied<br />
der Terrormiliz „Islamischer Staat“ Gräueltaten<br />
<strong>zu</strong> begehen. <strong>Wie</strong> aber wird aus e<strong>in</strong>em Salafisten,<br />
Foto: Action Press [M]<br />
24<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
„ Jeder Christ, Jude, Buddhist,<br />
H<strong>in</strong>du et cetera kommt <strong>in</strong> die<br />
Hölle, wenn er stirbt, ohne den<br />
Islam angenommen <strong>zu</strong> haben! “<br />
PIERRE VOGEL<br />
Der wohl bekannteste<br />
salafistische Prediger<br />
Deutschlands. Wird 1978<br />
<strong>in</strong> Frechen bei Köln<br />
geboren. Er legte er se<strong>in</strong><br />
Abitur an e<strong>in</strong>em Berl<strong>in</strong>er<br />
Sport<strong>in</strong>ternat ab und<br />
startet e<strong>in</strong>e kurze Karriere<br />
als Profiboxer im Halbschwergewicht.<br />
Konvertiert<br />
2001 <strong>zu</strong>m Islam, nennt sich<br />
Abu Hamza und studiert<br />
dann <strong>in</strong> Mekka. Vogel<br />
wird auch von Sven Lau<br />
unterstützt, dem Initiator<br />
der „Scharia-Polizei“, die<br />
im September <strong>in</strong> Wuppertal<br />
<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung trat.<br />
Predigt im Internet und auf<br />
Bühnen e<strong>in</strong>e Religion, für<br />
die man leben und sterben<br />
müsse. Vogel provoziert,<br />
nennt sich ironisch<br />
Hassprediger, achtet aber<br />
darauf, sich nicht strafbar<br />
<strong>zu</strong> machen.
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
dessen Ideologie zwar unvere<strong>in</strong>bar mit der Demokratie<br />
ist, der im Namen dieser Ideologie aber nicht zwangsläufig<br />
Gewalt befürwortet, e<strong>in</strong> Dschihadist?<br />
Die Antwort liegt – unter anderem – im salafistischen<br />
Konzept von al wala wal bara. <strong>Wie</strong> unterschiedlich<br />
es von Anhängern der nur sche<strong>in</strong>bar homogenen<br />
Bewegung des Salafismus <strong>in</strong>terpretiert wird, zeigen<br />
schon die unterschiedlichen Überset<strong>zu</strong>ngen. So sprechen<br />
vergleichsweise moderate Salafisten von „Loyalität<br />
und Distanzierung“. E<strong>in</strong> „wahrhaft Gläubiger“<br />
sollte sich demnach Gott und se<strong>in</strong>en Geboten h<strong>in</strong>geben<br />
– und sich von Handlungen, die er verboten hat,<br />
fernhalten. Dagegen leiten Vertreter des dschihadistischen<br />
Flügels der Salafisten-Szene aus al wala wal<br />
bara die Verpflichtung ab, verme<strong>in</strong>tliche Fe<strong>in</strong>de Allahs<br />
<strong>zu</strong> bekämpfen. „Wir lieben und hassen für Allah“,<br />
schärft etwa Said El Emrani se<strong>in</strong>en Zuhörern e<strong>in</strong>.<br />
Die Legitimation für die radikale Auslegung<br />
von al wala wal bara me<strong>in</strong>en Salafisten wie El Emrani<br />
aus dem Koran ableiten <strong>zu</strong> können. Dort heißt es<br />
im 51. Vers der fünften Sure: „Oh, ihr, die ihr glaubt!<br />
Nehmt euch nicht die Juden und Christen <strong>zu</strong> Beschützern.<br />
Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ander Beschützer. Und wer sie von<br />
euch <strong>zu</strong> Beschützern nimmt, der gehört wahrlich <strong>zu</strong> ihnen.“<br />
<strong>Wie</strong> bei vielen Passagen aus dem Koran s<strong>in</strong>d die<br />
Überset<strong>zu</strong>ng und die Bedeutung dieses Verses und der<br />
Zusammenhang, <strong>in</strong> dem er offenbart wurde, Thema<br />
unzähliger Debatten und Koranexegesen. Die Wortführer<br />
der dschihadistisch orientierten Salafisten ignorieren<br />
diese Debatten. Said El Emrani behauptet, der<br />
Vers sei „klar wie die hellichte Sonne am Tag“.<br />
Pseudoreligiös legitimierte Konzepte wie das<br />
der Fremden, der siegreichen Truppe oder das<br />
Konzept vom Lieben und Hassen für Allah<br />
s<strong>in</strong>d, m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> den Grundzügen, selbst<br />
Neu<strong>zu</strong>gängen der Salafisten-Szene geläufig. Die Ursachen<br />
für ihre Radikalisierung ausschließlich <strong>in</strong> der<br />
Ideologie <strong>zu</strong> suchen, wäre aber naiv. Denn sie mögen<br />
zwar e<strong>in</strong>en Koranvers nach dem anderen zitieren. Sie<br />
täuschen damit aber e<strong>in</strong> Wissen über die islamische<br />
Religion vor, das sie <strong>in</strong> der Regel nicht haben.<br />
Im dschihadistischen Flügel der Szene, das zeigen<br />
Äußerungen im Internet und e<strong>in</strong> Blick auf ausgewählte<br />
Lebensläufe, ist seit e<strong>in</strong>igen Jahren der Wille,<br />
im „Abenteuer Dschihad“ Frust ab<strong>zu</strong>bauen und Männlichkeitsfantasien<br />
aus<strong>zu</strong>leben, oft wichtiger als die<br />
Ansprachen salafistischer Prediger. Das <strong>in</strong> der Szene<br />
weitverbreitete Häkelkäppi weicht immer häufiger der<br />
Militärmütze, die Dschalabia der Tarnfleckjacke. Moritz<br />
Hecht trägt Kapuzenpulli.<br />
Im Internet machen statt Koranrezitationen verstärkt<br />
religiös verbrämte Kampfgesänge die Runde.<br />
Das wichtigste Aushängeschild dieser pop-dschihadistischen<br />
Szene ist e<strong>in</strong> 39 Jahre alter ehemaliger<br />
Gangster-Rapper. Als Deso Dogg sang der Mann, der<br />
eigentlich Denis Cuspert heißt, über das harte Leben <strong>in</strong><br />
„ Ihre Demokratie,<br />
Werte und Maßstäbe<br />
gelten nicht für uns<br />
Muslime “<br />
SAID EL EMRANI<br />
Wird 1982 als Sohn e<strong>in</strong>es<br />
marokkanischen Predigers<br />
geboren. Nennt sich<br />
Abu Dujana. Zählt <strong>zu</strong>m<br />
dschihadistischen Flügel<br />
der Salafisten-Bewegung,<br />
der die „Fe<strong>in</strong>de Allahs“ bekämpfen<br />
will. Auf Islamsem<strong>in</strong>aren,<br />
Kundgebungen<br />
und über e<strong>in</strong>e eigene „Abu<br />
Dujana“-App propagiert<br />
er, dass die Scharia der<br />
Demokratie überlegen<br />
sei. Wirbt für e<strong>in</strong>en Islam<br />
nach dem Verständnis der<br />
Gefährten des Propheten<br />
Mohammed und der<br />
folgenden zwei Generationen.<br />
El Emrani verehrt<br />
die Al Qaida-Prediger<br />
Abu Qatada und Scheich<br />
al-Maqdisi.<br />
Berl<strong>in</strong>-Kreuzberg. Als Abu Talha al Almani <strong>in</strong>szeniert<br />
er sich nun auf dem „Boden der Ehre“, den Schlachtfeldern<br />
des Dschihad <strong>in</strong> Syrien und im Irak, <strong>in</strong> Videos<br />
mit Masch<strong>in</strong>engewehr. In Propagandavideos sagt er<br />
Sätze wie: „Dschihad macht Spaß.“ Über profunde<br />
Kenntnisse der islamischen Theologie verfügt Cuspert<br />
nicht – dafür aber über e<strong>in</strong> langes Vorstrafenregister.<br />
Die Verproletarisierung und Hooliganisierung im<br />
dschihadistischen Teil der Salafisten-Szene erlaubt es<br />
auch e<strong>in</strong>fach gestrickten Jugendlichen mit<strong>zu</strong>wirken.<br />
Um anerkannt <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>, müssen sie nicht unzählige<br />
Koranverse und Überlieferungen aus dem Leben des<br />
Propheten auswendig lernen. E<strong>in</strong> paar martialische<br />
Sprüche auf Facebook genügen.<br />
Foto: Screenshot<br />
26<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Foto: Xavier Bonn<strong>in</strong> (Autor)<br />
Die Islamismus-Expert<strong>in</strong> Claudia Dantschke vom<br />
Berl<strong>in</strong>er Zentrum Demokratische Kultur hat das Phänomen<br />
des Pop-Dschihad ausführlich beschrieben.<br />
„Wir haben es mit e<strong>in</strong>er militanten, hoch politisierten<br />
Jugendkultur <strong>zu</strong> tun, für die der religiöse Salafismus<br />
nur noch Folie und Begründungsmuster ist“, schreibt<br />
Dantschke. Aus der salafistischen Ideologie würden die<br />
Jugendlichen, die dieser Szene angehörten, zwar ihre<br />
Argumente schöpfen. Tatsächlich aber gehe es ihnen<br />
nicht um die Religion. Sie wollten Aufmerksamkeit erhaschen.<br />
Die „Ungläubigen“ werten die Jugendlichen<br />
ab, weil sie sich selbst als Teil der „auserwählten Geme<strong>in</strong>schaft“<br />
aufwerten wollen.<br />
E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne Untersuchung des Bundesamts für<br />
Verfassungsschutz, aus der kürzlich die Berl<strong>in</strong>er Morgenpost<br />
zitierte, hat die Daten von 400 „<strong>Gotteskriegern</strong>“<br />
untersucht, die nach Syrien ausreisten. Praktisch<br />
alle radikalisierten sich <strong>in</strong> der Salafisten-Szene. Nur<br />
jeder vierte von ihnen hat e<strong>in</strong>en Schulabschluss. E<strong>in</strong>e<br />
Ausbildung absolvierten lediglich 6 Prozent, e<strong>in</strong> Studium<br />
ganze 2 Prozent.<br />
Bemerkenswert ist auch, dass viele der Ausgereisten,<br />
bereits bevor sie sich der Ideologie des militanten<br />
Dschihad <strong>zu</strong>wandten, e<strong>in</strong>e Aff<strong>in</strong>ität <strong>zu</strong> Gewalt zeigten.<br />
117 von ihnen beg<strong>in</strong>gen bereits Straftaten, bevor<br />
sie sich radikalisierten. Meist waren es Gewalt-, aber<br />
auch Eigentums- oder Drogendelikte.<br />
In der Debatte spielten die Ergebnisse der Studie<br />
des Verfassungsschutzes kaum e<strong>in</strong>e Rolle. <strong>Wie</strong> auch:<br />
Die Behörde hat die Ergebnisse bisher nicht e<strong>in</strong>mal<br />
offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch die meisten<br />
Medien verzichten auf tiefer gehende Analysen.<br />
Die Fachpolitiker diskutieren lieber darüber, ob man<br />
die Personalausweise von potenziellen Ausreisenden<br />
mit e<strong>in</strong>er speziellen Markierung versehen und ob ausgereisten<br />
Dschihadisten die deutsche Staatsbürgerschaft<br />
aberkannt <strong>werden</strong> könnte. Unabhängig davon,<br />
wie man solche Maßnahmen aus rechtsstaatlicher Perspektive<br />
beurteilt, können sie kurzfristig helfen. Sie<br />
bekämpfen aber nur die Symptome.<br />
Moritz Hecht bekam von den Salafisten e<strong>in</strong> Angebot,<br />
das se<strong>in</strong>e Probleme <strong>zu</strong> lösen schien. E<strong>in</strong>fache<br />
Antworten auf eigentlich komplizierte Fragen. Das Gefühl<br />
da<strong>zu</strong><strong>zu</strong>gehören. Die Gewissheit, endlich e<strong>in</strong>mal<br />
auf der Gew<strong>in</strong>nerseite <strong>zu</strong> stehen. Empfänglich dafür<br />
machte ihn das Leben davor, <strong>in</strong> dem er <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em vaterlosen<br />
Schulversager geworden war, für den sich niemand<br />
<strong>in</strong>teressierte. Die Dschihadisten und ihre Biografien:<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong>. Es ist nichts, worauf wir<br />
stolz se<strong>in</strong> können.<br />
ULRICH KRAETZER ist Politikwissenschaftler<br />
und <strong>in</strong>vestigativer Journalist <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, seit Mai<br />
Redakteur der Berl<strong>in</strong>er Morgenpost. Se<strong>in</strong> Buch<br />
„Salafisten – Bedrohung für Deutschland?“ erschien<br />
im Februar im Gütersloher Verlagshaus<br />
ECHO<br />
KLASSIK<br />
2014<br />
Sonntag, 26.Oktober 2014<br />
Philharmonie im Gasteig<br />
mit Auftritten von<br />
Anna Netrebko, Jonas Kaufmann,<br />
Anne-Sophie Mutter, Diana Damrau,<br />
David Garrett u.v.m.<br />
Moderation<br />
N<strong>in</strong>a Eich<strong>in</strong>ger und Rolando Villazón<br />
TV-Ausstrahlung<br />
26. Oktober, 22:00 Uhr im ZDF<br />
Alle Informationen <strong>zu</strong>r Verleihung<br />
und <strong>zu</strong> den Preisträgern 2014<br />
www.echoklassik.de<br />
www.facebook.com/ECHO.Klassik<br />
www.youtube.com/Echomusikpreis<br />
#ECHOKLASSIK2014
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
„ AUCH BEI UNS WIRD ES<br />
ENTHAUPTUNGEN GEBEN “<br />
Tausende Muslime aus Europa kämpfen <strong>in</strong>zwischen für den<br />
„Islamischen Staat“. Der Radikalisierungsforscher Peter Neumann<br />
warnt vor e<strong>in</strong>er neuen Generation des weltweiten Terrors<br />
Fragen ALEXANDER MARGUIER<br />
Fotos ANDREA ARTZ<br />
28<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Herr Neumann, Sie erforschen die politische und religiöse<br />
Radikalisierung. Gibt es da bestimmte Grundmuster<br />
dieses Prozesses <strong>in</strong> Sachen Alter, Herkunft<br />
und Geschlecht?<br />
Die Leute, die sich radikalisieren, s<strong>in</strong>d meistens<br />
jüngere Männer. Es gibt natürlich Ausnahmen, im Fall<br />
des IS treten <strong>in</strong>zwischen auch verstärkt Frauen auf.<br />
Aber typischerweise s<strong>in</strong>d es doch am häufigsten Männer<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter, das die Soziologen als „demografische<br />
Verfügbarkeit“ bezeichnen – also der Zeitabschnitt,<br />
<strong>in</strong> dem man nicht mehr unter der Kontrolle der<br />
Eltern steht und gleichzeitig noch ke<strong>in</strong>e eigene Familie<br />
hat. Es ist e<strong>in</strong> Alter, <strong>in</strong> dem noch die Möglichkeit<br />
besteht, verschiedene Ideen <strong>zu</strong> verfolgen.<br />
Man müsste doch eigentlich glauben, wer <strong>zu</strong>m Beispiel<br />
nach Syrien oder <strong>in</strong> den Irak geht, um sich dem<br />
IS an<strong>zu</strong>schließen, für den muss es <strong>in</strong> der Heimat ziemlich<br />
perspektivlos se<strong>in</strong>. Ist das e<strong>in</strong> Verlierer- oder<br />
Außenseiter-Phänomen?<br />
Davon geht man immer aus, aber man kann das<br />
so im Großen und Ganzen eigentlich nicht behaupten.<br />
Es existieren etliche Beispiele von Leuten, die <strong>in</strong> unserer<br />
Gesellschaft durchaus e<strong>in</strong>e gute Perspektive gehabt<br />
hätten. Hier <strong>in</strong> Großbritannien gibt es etwa den<br />
Fall e<strong>in</strong>es Mediz<strong>in</strong>ers aus Cambridge; wir hatten auch<br />
e<strong>in</strong>ige Studenten, die an sehr guten Universitäten waren<br />
und die e<strong>in</strong>e gute Karriere vor sich hatten. Was<br />
wirklich die Grundbauste<strong>in</strong>e nicht nur beim IS, sondern<br />
auch <strong>in</strong> anderen Zusammenhängen s<strong>in</strong>d, ist <strong>zu</strong>m<br />
e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> gewisser Unmut. Das betrifft Menschen, die<br />
sich verloren fühlen und nicht wissen, wo sie h<strong>in</strong>gehören.<br />
Zum anderen der Kontakt mit e<strong>in</strong>er Ideologie,<br />
die diesen Unmut <strong>in</strong> etwas S<strong>in</strong>nhaftes verwandelt und<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bestimmte Richtung lenkt. Da bietet sich eben<br />
der Islam an, der für alles Regeln hat und e<strong>in</strong> klares<br />
System bereitstellt.<br />
Ist Radikalisierung e<strong>in</strong> Gruppenphänomen?<br />
Ja, es betrifft meistens kle<strong>in</strong>e Gruppen von<br />
Freunden.<br />
In England hat e<strong>in</strong> Jihadi John genannter Mann<br />
traurige Berühmtheit erlangt, weil er als IS-Kämpfer<br />
westliche Journalisten geköpft haben soll, darunter<br />
James Foley und Steven Sotloff. Was wissen<br />
Sie über Jihadi John?<br />
Ich glaube nicht, dass er selbst diese Exekutionen<br />
durchgeführt hat. Der Mann, der <strong>in</strong> dem Video<br />
die Morde begeht, ist L<strong>in</strong>kshänder. Jihadi John aber<br />
ist Rechtshänder. Auch Körpergröße und Form der<br />
Hand stimmen nicht übere<strong>in</strong>. Da haben e<strong>in</strong>ige britische<br />
Zeitungen wohl eher e<strong>in</strong>e Geschichte konstruiert.<br />
In jedem Fall bekennt sich Jihadi John aber <strong>zu</strong><br />
den Gräueltaten.<br />
Nach allem, was man bisher weiß, ist Jihadi John <strong>in</strong><br />
England früher als Rapper <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getreten.<br />
Auch aus Deutschland hat sich e<strong>in</strong> ehemaliger Rapper<br />
dem IS angeschlossen, der Berl<strong>in</strong>er Denis Cuspert,<br />
Künstlername Deso Dogg. E<strong>in</strong> Zufall?<br />
Eher nicht. Beide wollten ja mit ihrer Musik schon<br />
vorher <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Art Gegenkultur gehören, e<strong>in</strong>en Anti-<br />
Ma<strong>in</strong>stream bilden. Und der Salafismus zeichnet ebenfalls<br />
e<strong>in</strong>en radikalen Gegenentwurf <strong>zu</strong> unserer westlichen<br />
Gesellschaft. Das passt schon <strong>zu</strong>sammen.<br />
Als IS-Kämpfer tauchen Jihadi John und Deso Dogg ja<br />
ständig <strong>in</strong> den Medien auf. Produziert man da nicht<br />
Nachahmungstäter, <strong>in</strong>dem solche Leute als Popstars<br />
des Terrors gezeigt <strong>werden</strong>?<br />
Ja, sicher. Wir erleben ja bereits, dass Enthauptungen<br />
fast schon <strong>zu</strong>r Mode geworden s<strong>in</strong>d. Es gab Enthauptungen<br />
<strong>in</strong> Amerika, es gab versuchte Enthauptungen<br />
<strong>in</strong> Australien. Und ich b<strong>in</strong> sicher, dass wir das auch<br />
<strong>in</strong> Europa noch erleben <strong>werden</strong>. Das ist e<strong>in</strong> Trend, den<br />
der „Islamische Staat“ geschaffen hat.<br />
Eigentlich müsste e<strong>in</strong>e Enthauptung doch abschreckend<br />
wirken – gerade auf Leute, die <strong>in</strong> Europa aufgewachsen<br />
s<strong>in</strong>d. Bei manchen sche<strong>in</strong>t aber das Gegenteil<br />
der Fall <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>. <strong>Wie</strong> kommt es da<strong>zu</strong>?<br />
Sie rechtfertigen das mit der Begründung des IS.<br />
Da wird nach irgendwelchen Koran-Suren gesucht, <strong>in</strong><br />
denen von Enthauptungen die Rede ist. Es gibt auch<br />
das strategische Argument, mit solchen Morden lasse<br />
sich Aufmerksamkeit für die eigene Sache erregen und<br />
der Westen <strong>in</strong> Aufruhr versetzen. Zum Dritten heißt<br />
es: „Wir machen hier e<strong>in</strong>e Revolution, und da passieren<br />
eben auch D<strong>in</strong>ge, die nicht so hübsch s<strong>in</strong>d.“<br />
In Deutschland hat der Fall des 22-jährigen Erhan A.<br />
aus Kempten Aufsehen erregt, der ursprünglich aus<br />
der Türkei stammt. Er behauptet, durch Lektüre des<br />
Koran <strong>zu</strong>m „echten Islam“ bekehrt worden <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />
Jetzt schwärmt er für den IS, lehnt den sogenannten<br />
„Euro-Fake-Islam“ se<strong>in</strong>er Eltern ab und wollte bis<br />
<strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er Verhaftung selbst <strong>in</strong> den Kampf ziehen. Ist<br />
diese Art von Selbstradikalisierung e<strong>in</strong>e Ausnahme?<br />
Wir wissen von Erhan A., dass er den Koran zwar<br />
gelesen hat, aber eben nicht alle<strong>in</strong>. Er war vielmehr<br />
Teil der salafistischen Szene <strong>in</strong> Kempten. Also e<strong>in</strong> typischer<br />
Fall, denn genau aus dieser Gegenkultur rekrutieren<br />
sich die meisten Auslandskämpfer für den IS.<br />
Peter Neumann<br />
Jahrgang 1974, stammt aus Würzburg und ist Gründungsdirektor<br />
des International Centre for the Study of<br />
Radicalisation am renommierten K<strong>in</strong>g’s College <strong>in</strong> London,<br />
wo er auch als Professor lehrt<br />
29<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
Welche Rolle spielen Moscheen und soziale Netzwerke<br />
bei der Radikalisierung?<br />
Me<strong>in</strong> Vorwurf an die traditionellen Moscheegeme<strong>in</strong>den<br />
ist nicht, dass sie Leute radikalisieren. Sondern<br />
dass sie es nicht schaffen, Angebote für <strong>junge</strong><br />
Menschen <strong>zu</strong> machen und sie damit an die Moscheen<br />
<strong>zu</strong> b<strong>in</strong>den. Die meisten Moscheen s<strong>in</strong>d voller alter<br />
Männer, gepredigt wird dort auf Türkisch oder Arabisch.<br />
Das ist schlichtweg ke<strong>in</strong> attraktives Angebot für<br />
<strong>junge</strong> Leute auf S<strong>in</strong>nsuche. Deshalb wenden sie sich<br />
mit existenziellen Problemen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Richtung.<br />
Und da greifen die sozialen Netzwerke im Internet, wo<br />
DSCHIHADISTEN<br />
IN SYRIEN UND NORDIRAK<br />
wichtigste<br />
Grenzübergänge<br />
SAUDI-<br />
ARABIEN<br />
Istanbul- wichtigste<br />
Atatürk Grenzübergänge<br />
SAUDI-<br />
ARABIEN<br />
Istanbul-<br />
Atatürk<br />
Kilis<br />
LIBANON Reyhanli<br />
LIBANON<br />
JORD<br />
NIEN<br />
unter Kontrolle von<br />
„Islamischer Staat“<br />
TÜRKEI<br />
Kilis Akçakale<br />
Hatay Gaziantep Sanliurfa<br />
Reyhanli<br />
JORD<br />
NIEN<br />
unter Kontrolle von<br />
„Islamischer Staat“<br />
TÜRKEI<br />
Hatay Gaziantep Sanliurfa<br />
SYRIEN<br />
SYRIEN<br />
Akçakale<br />
unter kurdischer<br />
Kontrolle<br />
unter kurdischer<br />
Kontrolle<br />
IRAK<br />
IRAK<br />
AUSLÄNDISCHE KÄMPFER IN SYRIEN<br />
[je 1 Million E<strong>in</strong>wohner 0 5 10 15]<br />
20 25 Gesamtzahl<br />
Belgien<br />
Dänemark<br />
Belgien<br />
Frankreich<br />
Dänemark<br />
Australien<br />
Frankreich<br />
Norwegen<br />
Australien<br />
Niederlande<br />
Norwegen<br />
Österreich<br />
Niederlande<br />
Irland<br />
Österreich<br />
Großbritannien<br />
Irland<br />
Schweden<br />
Großbritannien<br />
Deutschland<br />
Schweden<br />
USA<br />
Deutschland<br />
USA<br />
0 5 10 15 20 25<br />
250<br />
Gesamtzahl<br />
100<br />
250<br />
700<br />
100<br />
250<br />
700<br />
50<br />
250<br />
120<br />
50<br />
60<br />
120<br />
30<br />
60<br />
400<br />
30<br />
30<br />
400<br />
480<br />
30<br />
70<br />
480<br />
70<br />
IRAN<br />
IRAN<br />
sie auf salafistische Prediger wie Pierre Vogel und andere<br />
stoßen. So rutschen sie <strong>in</strong> die Szene re<strong>in</strong>.<br />
Unter Islamisten kursieren ja etliche Verschwörungstheorien,<br />
darunter sogar die, der Anführer des IS sei<br />
<strong>in</strong> Wahrheit e<strong>in</strong> israelischer Geheimdienstagent.<br />
Braucht es solche Narrative, um die Radikalisierung<br />
<strong>in</strong> Gang <strong>zu</strong> setzen?<br />
Klar. Der ganze extremistische Islam ist ja im Pr<strong>in</strong>zip<br />
nichts anderes als e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Verschwörungstheorie.<br />
Danach haben es die islamischen Länder deshalb<br />
so schwer, weil es e<strong>in</strong>e riesige Verschwörung des Westens<br />
und neuerd<strong>in</strong>gs auch der Schiiten gegen den Islam<br />
gibt. Die Lösung dieses Dilemmas wird dar<strong>in</strong> gesehen,<br />
dass sich die Muslime nur wiedervere<strong>in</strong>igen und den<br />
Islam <strong>in</strong> wörtlicher Lesart als verb<strong>in</strong>dliche Gesetzesgrundlage<br />
akzeptieren müssten.<br />
<strong>Wie</strong> groß schätzen Sie die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>,<br />
dass es auch <strong>in</strong> Europa <strong>zu</strong> Anschlägen durch radikalisierte<br />
Moslems kommen wird?<br />
Fast 100 Prozent. In Syrien und im Irak s<strong>in</strong>d ja <strong>in</strong>zwischen<br />
um die 15 000 Auslandskämpfer im E<strong>in</strong>satz.<br />
Da wächst e<strong>in</strong>e ganz neue Generation von Leuten heran,<br />
die auch h<strong>in</strong>terher noch <strong>in</strong> ihren Netzwerken aktiv<br />
se<strong>in</strong> <strong>werden</strong>. Das war schon während der achtziger<br />
Jahre <strong>in</strong> Afghanistan der Fall, wo Osama b<strong>in</strong> Laden bekanntlich<br />
am Partisanenkampf gegen die Sowjets beteiligt<br />
war. Und wenn wir Afghanistan als Blaupause<br />
nehmen, dann entstehen beim IS derzeit neue <strong>in</strong>ternationale<br />
Gruppierungen, die uns möglicherweise im<br />
Lauf der nächsten 20 Jahre Terroranschläge <strong>in</strong> allen<br />
Regionen der Welt bescheren <strong>werden</strong>.<br />
Welche gesetzlichen Schritte halten Sie für notwendig,<br />
um den Zustrom von IS-Kämpfern aus dem Ausland<br />
<strong>zu</strong> verh<strong>in</strong>dern?<br />
Ich denke, es ist richtig, dass Leuten die Pässe weggenommen<br />
<strong>werden</strong>, bevor sie ihr Heimatland verlassen.<br />
Für falsch halte ich es dagegen, ihnen die Staatsbürgerschaft<br />
<strong>zu</strong> entziehen, wenn sie bereits im Kampfgebiet<br />
s<strong>in</strong>d. Denn es gibt unter den Auslandskämpfern<br />
viele, die dort un<strong>zu</strong>frieden s<strong>in</strong>d und gern <strong>zu</strong>rückkämen.<br />
Wenn man denen e<strong>in</strong>e Rückkehr verweigert, haben<br />
sie ke<strong>in</strong>e andere Wahl als weiter<strong>zu</strong>kämpfen.<br />
Gibt es auch so etwas wie e<strong>in</strong>e soziale Prävention?<br />
Unbed<strong>in</strong>gt, und auf diesem Gebiet wird viel <strong>zu</strong> wenig<br />
unternommen. Wir verfügen hier an me<strong>in</strong>em Institut<br />
über e<strong>in</strong>en Datensatz von 530 Kämpfern, mit denen wir<br />
<strong>zu</strong>m Teil auch <strong>in</strong> Kontakt stehen. Von denen wissen wir,<br />
dass vor Ort etliche schockiert darüber s<strong>in</strong>d, dass die<br />
meisten Syrer sie überhaupt nicht im Land haben wollen<br />
und sie nicht willkommen heißen. E<strong>in</strong>ige IS-Auslandskämpfer<br />
s<strong>in</strong>d auch frustriert, weil sie feststellen, dass<br />
Grafik: <strong>Cicero</strong> (Montage); Quellen: Eurostar, IMF, Institute for the Study of War, The International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence, The Soufan Group, The Economist<br />
30<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
s<strong>in</strong>d zwar nicht mehr extremistisch motiviert, aber wegen<br />
der Erlebnisse traumatisiert und deshalb womöglich<br />
ebenfalls gefährlich. Und es gibt natürlich auch noch<br />
Zweifler oder Desillusionierte, die sich am liebsten so<br />
schnell wie möglich <strong>in</strong> unsere Gesellschaft re<strong>in</strong>tegrieren<br />
wollen. Da braucht man eben unterschiedliche Ansätze.<br />
Der Traumatisierte benötigt möglicherweise psychologische<br />
Hilfe, der Extremist muss womöglich <strong>in</strong>s<br />
Gefängnis. Für Zweifler ist wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Deradikalisierungsprogramm<br />
die richtige Lösung. Es ist sicher<br />
ke<strong>in</strong>e gute Idee, jedem potenziellen Heimkehrer e<strong>in</strong>e<br />
Gefängnisstrafe <strong>in</strong> Aussicht <strong>zu</strong> stellen.<br />
„ Die Moscheen schaffen es nicht, <strong>junge</strong> Leute<br />
an sich <strong>zu</strong> b<strong>in</strong>den. Stattdessen greifen dann<br />
salafistische Netzwerke “<br />
sich immer wieder e<strong>in</strong>zelne Sunniten-Gruppen untere<strong>in</strong>ander<br />
befehden. Das s<strong>in</strong>d Botschaften, die müssten<br />
hier<strong>zu</strong>lande viel deutlicher herausgestellt <strong>werden</strong> – gerade<br />
auch <strong>in</strong> den muslimischen Geme<strong>in</strong>den. Stattdessen<br />
dom<strong>in</strong>iert bei uns die Propaganda des „Islamischen<br />
Staates“.<br />
Die große Frage lautet natürlich: Was tun mit den<br />
rückkehrenden Kämpfern?<br />
Über jeden Rückkehrer sollte es e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle<br />
E<strong>in</strong>schät<strong>zu</strong>ng durch die Sicherheitsbehörden geben.<br />
Denn es handelt sich ja nicht um e<strong>in</strong>e homogene Gruppe.<br />
Da gibt es brandgefährliche Extremisten, die hier Terroranschläge<br />
verüben wollen. Dann gibt es welche, die<br />
Aus welchen europäischen Ländern stammen eigentlich<br />
im Verhältnis <strong>zu</strong>r Gesamtbevölkerung die meisten<br />
IS-Kämpfer?<br />
In absoluten Zahlen liegen natürlich die größten<br />
Länder vorn. Aus Frankreich stammen etwa<br />
1000 Kämpfer, aus Großbritannien zwischen 500 und<br />
600, und aus Deutschland 400 oder 500. Im Verhältnis<br />
<strong>zu</strong>r E<strong>in</strong>wohnerzahl liegt allerd<strong>in</strong>gs Belgien ganz<br />
weit <strong>in</strong> Führung, alle<strong>in</strong> von dort stammen 300 Kämpfer.<br />
Auch Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande<br />
s<strong>in</strong>d überproportional stark betroffen.<br />
Woran liegt das?<br />
Das liegt daran, dass <strong>in</strong> diesen Ländern bestimmte<br />
salafistische Gruppen außergewöhnlich aktiv s<strong>in</strong>d oder<br />
es <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest waren. In Belgien <strong>zu</strong>m Beispiel „Sharia<br />
4 Belgium“ oder <strong>in</strong> Norwegen „Profetens Ummah“.<br />
70 Prozent aller IS-Auslandskämpfer stammen aus solchen<br />
Gruppen. Interessanterweise kommen fast alle<br />
der belgischen IS-Leute aus nur drei Städten, nämlich<br />
Antwerpen, Mechelen und Vilvoorde. Und <strong>in</strong> genau<br />
diesen drei Orten war „Sharia 4 Belgium“ auch besonders<br />
e<strong>in</strong>flussreich.<br />
29.05.–30.11.2014<br />
<strong>Deutsche</strong>s Historisches Museum ∙ Unter den L<strong>in</strong>den 2 ∙ 10117 Berl<strong>in</strong> ∙ www.dhm.de ∙ Täglich 10–18 Uhr
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
EIN AUFRUF<br />
Der Islam ist e<strong>in</strong>e geladene Waffe – wir müssen sie endlich entschärfen<br />
Von GÜNER YASEMIN BALCI<br />
Liebe Mitbürger<strong>in</strong>nen, liebe Mitbürger, liebe Geschwister<br />
im, mit und ohne Glauben, im Namen<br />
Allahs des Barmherzigen rufe ich alle <strong>zu</strong>r Vernunft<br />
– <strong>zu</strong>m kritischen Denken auf!<br />
Seit es unsere Religion gibt, <strong>werden</strong> im Namen<br />
des Islam Menschen getötet. Ja, es stimmt, auch im<br />
Namen anderer Religionen wurde viel Blut vergossen.<br />
Ich rede heute aber für me<strong>in</strong>e Religion.<br />
Viele Muslime, ich hoffe die meisten, distanzieren<br />
sich nicht nur von diesen Taten, sondern verurteilen<br />
und verachten die Menschen, die sie begehen. Muslime<br />
stehen heute mehr denn je <strong>in</strong> der Pflicht, nicht<br />
nur den Islamisten, sondern auch allen Traditionalisten<br />
den Kampf an<strong>zu</strong>sagen. Hier und überall. Es reicht<br />
nicht aus, sich <strong>zu</strong> distanzieren. Es müssen Taten folgen.<br />
Die Ursachen des Übels, des Kampfes gegen alle<br />
Nichtmuslime, liegen <strong>in</strong> unserem Umgang mit dem Islam.<br />
Wenn ich „unserem“ sage, me<strong>in</strong>e ich alle Menschen,<br />
aber <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie uns Muslime. Zu leise s<strong>in</strong>d<br />
die Stimmen, die ihn reformieren wollen, verstummt<br />
s<strong>in</strong>d die Muslime, die es e<strong>in</strong>st wagten, e<strong>in</strong>en aufgeklärten<br />
Blick auf unser heiliges Buch <strong>zu</strong> werfen.<br />
Muslime wie Nichtmuslime haben Angst vor dem<br />
Islam, weil es noch immer <strong>zu</strong> viele Islam-Vertreter gibt,<br />
die diesen kritischen Blick verbieten. Ich kann mit Bestimmtheit<br />
sagen, dass e<strong>in</strong> Großteil me<strong>in</strong>er Geschwister<br />
im Glauben, besonders jene, die ihn predigen, schon<br />
immer die Abgren<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong> all den anderen, den sogenannten<br />
„Ungläubigen“, gesucht und propagiert und<br />
bei jeder Kritik am Islam sofort die Rolle des Opfers<br />
e<strong>in</strong>genommen haben. Wo s<strong>in</strong>d die Imame, die auf der<br />
Kanzel stehen und sagen: Dieser und jener Vers s<strong>in</strong>d<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit entstanden, und die müsst<br />
ihr nach heutiger Sicht der D<strong>in</strong>ge so und so verstehen,<br />
und deshalb dürft ihr euch nicht so verhalten, wie ihr<br />
es gerade tut? Wo s<strong>in</strong>d die Geistlichen, die es wagen,<br />
sich gegen die Verschleierung der Frau aus<strong>zu</strong>sprechen<br />
und für das Recht auf e<strong>in</strong> selbstbestimmtes Leben für<br />
jeden Menschen?<br />
Die Realität der islamischen Welt, egal wo man<br />
sie antrifft, ist anders: Gerade die Gewalt hervorhebenden<br />
Verse <strong>werden</strong> genutzt, um auch Muslimen und<br />
Andersgläubigen Gewalt an<strong>zu</strong>tun. Es br<strong>in</strong>gt uns nichts,<br />
die Diskussion über die Reformierbarkeit des Islam <strong>in</strong><br />
die gepflegte Atmosphäre wissenschaftlichen Gedankenaustauschs<br />
<strong>zu</strong> verlegen. Die Angst vieler Muslime,<br />
die es wagen, e<strong>in</strong>en analytischen Blick auf den Koran<br />
und die Hadithen <strong>zu</strong> werfen, ist verständlich, denn<br />
sie <strong>werden</strong> von den meisten Vertretern des Islam <strong>in</strong><br />
Deutschland und auf der ganzen Welt diffamiert – gar<br />
mit dem Tode bedroht.<br />
Unser Glaube ist nicht für alle Menschen die e<strong>in</strong>zig<br />
wahre Religion und darf sich nicht mit Verachtung<br />
über alles andere stellen. Wenn das die Botschaft ist,<br />
die heute bei e<strong>in</strong>em jugendlichen Moscheebesucher <strong>in</strong><br />
Bonn, Dresden, Frankfurt oder Berl<strong>in</strong> als erste im Kopf<br />
hängen bleibt, wo<strong>zu</strong> sprechen wir dann noch von e<strong>in</strong>em<br />
barmherzigen Allah? Viele Muslime sagen: „Ich<br />
b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Islamist, warum sollte ich mich von den Taten<br />
der Islamisten distanzieren? Als die NSU-Mörder<br />
zehn Menschen h<strong>in</strong>richteten, haben sich auch nicht<br />
alle <strong>Deutsche</strong>n öffentlich von diesen Nazis distanziert.“<br />
DIESES DENKEN IST FALSCH. Dass es vor allem<br />
Deutschland ist, das sich mit se<strong>in</strong>er Nazivergangenheit<br />
und -gegenwart ohne Hemmungen ause<strong>in</strong>andersetzt,<br />
will ich hier nicht länger ausführen. Wir liefern<br />
allen Rassisten dieser Welt, egal ob Muslime oder nicht,<br />
das nötige Futter, wenn wir unsere Religion <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em<br />
unberührbaren Regelwerk erklären. Die NSU-Zelle<br />
kann ihre Morde nicht mit dem Grundgesetz legitimieren,<br />
Islamisten aber legitimieren die Verfolgung<br />
und Ermordung von Menschen mit der heiligen Schrift.<br />
Religion kann e<strong>in</strong>e Waffe se<strong>in</strong> – der Islam, so wie<br />
er heute von vielen <strong>in</strong>terpretiert wird, ist aufgrund des<br />
Mangels an kritischer Ause<strong>in</strong>anderset<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>e geladene<br />
Waffe. Er lebt immer noch <strong>in</strong> dem Verteidigungsglauben<br />
e<strong>in</strong>er vormodernen Zeit, und viele se<strong>in</strong>er Anhänger<br />
vergessen nur <strong>zu</strong> gern, dass sie besonders <strong>in</strong><br />
jenen Ländern sorgenfrei leben, <strong>in</strong> denen er nicht die<br />
Staatsform bildet.<br />
Mohammed war der letzte Prophet, wir können<br />
nicht auf den nächsten warten, um unsere Probleme<br />
von heute <strong>zu</strong> lösen. Nach ihm ist viel auf Gottes Erde<br />
passiert, es gab viele Kriege, viel Leid und Tod – und<br />
dann wieder Licht. In e<strong>in</strong>er Hadith heißt es: „Das Wissen<br />
ist der Gläubigen verlorenes Gut, wo auch immer<br />
sie auf Wissen treffen, sollen sie es aufgreifen.“<br />
Der Islam ist zeitgemäß, wenn wir bereit dafür<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
GÜNER YASEMIN BALCI ist Journalist<strong>in</strong> und<br />
Buchautor<strong>in</strong> („Arabboy“). Sie kam 1975 als<br />
Tochter türkischer E<strong>in</strong>wanderer <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> <strong>zu</strong>r Welt<br />
32<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
„ DIE AUFKLÄRUNG<br />
GEHÖRT ZUM ISLAM “<br />
Der amerikanische Imam<br />
Feisal Abdul Rauf über<br />
die Terrorbewegung<br />
„Islamischer Staat“ und<br />
über die Frage, warum so<br />
viele Muslime ihr Heil <strong>in</strong><br />
der Vergangenheit suchen<br />
Imam Feisal, mit Ihrer Stiftung Cordoba Initiative<br />
möchten Sie dem gemäßigten Islam e<strong>in</strong>e Stimme geben.<br />
Ist das <strong>in</strong> jüngster Vergangenheit schwieriger<br />
geworden?<br />
Feisal Abdul Rauf: Zum<strong>in</strong>dest ist die Arbeit längst<br />
nicht getan. Wir haben die Cordoba Initiative nach 9/11<br />
gegründet, um das gegenseitige Verständnis zwischen<br />
dem Westen und der muslimischen Welt <strong>zu</strong> verbessern.<br />
Im ersten Schritt g<strong>in</strong>g es e<strong>in</strong>fach nur darum, <strong>in</strong>sbesondere<br />
die Amerikaner darüber auf<strong>zu</strong>klären, was die Ursachen<br />
für den <strong>in</strong> der muslimischen Welt verbreiteten<br />
Antiamerikanismus s<strong>in</strong>d. Der zweite Schritt besteht nun<br />
<strong>in</strong>sbesondere dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en Dialog her<strong>zu</strong>stellen. Das wird<br />
angesichts der aktuellen Geschehnisse natürlich nicht<br />
e<strong>in</strong>facher.<br />
Spätestens seit 9/11 verb<strong>in</strong>den viele Menschen <strong>in</strong><br />
westlichen Ländern mit dem Islam Extremismus<br />
und Gewalt. Warum gibt es <strong>in</strong> der islamischen Welt<br />
ke<strong>in</strong>en Aufschrei darüber, dass diese Religion ständig<br />
von Extremisten und Terroristen <strong>in</strong>strumentalisiert<br />
wird?<br />
In der muslimischen Welt wird durchaus harte Kritik<br />
an den im Namen des Islam begangenen Gewalttaten<br />
geübt. Der IS <strong>zu</strong>m Beispiel ist ständig <strong>in</strong> den<br />
Schlagzeilen, aber dessen Verurteilung etwa durch<br />
den saudischen Obermufti oder durch den malaysischen<br />
Premierm<strong>in</strong>ister ist im Westen eben ke<strong>in</strong> Thema,<br />
erst recht nicht für die Nachrichten. Außerdem kennen<br />
wir Muslime natürlich den Unterschied, und deswegen<br />
käme von uns wohl auch ke<strong>in</strong>er auf die Idee, das<br />
Christentum dafür verantwortlich <strong>zu</strong> machen, wenn<br />
etwa e<strong>in</strong> christlicher Extremist e<strong>in</strong> Bombenattentat<br />
auf e<strong>in</strong>e Abtreibungskl<strong>in</strong>ik verübt.<br />
Foto: Craig F. Walker/The Denver Post via Getty Images<br />
Feisal Abdul Rauf<br />
kam 1948 als Sohn ägyptischer Eltern <strong>in</strong> Kuwait <strong>zu</strong>r<br />
Welt. Von 1983 bis 2009 war er Imam an e<strong>in</strong>er New<br />
Yorker Moschee. Als Gründer der Cordoba Initiative<br />
setzt er sich stark für den <strong>in</strong>terreligiösen Dialog e<strong>in</strong>.<br />
Feisal Abdul Rauf ist Autor zahlreicher Bücher<br />
IS steht ja für „Islamischer Staat“. <strong>Wie</strong> islamisch ist<br />
denn der IS?<br />
Überhaupt nicht. Ich plädiere deshalb auch dr<strong>in</strong>gend<br />
dafür, dass die Welt sich diesen Namen nicht <strong>zu</strong><br />
eigen macht. Ich fände stattdessen die Bezeichnung<br />
„Terrorist Assass<strong>in</strong>s of Syria and Iraq“ (mörderische<br />
Terroristen von Syrien und Irak) angemessen. Alle<strong>in</strong><br />
schon, weil die entsprechende Abkür<strong>zu</strong>ng „Tasi“ vom<br />
Klang her an die Nazis er<strong>in</strong>nern würde.<br />
Trotzdem sche<strong>in</strong>t der IS ja auch gerade wegen se<strong>in</strong>es<br />
islamischen Be<strong>zu</strong>gs für viele <strong>in</strong>sbesondere <strong>junge</strong><br />
Männer aus aller Welt attraktiv <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />
33<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
TITEL<br />
<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />
Der Islam ist e<strong>in</strong>e Gesetzesreligion genauso wie<br />
e<strong>in</strong>e spirituelle Religion. Das heißt, für viele Muslime<br />
ist Gerechtigkeit e<strong>in</strong> sehr wichtiges Thema. Und viele<br />
Muslime spüren, dass es <strong>in</strong> etlichen Ländern ungerecht<br />
<strong>zu</strong>geht. Deswegen fällt es Gruppierungen wie<br />
dem IS so leicht, besonders bei <strong>junge</strong>n Leuten über<br />
die Religion an den Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n <strong>zu</strong> appellieren.<br />
Aus diesem Grund wäre es auch so wichtig, dem<br />
IS den Gebrauch des Wortes „islamisch“ nicht <strong>zu</strong><strong>zu</strong>gestehen.<br />
Ich sehe da Parallelen <strong>zu</strong>r Französischen<br />
Revolution, die ja im Namen von Freiheit, Gleichheit<br />
und Brüderlichkeit stattfand. Aber das artete<br />
dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Terrorregime aus – e<strong>in</strong>schließlich der<br />
Erf<strong>in</strong>dung der Guillot<strong>in</strong>e. Revolutionäre Bewegungen<br />
haben leider diese Tendenz <strong>zu</strong> „Säuberungen“,<br />
die darauf h<strong>in</strong>auslaufen, alle um<strong>zu</strong>br<strong>in</strong>gen, die das<br />
revolutionäre Ziel nicht teilen.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs sche<strong>in</strong>en die meisten islamischen Länder<br />
sich doch schwer damit <strong>zu</strong> tun, so etwas wie demokratische<br />
Werte <strong>zu</strong> akzeptieren.<br />
Das kommt darauf an, wie man Demokratie def<strong>in</strong>iert.<br />
Wenn wir im Westen von Demokratie reden,<br />
denken wir meist nicht nur an das Abhalten von Wahlen,<br />
sondern <strong>zu</strong>m Beispiel auch an die Trennung von<br />
Kirche und Staat, an Presse- und Religionsfreiheit und<br />
an vieles mehr, das über e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Abstimmungsverfahren<br />
weit h<strong>in</strong>ausgeht. Etliche muslimische Staatsführer<br />
bemühen deshalb lieber den Begriff Good Governance<br />
anstatt Demokratie. Und me<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>druck nach<br />
wären die meisten Menschen <strong>in</strong> muslimischen Ländern<br />
schon vollauf <strong>zu</strong>frieden, wenn sie nur gut regiert würden.<br />
Dafür wären sie sogar bereit, auf Freiheiten <strong>zu</strong><br />
verzichten.<br />
Islamische Intellektuelle, die sich für e<strong>in</strong>e moderne<br />
Lesart des Islam e<strong>in</strong>setzen, sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nerhalb ihrer<br />
Religion auf starken Widerstand <strong>zu</strong> stoßen. Warum<br />
s<strong>in</strong>d viele Muslime so auf die Vergangenheit fixiert<br />
anstatt auf die Zukunft?<br />
Dafür gibt es mehrere Gründe. E<strong>in</strong>er davon ist,<br />
dass die Glanzzeit des Islam weit <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />
liegt. Am Ende se<strong>in</strong>es Lebens hatte der Prophet<br />
Mohammed se<strong>in</strong>e Gegner geschlagen, die arabischen<br />
Stämme gee<strong>in</strong>t und e<strong>in</strong>e religiöse Bewegung <strong>in</strong> Gang<br />
gesetzt, die sich <strong>in</strong> enormem Tempo verbreitete. Und<br />
auf ihrem Höhepunkt war die islamische Kultur e<strong>in</strong>e<br />
be<strong>in</strong>ahe weltumspannende, multiethnische Angelegenheit,<br />
<strong>in</strong> der die Rechte der Menschen geschützt waren.<br />
Wir heutigen Muslime haben deswegen das Gefühl, etwas<br />
Großes verloren <strong>zu</strong> haben. Viele von uns sehen die<br />
Ursache dar<strong>in</strong>, dass wir von der Vollkommenheit des<br />
Glaubens abgewichen s<strong>in</strong>d. Das ist e<strong>in</strong>e Art kollektives<br />
Bewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerhalb der muslimischen Welt. Nicht<br />
<strong>zu</strong>letzt ist die Tradition für die meisten Muslime e<strong>in</strong><br />
sehr hoher Wert. Aus allen diesen Gründen ist es für<br />
uns wichtig, nicht mit der Vergangenheit <strong>zu</strong> brechen.<br />
Von westlichen Kritikern des Islam ist oft <strong>zu</strong> hören,<br />
dass die muslimische Welt etwas nachholen müsse,<br />
was im Westen die Aufklärung war. Sehen Sie das<br />
auch so?<br />
Ja und ne<strong>in</strong>. Ja <strong>in</strong>sofern, als wir Muslime gerade<br />
durch sehr dunkle Zeiten gehen. In ihrer Glanzzeit,<br />
also vom 8. bis <strong>zu</strong>m 13. Jahrhundert, war die muslimische<br />
Welt durchaus aufgeklärt; es war damals sogar die<br />
aufgeklärteste Gesellschaft überhaupt. Die Menschen<br />
g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> islamische Zentren wie Córdoba und Bagdad,<br />
um Aristoteles und Plato <strong>zu</strong> studieren. Die Aufklärung<br />
ist also Teil der islamischen Tradition. Wir müssten an<br />
diese Tradition nur wieder anknüpfen.<br />
Warum g<strong>in</strong>g diese Tradition verloren?<br />
Zum e<strong>in</strong>en, weil natürlich alle Imperien Auf- und<br />
Niedergänge erleben – und die islamische Welt wurde<br />
eben im Vergleich <strong>zu</strong> Europa irgendwann militärisch<br />
schwächer. Zum wirtschaftlichen Aufstieg Europas<br />
trug aber <strong>in</strong>sbesondere die Gründung von Kapitalgesellschaften<br />
mit beschränkter Haftung bei, weil das<br />
Investitionen mit erheblichen Risiken ermöglichte.<br />
Dies – verbunden mit der im Christentum sich entwickelnden<br />
Möglichkeit, Kapital gegen Z<strong>in</strong>sen <strong>zu</strong> verleihen<br />
– führte <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em enormen wirtschaftlichen Aufstieg.<br />
Denn es war e<strong>in</strong>e Struktur entstanden, <strong>in</strong> der<br />
die Menschen ihre ganze Innovationskraft entfalten<br />
konnten. So geriet die islamische Welt immer mehr <strong>in</strong>s<br />
H<strong>in</strong>tertreffen, und noch da<strong>zu</strong> übernahm sie die für sie<br />
schlimmsten europäischen Gewohnheiten.<br />
Welche denn?<br />
Die Gründung von Nationalstaaten mit e<strong>in</strong>er ethnischen<br />
und religiösen Konformität und dem damit<br />
e<strong>in</strong>hergehenden Verlust e<strong>in</strong>er Akzeptanz von Vielfalt.<br />
Dadurch entstand im islamischen Raum die fixe Idee,<br />
<strong>in</strong>nerhalb dieser Nationalstaaten müssten alle Menschen<br />
gleich se<strong>in</strong> – gleich im Glauben, gleich <strong>in</strong> der<br />
Hautfarbe oder <strong>in</strong> der Sprache. Der islamische Nationalstaat<br />
entspricht aber nicht unserer Tradition. Muslimische<br />
Herrscher hatten <strong>zu</strong>vor immer über viele unterschiedliche<br />
Völker geherrscht und deren Eigenheiten<br />
respektiert. Erst als das verloren g<strong>in</strong>g, kam es überall<br />
<strong>zu</strong> ethnischen Spannungen und Konflikten. Mit dem<br />
Aufstieg der Nationalstaaten g<strong>in</strong>g im islamischen Raum<br />
auch die Bereitschaft verloren, Me<strong>in</strong>ungsvielfalt <strong>zu</strong><br />
akzeptieren.<br />
Geht es Ihnen nicht manchmal auf die Nerven, im<br />
Westen ständig den Islam erklären und verteidigen<br />
<strong>zu</strong> müssen?<br />
Um e<strong>in</strong> christliches Bild <strong>zu</strong> verwenden: Ich trage<br />
schwer an diesem Kreuz. Aber da ich da<strong>zu</strong> bestimmt<br />
b<strong>in</strong>, hat Gott mir auch die Schultern gegeben, um es<br />
tragen <strong>zu</strong> können.<br />
Das Gespräch führte ALEXANDER MARGUIER<br />
34<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
„ Ich b<strong>in</strong> nicht der<br />
Anrufbeantworter von<br />
Olaf Scholz “<br />
Das sagt Schleswig-Holste<strong>in</strong>s Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Britta Ernst Leuten, die ihr auftragen, ihrem<br />
Mann, dem Ersten Bürgermeister von Hamburg, etwas aus<strong>zu</strong>richten, Porträt auf Seite 38<br />
35<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
DER SPIELMANN<br />
Er reimt, scherzt, klöppelt. Nun will Guido Wolf Baden-Württembergs M<strong>in</strong>isterpräsident<br />
<strong>werden</strong> und kämpft <strong>in</strong> der CDU um die Kandidatur. Die Entscheidung fällt das Publikum<br />
Von CONSTANTIN MAGNIS<br />
Foto: Andy Ridder für <strong>Cicero</strong><br />
Im Stuttgarter Landtag geht es ungeordnet<br />
<strong>zu</strong>. Der Schriftführer hat den<br />
Fraktionschef im Schwitzkasten und<br />
ruft: „Ugh, Ugh“ <strong>in</strong>s Mikro. Der M<strong>in</strong>isterpräsident<br />
grabscht es ihm aus der<br />
Hand und wirft dabei den Stuhl um. „Oh<br />
nee<strong>in</strong>!“, ruft se<strong>in</strong> Vize.<br />
Guido Wolf, der echte Landtagspräsident<br />
<strong>in</strong> Baden-Württemberg, beobachtet<br />
den Tumult mit gütiger Miene.<br />
Se<strong>in</strong>e CDU hat hier seit dem Machtverlust<br />
Schlimmeres erlebt als diese Grundschüler,<br />
die <strong>zu</strong>m „Planspiel Schülerparlament“<br />
<strong>in</strong> den Landtag gekommen s<strong>in</strong>d.<br />
Wolf ermahnt den kle<strong>in</strong>en Regierungschef<br />
<strong>zu</strong>m Abschied: „Als M<strong>in</strong>ischterpräsident<br />
kannsch net immer <strong>in</strong> de Villa abhocke!<br />
Da musch mit de Leut schwätze,<br />
jeden Tag. Des isch an Knochenjob!“<br />
Natürlich sagt Wolf das nur sche<strong>in</strong>bar<br />
beiläufig. Denn der Landtagspräsident,<br />
53 Jahre alt, will diesen Knochenjob<br />
2016 selbst übernehmen und se<strong>in</strong>e<br />
CDU <strong>zu</strong>rück an die Macht führen. Die<br />
Aussichten, W<strong>in</strong>fried Kretschmanns<br />
grün-rote Koalition ab<strong>zu</strong>lösen, s<strong>in</strong>d<br />
ganz gut. Wer jedoch für die CDU antreten<br />
darf, entscheiden die Mitglieder<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abstimmung; Anfang Dezember<br />
wird ausgezählt. Um die Spitzenkandidatur<br />
konkurriert Wolf mit dem CDU-Landesvorsitzenden<br />
Thomas Strobl, <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
Vize der Bundestagsfraktion, Vize der<br />
Bundespartei und obendre<strong>in</strong> noch Wolfgang<br />
Schäubles Schwiegersohn.<br />
Im Vergleich <strong>zu</strong>m schneidigen Politprofi<br />
Strobl ist Guido Wolf – dicke Brille,<br />
breites Schwäbisch – e<strong>in</strong> exzentrischer<br />
Kauz. Se<strong>in</strong>e Passion s<strong>in</strong>d seit der Jugend<br />
Tiere aller Art. Se<strong>in</strong> Cockerspaniel Sissi,<br />
zwischenzeitlich 70 Hasen oder Anke,<br />
die Fuchsstute. Se<strong>in</strong> Vater hat sie ihm<br />
ersteigert, und Guido Wolf ritt am Blutfreitag<br />
darauf, der Tag, an dem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
katholischen Heimatstadt We<strong>in</strong>garten<br />
alljährlich des heiligen Blutes Christi<br />
gedacht wird.<br />
Se<strong>in</strong>e Mutter, Tochter e<strong>in</strong>es Agrarm<strong>in</strong>isters,<br />
riet Wolf von öffentlichen Ämtern<br />
früh ab: „Kannsch alles machen, außer<br />
Politik.“ Aber als er als Jurastudent<br />
erlebte, wie l<strong>in</strong>ke Aktivisten M<strong>in</strong>isterpräsident<br />
Lothar Späth aus dem Hörsaal<br />
jagten, trat er <strong>in</strong> die CDU e<strong>in</strong>.<br />
DIE AKTENLAST se<strong>in</strong>es Aufstiegs – Verwaltungsdienst,<br />
Büroleiter im Verkehrsm<strong>in</strong>isterium,<br />
Landrat – kompensiert er<br />
mit öffentlichem Schabernack: Wortspiele<br />
mit se<strong>in</strong>em Namenstier, dem Wolf.<br />
Oder Darbietungen auf se<strong>in</strong>em Liebl<strong>in</strong>gs<strong>in</strong>strument,<br />
dem Xylofon, auf dem er<br />
gern e<strong>in</strong>e Hochgeschw<strong>in</strong>digkeitspolka<br />
mit Namen „Zirkus Renz“ klöppelt. Vor<br />
allem aber reimt Wolf: Seit dem Debüt<br />
bei der E<strong>in</strong>weihung e<strong>in</strong>es Wasserwerks<br />
(„Druck den rota Knopf ganz schnell,<br />
s’sprudelt schon. Ihr höret’s, gell?“) verteilt<br />
er im Land Gedichtle, kritzelt sie kichernd<br />
<strong>in</strong> goldene Bücher von Waldkirch<br />
bis Ladenburg oder trägt sie vor, mit geneigtem<br />
Kopf und verzücktem Lächeln.<br />
Was immer se<strong>in</strong>en Hang <strong>zu</strong>m<br />
Scherzle motiviert, Gefallsucht ist es<br />
eher nicht. Aus der Nähe strahlt er e<strong>in</strong>e<br />
große <strong>in</strong>nere Ruhe aus. Wenn Wolf <strong>zu</strong>hört,<br />
guckt er den Leuten <strong>in</strong>s Gesicht und<br />
sagt manchmal m<strong>in</strong>utenlang gar nichts.<br />
Vor willigem Publikum hört er <strong>zu</strong>weilen<br />
gar nicht auf mit den Wolfswortwitzen,<br />
aber er weiß auch, wann das deplatziert<br />
wäre. In Kälberbronn im Schwarzwald<br />
steht er vor e<strong>in</strong>em Wirt. 14 Jungbullen<br />
des Mannes s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Woche <strong>zu</strong>vor nach<br />
e<strong>in</strong>em Kabelbrand im Stall verendet. Wolf<br />
hört <strong>zu</strong>, er spart sich Floskeln. „Traurige<br />
Angelegenheit“, sagt er.<br />
Er saß gerade mal fünf Jahre im<br />
Landtag, als nach der Mappus-Malaise<br />
auch der Parlamentspräsident abtreten<br />
musste. Wolf ergriff die Chance. Seit se<strong>in</strong>er<br />
Wahl <strong>zu</strong>m Landtagspräsidenten ist er<br />
durchs Land getourt. Er war nicht nur<br />
gern gesehen, weil er der letzte CDU-<br />
Landespolitiker mit e<strong>in</strong>em anständigen<br />
Titel war, sondern weil er unterhalten<br />
konnte. So hat er sich e<strong>in</strong>e solide Fanbasis<br />
erarbeitet. Wofür Wolf politisch<br />
steht, was se<strong>in</strong>e Themen s<strong>in</strong>d, ist noch<br />
schwer e<strong>in</strong><strong>zu</strong>schätzen. Er ist zwar rhetorisch<br />
begabter als Strobl, hat allerd<strong>in</strong>gs<br />
bisher das Ländle beim Versuch, sich als<br />
Kandidat mit Kante <strong>zu</strong> profilieren, eher<br />
verschreckt, beispielsweise mit der Ankündigung,<br />
als M<strong>in</strong>isterpräsident das Bildungssystem<br />
umkrempeln <strong>zu</strong> wollen.<br />
Strobl spielt zwar <strong>in</strong> der politischen<br />
Bundesliga, aber im Gegensatz <strong>zu</strong> ihm<br />
hat Wolf als Landrat schon mal e<strong>in</strong>e<br />
Verwaltung geführt. Viele Landtagsabgeordnete<br />
setzen auf ihn, weil sie fürchten,<br />
Strobl könnte als Wahlsieger M<strong>in</strong>isterposten<br />
vor allem an Leute aus dem<br />
Bundestag vergeben. Aber am Ende entscheiden<br />
nicht Parlamentarier und Funktionäre,<br />
sondern die Mitglieder. Um sie<br />
<strong>zu</strong> begeistern, beklettert Wolf Hochseilgärten<br />
oder bewandert ohne Schuhe frierend<br />
e<strong>in</strong>en Barfußpfad.<br />
Durchs Land <strong>zu</strong> touren und für se<strong>in</strong><br />
Essen <strong>zu</strong> s<strong>in</strong>gen, er kennt das. In se<strong>in</strong>er<br />
K<strong>in</strong>dheit machte die Familie Hausmusik,<br />
Guido an der Klar<strong>in</strong>ette, und zog als „Familie<br />
Wolf“ durch Baden-Württemberg,<br />
spielte <strong>in</strong> Altenheimen, auf Heimatabenden,<br />
auch im Regionalfernsehen. Familien<strong>in</strong>terne<br />
Belohnung fürs viele Proben:<br />
Hühnchen am Sonntag. Wolf hat<br />
den Duft immer noch <strong>in</strong> der Nase, sagt<br />
er, und schließt die Augen.<br />
CONSTANTIN MAGNIS ist Chefreporter von<br />
<strong>Cicero</strong>. Er ist <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und im Nordwesten<br />
Baden-Württembergs <strong>zu</strong> Hause. Auf se<strong>in</strong>er<br />
Tour mit Wolf bekam er Heimatgefühle<br />
37<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
VON DER LIEBE VERTRIEBEN<br />
Britta Ernst ist die neue Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> <strong>in</strong> Kiel. Lange wollte sie Senator<strong>in</strong> <strong>in</strong> Hamburg<br />
<strong>werden</strong>. Aber das g<strong>in</strong>g nicht, weil sie den Bürgermeister etwas <strong>zu</strong> gut kennt<br />
Von HARTMUT PALMER<br />
Von ihrem Büro im achten Stock<br />
blickt Britta Ernst, 53, direkt<br />
aufs Wasser. Dicke Pötte fahren<br />
hier entlang – Kreuzfahrtschiffe, Fähren,<br />
Conta<strong>in</strong>er. Manchmal tuten sie. Oft segeln<br />
Möwen an ihrem Fenster vorbei. Es<br />
ist wie <strong>zu</strong> Hause <strong>in</strong> Hamburg. Aber sie<br />
sitzt nicht an der Elbe, wo sie geboren,<br />
aufgewachsen und seit 1978 politisch aktiv<br />
ist, sondern <strong>in</strong> Kiel. Die Liebe hat sie<br />
aus Hamburg vertrieben. Seit e<strong>in</strong> paar<br />
Wochen ist sie deshalb Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> Schleswig-Holste<strong>in</strong>.<br />
Na ja, so würde sie es nicht erzählen,<br />
obwohl es genau so war. Sie sitzt sehr<br />
beherrscht und kontrolliert <strong>in</strong> ihrem<br />
dunklen, eleganten Hosenann<strong>zu</strong>g an ihrem<br />
Besprechungstisch und erklärt – auf<br />
ihre Weise: sachlich, hanseatisch, unterkühlt<br />
–, wie das war mit der Liebe und<br />
warum sie <strong>in</strong> der Regierung des Hamburger<br />
Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz<br />
nicht Schulsenator<strong>in</strong> <strong>werden</strong> konnte: „Es<br />
wäre besonders beobachtet worden, ob<br />
unsere persönliche Nähe Auswirkungen<br />
auf me<strong>in</strong>e Politik gehabt hätte. Das hätte<br />
mich nicht unbefangen agieren lassen.“<br />
Olaf Scholz ist nämlich ihr Mann<br />
und Britta Ernst die Liebe se<strong>in</strong>es Lebens.<br />
Früher, als er noch Generalsekretär der<br />
SPD, später Arbeitsm<strong>in</strong>ister war, ist er oft<br />
abends nach Hamburg gefahren, um bei<br />
ihr <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>, auch wenn er morgens wieder<br />
<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> se<strong>in</strong> musste. Als ihn die Genossen<br />
<strong>in</strong> der Hansestadt am 17. Dezember<br />
2010 <strong>zu</strong>m Spitzenkandidaten kürten,<br />
verkündete er öffentlich, Hamburg sei<br />
ihm auch so wichtig, „weil ich mich hier<br />
unsterblich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Frau verliebt habe“.<br />
Das g<strong>in</strong>g ihr zwar e<strong>in</strong> bisschen gegen den<br />
Strich, weil: „So viel Privates gehört eigentlich<br />
nicht <strong>in</strong> die Öffentlichkeit.“ Aber<br />
gefreut hat sie sich „doch, sehr. Ich habe<br />
ihm h<strong>in</strong>terher allerd<strong>in</strong>gs spontan gesagt:<br />
Das war aber nicht abgesprochen!“<br />
Man spricht sich ab <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er emanzipierten<br />
Ehe, wie Britta Ernst und Olaf<br />
Scholz sie führen. Jeder macht se<strong>in</strong>e Arbeit<br />
und ist dafür verantwortlich. Nichts<br />
hasst sie mehr, als wenn Leute, die eigentlich<br />
etwas von ihm wollen, sie darum<br />
bitten, ihm das aus<strong>zu</strong>richten. „Ich<br />
b<strong>in</strong> nicht der Anrufbeantworter von Olaf<br />
Scholz“, hat sie e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Genossen<br />
angeblafft, der das versuchte.<br />
First Lady <strong>in</strong> Hamburg – das ist<br />
nichts für sie. Es fügte sich, dass Frank-<br />
Walter Ste<strong>in</strong>meier 2011 e<strong>in</strong>en neuen<br />
hauptamtlichen Manager für die Bundestagsfraktion<br />
suchte. Drei Jahre machte<br />
sie den Job – so effizient, dass der Berl<strong>in</strong>er<br />
Fraktionsapparat e<strong>in</strong> paar Wochen<br />
stotterte, als sie jetzt plötzlich nach Kiel<br />
entschwand.<br />
SOZIALDEMOKRATIN ist sie nicht <strong>zu</strong>fällig<br />
geworden. Ihr Vorbild war Willy<br />
Brandt, dessen Bildungsreform <strong>in</strong> den<br />
siebziger Jahren auch Arbeiterk<strong>in</strong>dern<br />
den Weg <strong>zu</strong>m Abitur öffnete. Ihr Vater<br />
war Zimmermann <strong>in</strong> Hamburg-Ottensen,<br />
die Mutter Schneider<strong>in</strong> und viele Jahre<br />
Verkäufer<strong>in</strong>. Britta konnte aufs Gymnasium<br />
gehen. Früh schon mischte sie sich<br />
e<strong>in</strong>: <strong>zu</strong>erst als Schulsprecher<strong>in</strong>, später bei<br />
den Jungsozialisten. In der Schule g<strong>in</strong>g<br />
es um konkrete Verbesserungen. Bei den<br />
Jusos <strong>in</strong> Hamburg um Frauenpower. Dort<br />
wurde sie aus Protest <strong>zu</strong>r Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>.<br />
Nirgendwo wurde damals <strong>in</strong><br />
Deutschland das Dogma vom „Staatsmonopolistischen<br />
Kapitalismus (Stamokap)“<br />
so <strong>in</strong>brünstig geglaubt und gepredigt wie<br />
bei den Jusos <strong>in</strong> Hamburg und bei der<br />
SED <strong>in</strong> der DDR. Auch Britta Ernst war<br />
e<strong>in</strong>e „Stami“-Frau, aber sie ärgerte sich,<br />
dass immer nur der große Widerspruch<br />
zwischen Kapital und Arbeit diskutiert<br />
wurde, nicht aber die Unterdrückung und<br />
Benachteiligung der Frau. Zusammen mit<br />
anderen wollte sie das ändern: „Wir waren,<br />
als wir loslegten, gar nicht besonders<br />
für die Quote. Aber die Argumente<br />
der Männer haben uns radikalisiert. Wir<br />
wurden immer sicherer, dass es anders<br />
e<strong>in</strong>fach nicht geht.“<br />
Bei den Jusos lernt sie Olaf Scholz<br />
kennen. 1998 heiraten sie. Da ist sie<br />
schon seit e<strong>in</strong>em Jahr Mitglied der Hamburger<br />
Bürgerschaft, er wird 2000 Landesvorsitzender<br />
der SPD. Dann aber<br />
die Katastrophe: Im Januar 2001 verliert<br />
die SPD, die seit 1949 fast ununterbrochen<br />
regiert, die Mehrheit. Ole von<br />
Beust von der CDU bildet mit FDP und<br />
der rechtspopulistischen Schill-Partei<br />
den neuen Senat.<br />
Olaf verschw<strong>in</strong>det <strong>in</strong> die Bundespolitik.<br />
Britta rackert sich ab <strong>in</strong> der<br />
Opposition, wird bildungspolitische<br />
Sprecher<strong>in</strong>, stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />
und schließlich hauptamtliche<br />
Geschäftsführer<strong>in</strong> der SPD-Fraktion.<br />
In zwei Schattenkab<strong>in</strong>etten kämpft sie<br />
2004 und 2008 um das Amt der Schulsenator<strong>in</strong><br />
– vergeblich, weil die SPD jedes<br />
Mal die Wahl verliert. Als es dann aber<br />
beim dritten Anlauf schließlich klappt,<br />
geht sie leer aus. Weil der Mann, den sie<br />
liebt, Olaf Scholz heißt.<br />
Der familiäre Karriere-Schatten hat<br />
sie übrigens bis nach Kiel verfolgt. Ihre<br />
Vorgänger<strong>in</strong> war M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> für Schule<br />
und Wissenschaft. Sie ist – auf eigenen<br />
Wunsch – nur noch <strong>zu</strong>ständig für Schule<br />
und Berufsbildung. Als Wissenschaftsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />
hätte sie das Unikl<strong>in</strong>ikum <strong>in</strong> Kiel<br />
kontrollieren müssen. Dessen Chef aber<br />
ist ihr Schwager – Jens Scholz.<br />
HARTMUT PALMER porträtiert für <strong>Cicero</strong><br />
das politische Personal der Republik – darunter<br />
2010 auch Olaf Scholz, der damals <strong>in</strong><br />
Hamburg als Bürgermeister kandidierte<br />
Foto: Anna Mutter für <strong>Cicero</strong><br />
38<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
MACHT GEGEN GEDULD<br />
Der Berl<strong>in</strong>er Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck zeigt M<strong>in</strong>ister an, verklagt Manager,<br />
ermittelt gegen Generäle. Wer Menschenrechte verletzt, soll nicht davonkommen<br />
Von CHRISTOPH SEILS<br />
Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />
Überschätzt er sich nicht? Zeigt<br />
sich <strong>in</strong> ihm nicht die Hybris e<strong>in</strong>es<br />
Moralisten? Wenn er, e<strong>in</strong><br />
Berl<strong>in</strong>er Anwalt, wegen des Folterskandals<br />
von Abu Ghraib den US-Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<br />
Donald Rumsfeld anzeigt?<br />
Wenn er nach dem Tod e<strong>in</strong>es Gewerkschafters<br />
<strong>in</strong> Kolumbien Schweizer Manager<br />
des Nestlé-Konzerns verklagt? Oder<br />
wenn er, se<strong>in</strong> jüngstes Projekt, britische<br />
Generäle vor den Internationalen Strafgerichtshof<br />
br<strong>in</strong>gen will? „Das sollen andere<br />
beurteilen“, sagt Wolfgang Kaleck<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>zu</strong>rückgenommenen Art. Er<br />
reizt gerne Mächtige, aber er selbst lässt<br />
sich nicht so leicht provozieren.<br />
Kaleck, 54, Rechtsanwalt mit Mecki-<br />
Haarschnitt, Doppelk<strong>in</strong>n und Dreitagebart,<br />
blickt aus se<strong>in</strong>em Büro <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em engen<br />
Kreuzberger Gewerbehof über die<br />
Dächer von Berl<strong>in</strong>. An diesem Tag hat<br />
er schon Delegationen empfangen, aus<br />
Kolumbien und aus Paläst<strong>in</strong>a. Alle hoffen<br />
auf die Unterstüt<strong>zu</strong>ng jener Organisation,<br />
deren Generalsekretär Kaleck ist.<br />
Das European Center for Constitutional<br />
and Human Rights kürzt sich ECCHR ab<br />
und wirkt wie e<strong>in</strong>e der vielen l<strong>in</strong>ken Organisationen<br />
mit <strong>zu</strong> wenig Vokalen im<br />
Namen. Aber diese Organisation wird<br />
weltweit beachtet, dank Kaleck.<br />
Es ist e<strong>in</strong> zähes Geschäft jenseits des<br />
Sche<strong>in</strong>werferlichts. Es war ungewöhnlich,<br />
als er <strong>zu</strong>letzt als deutscher Rechtsbeistand<br />
von Edward Snowden Aufmerksamkeit<br />
auf sich zog. Journalisten fragten<br />
an. Snowden, Snowden, Snowden. „<strong>Wie</strong><br />
lebt er <strong>in</strong> Moskau?“ „Hat er Chancen auf<br />
deutsches Asyl?“ „Kehrt er <strong>in</strong> die USA<br />
<strong>zu</strong>rück?“ – „Ich möchte nicht darauf reduziert<br />
<strong>werden</strong>“, sagt Kaleck.<br />
Se<strong>in</strong>e Spezialität ist das Völkerstrafrecht.<br />
Seit dem Zweiten Weltkrieg<br />
wollen Juristen Folterer und Kriegsverbrecher<br />
wegen Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit vor Gericht br<strong>in</strong>gen.<br />
Doch der Widerstand ist beträchtlich.<br />
Ob Prozesse stattf<strong>in</strong>den, ist häufig ke<strong>in</strong>e<br />
Frage der Beweise, sondern der Macht.<br />
Kaleck sagt: „Das ECCHR arbeitet nicht<br />
für den kurzfristigen Applaus.“<br />
Die Verbrechen zehren an ihm. In<br />
aller Welt sucht er Betroffene auf, fliegt<br />
nach Indien, nach Bahre<strong>in</strong> oder Guatemala.<br />
Nur, wie hält er das aus? Die<br />
Wucht der Folterbilder, die Schilderung<br />
von Massenvergewaltigungen, die Ausflüchte<br />
der Täter? Manchmal gehe es e<strong>in</strong>em<br />
„durch und durch“, sagt er. Bisweilen<br />
träfen ihn die Emotionen auch beim<br />
Aktenstudium völlig unvorbereitet, „du<br />
nimmst e<strong>in</strong> Papier <strong>in</strong> die Hand, liest und<br />
denkst, das kann doch nicht se<strong>in</strong>“.<br />
ANGEFANGEN hat er vor 23 Jahren. Nach<br />
dem Fall der Mauer eröffnete der Westdeutsche<br />
mit zwei Kollegen <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Anwaltskollektiv. Er verteidigte<br />
Opfer rechter Gewalt genauso wie autonome<br />
Feierabendterroristen, Stasi-Opfer,<br />
Asylbewerber und Totalverweigerer.<br />
1999 übernahm er den ersten <strong>in</strong>ternationalen<br />
Fall. Er zeigte <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> argent<strong>in</strong>ische<br />
Generäle an, die <strong>in</strong> der Zeit der<br />
Diktatur für das Verschw<strong>in</strong>den von vier<br />
deutschstämmigen Juden verantwortlich<br />
gewesen se<strong>in</strong> sollen. Es folgte e<strong>in</strong>e Anzeige<br />
gegen e<strong>in</strong>en deutschen Manager<br />
von Mercedes-Benz Argent<strong>in</strong>ien, der<br />
1977 die Verhaftung argent<strong>in</strong>ischer Gewerkschafter<br />
bewirkt haben soll.<br />
2007 gründete er das ECCHR. Er<br />
wollte klotzen, nicht kleckern. Mittlerweile<br />
hat die Menschenrechtsorganisation<br />
15 Mitarbeiter, viele Freiwillige<br />
und e<strong>in</strong>en Jahresetat von rund e<strong>in</strong>er Million<br />
Euro. Das Startkapital sammelte er<br />
bei Stiftungen <strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong> Großbritannien,<br />
nicht bei se<strong>in</strong>en „zynischen“<br />
l<strong>in</strong>ken Anwaltskollegen <strong>in</strong> Deutschland.<br />
Sie dächten <strong>in</strong> den Kategorien von „Alles<br />
oder Nichts“. Deshalb gäben sie schnell<br />
auf. Dabei entwickle sich das Völkerstrafrecht<br />
„sehr dynamisch“, <strong>in</strong> vielen<br />
Ländern entstünden Rechtsräume, „<strong>in</strong><br />
die wir h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>stoßen können“. Kaleck<br />
hat Zeit, gegen Macht setzt er Geduld.<br />
E<strong>in</strong> Rechtsraum ist der Internationale<br />
Strafgerichtshof <strong>in</strong> Den Haag. Dieser<br />
steht unter Druck. Weil dort bislang<br />
nur gegen Afrikaner ermittelt wurde,<br />
wird ihm Neokolonialismus vorgeworfen.<br />
„Das ist die Schnittstelle, wo wir e<strong>in</strong>greifen“,<br />
sagt Kaleck.<br />
An e<strong>in</strong>em Abend sitzt er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em engen<br />
Hörsaal der Humboldt-Universität als<br />
Gast e<strong>in</strong>er Menschenrechtskonferenz. In<br />
hunderten Fällen hätten britische Soldaten<br />
während des Irakkriegs Gefangene<br />
misshandelt, sagt er. Mit britischen Anwälten<br />
hat das ECCHR Beweise gegen Generäle<br />
und Politiker gesammelt. Er hält<br />
e<strong>in</strong>en Aktenordner <strong>in</strong> die Luft, „das ist<br />
die Anzeige“, 251 Seiten ohne Anlagen.<br />
„<strong>Wie</strong> s<strong>in</strong>d die Erfolgsaussichten?“, fragt<br />
e<strong>in</strong>e Zuhörer<strong>in</strong>. „So denken wir nicht“,<br />
antwortet Kaleck. „Die Anzeige ist e<strong>in</strong><br />
Mittel von vielen“, die Durchset<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>er<br />
universellen Jurisdiktion sei e<strong>in</strong> „offener<br />
Prozess“. Für den Anwalt ist es schon<br />
e<strong>in</strong> Erfolg, wenn die Rechtsbrecher fürchten<br />
müssen, dass irgendwo <strong>in</strong> der Welt<br />
gegen sie ermittelt werde. Kaleck hofft,<br />
dass Staatsanwälte se<strong>in</strong>e Arbeit aufgreifen,<br />
fortsetzen. <strong>Wie</strong> <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien, wo<br />
Generäle vor Gericht standen.<br />
Seit Mai prüft der Internationale<br />
Strafgerichtshof im Fall Irak, ob er Vorermittlungen<br />
gegen Großbritannien<br />
aufnimmt.<br />
CHRISTOPH SEILS ist Politischer<br />
Korrespondent von <strong>Cicero</strong>. Wolfgang Kaleck<br />
traf er <strong>zu</strong>m ersten Mal Anfang der neunziger<br />
Jahre im Haus der Demokratie <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong><br />
41<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Debatte<br />
VERBLÜHT<br />
Von PAUL NOLTE<br />
Seit der Bundestagswahl wirken<br />
die Grünen kraftlos. Veggie-Day-<br />
Desaster? Personalprobleme? Ne<strong>in</strong>, die<br />
Krise reicht tief. Die Partei hat sich<br />
<strong>zu</strong> Tode gesiegt. Und das politische<br />
Koord<strong>in</strong>atensystem hat sich so<br />
verändert, dass sie künftig allenfalls<br />
e<strong>in</strong>e Randpartei se<strong>in</strong> <strong>werden</strong><br />
Illustrationen SUSANN STEFANIZEN<br />
43<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Mehr als drei Jahrzehnte gehören<br />
die Grünen <strong>zu</strong>r politischen<br />
Grundausstattung der Bundesrepublik,<br />
aber <strong>in</strong> den vergangenen drei<br />
Jahren haben sich ihre Aussichten so e<strong>in</strong>schneidend<br />
verändert wie selten <strong>zu</strong>vor –<br />
und der Pfeil zeigt nach unten.<br />
Nach Fukushima schien die Partei<br />
<strong>zu</strong> ganz neuen Horizonten auf<strong>zu</strong>brechen.<br />
Bei der baden-württembergischen Landtagswahl<br />
erreichten die Grünen 2011<br />
mehr als 24 Prozent und ließen die SPD<br />
h<strong>in</strong>ter sich, aus deren Rippe sie, jedenfalls<br />
was die Wähler angeht, e<strong>in</strong>st entstanden<br />
waren. Endlich der Ausbruch<br />
aus dem 10-Prozent-Türmchen; e<strong>in</strong> grüner<br />
M<strong>in</strong>isterpräsident; be<strong>in</strong>ahe nichts<br />
schien mehr unmöglich; sogar über e<strong>in</strong>en<br />
grünen Kanzlerkandidaten wurde debattiert.<br />
Spätestens am Abend der Bundestagswahl<br />
im September 2013 hatten<br />
Ernüchterung und Enttäuschung Platz<br />
gegriffen. Gut 2 Prozentpunkte Verlust;<br />
Jürgen Tritt<strong>in</strong> und Claudia Roth mochten<br />
nicht mehr weitermachen. Tief verunsichert<br />
ließen die Grünen sogar die Chance<br />
e<strong>in</strong>er Regierungsbeteiligung im Bund fahren.<br />
Seither stolpern sie durch die politische<br />
Landschaft.<br />
Ne<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> Veggie-Day-Desaster vermag<br />
die neue Traurigkeit der Grünen<br />
ebenso wenig <strong>zu</strong> erklären wie Personalprobleme<br />
im generationellen Übergang.<br />
Die Krise reicht tiefer. Ralf Dahrendorf<br />
verkündete 1983 das „Ende des sozialdemokratischen<br />
Zeitalters“. Inzwischen<br />
kündigt sich das Ende des grünen Zeitalters<br />
an. Und wie <strong>in</strong> der Diagnose des liberalen<br />
Soziologen muss das nicht das Verschw<strong>in</strong>den<br />
der Partei bedeuten, wohl aber<br />
das Ende ihrer kulturellen Hegemonie.<br />
Die Grünen haben sich <strong>zu</strong> Tode gesiegt.<br />
Wesentliche Forderungen s<strong>in</strong>d erfüllt;<br />
der Ma<strong>in</strong>stream von Gesellschaft<br />
und Kultur der Bundesrepublik ist kräftig<br />
durch den grünen Farbbottich geschwenkt<br />
worden. Dagegen wehrt sich<br />
bloß noch, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kulturkämpferisch<br />
letzten Gefecht, die AfD. Aber <strong>zu</strong>gleich<br />
hat sich – und auch das me<strong>in</strong>te die Dahrendorf-These<br />
– das politische Koord<strong>in</strong>atensystem<br />
so verschoben, dass grünes<br />
Weltbild und grüne Antworten häufig<br />
am Rande liegen bleiben oder sich von<br />
den Antworten der anderen schlicht nicht<br />
mehr unterscheiden, auch weil viele von<br />
der Konkurrenz aufgenommen wurden.<br />
Die Sozialdemokratie traf es als e<strong>in</strong>e<br />
über hundert Jahre alte, gesamteuropäische<br />
Bewegung. Die Grünen dagegen<br />
s<strong>in</strong>d nicht nur parteipolitisch, sondern<br />
auch kulturell weith<strong>in</strong> e<strong>in</strong> deutscher<br />
Sonderweg geblieben. So könnte es se<strong>in</strong>,<br />
dass die deutsche Ökopartei schlicht <strong>in</strong><br />
die Normalität <strong>zu</strong>rücktritt, <strong>in</strong> den europäischen<br />
Durchschnitt e<strong>in</strong>er Rand- oder<br />
Splitterpartei.<br />
Vom Dosenpfand bis <strong>zu</strong>m Atomausstieg,<br />
von der Anerkennung gesellschaftlicher<br />
Vielfalt <strong>in</strong> Kulturen und Lebensformen<br />
bis <strong>zu</strong>m Mantra der Nachhaltigkeit:<br />
Das grüne Programm ist weit über die rotgrüne<br />
Koalition von Schröder und Fischer<br />
h<strong>in</strong>aus <strong>zu</strong>r normaldeutschen Selbstverständlichkeit<br />
geworden. Mission fulfilled.<br />
Nur schwer ließe sich argumentieren, die<br />
<strong>Deutsche</strong>n hätten die Grünen besonders<br />
nötig, weil sie ökologisch h<strong>in</strong>ten dran<br />
s<strong>in</strong>d. Im Gegenteil, auch unter CDU-geführten<br />
Regierungen steht Deutschland<br />
<strong>in</strong> Naturschutz, Klimapolitik, Energiewende<br />
an der Spitze. Die Mahnungen,<br />
wir täten aber bei weitem noch nicht genug,<br />
wirken etwas lahm, wenn bei unsern<br />
Nachbarn munter Atomstrom produziert<br />
wird – oder ist das vielleicht doch besonders<br />
klimafreundlich? – und die „Energiewende“<br />
der USA <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Frack<strong>in</strong>g-Revolution<br />
besteht, die e<strong>in</strong> zweites fossiles<br />
Zeitalter im 21. Jahrhundert eröffnet.<br />
SICHER, DIE DEUTSCHEN könnten ihre<br />
globale Öko-Führerschaft noch ausbauen,<br />
der Welt mal vormachen, wo es langgeht.<br />
Na ja. Dieser Weg lässt sich, was die Grünen<br />
betrifft, aber ohneh<strong>in</strong> nur mit e<strong>in</strong>er<br />
kle<strong>in</strong>en Kernklientel gehen. Die Mehrheit<br />
will lieber widersprüchlich leben, gerade<br />
<strong>in</strong> den akademischen Mittelschichten.<br />
Das nächste Auto ist e<strong>in</strong> Hybrid, aber<br />
mal schnell für drei Tage <strong>zu</strong> dieser Konferenz<br />
<strong>in</strong> Chicago fliegen – das kann ich mir<br />
doch nicht entgehen lassen! Ebenso wenig<br />
wie die Currywurst am Donnerstag.<br />
Mit der Kernklientel freilich ist es<br />
so e<strong>in</strong>e Sache. Denn im eigenen Basismilieu,<br />
gerade bei den Jüngeren, haben<br />
die Grünen <strong>in</strong> den vergangenen 15 Jahren<br />
schwere Verluste an die L<strong>in</strong>ke h<strong>in</strong>nehmen<br />
müssen. Radikalpazifismus und<br />
Antikapitalismus, e<strong>in</strong> Anti-Establishment-<br />
Affekt, wenn nicht sogar jenes mythische<br />
Anti-System-Denken, das von der Überw<strong>in</strong>dung<br />
e<strong>in</strong>er repressiven Staats- und<br />
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45<br />
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BERLINER REPUBLIK<br />
Debatte<br />
Die Grünen charakterisiert<br />
e<strong>in</strong> Dreieck aus<br />
pragmatischer<br />
Führung, bewegter<br />
Basis und bürgerlicher<br />
Wählerschaft.<br />
Nirgendwo s<strong>in</strong>d<br />
die Diskrepanzen<br />
zwischen diesen<br />
drei Ebenen größer<br />
Wirtschaftsordnung träumt: Bei den Grünen<br />
f<strong>in</strong>det das, personifiziert <strong>in</strong> der Läuterung<br />
Joschka Fischers vom Sponti <strong>zu</strong>m<br />
Staatsmann, vom Turnschuh <strong>zu</strong>m Dreiteiler,<br />
schon längst ke<strong>in</strong>e Heimat mehr.<br />
Was immer langfristig aus der L<strong>in</strong>kspartei<br />
wird – das kann nicht mehr <strong>zu</strong>rückgeholt<br />
<strong>werden</strong>, <strong>zu</strong>mal im großstädtischen Alternativ-<br />
und Protestmilieu. Denn die Ströbeles,<br />
die das widerspruchsvoll <strong>in</strong>tegrieren,<br />
wachsen nicht nach.<br />
Zugleich ist die ökologische Agenda<br />
der Grünen <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund getreten.<br />
Nicht S<strong>in</strong>gle-issue-Partei <strong>zu</strong> bleiben:<br />
Das war lange Zeit e<strong>in</strong>e Vorausset<strong>zu</strong>ng<br />
ihres Erfolgs. Also s<strong>in</strong>d sie <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Menschenrechtspartei geworden, <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Verbraucherpartei – e<strong>in</strong> ganz wesentlicher,<br />
oft unterschätzter Aspekt ihres<br />
Erfolgs <strong>in</strong> den Mittelschichten! – und<br />
<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Partei des Nachhaltigkeits-Ma<strong>in</strong>stream<strong>in</strong>gs,<br />
nicht <strong>zu</strong>letzt <strong>in</strong> antikeynesianischer<br />
Steuer- und F<strong>in</strong>anzpolitik. Ist das<br />
noch l<strong>in</strong>ks? „Nicht l<strong>in</strong>ks, nicht rechts, sondern<br />
vorn“ wollten die Grünen schon <strong>in</strong><br />
ihrer bewegten Gründungszeit se<strong>in</strong>, aber<br />
die Verortung <strong>in</strong> der Mitte trifft es, wenn<br />
überhaupt, <strong>in</strong>zwischen besser, auch wenn<br />
sich die Identität der Partei dagegen tief<br />
und reflexhaft sträubt.<br />
In der Mitte saßen die Grünen im<br />
Bundestag schon seit 1983. Seit dem vorläufigen<br />
Verschw<strong>in</strong>den der FDP stellt sich<br />
die Frage neu, ob die Grünen die neue<br />
liberale Partei se<strong>in</strong> könnten. E<strong>in</strong> grüner<br />
„Freiheitskongress“ im September sollte<br />
diesen Platz vermessen. Aber wie passt<br />
das <strong>zu</strong> der wieder gesteigerten emotionalen<br />
Abscheu, mit der e<strong>in</strong> Großteil der<br />
Parteiführung auf den Gedanken an e<strong>in</strong>e<br />
Bundeskoalition mit der liberalisierten<br />
Merkel-Union reagiert?<br />
Denn irgendwo müssen die Optionen<br />
ja liegen. Die Bilanz der Grünen aus drei<br />
Jahrzehnten mag noch darüber h<strong>in</strong>wegtäuschen,<br />
dass <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e Sackgasse<br />
droht. Die Beteiligung an Landesregierungen<br />
ist Rout<strong>in</strong>e geworden; hier droht<br />
das Verhältnis <strong>zu</strong>r SPD eher all<strong>zu</strong> symbiotisch<br />
<strong>zu</strong> <strong>werden</strong>: Welcher Abstand liegt<br />
zwischen Dachlatten-Börner und Turnschuh-Fischer<br />
<strong>in</strong> Hessen 1985 – und dem<br />
nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen Kuscheln von<br />
Kraft und Löhrmann heute!<br />
Was ist für die Grünen besser? Das<br />
gegenwärtige Torkeln kommt jedenfalls<br />
auch aus der noch nicht verarbeiteten<br />
E<strong>in</strong>sicht, dass e<strong>in</strong>e zweite rot-grüne Koalition<br />
im Bund sich nicht naturgesetzlich<br />
wieder e<strong>in</strong>stellen wird, weil die<br />
Menschen die neoliberale Merkel-Politik<br />
irgendwann satthätten und das Lager<br />
des Fortschritts, irgendwie im S<strong>in</strong>ne<br />
des Hegel’schen Weltgeists, doch wieder<br />
obsiegen muss. Die Grünen sollten gewarnt<br />
se<strong>in</strong>: Auch die sozialliberale Koalition<br />
gab es nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal. Und<br />
der Traum von e<strong>in</strong>er rot-rot-grünen Regierung<br />
ist <strong>in</strong> den letzten Monaten für alle<br />
Klarsichtigen bei SPD und Grünen zerplatzt,<br />
jedenfalls solange die L<strong>in</strong>ke außenpolitisch<br />
handlungsunfähig ist und<br />
sich mehrheitlich der simplen E<strong>in</strong>sicht<br />
verweigert, dass die DDR e<strong>in</strong>e Diktatur<br />
war. Nicht nur die Anhänger der Grünen<br />
haben <strong>in</strong>zwischen verdrängt, dass<br />
es vor e<strong>in</strong>em Jahr e<strong>in</strong>e Alternative <strong>zu</strong>r<br />
ungeliebten Elefantenkoalition mit M<strong>in</strong>imalopposition<br />
gegeben hätte. Mit wachsendem<br />
Abstand wird noch deutlicher<br />
<strong>werden</strong>, welche historische Chance die<br />
Grünen damals fahrlässig verspielt haben.<br />
DIE GRÜNEN s<strong>in</strong>d aus den Bewegungen<br />
gewachsen und im Bürgertum längst angekommen.<br />
Den Spagat zwischen diesen<br />
beiden Polen haben sie lange und e<strong>in</strong>drucksvoll<br />
gehalten: Chapeau, wie sie<br />
seit den achtziger Jahren <strong>zu</strong> der Partei<br />
der neuen, moralisch-sozialen Mittelklasse<br />
<strong>in</strong> der Bundesrepublik geworden<br />
s<strong>in</strong>d. Auch das spricht dafür, dass<br />
die e<strong>in</strong>stige Milieupartei <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Volkspartei<br />
geworden ist.<br />
Aber die sozialen Distanzen lassen<br />
sich nicht beliebig überbrücken. Berl<strong>in</strong>-Zehlendorf<br />
und Friedrichsha<strong>in</strong>, Bremen-Oberneuland<br />
und -Viertel, die SUV-<br />
Mama mit Ökogewissen und die l<strong>in</strong>ke<br />
Student<strong>in</strong> mit autonomen Sympathien:<br />
Das übersteigt noch die Spannweite der<br />
beiden wesentlich größeren Volksparteien.<br />
Es kann auf Dauer nicht gut gehen.<br />
Ähnliches gilt für die vertikale Ebene<br />
der Grünen. Dass sich die Ges<strong>in</strong>nung der<br />
Mitglieder, des aktiven Kerns von derjenigen<br />
der Wähler unterscheidet und <strong>in</strong> der<br />
Regel dezidierter und „strammer“ ist, f<strong>in</strong>det<br />
man auch bei SPD und CDU. Aber nirgendwo<br />
s<strong>in</strong>d die Diskrepanzen zwischen<br />
den Ebenen so groß wie bei den Grünen<br />
und ihrem charakteristischen Dreieck aus<br />
pragmatischer Führung, bewegter Basis<br />
und bürgerlicher Wählerschaft.<br />
46<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
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BERLINER REPUBLIK<br />
Debatte<br />
Fast überall <strong>in</strong> der westlichen Welt<br />
s<strong>in</strong>d Parteien wie die Grünen entstanden,<br />
aber fast nur <strong>in</strong> Deutschland s<strong>in</strong>d sie groß<br />
geworden. Nach mehr als drei Jahrzehnten<br />
ist klar: Das ist nicht bloß zeitliche<br />
Verzögerung, sondern bleibt e<strong>in</strong> Strukturunterschied.<br />
Ausnahmen bilden der<br />
deutsche Sprach- und Kulturraum, vor<br />
allem Österreich, sowie Frankreich und<br />
Schweden. Dabei s<strong>in</strong>d die deutschen Grünen<br />
ohne den Grenzgänger Daniel Cohn-<br />
Bendit viel leichter vorstellbar als die<br />
französischen.<br />
Was ist der geme<strong>in</strong>same Nenner<br />
Frankreichs, Schwedens und Deutschlands?<br />
Gewiss ke<strong>in</strong>e große Ähnlichkeit<br />
<strong>in</strong> der ökologischen Kultur, auch nicht im<br />
Profil der l<strong>in</strong>ken und alternativen Bewegungen.<br />
Eher ist es das Ideal e<strong>in</strong>es fürsorglichen<br />
Staates, die Präferenz für e<strong>in</strong>en<br />
sozialpolitischen Etatismus, e<strong>in</strong>e<br />
Neigung <strong>zu</strong>m rousseauistischen Demokratieideal:<br />
Es muss da doch dieses moralisch<br />
überwölbende Geme<strong>in</strong>wohl geben,<br />
das den Willen und die Vorstellungskraft<br />
des E<strong>in</strong>zelnen übersteigt! So gesehen ist<br />
es ke<strong>in</strong> Zufall, dass die Grünen nicht nur<br />
im übrigen Europa weith<strong>in</strong>, man kann<br />
es nicht anders sagen, e<strong>in</strong>e Splitterpartei<br />
geblieben s<strong>in</strong>d, sondern vor allem <strong>in</strong><br />
den neuen Demokratien Ostmitteleuropas<br />
ke<strong>in</strong>e Wurzeln geschlagen haben. Die<br />
Erben von Opposition und Bürgerrechtsbewegung<br />
haben sich dort parteipolitisch<br />
anders formiert – und sich, wie <strong>in</strong> Polen,<br />
nicht als Marg<strong>in</strong>alisierte verstanden, sondern<br />
als zentrale Akteure von liberaler<br />
Demokratie und Marktwirtschaft.<br />
UMGEKEHRT ZEIGT das Beispiel der USA,<br />
dass ökologische und andere „grüne“<br />
Ideen wie Menschenrechte und Konsumentenschutz<br />
parteipolitisch auch anders<br />
andocken können. In Amerika stehen<br />
sie unter dem weiten Schirm der<br />
Demokraten. Sie f<strong>in</strong>den sich dort gewiss<br />
am l<strong>in</strong>ken Flügel und häufig <strong>in</strong> Dissidenz<br />
und <strong>zu</strong>letzt immer un<strong>zu</strong>friedener<br />
mit Obama. Aber auch das funktioniert,<br />
obwohl (oder gerade weil) die USA die<br />
Alternativ- und Ökobewegungen überhaupt<br />
erst hervorgebracht haben, die<br />
global ohne die Bürgerrechtsbewegung<br />
ebenso wenig denkbar s<strong>in</strong>d wie ohne die<br />
frühe Konsumentenorientierung der amerikanischen<br />
Gesellschaft. (Ja, die Chlorhühnchen<br />
s<strong>in</strong>d nicht alles!) Also war die<br />
Abspaltung der Anhängerschaft von der<br />
SPD doch nicht so schicksalhaft, wie die<br />
Sozialdemokraten seit langem selber <strong>zu</strong><br />
glauben sche<strong>in</strong>en?<br />
Die Grünen markieren e<strong>in</strong>en deutschen<br />
Sonderweg – nicht nur des Parteiensystems<br />
im engeren S<strong>in</strong>ne, sondern e<strong>in</strong>er<br />
tiefen Prägung politischer Kultur im<br />
letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Was<br />
macht diesen Weg aus? Jenseits aller Themen<br />
und Flügelkämpfe stehen die Grünen<br />
für e<strong>in</strong> ges<strong>in</strong>nungsethisches Politikpr<strong>in</strong>zip,<br />
das <strong>zu</strong>gleich Ausdruck e<strong>in</strong>es säkularisierten<br />
Protestantismus ist: Sie s<strong>in</strong>d<br />
groß geworden als Vertreter moralischer<br />
Politik, e<strong>in</strong>er Politik des schlechten Gewissens.<br />
<strong>Wie</strong> wohl nirgendwo sonst haben<br />
sie – und das ist e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende<br />
Leistung – das fundamentale, kulturelle<br />
Koord<strong>in</strong>atensystem von Politik verschoben:<br />
von e<strong>in</strong>er Politik der Interessen <strong>zu</strong><br />
e<strong>in</strong>er Politik der Anwaltschaft für Dritte,<br />
für die bedrohte Natur, für die noch nicht<br />
geborenen Generationen. In Großbritannien,<br />
<strong>in</strong> Italien, auch <strong>in</strong> Frankreich ist das<br />
unvorstellbar, weil Politik dort viel stärker<br />
<strong>in</strong>teressengetrieben bleibt, <strong>in</strong> sozialen<br />
Lagen und Klassenkonflikten wurzelt.<br />
Unter den größeren, bevölkerungsreichen<br />
Ländern verfügen nur die USA über e<strong>in</strong>e<br />
„moralische Mittelklasse“ von ähnlicher<br />
Durchschlagskraft wie Deutschland. Und<br />
nur <strong>in</strong> Deutschland hat sie ihre Heimat <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Partei, den Grünen, gefunden.<br />
Dieser deutsche Sonderweg wurzelt<br />
<strong>in</strong> den Erfahrungen der siebziger Jahre.<br />
Die Ölkrise, die vom Club of Rome verkündeten<br />
„Grenzen des Wachstums“, die<br />
sonntäglichen Fahrverbote: Nirgendwo<br />
hat das so tiefe Spuren h<strong>in</strong>terlassen wie <strong>in</strong><br />
der politischen Kultur der Bundesrepublik.<br />
Vom „Ende der Zuversicht“ sprechen<br />
die Historiker <strong>in</strong>zwischen beim Blick auf<br />
diese Zäsur. Fortschrittsbewusstse<strong>in</strong> und<br />
Machbarkeitsideen erhielten damals <strong>in</strong><br />
der ganzen westlichen Welt e<strong>in</strong>en Dämpfer,<br />
doch <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em regelrechten Kulturbruch<br />
kam es nur <strong>in</strong> Westdeutschland.<br />
Dieser Bruch nährte die Grünen.<br />
Aber woher kam diese besondere<br />
Kehrtwende, <strong>in</strong> der sich Fortschrittsskepsis<br />
mit e<strong>in</strong>em neuen Ethos der Behutsamkeit<br />
und treuhänderischen Verantwortung<br />
– „wir haben die Erde von<br />
unseren K<strong>in</strong>dern nur geborgt“ – verband?<br />
Verstehbar ist das – und s<strong>in</strong>d deshalb<br />
auch die Grünen <strong>in</strong> Deutschland – nur<br />
DIE GRÜNEN<br />
1980<br />
GRÜNDUNG<br />
Im Januar gründen sich auf e<strong>in</strong>em<br />
Bundesparteitag <strong>in</strong> Karlsruhe die<br />
Grünen. Schon im März sitzen sie <strong>in</strong><br />
Baden-Württemberg im Landtag.<br />
1983<br />
BUNDESTAG<br />
5,6 Prozent der Stimmen: 28 Abgeordnete<br />
ziehen <strong>in</strong>s Bonner Parlament<br />
e<strong>in</strong>, darunter s<strong>in</strong>d Petra Kelly,<br />
Otto Schily und Joschka Fischer.<br />
1985<br />
TURNSCHUHE<br />
In Hessen wird die erste rot-grüne<br />
Landesregierung gebildet. Joschka<br />
Fischer wird als Umweltm<strong>in</strong>ister<br />
vereidigt – <strong>in</strong> Turnschuhen.<br />
1990<br />
BÜNDNIS 90<br />
E<strong>in</strong> Zusammenschluss von Bürgerrechtlern<br />
tritt <strong>zu</strong>r ersten freien<br />
Volkskammerwahl an. 1993 fusionieren<br />
Bündnis 90 und Grüne.<br />
1998<br />
ROT-GRÜN<br />
SPD und Grüne erreichen e<strong>in</strong>e<br />
Mehrheit im Bundestag und lösen<br />
so Helmut Kohl nach 16 Jahren<br />
ab. Joschka Fischer wird Außenm<strong>in</strong>ister<br />
und Vizekanzler.<br />
2011<br />
KRETSCHMANN<br />
In Baden-Württemberg verdrängt<br />
Grün-Rot die CDU. W<strong>in</strong>fried<br />
Kretschmann wird erster<br />
M<strong>in</strong>isterpräsident se<strong>in</strong>er Partei.<br />
2013<br />
WAHLSCHLAPPE<br />
8,4 Prozent bei der Bundestagswahl:<br />
gemessen an den Erfolgen<br />
<strong>in</strong> den Ländern und den Umfragen<br />
e<strong>in</strong> herber Rückschlag.<br />
48<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Foto: Picture Alliance/DPA; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
als e<strong>in</strong>e Langzeitreaktion auf den Nationalsozialismus.<br />
Der Nationalsozialismus<br />
war radikalisierte Sachlichkeit bis <strong>in</strong> den<br />
Judenmord h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, er war radikale Ausblendung<br />
von Moral <strong>zu</strong>gunsten von „Sekundärtugenden“,<br />
er war die Übersteigerung<br />
e<strong>in</strong>er Idee von Moderne, die – dar<strong>in</strong><br />
dem Stal<strong>in</strong>ismus ähnlich – alles realisieren<br />
<strong>zu</strong> können glaubte, ohne Rücksicht<br />
auf Verluste. Die Grünen formulierten<br />
für zwei Generationen, von den Achtundsechzigern<br />
bis <strong>zu</strong> den Friedens- und<br />
Umweltbewegten der achtziger Jahre, e<strong>in</strong>en<br />
Gegenentwurf <strong>zu</strong> alldem. Nicht <strong>zu</strong>fällig<br />
decken sich Aufstieg und Erfolg<br />
der Grünen fast exakt mit jener Zeit, <strong>in</strong><br />
der die <strong>Deutsche</strong>n e<strong>in</strong> neues Verhältnis<br />
<strong>zu</strong>r Geschichte des Nationalsozialismus<br />
und des Holocaust fanden. 1979 traten<br />
die Grünen bei den ersten Direktwahlen<br />
<strong>zu</strong>m Europäischen Parlament erstmals <strong>in</strong><br />
Ersche<strong>in</strong>ung; 1979 ergriff und verstörte<br />
die amerikanische TV-Serie „Holocaust“.<br />
2005 wurde das Denkmal für die ermordeten<br />
Juden Europas eröffnet; gleichzeitig<br />
g<strong>in</strong>g die rot-grüne Koalition <strong>zu</strong> Ende.<br />
Vieles ist nicht <strong>zu</strong> Ende, aber <strong>in</strong> Normalität<br />
überführt. Das macht es den Grünen<br />
bereits schwer, Führungspersonal mit<br />
ausstrahlungsstarker Biografie <strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den.<br />
Sie waren im Westen, mit Kelly, Fischer,<br />
Tritt<strong>in</strong>, Roth, <strong>in</strong> der Achtundsechziger-Bewegung<br />
verankert; im Osten, mit<br />
Bündnis 90, <strong>in</strong> der Bürgerrechtsbewegung<br />
der DDR. Danach wird es schwierig.<br />
<strong>Deutsche</strong> Sonderwahrnehmungen bestehen<br />
fort, die Empfänglichkeit für moralische<br />
Politik und für apokalyptische Ängste.<br />
Nur bei uns vermag die Er<strong>in</strong>nerung an Fukushima<br />
den Tod von 16 000 Menschen <strong>in</strong><br />
den Tsunamiwellen völlig <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund<br />
<strong>zu</strong> schieben. Aber solche Haltungen<br />
haben sich längst diffus verallgeme<strong>in</strong>ert<br />
und von den Grünen abgelöst. Noch bestehen<br />
manche ihrer Bastionen fort, etwa<br />
der Rückhalt <strong>in</strong> den akademisch-urbanen<br />
Mittelschichten, besonders im Universitätsmilieu.<br />
Aber auch hier bröckelt es. Die<br />
Grünen haben, auf paradoxe Weise, die<br />
kulturelle Hegemonie <strong>in</strong> Deutschland <strong>zu</strong>gleich<br />
gewonnen und wieder verloren. Wir<br />
schreiben das Ende des grünen Zeitalters.<br />
FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… ob es e<strong>in</strong> P<strong>in</strong>k- und e<strong>in</strong> Pistolen-Gen gibt<br />
Simone de Beauvoir behauptete: „Als Frau wird man nicht geboren,<br />
man wird da<strong>zu</strong> gemacht.“ Auch ich war lange davon<br />
überzeugt. Genau so lange, bis ich K<strong>in</strong>der bekam – e<strong>in</strong>en Jungen<br />
und e<strong>in</strong> Mädchen. Genderbewusst achteten me<strong>in</strong> Mann und ich<br />
auf größtmögliche Gleichbehandlung – und scheiterten: Mit anderthalb<br />
forderte unsere Tochter e<strong>in</strong>e „p<strong>in</strong>ke Drumpfhose“, während<br />
unser vierjähriger Sohn jeden Stock als Waffe e<strong>in</strong>setzte und se<strong>in</strong>e<br />
Kuscheltiere auf den Gartengrill legte.<br />
Auf die Gefahr h<strong>in</strong>, mir den Hass me<strong>in</strong>er fem<strong>in</strong>istischen Schwestern<br />
<strong>zu</strong><strong>zu</strong>ziehen: Inzwischen b<strong>in</strong> ich überzeugt, dass unsere Geschlechteridentität<br />
<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em höheren Anteil angeboren als anerzogen<br />
ist. Männliche und weibliche Gehirne s<strong>in</strong>d unterschiedlich geschaltet<br />
und unterschiedlichen hormonellen E<strong>in</strong>flüssen unterworfen. Ke<strong>in</strong><br />
Wunder, wenn dadurch auch unterschiedliche kognitive Fähigkeiten<br />
und Vorlieben entstehen. Natürlich gibt es soziale und kulturelle E<strong>in</strong>flüsse,<br />
doch die verstärken oft nur, was ohneh<strong>in</strong> angelegt ist.<br />
E<strong>in</strong>e Langzeituntersuchung mit 34 000 Männern und Frauen,<br />
die im Kibbuz geboren wurden und dort ihr Leben verbrachten, belegt<br />
dies: Zur Kibbuz-Ideologie gehörten geschlechtsneutrale Familien-<br />
und Arbeitsrollen. Männer und Frauen sollten alle anfallenden<br />
Aufgaben ohne Unterschiede erfüllen. E<strong>in</strong>e Weile klappte das,<br />
aber nach nicht mal drei Generationen war der Anspruch des Kollektivs<br />
gescheitert: 80 Prozent der Frauen arbeiteten wieder <strong>in</strong> Haushalt,<br />
Schule und K<strong>in</strong>derbetreuung, die Männer dagegen auf dem Feld,<br />
beim Bau und <strong>in</strong> der Industrie. Und warum? Weil alle es so wollten.<br />
Und hier, Simone, nimm das: Nach e<strong>in</strong>er US-Studie haben Paare,<br />
die ihre häuslichen Pflichten gerecht aufteilen, mehr Sex. Den meisten<br />
Sex haben aber die Paare, bei denen die Aufteilung weitgehend<br />
nach der traditionellen Rollenverteilung erfolgt, die Frauen also e<strong>in</strong>kaufen,<br />
kochen und dekorieren, die Männer den Müll runterbr<strong>in</strong>gen,<br />
das Auto reparieren und die Hecke schneiden. Was sagst du jetzt?<br />
Ich sage: Männer und Frauen s<strong>in</strong>d verschieden, und das ist auch<br />
gut so. Mit den Unterschieden <strong>werden</strong> aber immer noch Ungerechtigkeiten<br />
begründet. Und da halte ich es mit Simone de Beauvoir: „Der<br />
Frau bleibt ke<strong>in</strong> anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung <strong>zu</strong> arbeiten.“<br />
PAUL NOLTE ist Professor für<br />
Neuere Geschichte und<br />
Zeitgeschichte an der Freien<br />
Universität Berl<strong>in</strong><br />
AMELIE FRIED ist Fernsehmoderator<strong>in</strong> und Bestsellerautor<strong>in</strong>.<br />
Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />
sonst an Fragen aufwirft<br />
49<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Kommentar<br />
TATORT<br />
DEUTSCHE<br />
BANK<br />
Die Ereignisse um das<br />
größte Kredit<strong>in</strong>stitut des<br />
Landes gleichen längst e<strong>in</strong>er<br />
Krimiserie um Geld und<br />
Gier. Die neueste Folge:<br />
Ackermanns Geständnis<br />
Von<br />
FRANK A. MEYER<br />
Es ist die ewig gleiche Geschichte. Man kennt sie<br />
längst. Trotz aller neuen Wendungen. Die Frage<br />
nach dem S<strong>in</strong>n, darüber überhaupt noch e<strong>in</strong> Wort<br />
<strong>zu</strong> verlieren, liegt auf der Hand.<br />
Und doch, und doch, auf seltsame Weise e<strong>in</strong>t dieser<br />
Fortset<strong>zu</strong>ngsroman die Nation. Die unendliche Geschichte<br />
betrifft das ganze Land – sie trifft das Land.<br />
Wenn es e<strong>in</strong> reales Pendant <strong>zu</strong>m „Tatort“ gäbe, es<br />
wäre: die <strong>Deutsche</strong> Bank.<br />
Im Gegensatz <strong>zu</strong>m „Tatort“ im Fernsehen kommt<br />
der Plot dieses Krimis ohne Mord aus. Er handelt –<br />
gottlob! – lediglich von Gier und Geld, von Tricks und<br />
Täuschung, von Mauschelei und Manipulation, von Lug<br />
und Trug. Dies alles allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> kolossaler Dimension.<br />
E<strong>in</strong> Thriller von Weltformat.<br />
Mehr als 6000 – sechstausend! – Anklagen, Strafverfahren,<br />
Rechtsstreitigkeiten und staatsanwaltliche<br />
Ermittlungen liefern das Skript. Die Bank zahlte für<br />
das Debakel bereits Milliarden. Für drohende Zahlungen<br />
hat sie vorsorglich mehr als fünf Milliarden Euro<br />
e<strong>in</strong>kalkuliert.<br />
<strong>Wie</strong> konnte das geschehen?<br />
Man muss die Helden fragen, die Stars, die<br />
Hauptdarsteller, die den Zuschauer verlässlich Folge<br />
für Folge durch die Tatortstaffeln führen: Josef (Joe)<br />
Ackermann, Boss der <strong>Deutsche</strong>n Bank bis 2012, sowie<br />
se<strong>in</strong>e Mittäter Jürgen Fitschen und Anshu Ja<strong>in</strong>, heute<br />
Ackermanns Nachfolger als oberste Chefs des Instituts.<br />
Mittäter? Welch böses Wort! Gelten die Prozesse<br />
doch nahe<strong>zu</strong> ausschließlich unteren Chargen: Das<br />
Strafgesetzbuch geht von konkreten Rechtsbrüchen<br />
aus. Justiziable Taten aber s<strong>in</strong>d den höchsten Herren<br />
der Bank offenbar kaum an<strong>zu</strong>lasten.<br />
Zwischen oben, wo die Macht hockt, und unten,<br />
wo die Mitarbeiter sich die F<strong>in</strong>ger schmutzig machen,<br />
liegen bei der <strong>Deutsche</strong>n wie bei allen Großbanken<br />
viele schützende Stockwerke.<br />
Was können denn auch Papst und Bischöfe für ihre<br />
fehlbaren Priester?<br />
Jetzt aber hat der frühere Oberboss der <strong>Deutsche</strong>n<br />
Bank für e<strong>in</strong>en Augenblick den geheimen Tresor geöffnet<br />
und mit e<strong>in</strong>em Interview im Handelsblatt <strong>zu</strong>r<br />
Erhellung der breiten Öffentlichkeit beigetragen. Joe<br />
Ackermann, der Schweizer Oberst aus Mels im Sarganserland,<br />
erklärt <strong>in</strong> kurzen Sätzen se<strong>in</strong>e Sicht der<br />
düsteren D<strong>in</strong>ge:<br />
„Niemand hat die F<strong>in</strong>anzkrise wohl <strong>in</strong> ihrer ganzen<br />
Wucht vorhergesehen. Aber dass wir <strong>in</strong> bestimmten<br />
Feldern auf dem falschen Weg waren, haben wir<br />
damals durchaus diskutiert, nicht nur im Vorstand der<br />
<strong>Deutsche</strong>n Bank. Wir wussten, dass die Risikoprämien<br />
<strong>zu</strong> niedrig und die Liquiditätspolster viel <strong>zu</strong> üppig waren.<br />
Wir waren uns sogar ziemlich e<strong>in</strong>ig darüber, dass<br />
die Vergütung jeden Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Realität verloren hatte.<br />
Aber e<strong>in</strong> Problem <strong>zu</strong> erkennen ist etwas anderes, als<br />
<strong>zu</strong> versuchen, es als E<strong>in</strong>zelner <strong>zu</strong> ändern. Da können<br />
Sie schnell untergehen.“<br />
Fürwahr, das Geständnis hat Substanz: Alles kommen<br />
sehen, alles gewusst haben, trotzdem ohne jeden<br />
Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Realität die eigene Tasche füllen und<br />
e<strong>in</strong>fach weitermachen – um bloß nicht unter<strong>zu</strong>gehen!<br />
Kur<strong>zu</strong>m: das private, persönliche Wohl <strong>in</strong> Form von<br />
Macht und Moneten höher gewichten als das Wohl von<br />
Bank und Bürgern.<br />
Ins <strong>Deutsche</strong> übersetzt heißt das: verantwortungslos<br />
handeln.<br />
Doch auch <strong>zu</strong>m Thema Verantwortung macht Joe<br />
Ackermann e<strong>in</strong>e Aussage:<br />
„Aber natürlich haben die Banken den größten Teil<br />
der Verantwortung <strong>zu</strong> tragen. Was die Schuld betrifft,<br />
muss man zwischen verschiedenen Kategorien unterscheiden,<br />
f<strong>in</strong>de ich: Da gibt es <strong>zu</strong>m e<strong>in</strong>en die unverzeihlichen,<br />
ja krim<strong>in</strong>ellen Machenschaften wie etwa<br />
die Manipulation des Libor-Z<strong>in</strong>ssatzes. Wenn das so<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
50<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
war, müssen die Schuldigen <strong>zu</strong>r Rechenschaft gezogen<br />
<strong>werden</strong>. Dann gibt es die D<strong>in</strong>ge, die zwar nicht ungesetzlich<br />
s<strong>in</strong>d, die sich aber für e<strong>in</strong>en ehrbaren Kaufmann<br />
nicht geziemen. Und schließlich unterscheide ich<br />
noch e<strong>in</strong>e dritte Ebene. Sie betrifft die Qualität von<br />
F<strong>in</strong>anzprodukten und F<strong>in</strong>anzdienstleistungen. Diese<br />
entsprach <strong>in</strong> den Jahren vor der Krise teilweise nicht<br />
mehr dem, wie man das heute sieht und verlangt.“<br />
In allen Fehlerkategorien, die Joe Ackermann säuberlich<br />
auflistet, ist die <strong>Deutsche</strong> Bank weltführend.<br />
Und das Schlamassel entwickelte sich <strong>zu</strong> Zeiten se<strong>in</strong>er<br />
Allmacht über Tun und Lassen <strong>in</strong> den Frankfurter<br />
Geldtürmen.<br />
Sogar die Lust an solcher Macht räumt er e<strong>in</strong>: „Ich<br />
gebe jedenfalls lieber den Ton an, als mich <strong>zu</strong> fügen.“<br />
Ja, Joe Ackermann hat den Ton angegeben, zehn<br />
Jahre lang, und zwar nicht nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bank und<br />
nicht nur <strong>in</strong> Deutschland, sondern weit darüber h<strong>in</strong>aus<br />
<strong>in</strong> der globalisierten F<strong>in</strong>anzwirtschaft, allwo sich der<br />
Adel der Macht- und Mammon- und Marktmonarchie<br />
gern als „Masters of the Universe“ umschmeicheln ließ.<br />
Den Wirtschaftsführern die Verantwortung? Den<br />
Mitarbeitern die Schuld?<br />
Lässt sich Schuld von Verantwortung trennen?<br />
Die Volksweisheit weiß: „Der Fisch st<strong>in</strong>kt vom<br />
Kopfe her.“ Ist nicht alles, was die <strong>Deutsche</strong> Bank<br />
heimsucht, heute und morgen und wohl auch noch<br />
übermorgen, Ausgeburt und Nachgeburt e<strong>in</strong>er jahrelang<br />
hochgepriesenen Führungskultur? Nichts anderes<br />
beschreibt die E<strong>in</strong>lassung des Josef Ackermann.<br />
Was aber bedeutet dann der Begriff Verantwortung?<br />
Er sollte – er muss – bedeuten: Konsequenzen<br />
für die Anführer, und zwar schmerzliche Konsequenzen,<br />
Sühne also auch ohne juristischen Schuldspruch.<br />
Was könnte dann e<strong>in</strong>e solche Sühne se<strong>in</strong>? Für Manager,<br />
die sich maßlos bereichert haben und ihre horrende<br />
Honorierung stets rechtfertigten mit ihrer Verantwortung<br />
für Wohl und Wehe des Unternehmens,<br />
der Kunden, der Arbeitsplätze, ja des ganzen Landes –<br />
für solche Manager gibt es ke<strong>in</strong>e andere Sühne als die<br />
Rückzahlung der kassierten Erfolgsboni.<br />
Ja, Ackermann, Fitschen und Ja<strong>in</strong> müssten tief <strong>in</strong><br />
die Taschen greifen, die sie sich gefüllt haben, als sie<br />
<strong>zu</strong>m Großerfolg erklärten, was sich heute als desaströser<br />
Misserfolg entpuppt.<br />
E<strong>in</strong> Schweizer Großbanker beantwortete kürzlich<br />
die Frage, was vom großen Hype se<strong>in</strong>er Branche geblieben<br />
sei, nachdem der große Crash dazwischenfuhr:<br />
„Null – wenn wir Glück haben.“<br />
Zu ergänzen wäre: Geblieben s<strong>in</strong>d Milliarden für<br />
die Verantwortlichen des Crashs.<br />
Geblieben s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Deutschland Jürgen Fitschen<br />
und Anshu Ja<strong>in</strong> als Chefs der <strong>Deutsche</strong>n Bank.<br />
FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber der<br />
politischen Sendung „Vis-à-vis“ <strong>in</strong> 3sat<br />
Studio 9<br />
Kultur und Politik<br />
am Morgen<br />
Mo bis Fr<br />
5:07 bis 9:00<br />
Das Feuilleton im Radio.<br />
bundesweit und werbefrei<br />
DAB+, Kabel, Satellit, App, deutschlandradiokultur.de
Ihr K<strong>in</strong>d: Carl, e<strong>in</strong><br />
Jahr alt. Ihre Themen:<br />
Mehr Zeit für Eltern,<br />
K<strong>in</strong>dermediz<strong>in</strong>, Inklusion<br />
52<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
DAS KIND IST<br />
DIE POLITIK<br />
Von PETRA SORGE<br />
Dagmar Schmidt zog als erste Mutter e<strong>in</strong>es<br />
Babys mit Downsyndrom <strong>in</strong> den Bundestag e<strong>in</strong>.<br />
<strong>Cicero</strong> stellte sie vor. Was wurde aus ihr?<br />
Unsere Reporter<strong>in</strong> hat sie e<strong>in</strong> Jahr lang begleitet<br />
Fotos BERND HARTUNG<br />
53<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Als Dagmar Schmidt, frisch gewählt, im September<br />
2013 den Bundestag betritt, die Broschüren<br />
und Steuerrechtsmäppchen für Neuparlamentarier<br />
entgegennimmt, da ist völlig unklar, was aus ihr<br />
<strong>werden</strong> wird. In welchem Ausschuss sie landet – unsicher.<br />
Ihr Büro – muss erst die FDP freiräumen. Ihr<br />
Schreibtisch – e<strong>in</strong>e weiße Beistellkommode. Ihre politische<br />
Zukunft – vage.<br />
Sie denkt an ihren Sohn Carl. Er ist sechs Monate<br />
alt. Das Chromosom 21 liegt bei ihm dreimal vor, er<br />
hat Trisomie 21, das Downsyndrom. H<strong>in</strong><strong>zu</strong> kommt,<br />
nicht ungewöhnlich für diesen Gendefekt, e<strong>in</strong> Herzfehler,<br />
er ist lebensgefährlich. An diesem Herbsttag<br />
<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> weiß Dagmar Schmidt nicht, ob ihr Sohn es<br />
schaffen wird.<br />
Zwölf Monate später hat sie mehr erreicht, als<br />
viele andere Neul<strong>in</strong>ge im Parlament <strong>in</strong> so kurzer Zeit<br />
erwarten können. Sie gehört dem Ausschuss für Arbeit<br />
und Soziales an, hier <strong>werden</strong> die Gründungsthemen<br />
der SPD verhandelt. Sie sitzt sogar im Bundesvorstand<br />
der Partei. Und Carls Zustand ist stabil, er<br />
ist jetzt anderthalb.<br />
Passen e<strong>in</strong> Down-K<strong>in</strong>d und die Politik <strong>zu</strong>sammen?<br />
Auch auf ihre wichtigste Frage hat Schmidt e<strong>in</strong>e Antwort<br />
gefunden. E<strong>in</strong>e, die alle anderen löst: Das Down-<br />
K<strong>in</strong>d ist die Politik. Es ist ihr Antrieb, ihr Thema, auch<br />
ihr Vorteil. Ihr S<strong>in</strong>n.<br />
Dagmar Schmidt, 41 Jahre alt, ist Berufspolitiker<strong>in</strong>.<br />
Sie arbeitete sich von den Jusos nach oben. Neben<br />
dem Geschichtsstudium machte sie Parteiarbeit. Dann:<br />
Mitarbeiter<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es hessischen Landtagsabgeordneten,<br />
der SPD-Landesgeschäftsstelle, der Landtagsfraktion.<br />
Dann die Nom<strong>in</strong>ierung für die Bundestagswahl. Es ist<br />
die Art Laufbahn, die heute öfter vorkommt als früher.<br />
Aus ihr geht jener Typ von Politikern hervor, denen<br />
vorgeworfen wird, dass sie nur die Politik kennen,<br />
aber nicht das Leben. Über Dagmar Schmidt konnte<br />
man schon behaupten, dass ihre Erfahrungswelt e<strong>in</strong>geschränkt<br />
ist. Aber nun macht gerade sie Politik aus<br />
Erlebnissen heraus, teilweise aus existenziellen.<br />
E<strong>in</strong>erseits hat es Dagmar Schmidt leichter als andere<br />
berufstätige Frauen: Als Abgeordnete kann sie sich<br />
ihre Arbeitszeit freier e<strong>in</strong>teilen und sich Hilfe von außen<br />
f<strong>in</strong>anziell leisten. Andererseits hat sie es schwerer:<br />
Als Mandatsträger<strong>in</strong> hat sie, anders als reguläre<br />
Arbeitnehmer<strong>in</strong>nen, ke<strong>in</strong>en Anspruch auf Elternzeit.<br />
Gewählt ist gewählt, e<strong>in</strong>en Vertreter gibt es nicht. „Ich<br />
kann jeder Mutter nur empfehlen, Abgeordnete <strong>zu</strong><br />
<strong>werden</strong>.“ Sie lässt den ironischen Satz e<strong>in</strong>e Weile wirken.<br />
„Nee, Quatsch. Es ist anstrengend.“<br />
Die Erfahrung treibt sie an, etwas <strong>zu</strong> tun. Den<br />
Vorstoß der 32-Stunden-Woche, mit dem die Familienm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />
Manuela Schwesig von der SPD die Union<br />
aufbr<strong>in</strong>gt, macht sich Dagmar Schmidt <strong>zu</strong> eigen. Eltern<br />
brauchen Flexibilität, sie erlebt das jetzt. Es ist<br />
ihre Botschaft geworden. In ihrem hessischen Wahlkreis<br />
Lahn-Dill hört sie sich die Sorgen von K<strong>in</strong>dergärtner<strong>in</strong>nen<br />
an. Im März wird sie auch noch Vorsitzende<br />
der Arbeiterwohlfahrt Wetzlar, Träger<strong>in</strong> vieler<br />
K<strong>in</strong>dertagesstätten.<br />
Das Vere<strong>in</strong>barkeitsthema trägt sie auch <strong>in</strong> die<br />
Fraktion, <strong>in</strong> der sie die eigenen Leute durchknetet. Mit<br />
e<strong>in</strong>er Fraktionskolleg<strong>in</strong>, die gerade e<strong>in</strong>en Kugelbauch<br />
hat – die K<strong>in</strong>derbeauftragte Susann Rüthrich – gründet<br />
sie Anfang April e<strong>in</strong>en SPD-Gesprächskreis. Erst e<strong>in</strong>mal<br />
geht es nur um Mandatsträger und Ehrenamtliche<br />
<strong>in</strong> der Politik. Schmidt sagt: „Wenn wir nicht e<strong>in</strong>mal<br />
unseren eigenen Müttern und Vätern helfen können,<br />
wie sollen wir das dann für alle anderen tun?“<br />
In den ersten Monaten im Bundestag liest Schmidt<br />
nicht nur die Unterlagen aus dem Sozialausschuss.<br />
Sie studiert Fachliteratur über die Beh<strong>in</strong>derung ihres<br />
Er lebe hoch! Dagmar<br />
Schmidt möchte ihrem<br />
Sohn so viel Zeit wie<br />
möglich schenken<br />
DAS PAUL-LÖBE-HAUS <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, siebte Etage. Dagmar<br />
Schmidt hat ihr Büro <strong>in</strong> dem Bundestagsgebäude<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> halbes K<strong>in</strong>derzimmer verwandelt. Im Obstkorb<br />
steht e<strong>in</strong> Glas Babybrei, an der Magnettafel hängt e<strong>in</strong><br />
Foto von Carl. Auf dem Boden liegt e<strong>in</strong> Spielteppich,<br />
bedruckt mit Bäumen und Straßen. Daneben parken<br />
Holz autos und e<strong>in</strong> gelber Bagger. Sie hat den Teppich<br />
Mitte Dezember bei Ikea gekauft. Auch wenn<br />
das Spielzeug noch nichts für Carl ist: Auch Schmidts<br />
Mitarbeiter haben K<strong>in</strong>der. Früher hat sie sich für die<br />
SPD mit dem Thema Vere<strong>in</strong>barkeit von Familie und<br />
Beruf befasst, jetzt muss sie ihre Familie mit ihrem<br />
Beruf vere<strong>in</strong>baren.<br />
Sie engagiert e<strong>in</strong>e Tagesmutter. Manchmal übernimmt<br />
ihre Mutter die Betreuung, manchmal Carls<br />
Vater, mit dem Schmidt aber nicht <strong>zu</strong>sammenlebt.<br />
54<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Inklusion wird Schmidts zweites Thema. Bundesweit<br />
stoßen Schulen, die Inklusion ausprobieren möchten,<br />
auf Widerstand. Lehrer fühlen sich überfordert;<br />
Eltern fürchten, ihre K<strong>in</strong>der könnten weniger lernen.<br />
Schmidt verlangt, auch über den Nutzen von Inklusion<br />
für nichtbeh<strong>in</strong>derte Schüler nach<strong>zu</strong>denken: Im<br />
Umgang könnten diese viel von Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung<br />
lernen.<br />
Ihr Sohn bee<strong>in</strong>flusst<br />
ihren Blick. Dagmar<br />
Schmidt <strong>in</strong> ihrem<br />
Bundestagsbüro <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
Sohnes, sie abonniert den Ohrenkuss, e<strong>in</strong> Magaz<strong>in</strong> von<br />
Menschen mit Downsyndrom, das sich so nennt, weil<br />
das Gesagte nicht nur <strong>zu</strong>m e<strong>in</strong>en Ohr re<strong>in</strong> und <strong>zu</strong>m anderen<br />
wieder rausgehen, sondern im Kopf bleiben soll.<br />
Schmidt geht <strong>zu</strong> Runden mit Down-Eltern. Vorsorgeterm<strong>in</strong>en,<br />
Frühförderung, Logopädie und Krankengymnastik.<br />
Sie ist eisern mit sich, sie will die Zeit<br />
ihrem Sohn schenken. Menschen mit Trisomie 21 brauchen<br />
für ihre Entwicklung Zeit. Bekommen sie diese,<br />
gel<strong>in</strong>gt es später oft besser, sie vollständig teilhaben<br />
<strong>zu</strong> lassen: die Inklusion.<br />
IM AUGUST steht sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Halle der Dillenburger<br />
Werkstätten der „Lebenshilfe“. Es riecht nach Öl. Mit<br />
ihrer weißen Rüschenbluse und dem blauen Jackett<br />
wirkt die Abgeordnete etwas deplatziert. Der Werkstattleiter<br />
heißt Ralf Turk, e<strong>in</strong> <strong>zu</strong>packender Typ mit<br />
Brille und Halbglatze. Er vermittelt regelmäßig Mitarbeiter<br />
mit geistiger Beh<strong>in</strong>derung an regionale Betriebe:<br />
e<strong>in</strong> Eckladen, e<strong>in</strong>e Bäckerei, e<strong>in</strong>e Landschaftsgärtnerei.<br />
Schmidt schreibt mit, Ralf Turk ist begeistert: Die<br />
SPD-Abgeordnete sei „e<strong>in</strong>e Ausnahmeersche<strong>in</strong>ung“.<br />
Politiker würden kaum noch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Werkstatt vorbeischauen,<br />
nicht mal im Wahlkampf.<br />
Sie macht e<strong>in</strong>en Praxistag. Das tun Politiker immer<br />
mal, sie wollen sich zeigen, sich im Leben der Menschen<br />
verorten, die sie besuchen. Bei Schmidt liegen<br />
die D<strong>in</strong>ge anders. Sie redet mit den Mitarbeitern, isst<br />
<strong>zu</strong> Mittag Hühnerfrikassee <strong>in</strong> der Kant<strong>in</strong>e, sortiert Gabel<br />
und Messer <strong>in</strong> die Abwaschbehälter. Sie erzählt von<br />
Carl. Sie stellt die Frage nicht, die trotzdem im Raum<br />
steht: <strong>Wie</strong> wäre es, wenn ihr Sohn e<strong>in</strong>mal hier arbeitet?<br />
In den Werkstätten montieren Menschen mit überwiegend<br />
geistiger Beh<strong>in</strong>derung Bauelemente für Industrieunternehmen.<br />
An normalen Tagen falzen sie rund<br />
2000 dieser Teile, bis <strong>zu</strong> 25 Stunden <strong>in</strong> der Woche. Dafür<br />
erhalten sie durchschnittlich 230 Euro netto im Monat.<br />
Essen, Wohnung und Betreuung gibt es <strong>zu</strong>sätzlich.<br />
Schmidt ist das <strong>zu</strong> wenig: „Größere Anschaffungen<br />
oder mal e<strong>in</strong> Urlaub s<strong>in</strong>d da nicht dr<strong>in</strong>.“ Ralf<br />
Turk sagt: „Ich will nicht, dass mir dann die Hartz-<br />
IV-Empfänger hier die Scheibe e<strong>in</strong>schlagen.“ – „Wer<br />
auf Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung auch noch neidisch ist,<br />
soll doch selbst ohne Helm Moped fahren und se<strong>in</strong>e<br />
Gesundheit riskieren“, sagt Schmidt.
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Dagmar Schmidt steckt<br />
ihre Stimmkarte <strong>in</strong> die Urne.<br />
3. Juli, Verabschiedung des<br />
M<strong>in</strong>destlohns<br />
Ihr Ausschuss berät im November über das Thema<br />
Inklusion, Union und SPD haben im Koalitionsvertrag<br />
e<strong>in</strong> Bundesteilhabegesetz vere<strong>in</strong>bart.<br />
Dagmar Schmidt f<strong>in</strong>det nichts dabei, Carl <strong>zu</strong>m Gegenstand<br />
ihrer Politik <strong>zu</strong> machen. „Der Blick erweitert<br />
sich und nimmt E<strong>in</strong>fluss auf die eigene Politik“, sagt<br />
sie. Sie habe dank Carl mit D<strong>in</strong>gen <strong>zu</strong> tun, mit denen<br />
sie sich sonst nicht beschäftigt hätte. „Und das ist gut.“<br />
Wirkt sie dadurch authentischer, glaubwürdiger?<br />
In jedem Fall zieht Betroffenheit Anteilnahme<br />
nach sich. Schmidt merkt das bei Facebook: „Wenn<br />
ich da poste: ‚M<strong>in</strong>destlohn!‘, kriege ich so 15 Likes.<br />
Aber wenn ich auch nur e<strong>in</strong> Foto von Carls Fuß <strong>in</strong>s<br />
Netz stelle: ‚Like, Like, Like, Like, Like!‘, ‚toller Zeh‘,<br />
‚süßer Fuß‘, da geht es ab!“<br />
ERST ALS IHR SOHN im Mai 2013 geboren wurde,<br />
wusste sie, dass ihr Sohn e<strong>in</strong> Down-K<strong>in</strong>d ist und dass<br />
er e<strong>in</strong> schweres Herzleiden hat. Sie musste sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Beh<strong>in</strong>derung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>denken. Sie musste immer wieder<br />
<strong>in</strong>s Krankenhaus. Am 21. Januar 2014 wurde Carl<br />
erstmals operiert, zehn Tage später e<strong>in</strong> zweites Mal.<br />
Schmidt harrte nachts an se<strong>in</strong>em Bett aus.<br />
An e<strong>in</strong>em Dienstagnachmittag im Mai muss Carl<br />
<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Kontrollterm<strong>in</strong> <strong>in</strong> die K<strong>in</strong>derkardiologie<br />
der Unikl<strong>in</strong>ik Gießen. Es ist die Gelegenheit, auch<br />
e<strong>in</strong> politisches Thema <strong>zu</strong> besprechen, und zwar mit<br />
jenem Mann, dem Dagmar Schmidt vermutlich das<br />
Überleben ihres Sohnes <strong>zu</strong> verdanken hat: Dietmar<br />
Schranz. Der grau melierte Chefarzt der K<strong>in</strong>derkardiologie<br />
hält e<strong>in</strong>en sehr dünnen Schlauch <strong>in</strong> der Hand,<br />
e<strong>in</strong>en Katheter. Se<strong>in</strong> Blick geht über den Brillenrand,<br />
man könnte ihn für e<strong>in</strong>en Geschichtenonkel halten,<br />
nur der grüne OP-An<strong>zu</strong>g verh<strong>in</strong>dert das.<br />
Der Chirurg deutet auf das Ende des dünnen<br />
Kunststoffschlauchs, auf den kle<strong>in</strong>en Metallhaken.<br />
Zwei Millimeter sei der, halb so groß wie e<strong>in</strong> Haken<br />
für Erwachsene. Ideal für e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dherz. „Doch<br />
das ist e<strong>in</strong>er unserer letzten“, sagt Schranz.<br />
Cordis, der US-Hersteller dieses Spezialkatheters,<br />
hat die Produktion e<strong>in</strong>gestellt. Der Markt ist <strong>zu</strong> kle<strong>in</strong>,<br />
es lohnt sich nicht. Schranz muss sich das Gerät, wie<br />
bereits viele andere, demnächst selbst basteln. Im Katheterlabor<br />
wird er es mit heißem Wasserdampf verbiegen<br />
und überschüssiges Material abschneiden. „Das<br />
gel<strong>in</strong>gt nie perfekt“, sagt der Arzt.<br />
Das Geld ist knapp. Nur mit privaten Spenden<br />
konnte sich die Abteilung e<strong>in</strong>en Magnetresonanztomografen<br />
anschaffen.<br />
Es fehlt vielen K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>iken aber nicht nur Material,<br />
sondern auch Geld, sagt Schranz. In den Fallpauschalen<br />
der Krankenkassen s<strong>in</strong>d nur die Kosten pro<br />
E<strong>in</strong>griff enthalten, nicht aber die Kosten, die es etwa<br />
braucht, Spezialisten für Herzfehler, Krebs- oder seltene<br />
Stoffwechselerkrankungen und die Technik vor<strong>zu</strong>halten.<br />
Um alles <strong>zu</strong> ref<strong>in</strong>anzieren, bräuchte e<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ik<br />
jährlich Tausende solcher Fälle. Die gibt es aber<br />
nicht – weshalb K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>iken fast überall <strong>in</strong> den roten<br />
Zahlen stecken. Schranz kämpft mit K<strong>in</strong>derärzten<br />
und K<strong>in</strong>derchirurgen <strong>in</strong> ganz Deutschland für e<strong>in</strong>e bessere<br />
Versorgung. „Rettet die K<strong>in</strong>derstation“, heißt die<br />
Kampagne. „Wir geben <strong>zu</strong> Recht sehr viel Geld für die<br />
Geriatrie, also für alte Menschen aus. Aber jetzt s<strong>in</strong>d<br />
die Kle<strong>in</strong>en dran“, sagt Schranz.<br />
Dagmar Schmidt nickt. Sie schaut auf Carl, der gerade<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tragetuch vor ihrem Bauch schlummert.<br />
Auch er wurde mit dem besonderen Katheter operiert.<br />
Schranz, der K<strong>in</strong>derkardiologe, hatte geme<strong>in</strong>sam mit<br />
e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>derherzchirurgen e<strong>in</strong> Loch <strong>in</strong> Carls Herzscheidewand<br />
geschlossen.<br />
Dagmar Schmidt versteht ihn, ermuntert ihn. Der<br />
Arzt hat ihren Sohn gerettet, jetzt will sie ihm helfen –<br />
und den anderen K<strong>in</strong>dern und Eltern. K<strong>in</strong>dermediz<strong>in</strong><br />
gehört <strong>zu</strong> ihren Themen. Obwohl e<strong>in</strong>e Reform der Fallpauschalen<br />
nicht auf der Agenda der Großen Koalition<br />
steht. Nicht dieses Jahr, nicht <strong>in</strong> dieser Legislaturperiode.<br />
Aber Schmidt hat ja gerade erst angefangen.<br />
PETRA SORGE ist Redakteur<strong>in</strong> von <strong>Cicero</strong>.<br />
Ihre erste Reportage über Dagmar Schmidt<br />
„Das Down-K<strong>in</strong>d im Bundestag“ erschien 2013<br />
<strong>in</strong> der Oktoberausgabe von <strong>Cicero</strong>. Nachlesbar<br />
unter cicero.de/down-k<strong>in</strong>d<br />
Foto: Andrej Dallmann (Autor<strong>in</strong>)<br />
56<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
„ Wir lassen<br />
uns doch nicht<br />
unsere Gehirne<br />
waschen “<br />
Joshua Wong Chi-fung, der Kopf der Studentenrevolte <strong>in</strong> Hongkong, empörte sich bereits<br />
vor Jahren über die Regierung <strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g, Seite 58<br />
57<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
DER PROTEST-VETERAN<br />
Beim Demonstrieren verwandelt sich Joshua Wong Chi-fung vom schüchternen<br />
Studenten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en mitreißenden Politaktivisten – und Hongkong liegt ihm <strong>zu</strong> Füßen<br />
Von INNA HARTWICH<br />
Am Montag, ne<strong>in</strong>, da habe er ke<strong>in</strong>e<br />
Zeit. Am Dienstag, Moment,<br />
schnell checken, leider auch nicht.<br />
Am Mittwoch, tatsächlich, da g<strong>in</strong>ge es<br />
kurz. Zwischen zwei Term<strong>in</strong>en, <strong>in</strong> Ordnung?<br />
Als man Joshua Wong Chi-fung<br />
endlich treffen kann, lässt er se<strong>in</strong> Mobiltelefon<br />
nicht aus den Augen. Er ist gefragt,<br />
befragt, unterwegs. Gerade erst<br />
saß er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Radiosendung, e<strong>in</strong> Format,<br />
wie für ihn gemacht. Hier kann er los<strong>werden</strong>,<br />
was er denkt, wie er sich Hongkongs<br />
Zukunft vorstellt. Ke<strong>in</strong> Moderator neben<br />
ihm, nur se<strong>in</strong> Freund Oscar Lai Man-lok,<br />
se<strong>in</strong> Mitstreiter. „Wir müssen das Unmögliche<br />
möglich machen“, sagt Joshua<br />
Wong Chi-fung. Es ist e<strong>in</strong> Satz, der ihm<br />
e<strong>in</strong> Dutzend Mal am Tag über die Lippen<br />
geht. Auch jetzt noch, nachdem die<br />
Proteste für freie Wahlen <strong>in</strong> Hongkong<br />
abgeflaut s<strong>in</strong>d.<br />
Nun kann er e<strong>in</strong> wenig durchatmen,<br />
den Schlaf nachholen. Denn der Aufstand<br />
für mehr Demokratie <strong>in</strong> der Stadt,<br />
die <strong>zu</strong> Ch<strong>in</strong>a gehört, aber nicht recht<br />
da<strong>zu</strong>gehören will, ist noch lange nicht<br />
<strong>zu</strong> Ende. Für die Hongkonger nicht und<br />
schon gar nicht für Joshua Wong Chifung,<br />
den dürren Jungen mit der Hipster-<br />
Brille. „Hongkong ist Hongkong, nicht<br />
irgende<strong>in</strong>e ch<strong>in</strong>esische Stadt.“ Deshalb<br />
se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>satz für diese Herausforderung,<br />
Pek<strong>in</strong>g die Stirn <strong>zu</strong> bieten. Der schmächtige<br />
17-Jährige lächelt scheu und muss<br />
weiter, „die nächste Radiosendung“. Der<br />
nächste Kampf.<br />
Mit Kämpfen kennt sich Joshua Wong<br />
Chi-fung aus. Er war erst 14 Jahre alt,<br />
als „diese Sache“, wie er die Ereignisse<br />
nennt, passierte: e<strong>in</strong> Plan der Regierung,<br />
<strong>in</strong> Hongkongs Schulen, nach dem Beispiel<br />
aus Festlandch<strong>in</strong>a, das Fach „Nationale<br />
und moralische Erziehung“ e<strong>in</strong><strong>zu</strong>führen.<br />
E<strong>in</strong> subtiler Versuch, aus den britisch geprägten<br />
Hongkongern gute ch<strong>in</strong>esische<br />
Patrioten <strong>zu</strong> machen. Das war 2011. Mit<br />
e<strong>in</strong> paar Freunden aus der Mittelschule,<br />
e<strong>in</strong>em privaten christlichen College auf<br />
der Halb<strong>in</strong>sel Kowloon, gründete er<br />
„Scholarism“. 2012 brachte die Gruppe<br />
knapp 120 000 Menschen auf Hongkongs<br />
Straßen, Schüler, Eltern, Lehrer. „Wir lassen<br />
uns doch nicht unsere Gehirne waschen“,<br />
sagte Joshua damals und probte<br />
se<strong>in</strong>e ersten Auftritte. Gelassen anfangen,<br />
klar formulieren, deutlich artikulieren,<br />
immer lauter <strong>werden</strong>, die Arme<br />
nache<strong>in</strong>ander heben, mit dem Zeigef<strong>in</strong>ger<br />
Akzente setzen, die Stimme weiter ansteigen<br />
lassen, aber nur so weit, dass sie nicht<br />
bricht, wieder ruhiger <strong>werden</strong>. Se<strong>in</strong> erster<br />
Erfolg: Die Regierung nahm den Plan <strong>zu</strong>rück.<br />
Die Schulen entscheiden selbst, ob<br />
sie den Patriotismus-Unterricht anbieten.<br />
Joshua hat nun Größeres im S<strong>in</strong>n.<br />
BEIM DEMONSTRIEREN verwandelt sich<br />
der schüchterne Jugendliche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
mitreißenden Politaktivisten. Se<strong>in</strong>e Eltern<br />
hatten ihm den kantonesischen Namen<br />
Chi-fung gegeben, die „Spitze e<strong>in</strong>es<br />
Messers oder Schwertes“ – als hätten es<br />
Roger und Grace Wong geahnt, was aus<br />
ihrem Jungen e<strong>in</strong>mal wird. Heute führt<br />
ihr Sohn quasi als Speerspitze e<strong>in</strong>e Generation<br />
an, die sich von Pek<strong>in</strong>g nicht bedrängen<br />
lassen will. Sie fordert Selbstbestimmung,<br />
fordert Demokratie, voller<br />
Leidenschaft und Idealismus. „Me<strong>in</strong>e<br />
Lehrer sagten schon immer, ich habe<br />
das Reden im Griff“, erzählt Joshua<br />
Wong. Damit überdeckt er auch se<strong>in</strong>e<br />
Legasthenie-Schwierigkeiten.<br />
Mittlerweile besucht er die Offene<br />
Universität <strong>in</strong> Hongkong, hat sich für Politikwissenschaften<br />
e<strong>in</strong>geschrieben. E<strong>in</strong><br />
„Frischl<strong>in</strong>g“, der die Uni erst e<strong>in</strong>mal Uni<br />
se<strong>in</strong> lässt. Staatlich kontrollierte ch<strong>in</strong>esische<br />
Medien hatten ihm das Attribut<br />
„Extremist“ verpasst, vor zwei Jahren<br />
bereits, haben Gerüchte gestreut, er sei<br />
von der CIA gekauft. Für viele Hongkonger,<br />
drei-, viermal so alt wie Joshua, ist<br />
er die „Hoffnung Hongkongs“. Mart<strong>in</strong><br />
Lee Chu-m<strong>in</strong>g, der 76-jährige Gründer<br />
von Hongkongs Demokratischer Partei,<br />
ist stolz: „Unsere Stadt hat e<strong>in</strong>e helle Zukunft<br />
– unserer wunderbaren Jugend wegen.“<br />
Selbst bei Benny Tai Yiu-t<strong>in</strong>g, dem<br />
Kopf der Occupy-Central-Bewegung, die<br />
mit Joshuas „Scholarism“ Hunderttausende<br />
<strong>zu</strong>m Campieren im F<strong>in</strong>anzdistrikt<br />
brachte, ist die Skepsis über das anfänglich<br />
forsche Vorgehen der Jugendlichen<br />
gewichen. Mancher Taxifahrer nimmt<br />
Joshua Wong Chi-fung auch schon e<strong>in</strong>mal<br />
umsonst mit, so bekannt ist se<strong>in</strong> Gesicht<br />
<strong>in</strong> der Stadt.<br />
„Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Held“, hat er vor e<strong>in</strong>em<br />
Jahr se<strong>in</strong> Buch genannt. Auch nach se<strong>in</strong>er<br />
Festnahme, die ihm 40 Stunden Haft e<strong>in</strong>brachte<br />
und viele <strong>in</strong> Hongkong erst auf<br />
die Straße brachte, sagte er: „Was soll ich<br />
bitte für e<strong>in</strong> Held se<strong>in</strong>? Während ihr hier<br />
dem Tränengas widerstanden und euch<br />
mit Regenschirmen dagegen gewehrt<br />
habt, habe ich untätig <strong>in</strong> der Zelle gesessen.“<br />
Se<strong>in</strong>e Zuversicht schöpft der Hongkonger<br />
aus dem Glauben. Als Christ reiche<br />
es nicht, die Bibel <strong>in</strong> der Kirche <strong>zu</strong><br />
lesen, als Christ müsse man sich für die<br />
dort verankerten Werte auch e<strong>in</strong>setzen.<br />
Am 13. Oktober feierte Joshua Wong<br />
Chi-fung se<strong>in</strong>en 18. Geburtstag. Wenige<br />
Tage <strong>zu</strong>vor hätte er mit anderen Aktivisten<br />
am Verhandlungstisch mit der Regierung<br />
sitzen sollen – damit er irgendwann<br />
e<strong>in</strong>mal wählen kann. In se<strong>in</strong>er Stadt, dem<br />
ch<strong>in</strong>esischen Hongkong. Die Regierung<br />
aber machte e<strong>in</strong>en Rückzieher.<br />
INNA HARTWICH ist freie Korrespondent<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g und hat die jüngsten<br />
Studentenproteste <strong>in</strong> den Straßen von<br />
Hongkong mitverfolgt<br />
Foto: Tyrone Siu/Reuters/Corbis<br />
58<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
PUTINS SPRACHROHR<br />
Margarita Simonjan rückt Russland <strong>in</strong>s rechte Medienlicht. Die Chefredakteur<strong>in</strong> steuert<br />
den russischen Auslandssender RT und nun auch noch e<strong>in</strong>e Nachrichtenagentur<br />
Von MORITZ GATHMANN<br />
Im Nordosten von Moskau begrüßt e<strong>in</strong>e<br />
gut gelaunte Margarita Simonjan im<br />
obersten Stockwerk e<strong>in</strong>er ehemaligen<br />
Fabrik ihre Gäste – <strong>in</strong> bestem Englisch<br />
mit leicht amerikanischem Akzent. In e<strong>in</strong>em<br />
hochmodernen Studiokomplex residiert<br />
der vom Kreml f<strong>in</strong>anzierte und von<br />
Simonjan geleitete russische Auslandssender<br />
RT, ehemals Russia Today. Von<br />
hier aus verbreitete er auf Englisch, Arabisch<br />
und Spanisch die „russische Sicht<br />
auf die Welt“, erklärt die selbstbewusste<br />
<strong>junge</strong> Frau.<br />
Mit 34 Jahren ist die armenischstämmige<br />
Russ<strong>in</strong> sehr weit oben angekommen.<br />
Als Chefredakteur<strong>in</strong> des russischen Auslandssenders<br />
befehligt sie 2500 Mitarbeiter;<br />
seit diesem Jahr leitet sie <strong>zu</strong>dem die<br />
Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die<br />
unter ihrem neuen Namen Rossiya Segodnya<br />
nun ähnlich offensiv wie RT die<br />
russische Perspektive verbreitet.<br />
Simonjan hat RT <strong>zu</strong>m Erfolg geführt:<br />
Im Sommer überschritt RT auf Youtube<br />
die Marke von e<strong>in</strong>er Milliarde Klicks. RT<br />
spielt <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest im Internet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Liga<br />
mit BBC, Al Dschasira oder CNN. Ihr<br />
Ziel – das Me<strong>in</strong>ungsmonopol der angelsächsischen<br />
Medien <strong>zu</strong> brechen – hat Simonjan<br />
teilweise erreicht, und das, betont<br />
sie, mit e<strong>in</strong>em bedeutend kle<strong>in</strong>eren<br />
Budget. 2013 waren es elf Milliarden Rubel,<br />
etwa 250 Millionen Euro.<br />
In oppositionellen Kreisen gilt Simonjan<br />
als pr<strong>in</strong>zipienlose, Put<strong>in</strong>-treue<br />
Karrierist<strong>in</strong>. Wer sie näher kennt, erklärt<br />
ihr E<strong>in</strong>treten für „die russischen<br />
Werte“ mit ihrem grenzenlosen Opportunismus.<br />
Offen sagt das aber kaum jemand.<br />
Gleichzeitig gehört Simonjan<br />
<strong>zu</strong>r Moskauer Schickeria, auf Russisch<br />
die Glamournaja Tussowka. Diese besteht<br />
aus gut verdienenden Hauptstädtern,<br />
bei denen grundsätzliche politische<br />
Unterschiede ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis für<br />
Freundschaften s<strong>in</strong>d. Per Du ist Margarita<br />
Simonjan etwa mit Ksenia Sobtschak,<br />
die seit Jahren <strong>zu</strong> den prom<strong>in</strong>entesten<br />
Put<strong>in</strong>-Gegnern zählt. Wichtig s<strong>in</strong>d der<br />
Tussowka gutes Essen – Kochen ist Simonjans<br />
Leidenschaft, sie schreibt e<strong>in</strong>e<br />
populäre kul<strong>in</strong>arische Kolumne –, stilvolles<br />
Äußeres – das meist aus importierter<br />
Designerkleidung besteht – sowie<br />
e<strong>in</strong>e grundsätzlich liberale Weltsicht.<br />
TATSÄCHLICH: Margarita Simonjan bezeichnet<br />
sich selbst als liberal. Öffentlich<br />
bekundete sie etwa ihre Sympathie für<br />
den Oligarchen Michail Prochorow, der<br />
2012 bei den Präsidentschaftswahlen mit<br />
e<strong>in</strong>em liberalen Programm gegen Put<strong>in</strong><br />
antrat, während sie <strong>zu</strong> Put<strong>in</strong>s offiziellem<br />
Unterstützerkreis zählte. Für Simonjan<br />
ist das ke<strong>in</strong> Widerspruch, sondern Ausfluss<br />
des typischen Diskurses der Moskauer<br />
Elite. Der lautet: Natürlich lebe<br />
man nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er idealen Demokratie,<br />
doch gebe es nicht massenhaft politische<br />
Gefangene, und im Vergleich <strong>zu</strong>m Chaos<br />
der neunziger Jahre gehe es den Russen<br />
gut. Wenn man <strong>in</strong> Russland alle Zügel<br />
schleifen ließe, würde das Land im Faschismus<br />
vers<strong>in</strong>ken.<br />
Geboren wurde Simonjan 1980 im<br />
südrussischen Krasnodar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er armenischen<br />
Familie. Gerüchte über ihre angeblich<br />
reichen Eltern weist sie entschieden<br />
<strong>zu</strong>rück: Ihr Vater habe se<strong>in</strong> Leben<br />
lang Kühlschränke repariert. Schon im<br />
K<strong>in</strong>dergarten liest sie den anderen K<strong>in</strong>dern<br />
Bücher vor, später ist sie Klassenbeste,<br />
wird aber, so erzählt sie, wegen<br />
ihrer armenischen Abstammung diskrim<strong>in</strong>iert.<br />
Mit 15 verbr<strong>in</strong>gt Simonjan <strong>in</strong><br />
New Hampshire e<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gastfamilie,<br />
das sie e<strong>in</strong>e „positive Erfahrung“<br />
nennt. Dennoch bleibt e<strong>in</strong> zwiespältiges<br />
Amerikabild: Zwar liebe sie die USA für<br />
ihre e<strong>in</strong>zigartige Kultur, „aber ich liebe<br />
Amerika nicht für se<strong>in</strong>e Ignoranz, für die<br />
Heuchelei se<strong>in</strong>er Eliten, für die tiefe <strong>in</strong>nere<br />
Überzeugung, dass Nichtamerikaner<br />
apriori weniger Menschen s<strong>in</strong>d als Amerikaner,<br />
für diesen quasi Faschismus.“<br />
Mit 19 Jahren heuert sie bei e<strong>in</strong>em<br />
regionalen russischen TV-Sender an und<br />
weckt Interesse mit ihren Reportagen aus<br />
dem Tschetschenienkrieg. 2002 schickt<br />
sie der Staatssender Rossija als Reporter<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> den „Präsidentenpool“, seitdem<br />
fährt sie im handverlesenen Put<strong>in</strong>-Pulk<br />
durchs Land. Der überreicht ihr <strong>zu</strong>m<br />
25. Geburtstag e<strong>in</strong>en Blumenstrauß, was<br />
bis heute Grund für allerlei Gerüchte ist.<br />
Tatsache ist: Zwei Monate später gibt<br />
der Kreml die Gründung von RT bekannt,<br />
und Simonjan soll den Sender aufbauen,<br />
der das zentrale Stück e<strong>in</strong>er breit angelegten<br />
russischen PR-Kampagne im Ausland<br />
<strong>werden</strong> soll. Sie will „Neuigkeiten<br />
über die Welt, aber von e<strong>in</strong>er anderen<br />
Seite“ zeigen. „Wenn CNN, BBC und<br />
Al Dschasira zeigen, dass <strong>in</strong> Libyen e<strong>in</strong>e<br />
Drohne der Nato abgeschossen wurde,<br />
dann berichten wir darüber, dass an<br />
diesem Tag <strong>in</strong> Libyen e<strong>in</strong> Haus bei e<strong>in</strong>em<br />
Luftangriff zerstört wurde und dabei<br />
13 Menschen ums Leben kamen, davon<br />
fünf K<strong>in</strong>der.“<br />
Das Ziel ihrer Strategie benennt sie<br />
im Oktober 2013: Man müsse e<strong>in</strong>e möglichst<br />
große Zuschauerzahl erreichen, um<br />
im Falle e<strong>in</strong>es „zweiten Georgiens die eigene<br />
Agenda auf<strong>zu</strong>zw<strong>in</strong>gen“. 2008 war<br />
es zwischen Russland und Georgien <strong>zu</strong>m<br />
Krieg um die abtrünnigen Gebiete Südossetien<br />
und Abchasien gekommen. Das<br />
„zweite Georgien“ beg<strong>in</strong>nt kurze Zeit<br />
später: auf dem Maidan <strong>in</strong> Kiew.<br />
MORITZ GATHMANN berichtet aus den<br />
Ländern der Ex-Sowjetunion. Seit er Simonjan<br />
traf, fragt er sich, warum es <strong>in</strong> Deutschland<br />
ke<strong>in</strong>e 25-jährigen TV-Chefredakteure gibt<br />
Foto: ITAR-TASS/Imago<br />
60<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
JUNCKERS HAUSHÄLTERIN<br />
Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa ist e<strong>in</strong>e der wenigen unumstrittenen Frauen <strong>in</strong> der Europäischen<br />
Union. Künftig wird die Bulgar<strong>in</strong> über den EU-Haushalt wachen – und das Personal<br />
Von MICHAEL LACZYNSKI<br />
Foto: Thierry du Bois/Reporters/Laif [M]<br />
Nicht jede europäische Karriere ist<br />
das Ergebnis fokussierter Ambition<br />
und m<strong>in</strong>uziöser Planung.<br />
Für Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa begann das<br />
Abenteuer Europa mit e<strong>in</strong>em nächtlichen<br />
Anruf <strong>in</strong> der US-Hauptstadt Wash<strong>in</strong>gton.<br />
Es war drei Uhr <strong>in</strong> der Früh, als das<br />
Telefon die Vizepräsident<strong>in</strong> der Weltbank<br />
aus dem Bett holte. Am anderen<br />
Ende der Leitung war der damalige bulgarische<br />
Premierm<strong>in</strong>ister Bojko Borissow,<br />
der Georgiewa e<strong>in</strong> überraschendes<br />
Jobangebot machte: „Wir brauchen unser<br />
größtes Talent <strong>in</strong> Europa.“ Sie solle<br />
Bulgarien <strong>in</strong> der EU-Kommission vertreten,<br />
nachdem die ursprüngliche Kandidat<strong>in</strong><br />
Rumjana Schelewa bei der Anhörung<br />
im Europaparlament durchgefallen<br />
war. Georgiewa sagte <strong>zu</strong> – und am 9. Februar<br />
2010 trat sie im Bürokomplex Berlaymont,<br />
dem Hauptquartier der Brüsseler<br />
Behörde, ihr Amt als Kommissar<strong>in</strong> für<br />
humanitäre Hilfe an.<br />
Was als Zufall begonnen hatte, entwickelte<br />
sich <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er europapolitischen<br />
Erfolgsgeschichte, die am 1. November<br />
ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen<br />
wird: An diesem Tag – sofern der Brüssler<br />
Zeitplan hält – beg<strong>in</strong>nt die Amtszeit von<br />
Jean-Claude Juncker als Präsident der<br />
EU-Kommission. In se<strong>in</strong>em Team wird<br />
Georgiewa den prestigeträchtigen – und<br />
mächtigen – Posten der für das Budget<br />
und Personalangelegenheiten <strong>zu</strong>ständigen<br />
Vizepräsident<strong>in</strong> <strong>in</strong>nehaben.<br />
Dass ausgerechnet die 61-Jährige <strong>in</strong><br />
die siebenköpfige Riege der Vizepräsidenten<br />
aufrückt, ist auf den ersten Blick<br />
überraschend. Denn Junckers erklärtes<br />
Ziel ist es, se<strong>in</strong>e Kommission <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em<br />
politisch denkenden und agierenden Organ<br />
um<strong>zu</strong>gestalten. Georgiewa aber ist<br />
das e<strong>in</strong>zige Mitglied dieses Führungsgremiums,<br />
das über ke<strong>in</strong>erlei Regierungserfahrung<br />
verfügt – und vermutlich auch<br />
die E<strong>in</strong>zige, die sich ohne Gegenwehr als<br />
Technokrat<strong>in</strong> titulieren ließe.<br />
Die promovierte Volkswirt<strong>in</strong> kam<br />
nach Zwischenstationen an der London<br />
School of Economics und am Massachusetts<br />
Institute of Technology 1993 <strong>zu</strong>r<br />
Weltbank, wo sie unter anderem Umweltprojekte<br />
und Russland betreute und<br />
<strong>zu</strong>letzt als Vizepräsident<strong>in</strong> für die reibungslose<br />
Kommunikation zwischen<br />
der Chefetage der Weltbank und ihren<br />
186 Mitgliedern <strong>zu</strong>ständig war.<br />
DIESE ERFAHRUNG dürfte für Junckers<br />
Entscheidung für die Bulgar<strong>in</strong> ausschlaggebend<br />
gewesen se<strong>in</strong>. Denn Georgiewa<br />
wird <strong>in</strong> ihrer neuen Funktion<br />
als oberste Aufseher<strong>in</strong> über die Mittel<br />
der EU den anderen 26 Kommissaren<br />
auf e<strong>in</strong>e möglichst diplomatische<br />
Art und Weise auf die F<strong>in</strong>ger schauen<br />
müssen. Dessen nicht genug: Ihr Verantwortungsbereich<br />
umfasst auch die<br />
Antikorruptionsbehörde Olaf, die EU-<br />
Übersetzerdienste, die Kaderschmiede<br />
European School of Adm<strong>in</strong>istration sowie<br />
alle Personalagenden der Union. Neben<br />
Juncker und se<strong>in</strong>er rechten Hand,<br />
dem Niederländer Frans Timmermans,<br />
wird Georgiewa <strong>zu</strong> den Mächtigsten <strong>in</strong><br />
der Brüsseler Behörde zählen.<br />
Angesichts dieser Machtfülle wäre<br />
es nicht verwunderlich, wenn ihre Nom<strong>in</strong>ierung<br />
<strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest für e<strong>in</strong>zelne kritische<br />
Stimmen gesorgt hätte. Doch wer sich <strong>in</strong><br />
Brüssel nach Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa erkundigt,<br />
hört <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Lob – quer<br />
durch alle europäischen Institutionen<br />
und quer durch alle politischen Gruppierungen,<br />
ungeachtet dessen, dass die<br />
Bulgar<strong>in</strong> der bürgerlich-konservativen<br />
Europäischen Volkspartei <strong>zu</strong>gerechnet<br />
wird. Sie ist so<strong>zu</strong>sagen der größte geme<strong>in</strong>same<br />
Nenner, auf den sich <strong>in</strong> Brüssel<br />
jeder e<strong>in</strong>igen kann.<br />
Vor wenigen Monaten zählte Georgiewa<br />
sogar noch <strong>zu</strong> den Favoriten im<br />
Rennen um den Posten des Hohen Außenbeauftragten<br />
der EU – trotz ihrer<br />
bulgarischen Herkunft galt sie vielen<br />
als <strong>in</strong>teger genug, um Europas Interessen<br />
gegenüber Russland standhaft und<br />
glaubwürdig <strong>zu</strong> vertreten. Dass schließich<br />
Italiens Außenm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Federica<br />
Mogher<strong>in</strong>i den Posten erhielt, war vor<br />
allem der parteipolitischen Gefechtslage<br />
und dem Drängen des sozialdemokratischen<br />
italienischen Regierungschefs Matteo<br />
Renzi geschuldet. Ulrike Lunacek,<br />
die grüne Vizepräsident<strong>in</strong> des Europaparlaments,<br />
trauert dieser Entscheidung<br />
immer noch nach: „Georgiewa wäre die<br />
Beste gewesen.“<br />
Für Juncker h<strong>in</strong>gegen war das eher<br />
e<strong>in</strong> Segen, denn für ihren neuen Posten<br />
ist Georgiewa bestens geeignet. Sie ist<br />
typisch für viele Akteure aus Ost- und<br />
Mitteleuropa, die an e<strong>in</strong> starkes, e<strong>in</strong>iges<br />
Europa glauben und es mitgestalten wollen.<br />
„Sie hat auch e<strong>in</strong> extrem gutes numerisches<br />
Gedächtnis und kann Zahlen<br />
politisch verwerten“, urteilt e<strong>in</strong> Brüsseler<br />
Beobachter. „Was sie auszeichnet,<br />
ist die Verknüpfung von Politik und<br />
Management.“<br />
So dürfte Georgiewa wohl <strong>in</strong>sbesondere<br />
auch im Personalbereich tiefere Spuren<br />
h<strong>in</strong>terlassen. Sie kündigte bereits an,<br />
dass sie dafür sorgen wolle, dass es <strong>in</strong><br />
der EU-Beamtenschaft mehr Frauen und<br />
mehr Osteuropäer gibt. „Ich b<strong>in</strong> es gewohnt,<br />
als Frau und noch da<strong>zu</strong> als Bulgar<strong>in</strong><br />
doppelt und dreifach so hart für den<br />
Erfolg <strong>zu</strong> arbeiten.“<br />
MICHAEL LACZYNSKI ist gebürtiger<br />
Warschauer und EU-Korrespondent<br />
der österreichischen Tageszeitung Die<br />
Presse. Er hätte sich Georgiewa gut als<br />
EU‐Außenbeauftragte vorstellen können<br />
63<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
64<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
Report<br />
VOM STIL ZUR<br />
SUBSTANZ<br />
Von BRITTA PETERSEN<br />
Fotos JOHANN ROUSSELOT<br />
Indien <strong>in</strong> der Krise – die Wirtschaft<br />
erlahmt, die Armut ist groß, die<br />
Korruption e<strong>in</strong> Ärgernis. Der neue<br />
Premier Narendra Modi will<br />
das Land verändern. Kann er das?<br />
Indien ist e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale<br />
IT-Hochburg, andererseits leben Millionen<br />
Menschen immer noch nach ihren<br />
althergebrachten Traditionen<br />
65<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
Report<br />
Es war e<strong>in</strong>er dieser Modi-Momente:<br />
Pünktlich <strong>zu</strong> Gandhis Geburtstag<br />
am 2. Oktober griff der <strong>in</strong>dische<br />
Premierm<strong>in</strong>ister <strong>zu</strong>m Besen. Smart<br />
gekleidet wie stets, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er leuchtend<br />
hellblauen Kurta mit weißer „Nehru“-<br />
Weste, fegte er den Boden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von<br />
Dalits – den früheren „Unberührbaren“<br />
– bewohnten Slum <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dischen<br />
Hauptstadt. Der Start se<strong>in</strong>er Kampagne<br />
„Sauberes Indien“ fiel auf den Beg<strong>in</strong>n<br />
des Dussehra-Festes, das <strong>in</strong> der h<strong>in</strong>duistischen<br />
Mythologie den Triumph des Guten<br />
über das Böse markiert.<br />
Nur wenige Tage <strong>zu</strong>vor hatten ihn<br />
20 000 Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausverkauften<br />
Madison Square Garden <strong>in</strong> New York<br />
gefeiert, was amerikanische Medien <strong>zu</strong><br />
Vergleichen mit wahlweise Rockstars<br />
oder Boxchampions h<strong>in</strong>riss. Mit e<strong>in</strong>er<br />
Show im Bollywood-Stil warb Modi<br />
nicht nur für den Produktionsstandort<br />
Indien. Der Premier machte sich auch<br />
daran, das <strong>in</strong>disch-amerikanische Verhältnis,<br />
das <strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />
unter se<strong>in</strong>em Vorgänger Manmohan<br />
S<strong>in</strong>gh spürbar abgekühlt war, wieder<strong>zu</strong>beleben.<br />
Ke<strong>in</strong> schlechter Auftritt für e<strong>in</strong>en<br />
Mann, der noch Anfang des Jahres<br />
<strong>in</strong> den USA wegen se<strong>in</strong>er fragwürdigen<br />
Rolle bei antimuslimischen Pogromen <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em Heimatstaat Gujarat E<strong>in</strong>reiseverbot<br />
hatte.<br />
INDIENS NEUER PREMIER, seit dem<br />
26. Mai im Amt, beherrscht Symbolpolitik<br />
wie ke<strong>in</strong> Zweiter. Aber kann er auch<br />
die überhohen Erwartungen erfüllen, die<br />
das Land seit se<strong>in</strong>em überwältigenden<br />
Wahlsieg <strong>in</strong> ihn setzt? Nach fünf Monaten<br />
im Amt ist vorsichtiger Optimismus<br />
berechtigt. Mit Modi hat e<strong>in</strong> neuer, direkter<br />
und mitunter sogar mutiger Regierungsstil<br />
<strong>in</strong> Indien E<strong>in</strong><strong>zu</strong>g gehalten, der<br />
viel über den Mann aussagt, der die Probleme<br />
richtig benennt. Ihre Lösung erfordert<br />
großes Durchhaltevermögen. Dabei<br />
könnten Modi die Geister se<strong>in</strong>er Vergangenheit<br />
ebenso <strong>in</strong> die Quere kommen wie<br />
das Gespenst des Terrorismus.<br />
Zur Er<strong>in</strong>nerung: Modis H<strong>in</strong>du-nationalistische<br />
Bharatiya Janata Party erhielt<br />
bei den Parlamentswahlen im Frühjahr<br />
e<strong>in</strong>e absolute Mehrheit der Sitze. Damit<br />
beendete er die zehnjährige Herrschaft<br />
der l<strong>in</strong>ksgerichteten Kongresspartei, die<br />
<strong>in</strong> den letzten Jahren ihrer Regierungszeit<br />
Indien paralysiert hatte. Das Wirtschaftswachstum<br />
<strong>in</strong> dem Schwellenland fiel von<br />
10,26 Prozent im Jahr 2010 auf magere<br />
4,35 Prozent im Jahr 2013. Damit endete<br />
vorerst der Höhenflug Indiens, das <strong>in</strong> den<br />
Jahren <strong>zu</strong>vor mit Wachstumsraten von<br />
durchschnittlich etwa 8 Prozent <strong>zu</strong> den<br />
am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften<br />
der Welt gehörte.<br />
Der 64-jährige Modi <strong>in</strong>szenierte sich<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wahlkampagne, die durch <strong>in</strong>tensiven<br />
E<strong>in</strong>satz neuer sozialer Medien<br />
und der weitverbreiteten Mobiltelefone<br />
das <strong>junge</strong>, aufstrebende Indien ansprach,<br />
als <strong>zu</strong>packender Macher, der das Land<br />
auf den Wachstumspfad <strong>zu</strong>rückführen<br />
kann. In den ersten 100 Tagen se<strong>in</strong>er Regierungszeit<br />
hat er <strong>in</strong>nen- und außenpolitisch<br />
wichtige Schwerpunkte gesetzt und<br />
ist dabei klug vorgegangen.<br />
Gleich <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er Amtse<strong>in</strong>führung<br />
<strong>in</strong> Delhi hat er die Staats- und Regierungschefs<br />
der asiatischen Nachbarstaaten<br />
e<strong>in</strong>geladen. Zum ersten Mal <strong>in</strong> der<br />
Geschichte Indiens nahmen alle Führer<br />
der neun Staaten der South Asian Association<br />
for Regional Cooperation an e<strong>in</strong>er<br />
solchen Zeremonie teil. Se<strong>in</strong>e ersten<br />
Auslandsreisen führten ihn <strong>in</strong> die Nachbarländer<br />
Bhutan und Nepal sowie nach<br />
Japan.<br />
Für e<strong>in</strong>en Politiker, der vor allem gewählt<br />
wurde, um die Wirtschaft wieder<br />
flott<strong>zu</strong>machen, mag es überraschend ersche<strong>in</strong>en,<br />
<strong>zu</strong> Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Amtszeit außenpolitische<br />
Schwerpunkte <strong>zu</strong> setzen.<br />
Doch Modi hat clever kalkuliert: Die <strong>in</strong>dische<br />
Wirtschaft lässt sich nicht über<br />
Nacht reparieren. E<strong>in</strong>e Verbesserung<br />
des Verhältnisses <strong>zu</strong> den Nachbarstaaten<br />
h<strong>in</strong>gegen ist nicht nur e<strong>in</strong>e niedrig<br />
hängende Frucht, die sich leicht pflücken<br />
lässt, es ist auch e<strong>in</strong>e Gelegenheit, den<br />
Die Enttäuschung über vergleichsweise<br />
ger<strong>in</strong>ge staatliche Investitionen <strong>in</strong> das<br />
marode Verkehrsnetz ist groß. Daran<br />
ändert der Mumbai-Pune-Expressway<br />
mit se<strong>in</strong>en Raststätten nur wenig<br />
Foto: Sumit Dayal/Prospekt Photographers Agency (Seite 65)<br />
66<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
67<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
außen- und sicherheitspolitischen Eliten<br />
im In- und Ausland se<strong>in</strong>e Führungsqualitäten<br />
<strong>zu</strong> demonstrieren.<br />
Dass es dabei um mehr als nur Symbolpolitik<br />
g<strong>in</strong>g, zeigt das Ergebnis se<strong>in</strong>er<br />
Japanvisite. Japans Premier Sh<strong>in</strong>zo<br />
Abe sagte Modi Investitionen <strong>in</strong> Höhe<br />
von 34 Milliarden US-Dollar <strong>in</strong> den kommenden<br />
fünf Jahren <strong>zu</strong>, die vor allem <strong>in</strong><br />
den Ausbau der maroden <strong>in</strong>dischen Infrastruktur<br />
fließen sollen, unter anderem<br />
<strong>in</strong> den Bau e<strong>in</strong>es Hochgeschw<strong>in</strong>digkeits<strong>zu</strong>gs<br />
und 100 sogenannte Smart Cities.<br />
Brahma Chellaney, e<strong>in</strong>er der führenden<br />
außenpolitischen Denker Indiens, feierte<br />
den Besuch als „Wendepunkt“ <strong>in</strong> den bilateralen<br />
Beziehungen. „Modis Besuch<br />
<strong>in</strong> Japan hat die Beziehungen zwischen
Goldrausch<br />
<strong>in</strong> Datenbergen?<br />
Bloggen<br />
für mehr Freiheit<br />
und Social Media<br />
Die Primatenforscher<strong>in</strong><br />
Julia Fischer<br />
Die Schönen und Reichen,<br />
darunter zahlreiche Bollywoodgrößen,<br />
genießen gerne die schönen<br />
Seiten des Lebens. Und<br />
das ohne falsche Reue (oben)<br />
Die Armen können es sich nicht<br />
leisten, wählerisch <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />
Um <strong>zu</strong> überleben, gehen Millionen<br />
von ihnen auf den Straßen<br />
der Großstädte betteln (unten)<br />
beiden Ländern strategisch als Asiens<br />
aufstrebende demokratische Achse def<strong>in</strong>iert“,<br />
sagt Chellaney.<br />
E<strong>in</strong>e vertiefte Beziehung <strong>zu</strong> Japan<br />
eröffnet Indien Handlungsspielräume<br />
nicht nur <strong>in</strong> Be<strong>zu</strong>g auf e<strong>in</strong>e engere Zusammenarbeit<br />
bei der zivilen Nut<strong>zu</strong>ng<br />
der Atomkraft. Sie ist auch im Interesse<br />
beider Länder, die den Aufstieg Ch<strong>in</strong>as<br />
mit Unwohlse<strong>in</strong> beobachten – wohl wissend,<br />
dass sie ihn nicht verh<strong>in</strong>dern können.<br />
<strong>Wie</strong> das viel beschworene „asiatische<br />
Jahrhundert“ aussehen wird, wird<br />
auch davon abhängen, wie diese drei<br />
wichtigsten Länder Asiens ihr Verhältnis<br />
<strong>zu</strong>e<strong>in</strong>ander gestalten. Modi weiß, dass Indiens<br />
Rolle als Regionalmacht jedenfalls<br />
auch auf konstruktiven Beziehungen <strong>zu</strong><br />
den kle<strong>in</strong>en Nachbarstaaten beruht, die<br />
den großen Nachbarn bisher all<strong>zu</strong> oft als<br />
Hegemon empf<strong>in</strong>den.<br />
Mit se<strong>in</strong>er Reisediplomatie hat der<br />
clevere Stratege e<strong>in</strong> erstes Ziel erreicht:<br />
Zustimmung an allen Fronten. Modi, das<br />
ist der mediale E<strong>in</strong>druck, eilt von Erfolg<br />
<strong>zu</strong> Erfolg und streichelt so das Ego se<strong>in</strong>er<br />
Landsleute, das durch den langsamen<br />
Zusammenbruch der wirtschaftlichen Erfolgsstory<br />
Indiens <strong>in</strong> den vergangenen<br />
Jahren angeschlagen war.<br />
E<strong>in</strong>zig das Verhältnis <strong>zu</strong> Pakistan gefährdet<br />
se<strong>in</strong>e Pläne – und das nicht nur,<br />
weil der Nachbar seit jeher Indiens Nemesis<br />
ist. Der Ab<strong>zu</strong>g der Nato-Truppen aus<br />
Afghanistan, das Pakistans Armee nach<br />
wie vor als se<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>terhof betrachtet,<br />
und die Ankündigung der Terrororganisation<br />
Al Qaida, e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dischen Ableger<br />
<strong>zu</strong> gründen, lassen Modi Schlimmes<br />
befürchten.<br />
Während Pakistans Regierungschef<br />
Nawaz Sharif massiv unter Druck steht<br />
und angesichts von Massendemonstrationen<br />
kaum mehr handlungsfähig sche<strong>in</strong>t,<br />
hat sich <strong>in</strong> Indien e<strong>in</strong> politischer Konsens<br />
gebildet, der „klare Kante“ gegenüber<br />
Pakistan fordert. Entsprechend hat<br />
Modi kürzlich Gespräche mit Islamabad<br />
abgesagt, nachdem der pakistanische<br />
Botschafter <strong>in</strong> Indien sich mit separatistischen<br />
Führern aus dem zwischen beiden<br />
Ländern umstrittenen Kaschmir getroffen<br />
hatte.<br />
Obwohl der Schritt von den <strong>in</strong>dischen<br />
Medien teilweise kritisiert wurde,<br />
mag es dennoch e<strong>in</strong> geschickter Schach<strong>zu</strong>g<br />
gewesen se<strong>in</strong>. Modi konnte Härte demonstrieren<br />
<strong>in</strong> der Gewissheit, dass die<br />
bilateralen Gespräche vermutlich ergebnislos<br />
geblieben wären, da derzeit unklar<br />
ist, ob Nawaz Sharif im Amt bleibt und<br />
welches Spiel die pakistanische Armee<br />
spielt.<br />
DOCH DAMIT s<strong>in</strong>d Indiens Probleme<br />
längst nicht erledigt. Es ist <strong>zu</strong> erwarten,<br />
dass Al Qaidas Ankündigung Taten <strong>in</strong><br />
Form von Anschlägen folgen <strong>werden</strong>.<br />
Al Qaida mag sich selbst überschätzen,<br />
wenn die Terrororganisation glaubt, dass<br />
die Aussicht auf e<strong>in</strong> südasiatisches Kalifat<br />
nennenswerte Unterstüt<strong>zu</strong>ng <strong>in</strong> Indien<br />
f<strong>in</strong>den könnte. Doch angesichts<br />
der Größe Indiens und der engen Verb<strong>in</strong>dung<br />
zwischen Al Qaida und verschiedenen<br />
pakistanischen Terrorgruppen<br />
sche<strong>in</strong>t es nur noch e<strong>in</strong>e Frage der<br />
Zeit, bis e<strong>in</strong> neuerliches Attentat Indien<br />
erschüttern wird.<br />
Dies würde Narendra Modi vor<br />
e<strong>in</strong>e echte Herausforderung stellen. Angesichts<br />
der Stimmung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Land<br />
käme er um e<strong>in</strong>e militärische Antwort<br />
kaum herum. Strategische Analysten wie<br />
C. Raja Mohan fordern daher e<strong>in</strong>e engere<br />
Zusammenarbeit mit den USA, um den<br />
<strong>in</strong>ternationalen Terrorismus e<strong>in</strong><strong>zu</strong>dämmen.<br />
Ungeachtet dessen, dass <strong>in</strong> Indien<br />
wenig Bereitschaft besteht, den Westen<br />
beim Kampf gegen den „Islamischen<br />
Staat“ <strong>zu</strong> unterstützen.<br />
Gleichzeitig muss Modi <strong>in</strong>nenpolitisch<br />
aktiv <strong>werden</strong>. Gerne wird er jene<br />
Geschichten <strong>in</strong> Indiens Medien lesen, die<br />
se<strong>in</strong> Image als nicht korrupter Macher befördern,<br />
der mit dem alten Schlendrian<br />
aufräumt. So soll der Premier mitunter<br />
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69<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
Report<br />
persönlich <strong>in</strong>spizieren, ob se<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ister<br />
und Spitzenbeamten se<strong>in</strong>e Anweisung<br />
befolgen und pünktlich um 9 Uhr<br />
morgens ihren Dienst im Büro antreten.<br />
E<strong>in</strong> M<strong>in</strong>ister, der <strong>in</strong> Jeans auf dem Weg<br />
<strong>zu</strong>m Flughafen war, wurde angeblich von<br />
Modi <strong>zu</strong>rückbeordert, um sich angemessen<br />
<strong>zu</strong> kleiden.<br />
Diese Anekdoten, die von Modis PR-<br />
Masch<strong>in</strong>erie sorgfältig gestreut <strong>werden</strong>,<br />
verfehlten ihre Wirkung <strong>in</strong> den ersten<br />
Wochen se<strong>in</strong>er Amtszeit nicht. Obwohl<br />
bis dah<strong>in</strong> relativ wenig konkrete Initiativen<br />
<strong>zu</strong> erkennen waren.<br />
Das hat sich <strong>in</strong>zwischen geändert.<br />
Modi wählte den <strong>in</strong>dischen Unabhängigkeitstag<br />
am 15. August für e<strong>in</strong>e Rede, <strong>in</strong><br />
der er nicht nur se<strong>in</strong>e Vision für Indien<br />
darlegte, sondern auch konkrete Maßnahmen<br />
ankündigte.<br />
Die Abschaffung der Planungskommission<br />
ist das stärkste Signal an alle, die<br />
auf e<strong>in</strong>e Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik<br />
gewartet haben. Die Planungskommission,<br />
die unter anderem die Fünf-<br />
Jahres-Pläne für die Regierung erstellte,<br />
ist e<strong>in</strong> Relikt aus sozialistischer Zeit und<br />
galt <strong>zu</strong>m Schluss vor allem als E<strong>in</strong>richtung,<br />
<strong>in</strong> der die Regierung wichtige Leute<br />
mit Posten versorgen konnte. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
ist bis heute unklar, was an die Stelle der<br />
Kommission treten soll. Die vage Andeutung,<br />
dass sie durch e<strong>in</strong>en Th<strong>in</strong>ktank ersetzt<br />
<strong>werden</strong> könnte, überzeugte <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest<br />
die Wirtschaftszeitung M<strong>in</strong>t nicht.<br />
In e<strong>in</strong>em Kommentar zitierte sie gallig<br />
den ehemaligen ch<strong>in</strong>esischen Staatsführer<br />
Deng Xiaop<strong>in</strong>g mit den Worten: „Es<br />
ist egal, ob e<strong>in</strong>e Katze schwarz oder weiß<br />
ist, solange sie Mäuse fängt.“<br />
GRÖSSERE WIRKUNG könnte Modis Ankündigung<br />
haben, jeden <strong>in</strong>dischen Haushalt<br />
mit e<strong>in</strong>em Bankkonto aus<strong>zu</strong>statten.<br />
Da<strong>zu</strong> muss man wissen: Von 1,2 Milliarden<br />
Indern haben nur etwa 684 Millionen<br />
e<strong>in</strong> Bankkonto. In e<strong>in</strong>er ersten Phase<br />
soll jeder Haushalt im Land e<strong>in</strong> kostenfreies<br />
Bankkonto erhalten. In der zweiten<br />
Phase sollen auf die Armen <strong>zu</strong>geschnittene<br />
F<strong>in</strong>anzprodukte dafür sorgen, dass<br />
die Konten nicht ungenutzt bleiben. Das<br />
Interesse der Bürger ist enorm: Gleich am<br />
ersten Tag stürmten 15 Millionen Menschen<br />
die rund 80 000 extra hierfür e<strong>in</strong>gerichteten<br />
Regierungsstellen und meldeten<br />
sich für das Programm an.<br />
Die Ökonomen Akshay Gakhar und<br />
Geetanjali Nataraj s<strong>in</strong>d überzeugt, dass<br />
das Programm da<strong>zu</strong> beitragen könnte,<br />
„viele Industrien <strong>zu</strong> formalisieren“, weil<br />
es helfen wird, „E<strong>in</strong>kommen <strong>zu</strong> katalogisieren<br />
und <strong>zu</strong> besteuern“.<br />
Dass Modi es ernst me<strong>in</strong>t mit se<strong>in</strong>er<br />
Reformagenda, die auch die Armen mit<br />
auf den Wachstumspfad nehmen will,<br />
machte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede <strong>zu</strong>m Unabhängigkeitstag<br />
deutlich. Er sprach über e<strong>in</strong><br />
Thema, über das man <strong>in</strong> Indien nicht gern<br />
spricht: Toiletten.<br />
„Brüder und Schwestern, wir leben<br />
im 21. Jahrhundert, aber viele unserer<br />
Mütter und Schwestern erledigen<br />
‚ihr Geschäft‘ nach wie vor auf freiem<br />
Feld. Können wir nicht e<strong>in</strong>fach Toiletten<br />
bauen? Ihr müsst schockiert se<strong>in</strong>,<br />
den Premierm<strong>in</strong>ister vom Roten Fort<br />
aus über Sauberkeit und die Notwendigkeit<br />
des Toilettenbaus sprechen <strong>zu</strong><br />
hören. Aber es ist me<strong>in</strong>e tiefe Überzeugung.<br />
Ich komme aus e<strong>in</strong>er armen Familie,<br />
ich habe Armut gesehen. Die Armen<br />
brauchen Respekt, und das fängt<br />
mit Sauberkeit an.“<br />
Auch bei e<strong>in</strong>em weiteren Thema bewies<br />
Modi Mut. In e<strong>in</strong>em Land, das <strong>in</strong><br />
den vergangenen Jahren durch zahlreiche<br />
Massenvergewaltigungen an <strong>junge</strong>n<br />
Frauen über sich selbst schockiert ist,<br />
stellte er Fragen, die Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen kaum<br />
besser hätten formulieren können: „Eltern<br />
fragen ihre Töchter hundert Fragen,<br />
aber haben sie sich jemals getraut, ihren<br />
Sohn <strong>zu</strong> fragen, warum er ausgeht und<br />
woh<strong>in</strong> und wer se<strong>in</strong>e Freunde s<strong>in</strong>d? Auch<br />
e<strong>in</strong> Vergewaltiger ist der Sohn von jemandem.<br />
Er hat Eltern. Haben wir jemals<br />
über das Geschlechtsverhältnis <strong>in</strong> diesem<br />
Land nachgedacht? Auf 1000 Jungen<br />
<strong>werden</strong> 940 Mädchen geboren. Wer<br />
verursacht dieses Ungleichgewicht? Gott<br />
Die Hiranandani Gardens s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong><br />
S<strong>in</strong>nbild des neuen Mumbais. In<br />
den Wohn- und Bürokomplexen<br />
wohnt und arbeitet die gehobene<br />
Mittelschicht des Landes<br />
70<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
71<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELTBÜHNE<br />
Report<br />
Trotz e<strong>in</strong>er hohen Inflation s<strong>in</strong>d die<br />
Preise <strong>in</strong> Indien im Vergleich <strong>zu</strong><br />
Industrieländern immer noch<br />
niedrig. Indiens Wirtschaft liegt<br />
nach Angaben des IWF auf Platz 12<br />
den Nachwahlen e<strong>in</strong>e Niederlage. „Die<br />
Wähler haben der Bharatiya Janata Partei<br />
e<strong>in</strong>e Lektion erteilt, <strong>in</strong>dem sie Kandidaten<br />
der säkularen Parteien bevor<strong>zu</strong>gten“,<br />
sagt T. V. Rajeswar, der frühere<br />
Gouverneur des <strong>in</strong>dischen Bundesstaats<br />
Uttar Pradesh.<br />
Fotos: Johann Rousselot/Laif (Seiten 64 bis 72), Privat (Autor<strong>in</strong>)<br />
ganz bestimmt nicht. Das Ungleichgewicht<br />
weist auf e<strong>in</strong>en Genozid an weiblichen<br />
Föten und den verdorbenen Geistes<strong>zu</strong>stand<br />
des 21. Jahrhunderts h<strong>in</strong>.<br />
Davon müssen wir uns befreien.“<br />
Starke Worte, die auf e<strong>in</strong>en Ehrgeiz<br />
und auch auf e<strong>in</strong>en moralischen Rigorismus<br />
h<strong>in</strong>weisen, den Indien seit Mahatma<br />
Gandhi nicht mehr bei e<strong>in</strong>em Politiker<br />
erlebt hat. Man mag über solche „Ruck“-<br />
Reden geteilter Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>. In Indien<br />
verfehlten Modis Worte <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest kurzfristig<br />
ihre Wirkung nicht. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
weist der renommierte Journalist Manoj<br />
Joshi <strong>zu</strong> Recht darauf h<strong>in</strong>, dass Modi viel<br />
von „moralischer Korruption“ redet, das<br />
Thema der „monetären Korruption“ bisher<br />
aber kaum angeschnitten hat. Sie ist<br />
e<strong>in</strong>e der größten Bremsen für die Wirtschaft<br />
und verschreckt vor allem ausländische<br />
Investoren.<br />
„KORRUPTION ist so weit verbreitet, dass<br />
sie nicht von e<strong>in</strong>em wachsamen Führer<br />
alle<strong>in</strong> gestoppt <strong>werden</strong> kann. Sie muss<br />
auf Ebene der Institutionen angegangen<br />
<strong>werden</strong>“, sagt Joshi. Und Korruption ist<br />
nicht das e<strong>in</strong>zige Problem, <strong>zu</strong> dessen<br />
Lösung Modi Mitstreiter und neue Strukturen<br />
braucht.<br />
Arv<strong>in</strong>d Kumar, e<strong>in</strong>er der Wahlkampfmanager<br />
Modis, sagt, dass der<br />
personalisierte Wahlkampf da<strong>zu</strong> geführt<br />
habe, dass der Premier alle<strong>in</strong> als Wahlsieger<br />
betrachtet wird, nicht aber se<strong>in</strong>e Partei.<br />
Nun steht er nicht nur vor dem Problem,<br />
dass se<strong>in</strong>e Bharatiya Janata Partei<br />
nicht über genügend qualifiziertes Personal<br />
verfügt, um alle wichtigen Posten<br />
<strong>zu</strong> besetzen. Auch muss er die Hitzköpfe<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Partei unter Kontrolle br<strong>in</strong>gen,<br />
die nicht e<strong>in</strong>sehen wollen, dass der überwältigende<br />
Wahlsieg vor allem auf Modis<br />
wirtschaftspolitischem Reformversprechen<br />
beruht und nicht etwa auf e<strong>in</strong>er gesteigerten<br />
Bereitschaft der Wähler für<br />
e<strong>in</strong>e „H<strong>in</strong>duisierung“ des Bildungskanons<br />
oder gar kommunale Gewalt.<br />
Bei den Nachwahlen im September<br />
<strong>in</strong> den Bundesstaaten Uttar Pradesh,<br />
Rajasthan und Gujarat versuchten führende<br />
Politiker der Bharatiya Janata<br />
Partei, unter anderem deren Präsident<br />
Amit Shah, mit antimuslimischen Reden<br />
<strong>zu</strong> punkten. Doch ohne Erfolg. In allen<br />
drei Bundesstaaten erlitt Modis Partei <strong>in</strong><br />
FÜR MODI sollte dies Warnung genug<br />
se<strong>in</strong>. Auch wenn er aufgrund se<strong>in</strong>er eigenen<br />
Vergangenheit als Mitglied der<br />
H<strong>in</strong>du-nationalistischen Kaderorganisation<br />
Rashtriya Swayamsevak Sangh den<br />
H<strong>in</strong>dutva-Brigaden näherstehen dürfte,<br />
als se<strong>in</strong> sorgfältig gepflegtes neues Image<br />
es heute <strong>zu</strong>lässt, ist er doch klug genug<br />
<strong>zu</strong> wissen, dass er damit Indien weder auf<br />
den Wachstumspfad <strong>zu</strong>rückführen noch<br />
<strong>in</strong>ternational <strong>zu</strong> mehr Gewicht verhelfen<br />
wird.<br />
„Modi muss sicherstellen, dass er<br />
jetzt der Ma<strong>in</strong>stream der Bharatiya Janata<br />
Partei ist“, sagt der Journalist Manoj<br />
Joshi. Das hätte den Vorteil, dass damit<br />
auch der „alte“ Modi, der die Muslime<br />
im In- und Ausland das Fürchten lehrte<br />
und der <strong>in</strong> den USA E<strong>in</strong>reiseverbot hatte,<br />
dorth<strong>in</strong> verfrachtet wird, wo er h<strong>in</strong>gehört:<br />
aufs Abstellgleis der Geschichte.<br />
BRITTA PETERSEN ist Senior<br />
Fellow bei der Observer Research<br />
Foundation <strong>in</strong> Neu-Delhi. Sie<br />
hofft, dass Indien Modi ebenso<br />
verändern wird wie Modi Indien<br />
72<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
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WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
JENSEITS<br />
VON EDEN<br />
Tausende verlassen jedes Jahr ihre Heimat.<br />
Sie wollen e<strong>in</strong> besseres Leben, wollen<br />
Armut und Krieg entfliehen. Der Fotograf<br />
Carlos Spottorno zeigt, wie Europa sich<br />
vor diesen Flüchtl<strong>in</strong>gen abschottet<br />
Mithilfe professioneller Schlepperbanden hoffen Pakistaner, Syrer oder Nigerianer von Libyen aus<br />
nach Europa <strong>zu</strong> gelangen. Die italienische Mar<strong>in</strong>e fischt die Flüchtl<strong>in</strong>ge aus dem Mittelmeer.<br />
Lampedusa ist das vorläufige Ende der Odyssee<br />
74<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Für Tausende <strong>junge</strong>r Afrikaner ist der Berg Gurugu <strong>in</strong> Marokko Zwischenstation auf dem Weg nach<br />
Europa. Viele verbr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> der Zeltstadt Monate, wenn nicht gar Jahre – das Ziel stets im Blick
WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
Oben: Immer wieder versuchen Flüchtl<strong>in</strong>ge von Libyen aus das Meer nach Europa <strong>zu</strong> überqueren.<br />
Meist <strong>werden</strong> die überfüllten Boote im Mittelmeer von der italienischen Mar<strong>in</strong>e aufgebracht<br />
Rechts: Melilla, e<strong>in</strong>e spanische Exklave <strong>in</strong> Nordafrika, gilt vielen als Tor nach Europa. Tausende Marokkaner<br />
fahren täglich <strong>in</strong> die Stadt, um dort <strong>zu</strong> arbeiten. E<strong>in</strong> besonderer Pass erlaubt ihnen den Grenzübertritt<br />
78<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Mit e<strong>in</strong>em Seemannsgebet beg<strong>in</strong>nt im Morgengrauen der Dienst auf der italienischen Fregatte Grecale.<br />
Die Aufgabe der Matrosen ist es, Flüchtl<strong>in</strong>gsboote im Mittelmeer auf<strong>zu</strong>spüren
WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
Harmanli an der bulgarisch-türkischen Grenze ist das größte Flüchtl<strong>in</strong>gslager <strong>in</strong> Bulgarien. Mittlerweile<br />
leben <strong>in</strong> der ehemaligen Militärkaserne mehr als 1600 Menschen – die meisten kommen aus Syrien<br />
Sie kommen aus Marokko, Mali, dem Jemen und<br />
der Elfenbe<strong>in</strong>küste; aus Syrien, Afghanistan und<br />
dem Irak. Täglich versuchen Zehntausende Menschen<br />
verzweifelt nach Europa <strong>zu</strong> gelangen – auf Flößen,<br />
<strong>zu</strong> Fuß und <strong>in</strong> Lastwagen <strong>zu</strong>sammengepfercht. Sie<br />
verlassen ihre Heimat, weil Armut, Krieg und Hunger<br />
ihr Leben unerträglich gemacht haben. E<strong>in</strong>ige von ihnen<br />
s<strong>in</strong>d jahrelang auf der Reise und <strong>werden</strong> von e<strong>in</strong>em<br />
Schleuser <strong>zu</strong>m nächsten gereicht. Die Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
s<strong>in</strong>d der Gnade skrupelloser Krim<strong>in</strong>eller ausgeliefert,<br />
die sie als Ware betrachten und ihre Verzweiflung ausnutzen.<br />
Sie riskieren alles, manches Mal sogar ihr Leben,<br />
um <strong>in</strong> das verheißene Land <strong>zu</strong> gelangen – Europa.<br />
Die Europäische Union aber schottet sich ab. Ihre<br />
Außengrenzen – etwa <strong>in</strong> Italien, Spanien, Griechenland<br />
und Bulgarien – <strong>werden</strong> mit allen Mitteln gesichert.<br />
Ke<strong>in</strong>er soll <strong>in</strong> die EU gelangen, den man dort<br />
nicht haben will.<br />
Doch wer darf re<strong>in</strong>, und wer muss draußen bleiben?<br />
Für e<strong>in</strong>ige EU-Staaten ist E<strong>in</strong>wanderung e<strong>in</strong>e überlebenswichtige<br />
Notwendigkeit angesichts überalterter<br />
Bevölkerungen. Andere sehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ungezügelten<br />
E<strong>in</strong>wanderung e<strong>in</strong>e Bedrohung für kle<strong>in</strong>ere Kommunen<br />
und für die kulturelle Identität der EU-Länder.<br />
In Sonntagsreden beschwören Politiker Gerechtigkeitsstandards<br />
oder den europäischen Wertekonsens.<br />
Damit aber <strong>werden</strong> sie die Männer, Frauen und K<strong>in</strong>der<br />
nicht abhalten, die an der libyschen Küste an Bord überfüllter<br />
Boote gehen, um e<strong>in</strong>e gefährliche Reise über das<br />
Mittelmeer an<strong>zu</strong>treten. Ebenso wenig wie jene Flüchtl<strong>in</strong>ge,<br />
die <strong>in</strong> Wäldern <strong>in</strong> der Nähe der Städte Melilla und<br />
Ceuta überleben, den spanischen Exklaven <strong>in</strong> Nordafrika.<br />
Oder jene Familien, die nachts die Balkanberge<br />
überqueren.<br />
Der Fotograf Carlos Spottorno ist an die Südgrenzen<br />
der EU gereist und hat den Alltag jener dokumentiert,<br />
die diese Grenzen bewachen. Und die Schicksale<br />
derer, die versuchen, genau diese Grenzen <strong>zu</strong> überw<strong>in</strong>den.<br />
Es ist e<strong>in</strong> Drama, das sich vor Europas Toren<br />
abspielt. In e<strong>in</strong>er Europäischen Union, die nach <strong>in</strong>nen<br />
grenzenlos ist, aber ihre äußeren Grenzen so streng<br />
bewacht wie nie <strong>zu</strong>vor.<br />
Judith Hart<br />
Fotos: Carlos Spottorno/Panos Pictures (Seiten 75 bis 82)<br />
82<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
KAPITAL<br />
„ Die Mehrheit<br />
der <strong>Deutsche</strong>n ist<br />
neuerd<strong>in</strong>gs für die<br />
Erhöhung des<br />
Verteidigungsetats.<br />
Das ist wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
das erste Mal<br />
seit der Kubakrise “<br />
Airbus-Chef Thomas Enders im <strong>Cicero</strong>-Gespräch, Seite 92<br />
83<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
DER WAHRE MISTER KARSTADT<br />
Middelhoff, Berggruen, Benko: Hellmut Patzelt muss als Betriebsratschef schon wieder<br />
über die Zukunft se<strong>in</strong>er Kollegen verhandeln. Aufgeben ist für ihn ke<strong>in</strong>e Option<br />
Von TIL KNIPPER<br />
H<strong>in</strong>ter Hellmut Patzelts Schreibtisch<br />
im Betriebsratsbüro der<br />
Fuldaer Karstadt-Filiale hängt<br />
e<strong>in</strong>e Seite der Süddeutschen Zeitung. Sie<br />
handelt davon, wie viel Zeit Menschen <strong>in</strong><br />
Sit<strong>zu</strong>ngen verschwenden. Auf der Seite<br />
ist e<strong>in</strong>e Illustration mit Tieren <strong>zu</strong> sehen,<br />
die an e<strong>in</strong>em Konferenztisch sitzen. Am<br />
Kopfende sitzt das Nashorn, man sieht<br />
aber nur das Namensschild: René Rh<strong>in</strong>o,<br />
Funktionsbezeichnung „Hohes Tier“.<br />
Wenn man als Besucher <strong>zu</strong> lange<br />
auf das Bild guckt, wirft Patzelt sofort<br />
e<strong>in</strong>: „Das ist ke<strong>in</strong>e Anspielung auf René<br />
Benko, unseren neuen Eigentümer.“<br />
Hellmut Patzelt ist der Vorsitzende<br />
aller Betriebsräte aller Karstadt-Filialen<br />
<strong>in</strong> Deutschland. 60 Jahre alt, 46 davon<br />
bei Karstadt. Aber wie es diesmal weitergeht,<br />
wagt er nicht <strong>zu</strong> prophezeien. Seit<br />
zehn Jahren steht er an der Spitze des<br />
Betriebsrats, drei Sanierungsverhandlungen<br />
hat er schon mit der Arbeitgeberseite<br />
führen müssen. Er war Zeuge, als Thomas<br />
Middelhoff 2008 die Konzernleitung<br />
übernahm – und Karstadt <strong>in</strong> die Insolvenz<br />
führte. Er erlebte, wie 2010 Politik<br />
und Medien Nicolas Berggruen <strong>zu</strong>m<br />
Mister Karstadt ausriefen – und wie dieser<br />
sich dann davonmachte.<br />
Nun heißt der Investor René Benko,<br />
e<strong>in</strong> Immobilienmilliardär. Patzelt hat<br />
ihn schon getroffen, über die Zukunft<br />
se<strong>in</strong>er Kollegen wird er <strong>in</strong> den nächsten<br />
Wochen mit Benkos Managern verhandeln,<br />
se<strong>in</strong>e vierte Sanierungsrunde.<br />
2000 Arbeitsplätze stehen auf dem<br />
Spiel. Aufsichtsratschef Stephan Fanderl<br />
hat angekündigt, dass mehr als 20 der<br />
83 Warenhausstandorte überprüft <strong>werden</strong>.<br />
Die Hauptverwaltung <strong>in</strong> Essen gilt<br />
als überbesetzt.<br />
Patzelt will da<strong>zu</strong> nicht Stellung nehmen.<br />
Er ist ke<strong>in</strong> Freund von Spekulationen,<br />
er ist aber auch ke<strong>in</strong> starrs<strong>in</strong>niger<br />
Gewerkschaftsideologe, sondern sieht<br />
se<strong>in</strong>e Aufgabe pragmatisch: „Als stellvertretender<br />
Aufsichtsratsvorsitzender<br />
weiß ich, dass wir um e<strong>in</strong>e Sanierung<br />
nicht herumkommen, als Betriebsrat<br />
muss ich sie dann bestmöglich gestalten.“<br />
Ob Sanierungsverhandlungen für ihn <strong>in</strong>zwischen<br />
Rout<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d? „Ne<strong>in</strong>, ich weiß,<br />
was auf mich <strong>zu</strong>kommt, aber <strong>zu</strong>r Rout<strong>in</strong>e<br />
darf das nie <strong>werden</strong>. Das wäre grausam.“<br />
DER CHEF DES BETRIEBSRATS ist e<strong>in</strong>e<br />
Kämpfernatur, gleichzeitig muss er viele<br />
Interessen vere<strong>in</strong>en. Manche Mitarbeiter<br />
wollen bei weiteren Kür<strong>zu</strong>ngen laut<br />
protestieren, andere s<strong>in</strong>d bereit, weitere<br />
E<strong>in</strong>schnitte h<strong>in</strong><strong>zu</strong>nehmen, sofern sie ihren<br />
Arbeitsplatz behalten. Dem Management<br />
versucht er <strong>zu</strong> vermitteln, dass es<br />
dem Weihnachtsgeschäft, dem wichtigsten<br />
Quartal des Jahres, schaden könnte,<br />
wenn <strong>zu</strong> viel gespart wird.<br />
Patzelt kann zwischen den Fronten<br />
vermitteln. Die Gewerkschaft Verdi, die<br />
Kollegen, aber auch die Manager hören<br />
ihm <strong>zu</strong>. Den Respekt hat er sich erarbeitet,<br />
weil er unbequem ist.<br />
Und es gibt wahrsche<strong>in</strong>lich kaum<br />
jemanden, der das Unternehmen so gut<br />
kennt. Mit 14 hat er angefangen. 1968<br />
war das, Deutschland erlebte das Wirtschaftswunder,<br />
Rolltreppen waren noch<br />
etwas Besonderes, und <strong>in</strong> die Regale kamen<br />
die ersten Farbfernseher. Patzelt<br />
begann <strong>in</strong> Fulda se<strong>in</strong>e kaufmännische<br />
Lehre. Bald setzte er sich für die Belange<br />
se<strong>in</strong>er Kollegen e<strong>in</strong>.<br />
Abschalten fällt ihm schwer. Wenn er<br />
Urlaub im Ausland macht mit se<strong>in</strong>er Familie<br />
oder Freunden, <strong>werden</strong> Innenstädte<br />
und E<strong>in</strong>kaufszentren weiträumig umfahren,<br />
damit er nicht sofort <strong>in</strong> die dortigen<br />
Kaufhäuser rennt, um den Standort<br />
e<strong>in</strong>er Analyse <strong>zu</strong> unterziehen. Karstadt<br />
ist se<strong>in</strong> Leben. Er glaubt an die Zukunft<br />
des Geschäftsmodells Warenhaus <strong>in</strong><br />
Deutschland, trotz des immer härteren<br />
Wettbewerbs durch Onl<strong>in</strong>eplattformen,<br />
Discounter und E<strong>in</strong>zelhandel. Kaufhof<br />
macht doch sogar Gew<strong>in</strong>n. „Wir müssen<br />
jetzt nur Herrn Benko davon überzeugen,<br />
damit er Spaß am Betrieb von Warenhäusern<br />
bekommt“, sagt Patzelt.<br />
Man merkt ihm auf den ersten Blick<br />
nicht an, wie anstrengend die Dauerkrise<br />
bei Karstadt für ihn ist, weil er als passionierter<br />
Langstreckenläufer äußerlich<br />
e<strong>in</strong>en fitten E<strong>in</strong>druck macht. 60 000 Kilometer<br />
im Jahr fährt er h<strong>in</strong> und her.<br />
Flensburg, Rosenheim, Mülheim, Berl<strong>in</strong>,<br />
er möchte <strong>in</strong> den Filialen Präsenz zeigen.<br />
„Die Karstadt-Mitarbeiter, das s<strong>in</strong>d<br />
die eigentlichen Helden der vergangenen<br />
Jahre“, wiederholt Patzelt immer wieder.<br />
Daraus zieht er se<strong>in</strong>e Motivation, auch<br />
wenn ihn Mitarbeiter wieder und wieder<br />
fragen, wie es weitergehen soll? „Ich<br />
muss den Leuten immer sagen: Wir kriegen<br />
das h<strong>in</strong> und im H<strong>in</strong>terkopf darüber<br />
nachdenken, was …“, er beendet den Satz<br />
nur mit e<strong>in</strong>em hörbaren Seufzer.<br />
Illusionen gibt sich Patzelt nicht h<strong>in</strong>.<br />
Er geht selbst nächstes Jahr <strong>in</strong> den Ruhestand.<br />
Am Ende wäre es für ihn schon<br />
e<strong>in</strong> Erfolg, wenn er sagen kann: „Ich<br />
habe diese Sanierung so gestalten können,<br />
dass sie nicht so hart e<strong>in</strong>geschlagen<br />
ist, wie ursprünglich gedacht.“<br />
Passend da<strong>zu</strong> wird <strong>in</strong> der Zeitung<br />
h<strong>in</strong>ter ihm die Hexenszene aus Macbeth<br />
zitiert. Auf die Frage der ersten, wann<br />
man sich wieder treffe, antwortet die<br />
zweite: „Wenn der Wirrwarr ist zerronnen,<br />
Schlacht verloren und gewonnen.“<br />
TIL KNIPPER leitet das Ressort Kapital und<br />
hatte <strong>in</strong> acht Jahren mehr Arbeitgeber als<br />
Hellmut Patzelt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganzen Karriere<br />
Foto: Oliver Rüther für <strong>Cicero</strong><br />
84<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
PINK UND TAFF<br />
Vom Kriegsflüchtl<strong>in</strong>g <strong>zu</strong>r Millionär<strong>in</strong> mit Villa und Pool: Jasm<strong>in</strong> Taylor führt ihr eigenes<br />
Reiseunternehmen. Nun möchte sie ihren Erfolg teilen und anderen Migrant<strong>in</strong>nen helfen<br />
Von DANIELA SINGHAL<br />
Es ist nicht ihre Liebl<strong>in</strong>gsfarbe, aber<br />
trotzdem ist <strong>in</strong> der Zentrale alles<br />
p<strong>in</strong>k. Die Wände, die Stühle, der<br />
Deckel auf der Wasserkaraffe, die Sonnenschirme<br />
und auch die Rosen im Garten<br />
der alten Villa im Berl<strong>in</strong>er Westend.<br />
Und Jasm<strong>in</strong> Taylor selbst auch! Die<br />
knallige Farbe ihres Kleides passt <strong>zu</strong><br />
den dunklen Haaren und Augen der gebürtigen<br />
Iraner<strong>in</strong>. Ist P<strong>in</strong>k deshalb die<br />
Farbe ihres Unternehmens JT Touristik?<br />
„Ne<strong>in</strong>, wir wollen gezielt Frauen ansprechen,<br />
weil sie oft die Entscheidung für<br />
e<strong>in</strong>en Urlaubsort treffen. Deshalb haben<br />
wir e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong><strong>in</strong>e Farbe gewählt“, sagt<br />
die Unternehmer<strong>in</strong>.<br />
Schon als K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Teheran träumte<br />
Jasm<strong>in</strong> Taylor von e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> Europa.<br />
Als sie 13 Jahre alt war, begann die<br />
iranische Revolution, anschließend der<br />
Krieg gegen den Irak. „Da fielen täglich<br />
Bomben. Auf den Straßen Teherans sahen<br />
wir so viel Blut und Tote. E<strong>in</strong> normales<br />
Leben war nicht mehr möglich.“ Ihre<br />
Eltern beschlossen, die damals 17-Jährige<br />
nach Deutschland <strong>zu</strong> schicken. Sie<br />
wollten später nachkommen. Jasm<strong>in</strong> Taylor<br />
verließ Heimat und Familie und flüchtete<br />
<strong>in</strong> die Bundesrepublik. Ihre Eltern<br />
kamen nie nach, da der Vater an Krebs<br />
erkrankte und starb.<br />
Heute ist Taylor Ende 40, ihr genaues<br />
Alter will sie nicht verraten. In der<br />
1000 Quadratmeter großen Berl<strong>in</strong>er Villa<br />
mit firmeneigenem Pool bef<strong>in</strong>det sich<br />
nicht nur der Firmensitz, sondern auch<br />
ihre Privatwohnung. Taylor, Gründer<strong>in</strong><br />
und Alle<strong>in</strong>eigentümer<strong>in</strong> des Unternehmens,<br />
setzte 2013 120 Millionen Euro<br />
um. Prognose für 2014: 150 Millionen.<br />
Exquisiter Pauschalurlaub <strong>zu</strong> erschw<strong>in</strong>glichen,<br />
tagesaktuellen Preisen,<br />
das ist ihr Geschäft. Das Unternehmen<br />
beschäftigt etwa 50 Mitarbeiter und bietet<br />
Reisen <strong>in</strong> 135 Länder an. 2011 wurde<br />
sie vom Travel Industry Club als erste<br />
Frau überhaupt <strong>zu</strong>r Reisemanager<strong>in</strong> des<br />
Jahres gewählt.<br />
Ihr deutsches Leben begann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
kle<strong>in</strong>en Wohnung <strong>in</strong> Bonn. Taylor<br />
besuchte e<strong>in</strong> halbes Jahr e<strong>in</strong>en Sprachkurs,<br />
arbeitete Vollzeit als Zimmermädchen<br />
und paukte so lange, bis sie<br />
im zweiten Anlauf die Aufnahmeprüfung<br />
fürs Gymnasium bestand. Alle<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fremden Land, hatte sie ke<strong>in</strong><br />
Heimweh? „Doch sehr, aber das ist wie<br />
Liebeskummer: Man denkt, dass man<br />
daran stirbt, aber weiß, dass es irgendwann<br />
aufhört“, sagt Taylor. Nach dem<br />
Abitur studierte sie <strong>in</strong> den USA Psychologie<br />
und Wirtschaftswissenschaften. Danach<br />
kehrte sie nach Deutschland <strong>zu</strong>rück,<br />
um sich selbstständig <strong>zu</strong> machen. Es gab<br />
zwischendurch auch e<strong>in</strong>e Hochzeit und<br />
dann e<strong>in</strong>e Scheidung, aber darüber will<br />
sie nicht sprechen.<br />
MIT NICHTS AUSSER e<strong>in</strong>em Gewerbesche<strong>in</strong><br />
und ihrem Computer machte<br />
sie sich 2002 selbstständig. „Als Frau<br />
mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund wird e<strong>in</strong>em<br />
nicht unbed<strong>in</strong>gt viel <strong>zu</strong>getraut“, sagt sie.<br />
Da sie das Potenzial des Internets schon<br />
früh erkannt hatte, entschied sie sich, e<strong>in</strong><br />
Onl<strong>in</strong>e-Reisebüro <strong>zu</strong> gründen. Seit 2008<br />
konzentriert sie sich mit JT Touristik als<br />
Spezialist<strong>in</strong> für Reisen <strong>in</strong> die Vere<strong>in</strong>igten<br />
Arabischen Emirate auf diese Gebiete –<br />
e<strong>in</strong> vielversprechender Nischenmarkt.<br />
Will da angesichts der angrenzenden<br />
Krisenherde überhaupt jemand h<strong>in</strong>? „Na<br />
klar! Die Emirate zählen <strong>zu</strong> den sichersten<br />
Reisezielen weltweit.“ Taylor kommt<br />
<strong>in</strong>s Schwärmen: Weite Sandstrände <strong>in</strong><br />
Ras Al Khaimah, die besten Hotels der<br />
Welt <strong>in</strong> Abu Dhabi und Shoppen <strong>in</strong> den<br />
Boutiquen Dubais.<br />
Taylor versucht, die besten Attribute<br />
ihrer beiden Welten <strong>zu</strong> vermischen. Die<br />
<strong>Deutsche</strong> Genauigkeit und Pünktlichkeit.<br />
Und das persische Talent <strong>zu</strong>m Handeln.<br />
„Das ist ja hier wie auf e<strong>in</strong>em türkischen<br />
Basar“, warf ihr e<strong>in</strong> Kunde vor kurzem<br />
<strong>in</strong> Verhandlungen vor. Solche Kommentare<br />
weiß sie <strong>zu</strong> kontern: „Ich hätte me<strong>in</strong>en<br />
Job verfehlt, wenn ich nicht hart<br />
verhandelte!“<br />
Sie ist taff und f<strong>in</strong>det es dennoch<br />
wichtig, als erfolgreiche Frau weiblich <strong>zu</strong><br />
bleiben. Man dürfe nicht nur graue Anzüge<br />
tragen, männliche Züge annehmen<br />
und se<strong>in</strong>e Emotionen unterdrücken. „Die<br />
s<strong>in</strong>d nämlich sehr gut für das Geschäft.“<br />
Und sie möchte ihren Erfolg und ihre<br />
Erfahrungen mit anderen teilen. Deshalb<br />
gründete sie „SIS – Strong Independent<br />
Sisters“ und will damit andere Flüchtl<strong>in</strong>gsfrauen<br />
unterstützen: mit Deutschkursen,<br />
kulturellen Angeboten und psychologischer<br />
Betreuung. „Heute fühle ich<br />
mich stark und unabhängig. Als ich als<br />
<strong>junge</strong> Frau nach Deutschland kam, war<br />
das noch anders.“ Und der Iran? Fehlt<br />
er ihr? Sie denkt nach: „Ich b<strong>in</strong> noch ab<br />
und an dort. Aber me<strong>in</strong>e Heimat ist hier,<br />
hier <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.“<br />
DANIELA SINGHAL, Autor<strong>in</strong> aus Berl<strong>in</strong>, war<br />
überrascht, dass Jasm<strong>in</strong> Taylor überhaupt<br />
Zeit f<strong>in</strong>det, am Firmenpool <strong>zu</strong> entspannen<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht haben?<br />
Den Mittelstand!<br />
<strong>Cicero</strong> stellt <strong>in</strong> jeder Ausgabe<br />
e<strong>in</strong>en mittelständischen<br />
Unternehmer vor.<br />
Die bisherigen Porträts<br />
f<strong>in</strong>den Sie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
86<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
WIE DER VATER IN CHARMANT<br />
Der plötzliche Tod ihres Vaters hat Ana Botíns Sprung an die Spitze der größten Bank<br />
Europas beschleunigt. Tra<strong>in</strong>iert hat sie dafür aber schon ihr ganzes Leben<br />
Von THILO SCHÄFER<br />
Foto: Crist<strong>in</strong>a Quicler/AFP/Getty Images<br />
Zur Beerdigung von Emilio Botín,<br />
Spaniens mächtigstem Banker,<br />
kam Mitte September Spaniens<br />
komplette Wirtschaftselite auf dem Familiengut<br />
<strong>in</strong> Santander <strong>zu</strong>sammen. Unter<br />
der schwarz gekleideten Trauergesellschaft<br />
stach die älteste Tochter des<br />
verstorbenen Patriarchen hervor: Ana<br />
Patricia Botín trug <strong>zu</strong> Ehren ihres Vaters<br />
e<strong>in</strong>en knallroten Seidenschal <strong>in</strong> der<br />
Farbe der Bank, die sie nun <strong>in</strong> vierter Generation<br />
leitet.<br />
Für die Botíns ist Santander, die<br />
größte Bank der Eurozone, nicht irgende<strong>in</strong><br />
Unternehmen. „Die Bank bedeutet<br />
alles für mich“, schrieb Ana Botín <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
ersten Mitteilung an die weltweit<br />
185 000 Angestellten. Ihre Botschaft lautete:<br />
Die Familientradition geht weiter.<br />
Die älteste von sechs Geschwistern<br />
wurde schon als K<strong>in</strong>d auf ihre neue Aufgabe<br />
vorbereitet, mit dem für Bankertöchter<br />
klassischen Ausbildungsweg über<br />
Privatschulen <strong>in</strong> der Schweiz, Großbritannien<br />
und den USA sowie e<strong>in</strong>em MBA<br />
an der Harvard Bus<strong>in</strong>ess School. Wenn<br />
die spanischen Medien ihren Ehrgeiz<br />
beschreiben wollen, kramen sie immer<br />
wieder dieselbe Anekdote hervor: Im<br />
Schweizer Internat habe die zehnjährige<br />
Ana während e<strong>in</strong>er Klassenarbeit heftig<br />
mit e<strong>in</strong>er Klassenkamerad<strong>in</strong> gestritten,<br />
weil diese von ihr habe abschreiben<br />
wollen. Offiziell bestätigt wurde die Geschichte<br />
nie, sie passt aber perfekt <strong>zu</strong>m<br />
Image der diszipl<strong>in</strong>ierten Banker<strong>in</strong>, die<br />
täglich ab sechs Uhr im Büro ist.<br />
Ihre Karriere <strong>in</strong> der F<strong>in</strong>anzwelt begann<br />
Botín bei JP Morgan <strong>in</strong> New York.<br />
Nach sieben Jahren holte ihr Vater Emilio<br />
sie 1988 <strong>zu</strong> Santander. „Vergessen Sie<br />
nicht, dass es me<strong>in</strong>e Tochter ist. Also nehmen<br />
Sie sie härter ran als andere“, gab<br />
Botín dem ersten Vorgesetzten se<strong>in</strong>er<br />
Tochter mit auf den Weg.<br />
In den folgenden Jahren durchlief sie<br />
verschiedene Positionen <strong>in</strong> der Bank und<br />
war an der raschen Expansion der Spanier<br />
<strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika beteiligt. Ihr Aufstieg<br />
schien unaufhaltsam, und bei Mitarbeitern<br />
und Aktionären von Santander<br />
wurde sie bereits damals als Nachfolger<strong>in</strong><br />
ihres Vaters gehandelt. Bis sie im Februar<br />
1999 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview mit El País<br />
selbst erstmals offen über ihre Führungsambitionen<br />
plauderte. Zu offen, wie sich<br />
herausstellte. Denn Vater Emilio befand<br />
sich nach der Fusion von Santander mit<br />
der Banco Central Hispano <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zähen<br />
Machtkampf mit deren Vorständen,<br />
denen der E<strong>in</strong>fluss des Botín-Klans ohneh<strong>in</strong><br />
<strong>zu</strong> groß war. E<strong>in</strong>e ehrgeizige Tochter,<br />
die Ansprüche auf den Thron stellte,<br />
hätte die Fusion unter Gleichen gefährdet,<br />
so dass Patriarch Emilio ke<strong>in</strong>e andere<br />
Möglichkeit sah, als se<strong>in</strong>e Tochter<br />
<strong>zu</strong> entlassen.<br />
NACHDEM EMILIO den Machtkampf für<br />
sich entschieden hatte, holte er die Tochter<br />
drei Jahre später aus dem Exil <strong>zu</strong>rück<br />
und machte sie <strong>zu</strong>r Chef<strong>in</strong> der Tochterbank<br />
Banesto. 2012 schickte er sie nach<br />
Großbritannien, mittlerweile der wichtigste<br />
Markt der Bank. Die britische Insel<br />
passt <strong>zu</strong>m Charakter der heute 54-Jährigen,<br />
die durch ihre Ausbildung eher angelsächsisch<br />
als südländisch geprägt ist.<br />
„Im Pr<strong>in</strong>zip ist sie e<strong>in</strong>e elegantere, modernere<br />
und deutlich charmantere Version<br />
ihres Vaters“, sagt e<strong>in</strong> Londoner Bankmanager<br />
von der Konkurrenz.<br />
Ana Botín möchte ihre Erfahrungen<br />
außerhalb der väterlichen Bank aber gar<br />
nicht missen. Sie baute e<strong>in</strong>e Unternehmensberatung<br />
für Internetfirmen auf, die<br />
damals ihren ersten Boom erlebten. Der<br />
Ausflug war zwar f<strong>in</strong>anziell ke<strong>in</strong> großer<br />
Erfolg, aber aus heutiger Sicht e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Lehre für Botín.<br />
In den vergangenen vier Jahren, <strong>in</strong><br />
denen sie an der Spitze von Santander UK<br />
stand, bemühte sich Botín stark um britische<br />
Kle<strong>in</strong>unternehmer. „Als jemand, der<br />
e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Unternehmen gegründet hat,<br />
weiß ich, wie schwierig der Start <strong>in</strong> die<br />
Selbstständigkeit ist“, berichtete sie bei<br />
den raren öffentlichen Auftritten gern<br />
über die eigenen Erfahrungen.<br />
Diese Fokussierung auf den Mittelstand<br />
hat die neue Chef<strong>in</strong> auch <strong>in</strong> den ersten<br />
Äußerungen <strong>zu</strong>r künftigen Marschrichtung<br />
der Bank hervorgehoben. Im<br />
Gegensatz <strong>zu</strong> vielen <strong>in</strong>ternationalen<br />
Konkurrenten erzielt Santander 87 Prozent<br />
der E<strong>in</strong>nahmen im Brot-und-Butter-Geschäft<br />
mit Filialkunden, das Investmentbank<strong>in</strong>g<br />
spielt kaum e<strong>in</strong>e Rolle.<br />
Auch wenn e<strong>in</strong>igen Anlegern und<br />
Analysten die rasche Erbfolge bei Santander<br />
nicht gefallen hat, weil der E<strong>in</strong>fluss<br />
der Botíns auf das Kredit<strong>in</strong>stitut <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em<br />
Verhältnis <strong>zu</strong> ihren Anteilen von gerade<br />
e<strong>in</strong>mal 2 Prozent steht, wird es mit<br />
Ana Botín ke<strong>in</strong>en radikalen Kurswechsel<br />
geben, wohl aber e<strong>in</strong>en Kulturwandel.<br />
Kurz nach Amtsantritt stand sie allen<br />
Angestellten Rede und Antwort. Vater<br />
Emilio hatte sich immer nur an die<br />
Führungskräfte gerichtet. In der Aussprache<br />
mit der Belegschaft zeigte sich<br />
Ana Botín besorgt um das Image der<br />
Banken durch F<strong>in</strong>anzkrise und dubiose<br />
Verkaufspraktiken. Auch Santander<br />
hatte unwissenden Privatkunden hochspekulative<br />
F<strong>in</strong>anzprodukte untergejubelt.<br />
Das soll unter Ana Botín nicht<br />
mehr passieren: „Mir kommt es nicht alle<strong>in</strong><br />
auf das Ergebnis an, sondern auch<br />
auf die Art, wie wir es erzielen.“<br />
THILO SCHÄFER,Madrid-Korres pondent<br />
der Börsen-Zeitung, hat mehr Vertrauen <strong>in</strong><br />
die Zukunft der Botín-Dynastie als <strong>in</strong> die<br />
des spanischen Königshauses<br />
89<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
KAPITAL<br />
Reportage<br />
WIE IM FLUG<br />
Fahrräder<br />
mit Elektroantrieb <strong>werden</strong><br />
immer populärer.<br />
Heimliche Hochburg<br />
des Trends ist Stuttgart,<br />
bisher als Autostadt<br />
bekannt<br />
Von TIL KNIPPER<br />
Illustration KARSTEN PETRAT<br />
Als ich vom Stuttgarter Rathaus auf den<br />
512,2 Meter hohen Birkenkopf hochradle, kann<br />
ich <strong>zu</strong>m ersten Mal ansatzweise nachvollziehen,<br />
wie sich e<strong>in</strong>st der bis oben h<strong>in</strong> vollgedopte Lance Armstrong<br />
bei den Bergetappen der Tour de France gefühlt<br />
haben muss, wenn er den ebenfalls bis oben h<strong>in</strong> vollgedopten<br />
Jan Ullrich an den steilsten Anstiegen der<br />
Alpen und Pyrenäen ohne ersichtliche Anstrengung<br />
e<strong>in</strong>fach stehen ließ.<br />
Obwohl es über sechs Kilometer ständig bergauf<br />
geht, überw<strong>in</strong>de ich die knapp 300 Höhenmeter<br />
mit e<strong>in</strong>er Durchschnittsgeschw<strong>in</strong>digkeit von mehr als<br />
20 Stundenkilometern mühelos. An anderen Fahrradfahrern<br />
fliege ich förmlich vorbei. Zu verdanken habe<br />
ich das nicht etwa e<strong>in</strong>er überragenden Fitness oder der<br />
gezielten E<strong>in</strong>nahme von Epo, sondern dem kle<strong>in</strong>en<br />
Elektromotor des geliehenen Elektrofahrrads, der mir<br />
bis <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Geschw<strong>in</strong>digkeit von 25 Stundenkilometern<br />
e<strong>in</strong>en großen Teil der Arbeit abnimmt.<br />
90<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Vom Gipfelkreuz des Birkenkopfs, den die Stuttgarter<br />
wegen der Aufschüttung mit Weltkriegsschrott liebevoll<br />
Monte Scherbel<strong>in</strong>o nennen, kann man sich e<strong>in</strong>en guten<br />
Überblick verschaffen. Beim Blick <strong>in</strong> den Talkessel<br />
erkenne ich schnell, warum sich ausgerechnet die Autostadt<br />
Stuttgart, Heimat von Daimler Benz und Porsche,<br />
<strong>in</strong> den vergangenen Jahren <strong>zu</strong>r heimlichen Me tropole<br />
für Pedelecs – so nennen Fachleute die Elektroräder –<br />
entwickelt hat. Ohne E-Antrieb ist Radfahren <strong>in</strong> dieser<br />
hügeligen Landschaft e<strong>in</strong>fach sehr mühsam.<br />
ANGEFANGEN HAT me<strong>in</strong>e erste E-Radtour um zehn<br />
Uhr morgens bei Stromrad Stuttgart. Eberhard Franke<br />
hat den Laden bereits 2008 gegründet und von Anfang<br />
an ausschließlich Elektroräder verkauft und verliehen.<br />
Zusammen mit se<strong>in</strong>en Mitgründern gehört er <strong>zu</strong> den<br />
Pionieren der Pedelec-Szene, die früh an e<strong>in</strong>en Boom<br />
der E-Räder geglaubt haben. „Wir wollten zeigen, dass<br />
man auch <strong>in</strong> Stuttgart e<strong>in</strong>en Großteil der Wege mit dem<br />
Rad <strong>zu</strong>rücklegen kann“, erklärt Franke.<br />
Das will ich jetzt auch ausprobieren. Me<strong>in</strong>e Wahl<br />
fällt aufgrund se<strong>in</strong>er hohen Reichweite von mehr als<br />
70 Kilometern auf e<strong>in</strong> KTM Mac<strong>in</strong>a Tour mit e<strong>in</strong>em Antrieb<br />
vom schwäbischen Vorzeigeunternehmen Bosch.<br />
Das KTM sieht so e<strong>in</strong> bisschen aus wie e<strong>in</strong> Fahrrad,<br />
das man se<strong>in</strong>em Vater <strong>zu</strong>m 65. Geburtstag schenken<br />
möchte, damit er sich als Rentner wieder etwas mehr<br />
bewegt, sofern man ihm <strong>zu</strong>m E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong>s Pensionsalter<br />
e<strong>in</strong> Geschenk im Wert von 2500 Euro machen will.<br />
Denn so viel kostet das solide, gut ausgestattete Trekk<strong>in</strong>grad<br />
mit zehn Gängen und e<strong>in</strong>em Gewicht von stolzen<br />
23 Kilogramm.<br />
Me<strong>in</strong> erstes Ziel ist die Hofener Schleuse, mit<br />
207 Meter über Normalnull der niedrigste Punkt<br />
Stuttgarts. Bis dah<strong>in</strong> geht es naturgemäß die meiste<br />
Zeit bergab, sodass ich die Vorzüge des Elektroantriebs<br />
kaum wahrnehme. Das schwere Rad fühlt sich<br />
<strong>zu</strong>nächst eher etwas klobig an verglichen mit dem wesentlich<br />
leichteren S<strong>in</strong>glespeed-Bike, mit dem ich täglich<br />
durch Berl<strong>in</strong> fahre – ohne E-Antrieb.<br />
Se<strong>in</strong>e Stärken deutet me<strong>in</strong> Pedelec auf dem Rückweg<br />
<strong>in</strong> die Stadt an. Vorbei an dem Cannstatter Wasen,<br />
durch den Schlosspark fahre ich Richtung Rathaus,<br />
ständig auf und ab. Es geht zügig voran, ohne dass ich<br />
mich großartig anstrengen muss. Während mich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
das ständige Anhalten und wieder Anfahren mitunter<br />
aggressiv machen, freue ich mich <strong>in</strong> Stuttgart<br />
be<strong>in</strong>ah über rote Ampeln. Denn im Turbomodus des<br />
Boschantriebs kann man auf den ersten Metern sogar<br />
die Autos abhängen, bevor er sich dann bei 25 Stundenkilometern<br />
wieder abschaltet.<br />
Vor dem Rathaus empfängt mich Wolfgang Forderer,<br />
Leiter der Abteilung Mobilität. Bevor wir <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />
Büro gehen, präsentiert er nicht ohne Stolz die städtische<br />
Dienst-Pedelec-Flotte. 25 E-Räder stehen den Angestellten<br />
der Stadt tagsüber für Fahrten während der<br />
Arbeitszeit <strong>zu</strong>r Verfügung. Daneben parkt der Dienstwagen<br />
des grünen Oberbürgermeisters Fritz Kuhn: natürlich<br />
e<strong>in</strong> Smart mit Elektroantrieb.<br />
Da Stuttgart aufgrund der Kessellage auch die<br />
Fe<strong>in</strong>staubhochburg Deutschlands ist, fördert die Stadt<br />
nachhaltige Mobilität, wo sie kann. Dabei spielen für<br />
Wolfgang Forderer auch E-Fahrräder e<strong>in</strong>e große Rolle.<br />
Er berichtet vom Bau von 36 Hauptradrouten, der Errichtung<br />
von sicheren Stellplätzen <strong>in</strong>klusive Ladestationen<br />
für die teuren Räder, der Teilnahme an EU-Pilotprojekten,<br />
Subventionen für das Call-a-Bike-System<br />
der <strong>Deutsche</strong>n Bahn, die <strong>in</strong> Stuttgart auch Räder mit<br />
Elektroantrieb an ihren Leihstationen anbietet. Das<br />
ehrgeizige Ziel lautet, den Fahrradanteil am Verkehr<br />
<strong>in</strong> Stuttgart, der derzeit bei 6 Prozent liegt, <strong>in</strong> den<br />
kommenden Jahren auf 15 Prozent <strong>zu</strong> erhöhen. E<strong>in</strong>e<br />
griffige Formel hat Forderer dafür auch schon parat:<br />
„Mit Pedelecs machen wir Stuttgart flach.“<br />
<strong>Wie</strong> praktisch e<strong>in</strong> Pedelec se<strong>in</strong> kann, hat sich <strong>in</strong>zwischen<br />
auch <strong>in</strong> Deutschlands flacheren Landesteilen<br />
herumgesprochen. In Schwer<strong>in</strong> hat kürzlich e<strong>in</strong><br />
Modellversuch ergeben, dass Fahrräder und Pedelecs<br />
auf Strecken bis <strong>zu</strong> acht Kilometern mit Abstand die<br />
schnellsten Fortbewegungsmittel für Berufspendler<br />
s<strong>in</strong>d. Die billigsten s<strong>in</strong>d sie, <strong>in</strong>klusive Reparaturen und<br />
Strom, mit 7 bis 12 Cent pro Kilometer sowieso. Autos<br />
s<strong>in</strong>d da<strong>zu</strong> im Vergleich vier- bis siebenmal teurer.<br />
Dass der Branche der wirkliche Boom erst noch<br />
bevorsteht, haben <strong>in</strong>zwischen auch die großen Fahrradhersteller<br />
begriffen. Damit die Elektrofahrräder<br />
das Image der Sitzrollatoren für Senioren verlieren,<br />
bieten sie <strong>in</strong>zwischen alle Fahrradtypen vom Lastenrad<br />
übers Klapprad bis h<strong>in</strong> <strong>zu</strong>m Mounta<strong>in</strong>bike mit<br />
Elektroantrieb an.<br />
Und die Verkaufszahlen geben ihnen recht. Alle<strong>in</strong><br />
im vergangenen Jahr wurden <strong>in</strong> Deutschland nach Angaben<br />
des Zweirad-Industrieverbands 410 000 Elektrofahrräder<br />
verkauft. Das entspricht e<strong>in</strong>em Marktanteil<br />
von 11 Prozent. Insgesamt fahren <strong>in</strong> Deutschland bereits<br />
mehr als 1,6 Millionen elektrisch betriebene Räder<br />
über die Straßen. Georg Honkomp, Chef von ZEG,<br />
dem größten Fahrradfachhändler Europas, prophezeit<br />
sogar schon das Ende des konventionellen Radfahrens:<br />
„In zehn oder 20 Jahren wird es kaum noch konventionelle<br />
Räder geben – außer <strong>in</strong> der sportlichen Nische.<br />
Alle anderen Anwendungszwecke von Fahrrädern <strong>werden</strong><br />
dann elektrisch se<strong>in</strong>.“<br />
Me<strong>in</strong>e Tour endet auf der Bernhartshöhe, mit<br />
549 Metern der höchste Punkt Stuttgarts, nach <strong>in</strong>sgesamt<br />
56 Kilometern und e<strong>in</strong>er Fahrzeit von 2:46 Stunden,<br />
ohne Schweißausbrüche und Muskelkater. Vielleicht<br />
kaufe ich mir auch e<strong>in</strong> Pedelec, wenn ich e<strong>in</strong>mal<br />
Rentner b<strong>in</strong>.<br />
TIL KNIPPER leitet das Ressort Kapital bei <strong>Cicero</strong>. Am<br />
liebsten fährt er bisher auf se<strong>in</strong>em knallroten Fausto-Coppi-<br />
Rennrad durch Berl<strong>in</strong> und Brandenburg<br />
91<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
So gemütlich ist er<br />
nicht immer: Airbus-<br />
Chef Tom Enders im<br />
Show room e<strong>in</strong>es A350
KAPITAL<br />
Gespräch<br />
Fragen CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
Deutschland spricht<br />
viel über <strong>in</strong>ternationale<br />
Verantwortung,<br />
übernimmt sie aber<br />
militärisch nicht.<br />
Airbus-Chef Tom Enders<br />
redet Klartext<br />
Fotos ANTJE BERGHÄUSER<br />
Herr Enders, was geht Ihnen durch<br />
den Kopf, wenn Sie Berichte über die<br />
e<strong>in</strong>satz unfähige Bundeswehr lesen?<br />
Tom Enders: Solche Debatten neigen<br />
<strong>zu</strong> Übertreibungen. Die Bundeswehr ist<br />
sicher nicht so schlecht, wie sie jetzt landauf,<br />
landab dargestellt wird. Aber richtig<br />
ist auch, dass die sogenannte Friedensdividende<br />
<strong>in</strong> Deutschland besonders<br />
extrem <strong>in</strong> Anspruch genommen wurde.<br />
Wir alle haben letztlich die Misere verursacht.<br />
Die gesamte Gesellschaft wollte<br />
für Verteidigung möglichst wenig ausgeben,<br />
schließlich waren wir ja nach 1990<br />
„von Freunden umz<strong>in</strong>gelt“, wie es Volker<br />
Rühe mal so schön gesagt hat.<br />
93<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
KAPITAL<br />
Gespräch<br />
Sie geben der Politik nicht die Schuld?<br />
Nicht alle<strong>in</strong>. Aber es stimmt schon:<br />
Wenn man Verteidigungspolitik nach<br />
dem Bonmot Talleyrands betreibt – „dort<br />
läuft me<strong>in</strong> Volk, ich muss ihm h<strong>in</strong>terher,<br />
ich b<strong>in</strong> se<strong>in</strong> Führer“ –, braucht man sich<br />
über das Resultat nicht <strong>zu</strong> wundern. Außerdem<br />
muss man auch mal die Frage<br />
stellen, wo war eigentlich das hohe Militär<br />
<strong>in</strong> all den Jahren? Warum haben die<br />
das über Jahre klaglos h<strong>in</strong>genommen? Ist<br />
ihnen über die Jahre jede Bereitschaft<br />
<strong>zu</strong>r Kritik und Courage mit dem Holzhammer<br />
„Primat der Politik“ ausgetrieben<br />
worden?<br />
Die Ukra<strong>in</strong>ekrise zeigt, dass sich die Sicherheitslage<br />
ganz schnell wieder ändern<br />
kann. Beim Nato-Gipfel <strong>in</strong> Wales<br />
wurde gerade beschlossen, die Ausgaben<br />
fürs Militär auf 2 Prozent des<br />
Brutto<strong>in</strong>landsprodukts <strong>zu</strong> erhöhen. In<br />
Deutschland s<strong>in</strong>d es derzeit 1,3 Prozent.<br />
Tut sich was?<br />
Der Krieg <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e wie auch<br />
das kritische Bild, das Nato und Bundeswehr<br />
abgeben, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> deutlicher Weckruf.<br />
Die Szenarien der Landes- und Bündnisverteidigung<br />
treten plötzlich wieder <strong>in</strong><br />
den Vordergrund. Viele Streitkräfte <strong>in</strong><br />
Europa und <strong>in</strong>sbesondere die <strong>Deutsche</strong>n<br />
haben <strong>in</strong> den letzten 20 Jahren so abgerüstet,<br />
als wären derartige Szenarien gar<br />
nicht mehr denkbar. Ich habe vor kurzem<br />
noch e<strong>in</strong>mal das berühmte Buch von<br />
Henry Kiss<strong>in</strong>ger von 1962 <strong>in</strong> die Hand<br />
genommen, wo er über Großmachtdiplomatie<br />
schreibt. Im Vorwort heißt es s<strong>in</strong>ngemäß:<br />
Jedes Mal, wenn die Erhaltung<br />
des Friedens oberstes Ziel e<strong>in</strong>er Staatengruppe<br />
war, dann h<strong>in</strong>g das Schicksal<br />
des <strong>in</strong>ternationalen Systems vom rücksichtslosesten<br />
Mitglied der <strong>in</strong>ternationalen<br />
Geme<strong>in</strong>schaft ab. Das bezog sich damals<br />
auf Napoleon, hat aber auch heute<br />
noch Gültigkeit.<br />
Der Bundespräsident, der Außenm<strong>in</strong>ister,<br />
die Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> – alle<br />
reden mehr <strong>in</strong>ternationaler Verantwortung<br />
das Wort.<br />
Ja. Und wir <strong>Deutsche</strong> verwickeln<br />
uns dabei immer wieder <strong>in</strong> Widersprüche.<br />
In Sonntagsreden wird gerne mehr<br />
europäische Zusammenarbeit und Integration<br />
<strong>in</strong> der Außenpolitik und <strong>in</strong> der<br />
Verteidigung gefordert. Aber wenn es um<br />
Thomas Enders<br />
55, steht seit Juni 2012 an der<br />
Spitze der Airbus Group. Zuvor<br />
hatte er fünf Jahre lang erfolgreich<br />
die zivile Luftfahrtsparte geleitet.<br />
Se<strong>in</strong> Start an der Konzernspitze<br />
verlief aufgrund der von der Bundesregierung<br />
verh<strong>in</strong>derten Fusion<br />
mit dem britischen Rüstungskonzern<br />
BAE holprig. Die Angelegenheit<br />
hatte aber, was den Staatse<strong>in</strong>fluss<br />
anlangt, auch e<strong>in</strong>e befreiende<br />
Wirkung für den Konzern. Enders,<br />
der über e<strong>in</strong>en Pilotensche<strong>in</strong><br />
für Hubschrauber verfügt und<br />
leidenschaftlich Fallschirm spr<strong>in</strong>gt,<br />
verkörpert die Begeisterung für<br />
die eigene Branche. Der vierfache<br />
Vater pendelt zwischen der<br />
Konzernzentrale <strong>in</strong> Toulouse und<br />
dem Tegernsee, dem Wohnsitz<br />
der Familie. Vor se<strong>in</strong>em Wechsel<br />
<strong>in</strong> die Industrie war der studierte<br />
Politologe und Volkswirt <strong>in</strong> Wissenschaft<br />
und Politik tätig. Dort<br />
verdiente sich Enders auch se<strong>in</strong>en<br />
Spitznamen „Major Tom“, weil er<br />
zwischen 1989 und 1991 Mitglied<br />
des Planungsstabs im Bundesverteidigungsm<strong>in</strong>isterium<br />
war. Se<strong>in</strong>e<br />
Leidenschaft und Expertise für<br />
Sicherheitspolitik hat Enders immer<br />
behalten. Se<strong>in</strong> Wort hat <strong>in</strong> diesen<br />
Fragen bis heute Gewicht.<br />
den konkreten Fall geht, sieht man, wie<br />
sich die Kluft zwischen den <strong>Deutsche</strong>n<br />
e<strong>in</strong>erseits und Briten und Franzosen andererseits<br />
<strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />
verbreitert hat. Denken Sie an Libyen,<br />
denken Sie an Syrien und denken Sie an<br />
Rüstungsexporte. Wenn wir <strong>Deutsche</strong>n<br />
bei den Rüstungsexporten die Schraube<br />
noch mehr anziehen und e<strong>in</strong>en Sonderweg<br />
gehen, dann hat das natürlich Rückwirkungen<br />
auf die Bereitschaft anderer<br />
Länder, mit uns <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>arbeiten.<br />
Der deutsche Sonderweg missfällt<br />
Ihnen.<br />
<strong>Deutsche</strong> Sonderwege haben <strong>in</strong> der<br />
Vergangenheit selten etwas Gutes gebracht.<br />
In Sachen Verteidigung gibt es <strong>in</strong><br />
unserem Land die Tendenz, sich weg<strong>zu</strong>ducken<br />
und h<strong>in</strong>ter den Partnern <strong>zu</strong> verstecken.<br />
Das geht aber auf Dauer nicht<br />
bei e<strong>in</strong>er so großen Nation. <strong>Wie</strong> soll es<br />
e<strong>in</strong>e europäische Verteidigung geben,<br />
die den Namen verdient, wenn das wirtschaftlich<br />
stärkste Land <strong>in</strong> der Mitte Europas<br />
nicht auch <strong>in</strong> der Verteidigung Verantwortung<br />
und Führung mit übernimmt<br />
und e<strong>in</strong>en angemessenen Beitrag leistet?<br />
In Reden über die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />
geme<strong>in</strong>samen Verteidigungsarchitektur<br />
ist niemand engagierter als wir <strong>Deutsche</strong>.<br />
Aber wenn es konkret wird, dann haben<br />
wir uns <strong>in</strong> der Vergangenheit viel <strong>zu</strong> oft<br />
auf nationale Bef<strong>in</strong>dlichkeiten <strong>zu</strong>rückgezogen.<br />
Nehmen Sie die deutsche Rüstungsexportpolitik:<br />
Inzwischen haben<br />
unsere <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerber<br />
e<strong>in</strong>en neuen Begriff geprägt: „German<br />
free“. Das heißt: Internationale Unternehmen<br />
bieten Rüstungsprodukte an,<br />
die garantiert „German free“ s<strong>in</strong>d, also<br />
ohne deutsche Bauteile und ohne deutsche<br />
Genehmigungsverfahren. Das ist<br />
neuerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Gütesiegel! Von „<strong>Made</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Germany</strong>“ <strong>zu</strong> „German free“, das<br />
muss man sich mal auf der Zunge zergehen<br />
lassen!<br />
Hat die restriktivere Auslegung der<br />
Rüstungsexportrichtl<strong>in</strong>ien durch Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister<br />
Sigmar Gabriel da<strong>zu</strong><br />
geführt?<br />
Auch, ja. Wer will sich denn bei e<strong>in</strong>em<br />
wichtigen Projekt von der Genehmigung<br />
der deutschen Regierung abhängig<br />
machen? Da sagen doch unsere Partner<br />
lieber von vornhere<strong>in</strong>, sie lassen uns<br />
94<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
<strong>Deutsche</strong> außen vor, weil sie sich nicht<br />
von hiesigen Unwägbarkeiten abhängig<br />
machen möchten.<br />
Merken Sie die Politik von Sigmar Gabriel<br />
bereits?<br />
Ja. Wir haben es wie viele andere<br />
Firmen seit e<strong>in</strong>iger Zeit <strong>zu</strong> spüren bekommen.<br />
Projekte <strong>werden</strong> erheblich verschleppt,<br />
verzögert oder nicht zeitnah<br />
bearbeitet. So kann man natürlich auch<br />
um das Problem des Exports herumkommen:<br />
Erledigen durch Liegenlassen.<br />
Würden Sie denn Rüstungsgüter <strong>in</strong><br />
Kriegs- oder Konfliktgebiete liefern?<br />
Das muss im E<strong>in</strong>zelfall geprüft <strong>werden</strong>,<br />
wie jetzt im Falle der Kurden. Und<br />
es gibt gute Gründe, <strong>in</strong> bestimmte Länder<br />
nicht <strong>zu</strong> exportieren. Wenn wir im<br />
Unternehmen uns mit der Absicht e<strong>in</strong>es<br />
Exports tragen, prüfen wir erst e<strong>in</strong>mal<br />
selbst, ob das S<strong>in</strong>n ergibt, bevor wir e<strong>in</strong>e<br />
Exportgenehmigung beantragen.<br />
Und? Haben Sie sich den Export schon<br />
e<strong>in</strong>mal selbst verboten?<br />
Als die französische Regierung vor<br />
etwa zehn Jahren Tiger-Helikopter nach<br />
Libyen exportieren wollte – da herrschte<br />
dort noch Gaddafi –, haben wir das abgelehnt.<br />
Wir hielten das für unverantwortlich<br />
und dem Ruf unseres Unternehmens<br />
abträglich. Das Beispiel zeigt, die Kontrolle<br />
fängt bei uns selbst an.<br />
Sie fühlen sich ungerecht behandelt?<br />
Wir gehen nicht mit der Anfrage jedes<br />
Landes gleich <strong>zu</strong> den Regierungen <strong>in</strong><br />
Berl<strong>in</strong> oder Paris. Sondern nur, wenn wir<br />
selbst glauben, dass es verantwortbar ist.<br />
Das sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Diskussion eigentlich<br />
nie auf. Es wird so getan, als wollten wir<br />
überallh<strong>in</strong> exportieren und hätten da<strong>zu</strong><br />
selbst e<strong>in</strong>e zynische oder unverantwortliche<br />
Haltung, und das ist def<strong>in</strong>itiv nicht<br />
der Fall. Da steht ja auch sehr viel auf<br />
dem Spiel, für uns <strong>in</strong>sbesondere der gute<br />
Name Airbus. Aber am Schmidt-Debré-<br />
Abkommen von 1972 sollten wir nicht<br />
rütteln. Es überlässt dem Land, das das<br />
Exportprojekt führt, die Entscheidung<br />
über die Ausfuhr von Produkten, die <strong>in</strong><br />
französisch-deutschen Geme<strong>in</strong>schaftsprogrammen<br />
gebaut <strong>werden</strong>. Das ist e<strong>in</strong><br />
gewisser Souveränitätsverzicht, e<strong>in</strong> Preis<br />
für europäische Programme. Ke<strong>in</strong> Land<br />
<strong>in</strong> Europa hat heute mehr genügend Ressourcen<br />
und e<strong>in</strong>en ausreichenden Markt<br />
für große, technologisch anspruchsvolle<br />
Rüstungsprogramme.<br />
Sie waren ja e<strong>in</strong>mal Mitarbeiter im Planungsstab<br />
des Bundesverteidigungsm<strong>in</strong>isteriums.<br />
Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> politischer<br />
Mensch. Aber bei Airbus haben Sie den<br />
E<strong>in</strong>fluss des Staates <strong>zu</strong>rückgedrängt.<br />
Sie selbst s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>es Tages aus der CSU<br />
ausgetreten. Sie sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e Hassliebe<br />
<strong>zu</strong>r Politik <strong>zu</strong> leben.<br />
Ne<strong>in</strong>, dieser E<strong>in</strong>druck wäre völlig<br />
falsch. Ich habe hohen Respekt vor Menschen,<br />
die sich <strong>in</strong> der Politik engagieren.<br />
Aber ich nehme mir das Recht heraus,<br />
me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung frei <strong>in</strong> die Diskussion e<strong>in</strong><strong>zu</strong>br<strong>in</strong>gen.<br />
Lassen Sie mich e<strong>in</strong> Beispiel<br />
nennen: Ich glaube nicht, dass es Unternehmen<br />
guttut, wenn ihre Führung sich<br />
nach staatlichen Vorgaben richten muss.<br />
Das habe ich vor allem <strong>in</strong> Frankreich jahrelang<br />
sehr laut und oft gesagt. Auch <strong>in</strong><br />
Deutschland habe ich immer wieder Äußerungen<br />
gemacht, die nicht jedem gefallen<br />
haben.<br />
Zum Beispiel, als vor e<strong>in</strong> paar Monaten<br />
die Frage der Russlandsanktionen aufkam.<br />
Da haben Sie das Primat der Politik<br />
hochgehalten und gesagt, dass es<br />
jetzt nicht ums Geschäft geht.<br />
Wirtschaft f<strong>in</strong>det sowohl auf e<strong>in</strong>em<br />
Werte- als auch auf e<strong>in</strong>em Sicherheitsfundament<br />
statt, das man nicht untergraben<br />
darf. Das Streben nach Umsatz und<br />
Gew<strong>in</strong>n darf deshalb nicht höhergestellt<br />
<strong>werden</strong> als die E<strong>in</strong>haltung <strong>in</strong>ternationalen<br />
Rechts!<br />
Sie machen noch etwa 20 Prozent<br />
des Umsatzes mit Rüstungsgütern<br />
und 80 Prozent mit zivilen Produkten.<br />
Wenn man sich dagegen den Ärger anschaut,<br />
den Ihnen Projekte e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen,<br />
liegt der größere Teil bei den Rüstungsgütern.<br />
Warum verabschieden Sie sich<br />
nicht ganz aus der Rüstungs<strong>in</strong>dustrie?<br />
Sie können mir glauben, dass wir im<br />
zivilen Bereich <strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />
auch h<strong>in</strong>reichend Ärger und Stress<br />
hatten. Aber <strong>in</strong> der Tat haben wir im letzten<br />
Jahr entschieden, <strong>in</strong> Zukunft noch<br />
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KAPITAL<br />
Gespräch<br />
weniger abhängig von Rüstung <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>.<br />
Militärische Luftfahrt, Raumfahrt<br />
und Lenkflugkörper s<strong>in</strong>d und bleiben allerd<strong>in</strong>gs<br />
Kerngeschäft.<br />
Rechnen Sie damit, dass sich die Sicht<br />
der <strong>Deutsche</strong>n auf die Rüstungs<strong>in</strong>dustrie<br />
und auch auf die Verteidigungsausgaben<br />
wegen der veränderten Sicherheitslage<br />
ändert?<br />
Das bleibt ab<strong>zu</strong>warten. Aber da Regierungshandeln<br />
ja bekanntlich sehr von<br />
Umfragen geprägt wird, mag es den e<strong>in</strong>en<br />
oder anderen nachdenklich stimmen,<br />
wenn die Mehrheit der <strong>Deutsche</strong>n neuerd<strong>in</strong>gs<br />
für die Erhöhung des Verteidigungsetats<br />
ist. Das ist wahrsche<strong>in</strong>lich das<br />
erste Mal seit der Kubakrise.<br />
Mit dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato ist<br />
ja e<strong>in</strong>e Erhöhung schon angekündigt.<br />
Die Wirtschaftsmacht Europa mit<br />
500 Millionen E<strong>in</strong>wohnern sollte <strong>in</strong> der<br />
Lage se<strong>in</strong>, <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest 2 Prozent kollektiv<br />
für Verteidigung aus<strong>zu</strong>geben. Momentan<br />
s<strong>in</strong>d es nach den Etatzahlen etwa<br />
1,5 Prozent – und Deutschland liegt noch<br />
unter diesem Schnitt. Die Amerikaner<br />
geben ungefähr 4 Prozent aus. Ich me<strong>in</strong>e,<br />
es müsste schon das Ziel <strong>in</strong> Europa se<strong>in</strong>,<br />
militärisch unter die Top 3 oder 4 der<br />
Welt <strong>zu</strong> kommen. Wir haben uns <strong>in</strong> den<br />
vergangenen Jahren vorgemacht, wir<br />
würden nur Soft Power brauchen. Aber<br />
das war e<strong>in</strong>e deutsche Illusion. Gott sei<br />
Dank s<strong>in</strong>d Franzosen und Briten nie so<br />
weit gegangen.<br />
Vielleicht mögen gerade die Franzosen<br />
und Briten die Vorstellung e<strong>in</strong>es waffenstarrenden<br />
Deutschland nicht.<br />
Ich habe noch ke<strong>in</strong>en Franzosen<br />
oder Briten getroffen, der sich wegen e<strong>in</strong>er<br />
möglichen Erhöhung der deutschen<br />
Verteidigungsausgaben Sorgen machen<br />
würde. Das Gegenteil ist richtig. Selbst<br />
die Polen fürchten sich mehr vor deutscher<br />
Schwäche als vor e<strong>in</strong>em starken<br />
Deutschland. Solange wir <strong>Deutsche</strong>n<br />
nicht anfangen, Nuklearwaffen <strong>zu</strong> bauen<br />
und uns e<strong>in</strong>e Flugzeugträgerflotte <strong>zu</strong><strong>zu</strong>legen,<br />
wird sich niemand unserer europäischen<br />
Partner bedroht fühlen. Das ist<br />
e<strong>in</strong>e Geisterdiskussion, die nur <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
geführt wird. Die Bundeswehr ist unterf<strong>in</strong>anziert,<br />
und das gilt für viele andere<br />
europäische Streitkräfte genauso. Nato<br />
Zum Unternehmen<br />
Der ehemalige EADS-Konzern<br />
wurde Anfang des Jahres <strong>in</strong><br />
Airbus Group umbenannt und <strong>in</strong><br />
drei Unternehmenssparten unterteilt:<br />
Airbus, Airbus Defence<br />
and Space und Airbus Helicopter.<br />
Die Gruppe beschäftigt<br />
weltweit 144 000 Mitarbeiter.<br />
Im vergangenen Jahr erzielte sie<br />
e<strong>in</strong>en Umsatz von 59 Milliarden<br />
Euro und e<strong>in</strong>en operativen Gew<strong>in</strong>n<br />
von 2,6 Milliarden Euro. Im<br />
Orderbuch stehen derzeit Aufträge<br />
<strong>in</strong> Höhe von 687 Milliarden<br />
Euro.<br />
Der Konzern wurde 2000 unter<br />
dem Namen EADS von mehreren<br />
europäischen Regierungen<br />
gegründet <strong>in</strong> der Absicht, e<strong>in</strong>en<br />
geme<strong>in</strong>samen, wettbewerbsfähigen<br />
Rüstungskonzern <strong>in</strong> Europa<br />
auf<strong>zu</strong>bauen. Mittlerweile macht<br />
der Anteil der Rüstungssparte<br />
nur noch 20 Prozent des Umsatzes<br />
aus.<br />
Die mit Abstand wichtigste<br />
Sparte ist die zivile Luftfahrt.<br />
Hier liefert sich Airbus e<strong>in</strong>en<br />
Zweikampf mit dem US-Konzern<br />
Boe<strong>in</strong>g. Geld br<strong>in</strong>gen hier vor allem<br />
die älteren Modelle, der Mittelstreckenflieger<br />
A320 und das<br />
Langstreckenmodell A330. Der<br />
neue A350 wird wohl erst ab 2020<br />
Gew<strong>in</strong>ne abwerfen, das Prestigeobjekt<br />
A380 womöglich nie.<br />
Airbus Defence and Space<br />
erzielt bisher hohe Profite mit<br />
Kampfjets und Raketen. Angesichts<br />
der s<strong>in</strong>kenden Rüstungsetats<br />
und der strengen<br />
Exportvorschriften <strong>in</strong> Europa<br />
fehlen der Sparte ab 2018 neue<br />
Aufträge, vor allem die Drohne<br />
Talarion und der Kampfjet<br />
Eurofighter f<strong>in</strong>den kaum noch<br />
Abnehmer.<br />
und EU müssen die Fähigkeit <strong>zu</strong>r vollumfänglichen<br />
Bündnisverteidigung wiedererlangen.<br />
Wenn das der Fall ist, dann<br />
s<strong>in</strong>d wir auch für weniger <strong>in</strong>tensive Konfliktfälle<br />
gerüstet.<br />
Bundesverteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Ursula<br />
von der Leyen macht für die Ausrüstungsprobleme<br />
<strong>in</strong> der Bundeswehr auch<br />
die Industrie verantwortlich: <strong>zu</strong> spät,<br />
<strong>zu</strong> teuer, <strong>zu</strong> schlecht.<br />
Wir haben im Rüstungsgeschäft<br />
viele und für uns auch sehr teure Fehler<br />
gemacht. Das will ich gerne e<strong>in</strong>räumen.<br />
Aber den Schwarzen Peter alle<strong>in</strong><br />
nun bei uns ab<strong>zu</strong>laden, wird der Sache<br />
nicht gerecht. Was wir heute sehen, ist<br />
das Ergebnis e<strong>in</strong>es jahrelangen, unehrlichen<br />
Umgangs mite<strong>in</strong>ander.<br />
Was me<strong>in</strong>en Sie damit?<br />
Nun, das Transportflugzeug A400M<br />
liefert hier e<strong>in</strong> schönes Beispiel: Die Industrie<br />
hat Bed<strong>in</strong>gungen akzeptiert, von<br />
denen viele Verantwortliche auf beiden<br />
Seiten schon vor Abschluss des Vertrags<br />
wussten, dass sie sehr, sehr schwer <strong>zu</strong> erfüllen<br />
se<strong>in</strong> würden. E<strong>in</strong>e viel <strong>zu</strong> kurze<br />
Zeitleiste, e<strong>in</strong> <strong>zu</strong> knapp bemessenes Budget,<br />
technologisch hochanspruchsvolle<br />
Spezifikationen. Trotzdem hat die Industrie<br />
dem Vertrag <strong>zu</strong>gestimmt.<br />
Weshalb?<br />
Nach gut zehn Jahren Akquisitionsbemühungen<br />
aus e<strong>in</strong>er gewissen Verzweiflung<br />
heraus: Jetzt oder nie, jetzt<br />
haben wir mal sieben Nationen auf e<strong>in</strong>em<br />
halbwegs geme<strong>in</strong>samen Nenner.<br />
Ke<strong>in</strong>er hat gerade Wahlen oder steckt<br />
sonst wie politisch <strong>in</strong> der Klemme, das<br />
ist das Fenster der Gelegenheit! Hauptsache<br />
Auftragse<strong>in</strong>gang. Für den Rest fällt<br />
uns schon was e<strong>in</strong>, wir haben ja sechs<br />
Jahre Zeit. So war das 2003.<br />
So wurde das damals aber nicht<br />
verkauft.<br />
Natürlich nicht. Denn auf der e<strong>in</strong>en<br />
Seite stellt sich dann e<strong>in</strong> Staatssekretär<br />
oder M<strong>in</strong>ister vors Parlament und sagt:<br />
„Wir haben die Industrie ordentlich geknebelt,<br />
wir haben taffe Verträge gemacht!“<br />
Die Industrie sagt: „Wir haben e<strong>in</strong>en<br />
Riesenauftrag an Land gezogen.“ Durch<br />
diesen unehrlichen Umgang mite<strong>in</strong>ander,<br />
wo jede Seite nur kurzfristig denkt<br />
96<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
und gut aussehen möchte, kommt man<br />
dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Situation re<strong>in</strong>, wie wir sie<br />
2009/2010 hatten. Damals mussten wir<br />
die Hosen runterlassen, weil wir das Projekt<br />
A400M <strong>zu</strong> den Konditionen, die wir<br />
vertraglich versprochen hatten, e<strong>in</strong>fach<br />
nicht liefern konnten. Auch die Regierungen<br />
wollten die Abnahme der Flieger reduzieren.<br />
Wenn Sie sich er<strong>in</strong>nern möchten:<br />
Deutschland wollte ursprünglich 73,<br />
später 60, dann 53 und heute möchte der<br />
Haushaltsausschuss nur 40 Masch<strong>in</strong>en<br />
genehmigen. Von Anfang an waren wir<br />
<strong>in</strong> unserem Handeln auch nicht wirklich<br />
frei: Die Regierungschefs Großbritanniens,<br />
Frankreichs und Deutschlands verlangten<br />
von uns, e<strong>in</strong> europäisches Triebwerk<br />
neu <strong>zu</strong> entwickeln und neu <strong>zu</strong> bauen<br />
von e<strong>in</strong>em Konsortium, das sich die da<strong>zu</strong><br />
nötigen Fähigkeiten erst mühsam <strong>zu</strong>legen<br />
musste. E<strong>in</strong> Zukauf vom Markt, so wie wir<br />
es wollten, kam nicht <strong>in</strong>frage.<br />
<strong>Wie</strong>so war das e<strong>in</strong> Problem?<br />
Verstehen Sie mich nicht falsch,<br />
Rolls-Royce, Snecma und MTU s<strong>in</strong>d<br />
respektable Firmen. Aber <strong>in</strong> dieser Konstellation<br />
hatten die Firmen noch nie <strong>zu</strong>sammengearbeitet.<br />
Dann das komplizierteste,<br />
größte Turboprop-Triebwerk der<br />
Welt <strong>in</strong> nur wenigen Jahren <strong>zu</strong> entwickeln,<br />
das war vermessen. Und das alles<br />
kulm<strong>in</strong>ierte dann 2010, als wir e<strong>in</strong>gestehen<br />
mussten: Wir kriegen das nicht<br />
zeitgemäß h<strong>in</strong>. Wenn der Auftraggeber<br />
nicht deutliche Preis<strong>zu</strong>schläge akzeptiert<br />
hätte, hätten wir das Projekt e<strong>in</strong>stellen<br />
müssen.<br />
Sie kl<strong>in</strong>gen jetzt, als würden Sie draufzahlen<br />
bei diesem Milliardenprojekt.<br />
Was glauben Sie denn? Wir haben<br />
bei der A400M gut vier Milliarden Euro<br />
drauflegen müssen, das heißt, wir <strong>werden</strong><br />
an den 175 Flugzeugen für unsere<br />
europäischen Kunden ke<strong>in</strong>en Cent verdienen.<br />
Ich kann Ihnen Brief und Siegel<br />
geben, das wird mir immer <strong>in</strong> den<br />
Knochen stecken, und solange ich Verantwortung<br />
trage im Konzern, wird es<br />
e<strong>in</strong> solches Desaster nicht wieder geben!<br />
Wir <strong>werden</strong> uns nicht noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> die<br />
Tasche lügen und von Regierungen <strong>zu</strong><br />
Programmvere<strong>in</strong>barungen drängen lassen,<br />
wenn die <strong>zu</strong>grunde liegenden Term<strong>in</strong>e<br />
und Budgets von vornehere<strong>in</strong> unrealistisch<br />
s<strong>in</strong>d. So e<strong>in</strong>en Vertrag wie bei<br />
A400M unterschreiben wir nie wieder, so<br />
viel steht fest.<br />
Wann bekommt die Bundeswehr denn<br />
nun endlich die A400M?<br />
Nach dem großen Knatsch s<strong>in</strong>d 2010<br />
die Lieferpläne e<strong>in</strong>vernehmlich verändert<br />
worden. Das Ergebnis ist, dass<br />
Frankreich jetzt schon fünf Flieger im<br />
E<strong>in</strong>satz hat. Deutschland bekommt die<br />
erste A400M aller Voraussicht nach Ende<br />
November. Wir s<strong>in</strong>d <strong>zu</strong>versichtlich, diesen<br />
Term<strong>in</strong> <strong>zu</strong> halten, wir arbeiten mit<br />
Hochdruck an der Vorbereitung.<br />
Woher kommen dann anderslautende<br />
Gerüchte, wonach sich die Lieferung<br />
weiter verschiebt?<br />
Das frage ich mich auch. Vielleicht<br />
hat ja irgendjemand die Absicht, Gründe<br />
<strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den, weshalb man den Flieger nicht<br />
Das Mädchen, das für das Recht auf Bildung kämpft.<br />
Friedensnobelpreis<br />
2014 für<br />
Malala Yousafzai<br />
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»E<strong>in</strong> Preis für alle K<strong>in</strong>der,<br />
die nicht gehört <strong>werden</strong>.«<br />
Malala Yousafzai<br />
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KAPITAL<br />
Gespräch<br />
will oder so nicht will. Die Möglichkeit<br />
gibt es natürlich immer, dass man die Abnahme<br />
wegen irgendwelcher Beanstandungen<br />
verweigert. Aber ich hoffe, dass<br />
es nicht so kommt.<br />
Sie sehen ja schon h<strong>in</strong>ter jedem Busch<br />
e<strong>in</strong>en Heckenschützen.<br />
Wissen Sie, ich kenne nun die europäische<br />
Landschaft ganz gut und auch das,<br />
was <strong>in</strong> Amerika passiert. Ich kenne ke<strong>in</strong>e<br />
Rüstungsbürokratie, die risiko- und verantwortungsscheuer<br />
agiert als die deutsche.<br />
Es ist ja nicht so, dass Franzosen<br />
oder Briten mit dem Leben ihrer Soldaten<br />
oder Piloten spielen würden. Aber die<br />
Realität ist doch, dass kompliziertes oder<br />
komplexes Gerät am Tage der E<strong>in</strong>führung<br />
niemals 100 Prozent e<strong>in</strong>satzreif ist.<br />
<strong>Wie</strong> kommt es denn da<strong>zu</strong>, dass die<br />
Franzosen schon fünf dieser Flugzeuge<br />
haben?<br />
Weil die Franzosen früher „Hier!“<br />
gerufen haben und weil es allgeme<strong>in</strong>e<br />
Erkenntnis war, dass die französischen<br />
Transall stärker abgenutzt s<strong>in</strong>d als die<br />
deutschen. Die Franzosen wissen, dass<br />
der Flieger natürlich noch lange nicht<br />
all die Fähigkeiten hat, die er im Endstadium<br />
der Systemaufrüstung, etwa 2018,<br />
haben wird. Aber die französische Luftwaffe<br />
schätzt die hervorragenden logistischen<br />
Fähigkeiten der A400M und ist mit<br />
dem Flieger schon weltweit unterwegs,<br />
übrigens auch im Auftrag der Bundeswehr!<br />
Wenn man aber von e<strong>in</strong>em perfektionistischen<br />
Ansatz ausgeht, kann man<br />
den Abnahmeprozess natürlich nach Belieben<br />
verzögern und dann wieder der Industrie<br />
die Schuld <strong>in</strong> die Schuhe schieben.<br />
Und die Franzosen s<strong>in</strong>d nicht<br />
perfektionistisch?<br />
Jedenfalls s<strong>in</strong>d sie viel pragmatischer<br />
und e<strong>in</strong>satzorientierter als die <strong>Deutsche</strong>n.<br />
Nehmen Sie den E<strong>in</strong>satz unseres Kampfhubschraubers<br />
Tiger <strong>in</strong> Afghanistan.<br />
Frankreich hat den Tiger drei Jahre vor<br />
den <strong>Deutsche</strong>n dort e<strong>in</strong>gesetzt. Sie haben<br />
schneller zertifiziert und s<strong>in</strong>d mit technischen<br />
Problemstellungen deutlich pragmatischer<br />
umgegangen. Wenn e<strong>in</strong> neues<br />
Fluggerät <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>satz kommt, hat es<br />
fast immer irgendwelche K<strong>in</strong>derkrankheiten<br />
gegeben, die abgearbeitet <strong>werden</strong><br />
müssen. Das ist auch bei zivilen Fliegern<br />
„ Ich kenne ke<strong>in</strong>e<br />
Rüstungsbürokratie,<br />
die risiko- und<br />
verantwortungsscheuer<br />
agiert als<br />
die deutsche “<br />
so, und das gilt erst recht für komplexes<br />
militärisches Gerät. Kann man hier nicht<br />
e<strong>in</strong>mal von den e<strong>in</strong>satzorientierten Franzosen<br />
lernen? Oder nehmen Sie das Beispiel<br />
Euro Hawk: Hier g<strong>in</strong>g es um e<strong>in</strong>e<br />
zivile Zulassung für den Luftverkehr <strong>in</strong><br />
Deutschland. Ke<strong>in</strong> unbemanntes Flugzeug<br />
weltweit fliegt mit ziviler Zulassung.<br />
Ke<strong>in</strong> Problem <strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong><br />
anderen Ländern. Nicht so <strong>in</strong> Deutschland.<br />
Obwohl man zehn Jahre Zeit hatte,<br />
wurde ke<strong>in</strong>e Lösung gefunden. Hauptsache,<br />
ke<strong>in</strong> Risiko e<strong>in</strong>gehen. Auf diese<br />
Weise hat Deutschland e<strong>in</strong> Investment<br />
von 500 Millionen Euro <strong>in</strong> den Sand gesetzt.<br />
Das ist doch absurd!<br />
<strong>Deutsche</strong>r Perfektionismus.<br />
Rüstungsbürokratismus! Risikoscheuer<br />
und bürokratischer Perfektionismus,<br />
der sich tief h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gefressen hat<br />
<strong>in</strong> die Verwaltung, die im Übrigen viel<br />
<strong>zu</strong> wenig kommuniziert mit dem militärischen<br />
Endkunden. Das führt häufig<br />
<strong>zu</strong> abstrusen Ergebnissen, die die E<strong>in</strong>satzbereitschaft<br />
der Streitkräfte schwächen.<br />
Aber wir haben das doch heute <strong>in</strong><br />
allen Lebensbereichen. Null Risiko. Null<br />
Komma null. Vollkaskomentalität überall.<br />
Alles muss absolut abgesichert se<strong>in</strong>.<br />
Und bloß ke<strong>in</strong>en Fehler machen. Dann<br />
doch lieber gar nicht entscheiden. Da ist<br />
die deutsche Rüstungsbürokratie leider<br />
ke<strong>in</strong>e Ausnahme.<br />
So gesehen müsste die Initiative von<br />
Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> von der Leyen,<br />
e<strong>in</strong>e private Unternehmensberatung Inventur<br />
bei den Rüstungsprojekten machen<br />
<strong>zu</strong> lassen, Ihr Wohlwollen haben,<br />
oder?<br />
Absolut richtig. Die Realität der Bundeswehr<br />
ist jetzt für alle sichtbar. Und<br />
klar wird auch, was <strong>zu</strong> ändern ist. Das ist<br />
e<strong>in</strong>e große Chance für die Bundeswehr<br />
und für die M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong>, und wir <strong>werden</strong><br />
gerne da<strong>zu</strong> beitragen, diese Chance <strong>zu</strong><br />
nutzen. Ich habe aber nicht vor, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
ängstlichen Defensivhaltung <strong>zu</strong> verharren.<br />
Dafür gibt es ke<strong>in</strong>en Grund.<br />
Frau von der Leyen sagt jetzt, sie wolle<br />
nicht mehr nur auf den nationalen oder<br />
europäischen Markt bestellen, sondern<br />
<strong>in</strong>ternational. Sie bekommen also neue<br />
Wettbewerber.<br />
Damit habe ich grundsätzlich ke<strong>in</strong><br />
Problem. Wenn Deutschland und die<br />
Bundeswehr als Kunde attraktiv s<strong>in</strong>d,<br />
wenn es um große Stückzahlen und attraktive<br />
Vertragskonditionen geht, wird<br />
das sicherlich <strong>in</strong>ternationale Wettbewerber<br />
anziehen. Amerikaner, Russen, Israelis<br />
und morgen sicher auch Koreaner und<br />
Ch<strong>in</strong>esen. Aber häufig wird <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest<br />
e<strong>in</strong>e der beiden Konditionen fehlen. Deshalb<br />
und auch um strategisch-relevante<br />
Abhängigkeiten <strong>in</strong> sensitiven Technologiebereichen<br />
<strong>zu</strong> vermeiden, wird es <strong>in</strong><br />
den meisten Fällen S<strong>in</strong>n machen, europäische<br />
oder transatlantische Programme<br />
auf den Weg <strong>zu</strong> br<strong>in</strong>gen – und zwar so,<br />
dass die Fehler der Vergangenheit vermieden<br />
<strong>werden</strong>.<br />
98<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
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KAPITAL<br />
Report<br />
100<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
ENERGIE<br />
ALS<br />
WAFFE<br />
S<strong>in</strong>d wir abhängiger von<br />
russischem Gas oder<br />
Put<strong>in</strong> von unserem Geld?<br />
E<strong>in</strong>e Bestandsaufnahme<br />
kurz vor Beg<strong>in</strong>n<br />
der kalten Jahreszeit<br />
Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />
Illustration FELIX GEPHART<br />
Tief im Erdreich unter dem Berl<strong>in</strong>er Stadtteil Westend<br />
hat Holger Staisch 122 Millionen Kubikmeter<br />
russisches Erdgas gebunkert. Er und se<strong>in</strong>e Leute haben<br />
es <strong>in</strong> den vergangenen Monaten mithilfe von mächtigen<br />
Pumpen dorth<strong>in</strong> geschickt, unbemerkt von den Berl<strong>in</strong>ern,<br />
die an der Oberfläche leben und arbeiten. Das Gas<br />
lagert <strong>in</strong> Sandste<strong>in</strong>schichten <strong>in</strong> 800 bis 900 Meter Tiefe,<br />
auch unter dem Olympiastadion. Auf dem riesigen Bildschirm<br />
im Kontrollzentrum von Staischs Firma dom<strong>in</strong>iert<br />
derzeit beruhigendes Grün. „Wir s<strong>in</strong>d wie alle deutschen<br />
Speicher <strong>zu</strong> über 90 Prozent gefüllt“, sagt der Geschäftsführer<br />
<strong>zu</strong>frieden, „der W<strong>in</strong>ter kann kommen.“<br />
Der Berl<strong>in</strong>er Erdgasspeicher, den Staisch im Auftrag<br />
des kommunalen Versorgers Gasag leitet, wurde im Kalten<br />
Krieg aus Angst vor den Russen ersonnen. Zuerst hatte<br />
man am Nordrand des Grunewalds nach Erdöl und Erdgas<br />
gebohrt, <strong>in</strong> der Hoffnung, Westberl<strong>in</strong> unabhängig von<br />
den Russen versorgen <strong>zu</strong> können. Als klar war, dass hier<br />
nichts sprudeln würde, schlugen Geologen vor, das poröse<br />
Geste<strong>in</strong> <strong>zu</strong> nutzen, um Erdgas für harte W<strong>in</strong>ter und<br />
für Notfälle <strong>zu</strong> bevorraten. Gasdicht abgeschlossen wird<br />
der Speicher nach oben von e<strong>in</strong>er Salz- und Tonschicht.<br />
Seit 1994 ist der Berl<strong>in</strong>er Erdgasspeicher nun <strong>in</strong> Betrieb,<br />
und seit 2014 bekommt er – geme<strong>in</strong>sam mit 50<br />
anderen ähnlichen E<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> ganz Deutschland –<br />
e<strong>in</strong>e neue, brisante Bedeutung: Wegen des Ukra<strong>in</strong>ekonflikts<br />
ist die Angst vor den Russen <strong>zu</strong>rück, die Sorge davor,<br />
dass Wladimir Put<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>er neuerlichen Eskalation des<br />
Konflikts den Hahn <strong>zu</strong>drehen könnte und der Gasfluss aus<br />
den russischen Pipel<strong>in</strong>es, die rund 36 Prozent des deutschen<br />
Bedarfs decken, versiegen würde. Deutschland und<br />
andere EU-Länder denken neu darüber nach, wie sie ihre<br />
Versorgung mit Erdgas <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten<br />
sicherstellen.<br />
Die Bundesregierung versichert der Bevölkerung,<br />
dass niemand <strong>in</strong> Deutschland vor dem nächsten W<strong>in</strong>ter<br />
Angst haben muss. In den durchweg privat geführten Speichern<br />
lagert rund e<strong>in</strong> Viertel des Jahresverbrauchs, rund<br />
20 Milliarden Kubikmeter. Zudem ließen sich kurzfristige<br />
Engpässe durch Zukäufe auf dem Weltmarkt, etwa<br />
aus Norwegen, ausgleichen. Dennoch ist „N-1“, wie e<strong>in</strong><br />
Totalausfall von Lieferungen aus Russland von den Experten<br />
der Bundesregierung abgekürzt wird, derzeit e<strong>in</strong>es<br />
der Topthemen von Bundeskanzler<strong>in</strong> Angela Merkel und<br />
Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister Sigmar Gabriel. Sie lassen prüfen, ob<br />
Deutschland, ähnlich wie beim Erdöl, e<strong>in</strong>e nationale strategische<br />
Reserve anlegen sollte und ob neue Pipel<strong>in</strong>es nötig<br />
s<strong>in</strong>d, die nichtrussisches Gas nach Mittel- und Westeuropa<br />
transportieren. Es geht darum, wie mehr verflüssigtes<br />
Erdgas, sogenanntes LNG, mit Schiffen aus anderen Weltregionen<br />
nach Deutschland kommen könnte und ob heimisches<br />
Schiefergas mithilfe des ökologisch umstrittenen<br />
Frack<strong>in</strong>g-Verfahrens gefördert <strong>werden</strong> sollte.<br />
In Deutschland und der ganzen EU fallen <strong>in</strong> den kommenden<br />
Monaten wichtige Entscheidungen, die bee<strong>in</strong>flussen,<br />
welche Bedeutung Russland als Energielieferant künftig<br />
haben wird. Put<strong>in</strong>s Reich ist zwar existenziell von den<br />
E<strong>in</strong>künften aus Öl- und Gasverkäufen abhängig. Doch mit<br />
neuen Pipel<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Richtung Ch<strong>in</strong>a und langfristigen Lieferverträgen<br />
mit Fernost hat Russland andere Kunden für<br />
den Fall, dass das Geschäft mit Europa nicht mehr floriert,<br />
politisch nicht mehr erwünscht oder gar aus militärischen<br />
Gründen unmöglich wird.<br />
In der Energiewirtschaft ist man sich bereits jetzt nicht<br />
mehr sicher, dass Russland se<strong>in</strong>e Lieferverpflichtungen<br />
wirklich treu erfüllt. In den vergangenen Wochen registrierten<br />
Versorger wie Eon, dass deutlich weniger Erdgas<br />
aus Russland <strong>in</strong> Westeuropa ankommt als erwartet. Noch<br />
s<strong>in</strong>d die Schwankungen <strong>in</strong>nerhalb der vertraglich vere<strong>in</strong>barten<br />
Werte, doch der Verdacht steht im Raum, dass die<br />
Mächtigen am anderen Ende der Leitungen zeigen wollen,<br />
was möglich ist. Die Ukra<strong>in</strong>e ist bereits seit Monaten vom<br />
russischen Gas abgeschnitten, weil ausstehende Rechnungen<br />
nicht bezahlt s<strong>in</strong>d und der Preis zwischen den verfe<strong>in</strong>deten<br />
Ländern strittig ist.<br />
VOR ALLEM DIE EU-KOMMISSION verfolgt angesichts solcher<br />
Vorfälle e<strong>in</strong>e Strategie größtmöglicher Unabhängigkeit<br />
von Russland und will verstärkt auf Frack<strong>in</strong>g setzen,<br />
um die Abhängigkeit von Russland <strong>zu</strong> verr<strong>in</strong>gern. Zudem<br />
hat Brüssel e<strong>in</strong>e Liste mit Dutzenden Projekten vorgelegt,<br />
101<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
KAPITAL<br />
Report<br />
mit denen die Gas<strong>in</strong>frastruktur so weiterentwickelt <strong>werden</strong><br />
soll, dass Put<strong>in</strong>s E<strong>in</strong>fluss schrumpft. Neue Term<strong>in</strong>als<br />
für Flüssiggas aus Afrika, dem arabischen Raum und Nordamerika<br />
wie im polnischen Sw<strong>in</strong>emünde stehen ebenso<br />
auf dieser Liste wie neue Pumpstationen, mit denen Gas<br />
notfalls <strong>in</strong> großen Mengen von Westen her gen Baltikum<br />
und Südosteuropa transportiert <strong>werden</strong> kann.<br />
Diese sogenannte „Schubumkehr“ ist e<strong>in</strong>e der härtesten<br />
energiepolitischen Waffen der EU gegen Russland.<br />
Put<strong>in</strong> stört es schon jetzt enorm, dass<br />
Deutschland neuerd<strong>in</strong>gs von Westen<br />
her Erdgas <strong>in</strong> die Ukra<strong>in</strong>e br<strong>in</strong>gt und<br />
damit dem Land hilft, den russischen<br />
Lieferstopp <strong>zu</strong> umgehen. Die deutsche<br />
RWE liefert über e<strong>in</strong>e Tochtergesellschaft<br />
seit April Gas <strong>in</strong> die Ukra<strong>in</strong>e,<br />
sowohl über Polen als auch über<br />
die Slowakei. Fachleute halten es für<br />
möglich, dass Put<strong>in</strong> nun exakt so viel<br />
weniger Gas e<strong>in</strong>speist, wie die RWE<br />
von Westen her an die Ukra<strong>in</strong>e liefert.<br />
„Die geschlossenen Verträge<br />
sehen ke<strong>in</strong>en Reexport vor“, warnte<br />
der russische Energiem<strong>in</strong>ister Alexander<br />
Nowak Ende September im<br />
Handelsblatt.<br />
Bisher limitieren Pipel<strong>in</strong>ekapazitäten<br />
die Schubumkehr. Doch konsequent<br />
umgesetzt, würden die Brüsseler<br />
Pläne es ermöglichen, dass Gas statt von Ost nach<br />
West künftig <strong>in</strong> großen Mengen von West nach Ost fließen<br />
kann. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die Kosten e<strong>in</strong>er solchen Strategie<br />
hoch. „Wir stehen vor der Frage, wie viel wir uns beim<br />
Thema Erdgas die europäische Solidarität kosten lassen<br />
wollen“, heißt es im Bundeswirtschaftsm<strong>in</strong>isterium von<br />
Sigmar Gabriel.<br />
Bei e<strong>in</strong>em<br />
russischen<br />
Lieferstopp droht<br />
vielen Menschen<br />
im Baltikum,<br />
<strong>in</strong> Bulgarien<br />
und Rumänien<br />
im W<strong>in</strong>ter der<br />
Kältetod<br />
DIE REGIERUNGSCHEFS DER EU-STAATEN haben für ihren<br />
Gipfel Ende Oktober vier Szenarien durchspielen lassen,<br />
welche Auswirkungen e<strong>in</strong> teilweiser oder vollständiger<br />
Stopp von russischen Gaslieferungen hätte. Der Test ergab,<br />
dass vor allem die baltischen Staaten und südosteuropäische<br />
Länder wie Bulgarien und Rumänien extrem betroffen<br />
wären, weil es dort kaum strategische Reserven gibt<br />
und die Abhängigkeit von russischem Gas am größten ist.<br />
Wird der W<strong>in</strong>ter dort hart, könnte e<strong>in</strong> Lieferstopp Russlands<br />
sehr viele Menschen mit dem Kältetod bedrohen. Im<br />
Bundeswirtschaftsm<strong>in</strong>isterium wird deshalb bereits geprüft,<br />
welche Möglichkeiten es gäbe und wie teuer es wäre,<br />
den betroffenen EU-Partnern auch kurzfristig <strong>zu</strong> helfen.<br />
Manchen geht die Wucht, mit der die Bundesregierung<br />
und die EU sich von russischem Gas absetzen, bereits<br />
<strong>zu</strong> weit. Stephan Kohler, der die von der Bundesregierung<br />
mitf<strong>in</strong>anzierte <strong>Deutsche</strong> Energie-Agentur (Dena)<br />
leitet, bezeichnet es als Illusion, wenn Deutschland glaube,<br />
ohne tiefgreifende Folgen und hohe Kosten auf russische<br />
Energielieferungen verzichten <strong>zu</strong> können. Die britischen<br />
und niederländischen Gasfelder seien bald erschöpft, und<br />
Flüssiggas sei erheblich teurer, weil Europa darum direkt<br />
mit Ch<strong>in</strong>a und anderen asiatischen Volkswirtschaften konkurrieren<br />
würde. Zudem gebe die Regierung dem breiten<br />
Widerstand der Bevölkerung gegen die Förderung eigener<br />
Vorkommen durch Frack<strong>in</strong>g nach. Kohler fordert „mehr<br />
Realismus“: „Wir wollen Versorgungssicherheit ohne Russen,<br />
aber ke<strong>in</strong> Frack<strong>in</strong>g. Wir wollen Klimaschutz, aber<br />
ke<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>dräder. Wir haben das größte Aufregungspotenzial,<br />
aber ke<strong>in</strong>er ist bereit, mehr für<br />
Energie <strong>zu</strong> bezahlen – das kann nicht<br />
gut gehen“, sagt der Dena-Chef.<br />
Kohler kennt die russische Energieszene<br />
wie wenige andere <strong>in</strong> Deutschland<br />
und unterhält beste Kontakte bis<br />
<strong>in</strong> den Kreml. Eigentlich, sagt er, „wäre<br />
es verständlich, wenn die Russen umgekehrt<br />
Energiesanktionen gegen uns<br />
verhängen würden, da, wo es uns wehtut“,<br />
denn der Westen habe mit se<strong>in</strong>en<br />
gegen Öl- und Gasfirmen gerichteten<br />
Sanktionen als Erster Energie als Waffe<br />
e<strong>in</strong>gesetzt. Vor allem den Amerikanern<br />
wirft der Dena-Chef unlautere Motive<br />
vor: Die USA wollten verh<strong>in</strong>dern, dass<br />
das rohstoffreiche Russland und das<br />
technologiestarke Europa sich <strong>zu</strong> eng<br />
verbündeten, und hätten es auch darauf<br />
abgesehen, Europa künftig statt der<br />
Russen mit dem <strong>in</strong> den USA per Frack<strong>in</strong>g gewonnenen<br />
Schiefererdgas <strong>zu</strong> beliefern.<br />
Dass Put<strong>in</strong> wirklich den Gashahn <strong>zu</strong>dreht, hält Kohler<br />
aber für nahe<strong>zu</strong> ausgeschlossen: „Russland hat trotz Kaltem<br />
Krieg und trotz der Zerstörung der Sowjetunion immer<br />
vertragstreu Erdgas geliefert.“ Put<strong>in</strong> wolle e<strong>in</strong> stabiles<br />
Verhältnis <strong>zu</strong> Europa, er habe jüngst noch e<strong>in</strong> Freihandelsabkommen<br />
vorgeschlagen und bekräftigt, dass Russland<br />
und Europa <strong>zu</strong>sammengehörten. Kohler hält es für geboten,<br />
konsequent auf e<strong>in</strong>en Dialog mit Russland <strong>zu</strong> setzen,<br />
um <strong>zu</strong>r alten Energiepartnerschaft <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren.<br />
Die Ukra<strong>in</strong>ekrise führt vor Augen, dass die energetische<br />
Abhängigkeit von Russland e<strong>in</strong>en hohen Preis hat,<br />
aber dass es ökonomisch gesehen noch teurer wäre, russisches<br />
Erdgas durch solches aus anderen Quellen e<strong>in</strong>fach<br />
<strong>zu</strong> ersetzen. Für diejenigen, die kostengünstig von Russland<br />
loskommen wollen, hat Dena-Chef Stephan Kohler<br />
e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen Rat: im eigenen Land die Energieeffizienz<br />
mit allen Kräften, also Energiesparen, Wärmedämmung<br />
und sparsamen Technologien <strong>zu</strong> fördern: „Hier liegen gigantische<br />
Potenziale, die bisher noch ke<strong>in</strong>e Bundesregierung<br />
genutzt hat.“<br />
CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />
arbeitet als Wissenschafts- und Umweltjournalist<br />
<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Dass man <strong>in</strong> der Hauptstadt schon e<strong>in</strong>mal<br />
ernsthaft nach Erdöl gebohrt hat, hat er aber<br />
erst bei dieser Recherche erfahren<br />
Foto: Privat<br />
102<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
STIL<br />
„ Die Fantasie<br />
sucht sich<br />
neue unmoralische<br />
Formen “<br />
Der Autor Gerhard Haase-H<strong>in</strong>denberg über die erotischen Fantasien der<br />
<strong>Deutsche</strong>n, Interview ab Seite 114<br />
103<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
STIL<br />
Porträt<br />
WARUM SO ERNST?<br />
Vom Helden seichter Unterhaltung <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em der Seriösen unter Hollywoods Stars. Der<br />
Weg des Matthew McConaughey, auf dessen Körper sogar e<strong>in</strong>e Redensart <strong>zu</strong>rückgeht<br />
Von SARAH-MARIA DECKERT<br />
Kennen Sie das? Dass e<strong>in</strong>er bei jeder<br />
sich bietenden Gelegenheit<br />
das Hemd auszieht? Nicht, weil<br />
der Hautarzt ihn freundlich bittet, den<br />
Oberkörper frei<strong>zu</strong>machen, sondern weil<br />
die perfekt def<strong>in</strong>ierte Bauch-/Rücken-/<br />
Armpartie e<strong>in</strong> wenig Aufmerksamkeit<br />
verdient hat. Das Urban Dictionary, e<strong>in</strong><br />
englisches Wörterbuch für abenteuerliche<br />
Neologismen und Redewendungen,<br />
kennt dafür e<strong>in</strong>, nun ja, Verb: to pull a<br />
McConaughey, wörtlich übersetzt heißt<br />
das: e<strong>in</strong>en McConaughey abziehen.<br />
Matthew McConaughey, das ist der<br />
Mann mit dem ganzjährigen Bronzete<strong>in</strong>t<br />
und den Goldlöckchen. Dieser Mann,<br />
44 Jahre alt, der lieber se<strong>in</strong>en silbernen<br />
Wohnwagen am Strand von Malibu parkt,<br />
als dauerhaft e<strong>in</strong>e ordentliche Villa <strong>zu</strong><br />
beziehen. In der Highschool trug er den<br />
Titel „Most Handsome“. 22 Filme und e<strong>in</strong><br />
paar hemdlose Auftritte später kürte das<br />
People Magaz<strong>in</strong>e ihn 2005 <strong>zu</strong>m „Sexiest<br />
Man Alive“. Matthew McConaughey, das<br />
ist der Inbegriff des surfenden, joggenden<br />
und Paleo-Diät-haltenden Charmebolzen<br />
aus Longview, Texas.<br />
Lange Zeit war die Marke McConaughey<br />
entsprechend eng def<strong>in</strong>iert, als<br />
Abziehbild e<strong>in</strong>es Klischee-Südstaatlers.<br />
Verwegen, kaugummikauend und mit<br />
kehliger Karamellstimme, mit der er<br />
Vokale bis <strong>zu</strong>r Unkenntlichkeit dehnt.<br />
Da<strong>zu</strong> sagt er Sätze wie: „Die texanische<br />
Kultur ist widerstandsfähig. Man klopft<br />
sich den Staub aus den Klamotten und<br />
kümmert sich um se<strong>in</strong>e Angelegenheiten.<br />
Wir haben heftige Dürre und heftige Flut,<br />
und wir haben gelernt, uns an<strong>zu</strong>passen.<br />
Man beschwert sich nicht übers Wetter.“<br />
Howdy!<br />
In Hollywood gab er immer wieder<br />
den romantischen Komödienhelden,<br />
der abwechselnd Jennifer Lopez („Wedd<strong>in</strong>g<br />
Planner“, 2001), Kate Hudson („<strong>Wie</strong><br />
werde ich ihn los <strong>in</strong> zehn Tagen“, 2003)<br />
oder Sarah Jessica Parker („Zum Ausziehen<br />
verführt“, 2006) se<strong>in</strong>en Schultermuskel<br />
<strong>zu</strong>m Anlehnen h<strong>in</strong>hielt. Und er<br />
spielte die Rolle des smarten Junggesellen<br />
gerne. Das Drama lag nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Frohnatur.<br />
Bis Ron Woodroof kam. E<strong>in</strong> fluchender<br />
Maulheld, homophob bis <strong>in</strong> die<br />
Cowboystiefelspitzen. Und Aidspatient –<br />
im Jahr 1985. McConaughey machte<br />
für diese Rolle <strong>in</strong> „Dallas Buyers Club“<br />
(2013), die ihm dieses Jahr den Oscar e<strong>in</strong>brachte,<br />
e<strong>in</strong>e fast schon irritierende Kehrtwende.<br />
Die Goldlöckchen waren weg, der<br />
Bronzete<strong>in</strong>t, 23 Kilogramm. Dann spielte<br />
er. <strong>Wie</strong> <strong>in</strong> der Autoszene, <strong>in</strong> der er nach<br />
se<strong>in</strong>er Pistole greift. Mit diesem ausgemergelten<br />
Körper, mit dem verzerrten Gesicht,<br />
über das sich die Haut nur noch wie<br />
e<strong>in</strong> Lederlappen spannt, dieses verzweifelte<br />
Ohnmachtsschluchzen, irgendwo<br />
von ganz tief unten. Den Malibu-McConaughey,<br />
den gibt es hier nicht mehr.<br />
DAFÜR GIBT ES RUST COHLE, den ebenso<br />
kaputten wie genialischen Nihilisten aus<br />
der 2014 angelaufenen HBO-Serie „True<br />
Detective“, mit dessen Darstellung Mc-<br />
Conaughey sich endgültig <strong>in</strong> die A-Liste<br />
Hollywoods gespielt hat, wie vor ihm die<br />
Seriendarsteller Steve Buscemi („Boardwalk<br />
Empire“), Bryan Cranston („Break<strong>in</strong>g<br />
Bad“) oder Claire Danes („Homeland“).<br />
Der Wandel <strong>in</strong>s ernste Rollenfach<br />
kam für McConaughey 2011, nach e<strong>in</strong>er<br />
zweijährigen Schaffenspause. Er heiratete<br />
se<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, bekam zwei K<strong>in</strong>der<br />
und gründete e<strong>in</strong>e Stiftung. Die Jahre der<br />
privaten Revolte waren vorbei. Nun war<br />
Platz für die filmische.<br />
Dieses exzessive, fast schon kompromisslose<br />
Streben nach Rollenauthentizität<br />
ist nicht neu. Robert De Niro legte<br />
für „<strong>Wie</strong> e<strong>in</strong> wilder Stier“ (1980) 30 Kilo<br />
<strong>zu</strong>. Charlize Theron bewies <strong>in</strong> „Monster“<br />
(2003) Mut <strong>zu</strong>r Hässlichkeit. Filmdiät-Veteran<br />
Christian Bale hungerte sich<br />
für „The Mach<strong>in</strong>ist“ (2004) und „The<br />
Fighter“ (2010) auf e<strong>in</strong>e gefährliche Gewichtsklasse<br />
ab. Und Anne Hathaway rasierte<br />
sich für „Les Misérables“ (2012)<br />
den Kopf. Alle vier wurden dafür mit<br />
dem Oscar belohnt und baden seither <strong>in</strong><br />
ihrem Charakterdarsteller-Image.<br />
Bei McConaughey ist das neu gewonnene<br />
Bild des ernsten Haudegens eigentlich<br />
e<strong>in</strong> altes: Der ehemalige Jura-<br />
Student debütierte 1996 <strong>in</strong> „Die Jury“<br />
(„A Time to Kill“) als knallharter Anwalt,<br />
um anschließend von der Kritik<br />
<strong>zu</strong>m neuen Paul Newman ausgerufen <strong>zu</strong><br />
<strong>werden</strong>. Gerade hat er die Dreharbeiten<br />
<strong>zu</strong>m Science-Fiction-Thriller „Interstellar“<br />
abgeschlossen, <strong>in</strong> dem er als Wissenschaftler<br />
durch e<strong>in</strong> Wurmloch reist.<br />
Und 2015 wird er sich <strong>in</strong> „The Sea of<br />
Trees“ <strong>in</strong> die japanischen Wälder am<br />
Fuße des Fuji begeben – um Selbstmord<br />
<strong>zu</strong> begehen.<br />
Die erste Staffel von „True Detective“,<br />
die im Oktober auf dem deutschen<br />
Bezahlsender Sky Atlantic angelaufen ist,<br />
ist mit acht Folgen übrigens abgedreht.<br />
Für jede weitere Staffel soll es nun e<strong>in</strong> jeweils<br />
komplett neues Team geben, neue<br />
Regisseure, neue Drehbuchautoren, neue<br />
Darsteller. Darunter: V<strong>in</strong>ce Vaughn, der<br />
<strong>in</strong> Matthew McConaugheys Fußstapfen<br />
treten wird. Vaughn, bisheriger Dauergast<br />
<strong>in</strong> Romanzen und Klamauk-Komödien.<br />
Vielleicht schafft damit ja auch er<br />
den Sprung <strong>in</strong> die seriöse A-Liste. Und<br />
vielleicht wird man dann sagen: „He just<br />
pulled a McConaughey.“<br />
SARAH-MARIA DECKERT arbeitet als<br />
freie Autor<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. „McConaughey“<br />
schreibt sie trotz der Arbeit an diesem<br />
Text immer noch regelmäßig falsch<br />
Foto: Jens Koch/Picture Press<br />
104<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
106<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
STIL<br />
Typologie<br />
RUND UM<br />
DIE UHR<br />
Von LENA BERGMANN<br />
E<strong>in</strong>e Uhr sagt mehr<br />
aus als die Zeit. In ihr<br />
spiegelt sich die<br />
Persönlichkeit ihrer<br />
Besitzer. Wir haben<br />
sieben Typen und<br />
deren Liebl<strong>in</strong>gsmodelle<br />
identifiziert<br />
Illustrationen SUSANN STEFANIZEN<br />
DIE AGENTUR- CHEFIN<br />
Dieser Typ Uhrenträger<strong>in</strong> belohnt sich gern selbst<br />
für ihren Erfolg: Vor zwei Jahrzehnten gründete<br />
sie ihr Unternehmen, und im selben Jahr<br />
g<strong>in</strong>g die Lange 1 an den Markt, das erfolgreichste Modell<br />
der nach der Wende neu gegründeten sächsischen<br />
Traditionsmanufaktur A. Lange & Söhne. Parallel<br />
schrieben die beiden ihre deutschen Erfolgsgeschichten,<br />
gegen alle Widrigkeiten – die Gründer<strong>in</strong> als <strong>junge</strong><br />
Frau und die Lange 1 als neues Produkt, dessen Herkunft<br />
aus der ehemaligen DDR sie auf dem <strong>in</strong>ternationalen<br />
Luxusuhrenmarkt nicht gerade <strong>zu</strong>m Erfolg prädest<strong>in</strong>ierte.<br />
Dass es die grafisch-elegante Lange 1, die<br />
mit ihren dezentralen Anzeigen, filigraner Schrift und<br />
Großdatum <strong>in</strong>zwischen als Designklassiker gilt, nur als<br />
Männeruhr gibt, im Durchmesser von 38,5 Millimetern,<br />
ist für die Gründer<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>derungsgrund, im<br />
Gegenteil: Frauen kriegen die K<strong>in</strong>der und Männer die<br />
größeren Uhren? Warum das denn, bitte? Außerdem<br />
fühlt sich die selbst bezahlte große Lange 1 <strong>in</strong> Plat<strong>in</strong><br />
an ihrem Handgelenk an wie e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Aerobic-Hantel,<br />
substanziell, befriedigend – irgendwie sexy, sogar<br />
107<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
STIL<br />
Typologie<br />
DIE MITMACHER<br />
Was <strong>in</strong> den Achtzigern die Swatch war, ist<br />
heute die Ice Watch: e<strong>in</strong> absolutes Muss<br />
für die Unter-18-Fraktion, mit der <strong>in</strong> Konsumfragen<br />
ja nicht <strong>zu</strong> spaßen ist. Auf ihr Geheiß h<strong>in</strong><br />
wurde die belgische Firma mit dem strategisch gewählten<br />
Namen – Ice Watch hört sich wohl nicht <strong>zu</strong>fällig<br />
an wie iSwatch, was <strong>zu</strong> diversen Rechtsstreitigkeiten<br />
mit der Firma Swatch führte – über Nacht <strong>zu</strong>m<br />
Star. Erfolgspr<strong>in</strong>zip? Gruppenzwang. Und der beschert<br />
uns e<strong>in</strong>e Flut von Modellen <strong>in</strong> grellen Farben mit generisch-grobschlächtiger<br />
Form und Typografie. Produziert<br />
<strong>werden</strong> diese im südch<strong>in</strong>esischen Shenzhen,<br />
der „Stadt der Konkub<strong>in</strong>en“, <strong>in</strong> der sich reiche Geschäftsleute<br />
aus dem nahen Hongkong traditionell ihre<br />
Zweitfrauen halten. Nebenher <strong>werden</strong> dort also auch<br />
preiswerte Uhren für die verwöhnte Jugend Europas<br />
<strong>zu</strong>sammengeschraubt. Das populäre Modell Ice M<strong>in</strong>i<br />
ist ab 59 Euro <strong>zu</strong> haben, doch auch aufgebrezelte Ausführungen<br />
überschreiten kaum die 200-Euro-Marke.<br />
Inzwischen gibt es 34 verschiedene Kollektionen, die<br />
nur e<strong>in</strong> Teenager mit sehr viel Zeit ause<strong>in</strong>anderhalten<br />
kann. An den Handgelenken der Mädchen bl<strong>in</strong>kt<br />
die Ice Watch Star mit Swarovski-Ste<strong>in</strong>chen oder die<br />
Ice Forever Trendy <strong>in</strong> Neonp<strong>in</strong>k oder Neongelb, während<br />
die Jungs die Ice Watch BMW bevor<strong>zu</strong>gen – <strong>in</strong><br />
den Teenagerjahren herrschen noch klare Verhältnisse.<br />
DER STUNTMAN<br />
Je abstrakter, digitaler und entfremdeter der Alltag erfolgreicher<br />
Unternehmer wird, desto ausgeprägter wird<br />
<strong>in</strong> ihrer Freizeitgestaltung die Tendenz <strong>zu</strong>r kernigen körperlichen<br />
Grenzerfahrung. Ob Weltraumtourismus, E<strong>in</strong>hand-<br />
Transatlantik-Segelrennen oder Heliski<strong>in</strong>g im Himalaja: Sporteln<br />
mit Wagnis ist das neue Koka<strong>in</strong> der unternehmerischen<br />
Risikoelite. Da diese heute ke<strong>in</strong>e Drogen, sondern Hedg<strong>in</strong>g<br />
im Blut hat, spr<strong>in</strong>gt sie zwar ohne Risikoversicherung aus dem<br />
Hubschrauber, aber dafür mit Breitl<strong>in</strong>g Emergency: Selbst dann,<br />
wenn <strong>in</strong> der Gletscherspalte oder auf dem Rettungsfloß das<br />
Satellitenhandy von Vertu nicht mehr funktioniert, sendet<br />
die Emergency nach ihrer Aktivierung durch den Gefährdeten<br />
über e<strong>in</strong> komplexes Zwei-Frequenz-System <strong>zu</strong>verlässig <strong>in</strong><br />
das sogenannte Cospas-Sarsat-Netzwerk, das die Ortungsdaten<br />
verschollener oder havarierter Breitl<strong>in</strong>g-Kunden mittels<br />
geostationärer Satelliten an die jeweils <strong>zu</strong>ständigen Such- und<br />
Rettungsdienste weiterleitet. So wird Dist<strong>in</strong>ktion am Handgelenk<br />
nicht durch e<strong>in</strong>e für diese Zielgruppe langweilige Selbstverständlichkeit<br />
wie Geld, sondern über die Feier des herrlich<br />
<strong>in</strong>fantilen Todesmuts erzeugt, den die Emergency impliziert.<br />
108<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
OKTOBER 2014 / EURO 9,00 / SFR 14,50<br />
DIE UHRLOSEN<br />
Es gibt Menschen, denen e<strong>in</strong>e Armbanduhr entschieden<br />
<strong>zu</strong> wenig Information liefert. Uhrzeit,<br />
Datum, Mondphase? Pah! E<strong>in</strong> Witz gegen jedes<br />
noch so e<strong>in</strong>fache E<strong>in</strong>steiger-Smartphone. Viele Verbraucher,<br />
die mit dem iPhone leben, kämen nie auf<br />
die Idee, viele Tausend Euro für e<strong>in</strong> Gerät von solch<br />
e<strong>in</strong>geschränkter Funktionalität aus<strong>zu</strong>geben. Für diese<br />
Zielgruppe hat Apple nun se<strong>in</strong> schlicht „Apple Watch“<br />
genanntes anschnallbares M<strong>in</strong>itablet entwickelt, das<br />
geradewegs e<strong>in</strong>em Orwell’schen Albtraum entsprungen<br />
<strong>zu</strong> se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t: „Die Apple Watch ist e<strong>in</strong> neues<br />
Kapitel <strong>in</strong> der Beziehung zwischen Mensch und Technologie“,<br />
plappert die Apple-Website ungeniert – ja<br />
sicher, möchte man ergänzen, da sie ihrem User die<br />
Information nun quasi direkt aus der Vene saugt. Das<br />
Gerät sei „e<strong>in</strong> Gesundheits- und Fitnessbegleiter, der<br />
ständig analysiert, wie du noch aktiver und fitter se<strong>in</strong><br />
kannst“ – das hört sich doch an wie die perfekte Wechselprämie<br />
e<strong>in</strong>er privaten Krankenversicherung! Abgesehen<br />
von Überlegungen <strong>zu</strong>m Schutz der Privatsphäre<br />
sollte das Ersche<strong>in</strong>en der Apple Watch im nächsten<br />
Frühjahr auch Überlegungen <strong>zu</strong>m Schutz von Partnerschaften<br />
auslösen. Denn viele Uhrlose gehören <strong>zu</strong><br />
jenen Zeitgenossen, die <strong>in</strong> fast jeder wachen Sekunde<br />
auf e<strong>in</strong>en ihrer drei Apple-Bildschirme blicken – auf<br />
MacBook, iPad oder iPhone –, sehr <strong>zu</strong>m Ärger ihrer<br />
Lebenspartner. Den vierten Bildschirm, auf den man<br />
nun sogar beim Sex unauffällig e<strong>in</strong>en Blick werfen<br />
kann, <strong>werden</strong> viele Partnerschaften nicht überleben.<br />
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109<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
STIL<br />
Typologie<br />
DAS ELITE-MÄDCHEN<br />
An den blassen Ohrläppchen der höheren Tochter bef<strong>in</strong>den<br />
sich die Perlenstecker, die sie von ihrer Großmutter<br />
geerbt hat. An ihrem Handgelenk sieht man, seit<br />
sie das erste juristische Staatsexamen bestanden hat, die Tank<br />
Française von Cartier, ruhig auch die Version mit gelbgoldenen<br />
Akzenten im stählernen Gliederarmband. Diese unkomplizierte<br />
Allrounder<strong>in</strong> ist derart populär, dass sie unter weiblichen<br />
Nachwuchsführungskräften <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Uniformelement<br />
geworden ist, analog <strong>zu</strong>r allgegenwärtigen Rolex Submar<strong>in</strong>er<br />
aus Edelstahl bei ihren männlichen Kollegen und somit Konkurrenten,<br />
aus deren Pool sich <strong>in</strong> den meisten Fällen auch ihre<br />
späteren Ehemänner rekrutieren. Anders als die Submar<strong>in</strong>er,<br />
die den Jungbanker nachts vor se<strong>in</strong>em Rechner daran er<strong>in</strong>nert,<br />
dass er als Student doch mal Tauchlehrer auf Bali <strong>werden</strong><br />
wollte, ist die Tank Française die perfekte Büro-Uhr für<br />
die kommende weibliche Funktionselite. Bei Student<strong>in</strong>nen<br />
noch Zeichen e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziell warm unterfütterten Herkunft<br />
aus e<strong>in</strong>er grünen, meist westdeutschen Vorstadt, wird sie im<br />
Berufsleben <strong>zu</strong>m Ausweis von Teamfähigkeit und konservativer<br />
Allürenfreiheit. Die Tank Française ist demnach e<strong>in</strong>e<br />
Uhr, die Männern die Angst vor ehrgeizigen <strong>junge</strong>n Frauen<br />
nimmt – und somit die perfekte Tarnkappe.<br />
DER STILLE GENIESSER<br />
Es soll Menschen geben, die sich nichts Schlimmeres<br />
vorstellen können, als durch ihre Konsumentscheidungen<br />
e<strong>in</strong> gewisses Bild von sich <strong>zu</strong><br />
transportieren. Dies s<strong>in</strong>d Konsumenten, die sich etwa<br />
e<strong>in</strong>e zehn Jahre alte S-Klasse kaufen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unauffälligen<br />
Farbe wie Navy oder Anthrazit – e<strong>in</strong> bequemes,<br />
funktionales Produkt, <strong>in</strong> dem sowohl e<strong>in</strong> schwäbischer<br />
Weltmarktführer wie auch e<strong>in</strong> Kreuzberger Dönerbudenbetreiber<br />
sitzen könnte. Die Wahl e<strong>in</strong>er teuren Uhr<br />
ist für e<strong>in</strong>en Understater nicht e<strong>in</strong>fach. Die sportlichdynamische<br />
Extrovertiertheit e<strong>in</strong>er Rolex kommt für<br />
ihn nicht <strong>in</strong>frage, e<strong>in</strong>e Panerai ist ihm <strong>zu</strong> spezifisch,<br />
e<strong>in</strong>e Breitl<strong>in</strong>g <strong>zu</strong> aeronautisch. E<strong>in</strong>e schöne Lösung für<br />
diesen Konsumenten, dessen Symbolverweigerung sich<br />
meist auf e<strong>in</strong>en übertriebenen Snobismus <strong>zu</strong>rückführen<br />
lässt, ist die Nautilus von Patek Philippe. E<strong>in</strong> seit<br />
1976 nahe<strong>zu</strong> unverändert hergestellter Klassiker, dessen<br />
schlichtes Design – vor allem <strong>in</strong> der stählernen Basisausführung<br />
– derart perfekt ist, dass er am Handgelenk<br />
verschw<strong>in</strong>det. Es gibt ke<strong>in</strong>e Konsumentengruppe,<br />
die dieses em<strong>in</strong>ent <strong>zu</strong>rückhaltende Produkt für sich<br />
vere<strong>in</strong>nahmen könnte. Die Nautilus verrät nichts über<br />
ihren Besitzer – außer, dass er es nicht nötig hat.<br />
110<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
CICERO: PLAT T<br />
IN DIESEN EXKLUSIVEN<br />
HOTELS<br />
REIZ<br />
DER PFIFFIKUS<br />
Hotel Taschenbergpalais Kemp<strong>in</strong>ski<br />
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01067 Dresden<br />
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Oft e<strong>in</strong> freiberuflicher Architekt<br />
oder e<strong>in</strong> idealistischer Oberstudienrat,<br />
ist der Pfiffikus <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>e Nomos regelrecht verliebt. Unprätentiös,<br />
asketisch im Design, akribisch <strong>in</strong><br />
der Konstruktion und, nun ja, pfiffig, ersche<strong>in</strong>t<br />
die Nomos von Glashütte oft als<br />
das mechanische Abbild ihrer stolzen<br />
Eigner. Diese legen wenig Wert auf Markenprestige,<br />
dafür umso mehr auf Understatement,<br />
technische Raff<strong>in</strong>esse und Sozialverträglichkeit.<br />
Der Nomos-tragende<br />
Pfiffikus spielt <strong>in</strong>sgeheim mit dem Gedanken,<br />
sich noch e<strong>in</strong>e zweite Nomos <strong>zu</strong><br />
gönnen, was ihm allerd<strong>in</strong>gs nicht nur e<strong>in</strong><br />
schlechtes Gewissen, sondern auch e<strong>in</strong><br />
Dilemma e<strong>in</strong>brockt: Soll er das Richtige<br />
tun und sich für das limitierte Sondermodell<br />
des Nomos-Klassikers Tangente für<br />
Ärzte ohne Grenzen entscheiden, mit denen<br />
die Manufaktur die Anstrengungen<br />
der Hilfsorganisation <strong>in</strong> Krisengebieten<br />
unterstützt? Oder soll er se<strong>in</strong>en Schrauberimpulsen<br />
folgen und die neue Metro<br />
auswählen, deren haus<strong>in</strong>tern entwickeltes<br />
Sw<strong>in</strong>gsystem den Anspruch von Nomos<br />
auf technische Weltklasse untermauert?<br />
Oder doch lieber e<strong>in</strong> neues Kajak?<br />
LENA BERGMANN leitet das Stilressort von<br />
<strong>Cicero</strong>. Sie hat e<strong>in</strong>e Uhr von Cartier geerbt<br />
und träumt von e<strong>in</strong>er Lange 1<br />
» Im 18. Jahrhundert als Geschenk e<strong>in</strong>es Königs an se<strong>in</strong>e Liebste<br />
<strong>in</strong> der Kulturstadt Dresden erbaut, bietet das heutige Hotel<br />
Taschenbergpalais Kemp<strong>in</strong>ski seit 20 Jahren <strong>in</strong>ternationalen<br />
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auf höchstem Niveau und ist somit e<strong>in</strong>e perfekte Ergän<strong>zu</strong>ng<br />
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STIL<br />
Interview<br />
„ SADO-MASO IST<br />
MAINSTREAM “<br />
Gerhard Haase-<br />
H<strong>in</strong>denberg hat<br />
e<strong>in</strong> Buch über die<br />
erotischen Fantasien<br />
der <strong>Deutsche</strong>n<br />
geschrieben. Was<br />
der „Sex im Kopf“<br />
über uns aussagt<br />
Herr Haase-H<strong>in</strong>denberg, wie haben Sie<br />
die Menschen da<strong>zu</strong> gebracht, Ihnen ihre<br />
erotischen Fantasien <strong>zu</strong> erzählen?<br />
Gerhard Haase-H<strong>in</strong>denberg: Ich<br />
habe über Facebook und andere soziale<br />
Netzwerke, aber auch über Zeitungsannoncen<br />
Menschen gesucht, die mir für<br />
dieses Buchprojekt von ihren geheimen<br />
sexuellen Sehnsüchten erzählen. Immerh<strong>in</strong><br />
haben sich 1445 Menschen bei mir<br />
gemeldet. Davon waren über 40 Prozent<br />
Frauen. Zunächst g<strong>in</strong>g es darum, Fragebögen<br />
<strong>zu</strong> beantworten, der weitere Austausch<br />
fand dann per E-Mail oder am Telefon<br />
statt. Nur 202 Bekenntnisse haben<br />
es <strong>in</strong> das Buch geschafft. Der flotte Dreier<br />
ist e<strong>in</strong>e der stärksten Männerfantasien.<br />
Frauen träumen mehrheitlich von e<strong>in</strong>em<br />
dom<strong>in</strong>ant auftretenden Mann, der klare<br />
Anweisungen und mehr gibt.<br />
E<strong>in</strong>ige Frauen schildern sogar Vergewaltigungsfantasien.<br />
<strong>Wie</strong> passt das bitte<br />
<strong>zu</strong>m modernen Frauenbild?<br />
In der Fantasie ist die Frau die Beherrscher<strong>in</strong><br />
der Situation. Sie bestimmt,<br />
Gerhard Haase-H<strong>in</strong>denberg<br />
61, ist Schauspieler, Regisseur,<br />
Publizist und Buchautor.<br />
Se<strong>in</strong> Buch „Sex im Kopf“<br />
erschien gerade bei Rowohlt<br />
und ver sammelt anonyme<br />
Bekennt nisse von Männern<br />
und Frauen<br />
wo die Vergewaltigung stattf<strong>in</strong>det, wann<br />
und mit wem. Sie wählt auch aus, auf<br />
welche Weise. Sie hat die Macht, den<br />
Mann so wahns<strong>in</strong>nig <strong>zu</strong> machen, dass<br />
er nicht anders kann, als über sie her<strong>zu</strong>fallen.<br />
Man muss aber bitte im H<strong>in</strong>terkopf<br />
haben: E<strong>in</strong>e Vergewaltigungsfantasie<br />
kann nicht ausgelebt <strong>werden</strong>,<br />
Foto: Yehuda Swed/ Favorite Picture<br />
114<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
denn <strong>in</strong>szenierte Vergewaltigung wäre<br />
e<strong>in</strong>vernehmlicher Sex. Das wäre dann<br />
e<strong>in</strong>e Sado-Maso-Situation, <strong>in</strong> der die<br />
Frau devot auftritt.<br />
Ist Sado-Maso Ma<strong>in</strong>stream?<br />
Ja. Dass sich Reizmuster wie Sado-<br />
Maso ausbreiten, hat auch damit <strong>zu</strong> tun,<br />
dass die Pornografie <strong>in</strong>zwischen die Alltagsfantasien<br />
bestimmt. Noch vor wenigen<br />
Jahren musste jemand, der Pornografie<br />
sehen wollte, se<strong>in</strong> Gesicht zeigen.<br />
Heute kann sich das jeder anonym auf<br />
dem Rechner ansehen. Die Leute stoßen<br />
im Internet dann auf Szenen und Praktiken,<br />
von denen sie gar nicht wussten,<br />
dass es sie gibt. Und plötzlich spüren sie<br />
e<strong>in</strong>e Erregung. Neue Reizmuster entstehen.<br />
So kamen auch sadomasochistische<br />
Praktiken stärker <strong>in</strong> den Fokus.<br />
Ob <strong>in</strong> der Fantasie oder als Inszenierung,<br />
jede ordentliche Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong> würde sagen:<br />
Da f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Identifikation mit<br />
männlichen Erwartungsmustern statt.<br />
Im Buch kommt auch der Sexualpsychologe<br />
Christoph J. Ahlers <strong>zu</strong> Wort.<br />
Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach erschöpft sich das<br />
Phänomen Sado-Maso nicht dar<strong>in</strong>, dass<br />
Frauen alles Mögliche mitmachen, um<br />
Männern <strong>zu</strong> gefallen. Die Erregung entsteht<br />
hier durch Ausgeliefertheit und<br />
Verantwortungsabgabe. Es geht darum,<br />
dass man sich fallen lassen kann. Übrigens<br />
auch bei Männern mit devoten Fantasien.<br />
Mir ist sogar aufgefallen, dass<br />
überwiegend starke Persönlichkeiten <strong>in</strong><br />
ihrer Fantasie unterdrückt <strong>werden</strong> wollen.<br />
Menschen, die sich im Alltag ohneh<strong>in</strong><br />
schon unterdrückt fühlen, haben solche<br />
Fantasien eher seltener.<br />
Besteht e<strong>in</strong>e große Diskrepanz zwischen<br />
dem, was <strong>in</strong> Deutschland so fantasiert<br />
und was ausgelebt wird?<br />
Es <strong>werden</strong> schon verrückte D<strong>in</strong>ge<br />
ausgelebt, da war ich überrascht, wie<br />
akribisch und kreativ Fantasien umgesetzt<br />
<strong>werden</strong>. Aber ke<strong>in</strong>e der Frauen, die<br />
ich befragt habe, wollte ihre Vergewaltigungsfantasie<br />
ausleben. Bei Gangbang-<br />
Fantasien ist das etwas anderes.<br />
Ist die Gangbang nicht e<strong>in</strong> schreckliches<br />
Unterklasse-Phänomen?<br />
Auch <strong>in</strong> akademischen Kreisen gibt es<br />
Gangbang-Fantasien. E<strong>in</strong>e promovierte<br />
„ Es s<strong>in</strong>d starke<br />
Persönlichkeiten,<br />
die <strong>in</strong><br />
ihrer Fantasie<br />
unterdrückt<br />
<strong>werden</strong> wollen “<br />
Biochemiker<strong>in</strong> hat mir <strong>zu</strong>m Beispiel erzählt,<br />
dass sie bei ihrem nächsten USA-<br />
Aufenthalt e<strong>in</strong>en Zwischenstopp <strong>in</strong> New<br />
York e<strong>in</strong>legen will und e<strong>in</strong>en auf Gangbangs<br />
spezialisierten Club aufsuchen will,<br />
dort teilen sich bis <strong>zu</strong> zehn Männer e<strong>in</strong>e<br />
Frau. E<strong>in</strong>e Krankenschwester berichtet,<br />
dass sie per Anzeige Gangbang-Partner<br />
sucht. Die Gangbang ist im Kommen.<br />
Was veranlasst Sie denn <strong>zu</strong> dieser kühnen<br />
These?<br />
Ich denke, dass die Menschen <strong>in</strong> ihren<br />
Fantasien grundsätzlich gerne etwas<br />
Unmoralisches tun, etwas „Versautes“.<br />
Viele D<strong>in</strong>ge, die vor e<strong>in</strong>er Generation<br />
noch unmoralisch und „versaut“ waren,<br />
s<strong>in</strong>d heute akzeptiert. Denken Sie nur an<br />
Oralsex – das war noch vor 25, 30 Jahren<br />
e<strong>in</strong>e unmoralische Sache, alle<strong>in</strong>e das<br />
Ans<strong>in</strong>nen. Heute ist er e<strong>in</strong>e gängige Praxis,<br />
bei beiden Geschlechtern übrigens<br />
und jeder sexuellen Orientierung. Und<br />
die Fantasie sucht sich neue unmoralische<br />
Formen. Im Moment liegt der Analsex<br />
im Trend.<br />
Spielen bei der Normalisierung von sexuellen<br />
Praktiken Internetpornos wirklich<br />
so e<strong>in</strong>e große Rolle?<br />
Nicht ohne Grund gibt es im Buch<br />
auch das Kapitel „Generation(en) Porno“.<br />
Das Problem bei vielen <strong>junge</strong>n Menschen<br />
ist, dass sie durch die Pornografie sexualisiert<br />
<strong>werden</strong>. Mir hat kürzlich e<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong><br />
von e<strong>in</strong>em elfjährigen Jungen erzählt,<br />
der bereits Pornofilme auf se<strong>in</strong>em<br />
Smartphone hat. K<strong>in</strong>der und Jugendliche,<br />
die selbst noch ke<strong>in</strong>e sexuellen Erfahrungen<br />
gemacht haben, lernen dann, dass <strong>in</strong><br />
Pornofilmen immer die gleiche Dramaturgie<br />
stattf<strong>in</strong>det, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fünfaktigen<br />
Oper: Zunächst stimuliert die Frau<br />
den Mann oral. Die Folge ist, dass Teenager<br />
sich nicht von ihren eigenen Reizmustern<br />
leiten lassen, sondern von dem,<br />
was sie denken, tun <strong>zu</strong> müssen. Im Buch<br />
berichtet e<strong>in</strong> 19-jähriger Junge, dass er<br />
sich gerne durch alle möglichen Pornokategorien<br />
klickt, dass er „reif“, „anal“<br />
oder „Teen“ anschaut, aber auch „Shemales“,<br />
„Ladyboys“ oder „Sado-Maso“.<br />
Und dass er alles erregend f<strong>in</strong>det und alles<br />
<strong>in</strong> der Zukunft auch e<strong>in</strong>mal ausprobieren<br />
will. Dieser Junge hat sich durch<br />
den typischen Aufbau e<strong>in</strong>er Pornoseite<br />
sexuell gebildet. Aber er geht von e<strong>in</strong>er<br />
falschen Realität aus, der holt sich wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
e<strong>in</strong>e blutige Nase.<br />
Gibt es bei den erotischen Fantasien<br />
der <strong>Deutsche</strong>n eigentlich e<strong>in</strong><br />
Stadt-Land-Gefälle?<br />
Ne<strong>in</strong>, gar nicht. Ob Sie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> oder<br />
Hildesheim leben, die sexuellen Fantasien<br />
s<strong>in</strong>d die gleichen. Es gibt aber Fantasien,<br />
die nur Männer haben. Doch es<br />
gibt ke<strong>in</strong>e Fantasien bei Frauen, die Männer<br />
nicht haben.<br />
Träumt noch jemand von Blümchensex?<br />
Ich glaube, dass sogar die Mehrheit<br />
der Frauen romantische Fantasien<br />
hat. Aber diese Frauen haben sich nicht<br />
bei mir für dieses Buchprojekt gemeldet,<br />
weil sie denken, ihre Fantasien seien <strong>zu</strong><br />
unspektakulär. Bei mir haben sich Leute<br />
gemeldet, die denken, sie haben ausgefallene<br />
Fantasien und das waren oft devote<br />
Fantasien. Aber das ist nicht repräsentativ<br />
für die Gesellschaft.<br />
Das Gespräch führte LENA BERGMANN<br />
115<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
STIL<br />
Kleiderordnung<br />
WARUM<br />
ich trage,<br />
WAS<br />
ich trage<br />
CHARLY HÜBNER<br />
Hüte s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong> Schutz. Die Leute<br />
schauen h<strong>in</strong>, erkennen mich aber<br />
nicht. Leider leben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
hutfreien Zeit, er ist e<strong>in</strong> historisches<br />
Kleiderstück geworden. Die Mode stellt<br />
die E<strong>in</strong>sortierung der Menschen vor die<br />
Wahrnehmung der Identität. In Rom habe<br />
ich mir e<strong>in</strong>en Borsal<strong>in</strong>o gekauft, wie ihn<br />
Fell<strong>in</strong>i trug, mit breiter Krempe. Damit<br />
sah ich leider aus wie e<strong>in</strong>er, der sich sehr<br />
wichtig nimmt. Lieber trage ich diesen<br />
schmalen Borsal<strong>in</strong>o, ich b<strong>in</strong> damit nicht<br />
gleich wieder e<strong>in</strong>e Figur. Auch bei Schuhen<br />
habe ich lange probieren müssen,<br />
weil ich so e<strong>in</strong> Riese b<strong>in</strong>. Am Ende funktioniert<br />
für mich – wie für Mafiabosse –<br />
der italienische Schuh. Dort haben sie<br />
es raus, trotz Wuchtigkeit der Person im<br />
Gangbild e<strong>in</strong>e Leichtigkeit <strong>zu</strong> erzeugen.<br />
Schwarze Jeans und e<strong>in</strong> weißes<br />
Hemd s<strong>in</strong>d für mich perfekt, gute klassische<br />
Anzüge genauso. Volltreffer. Eigentlich<br />
auch der Dreiteiler, aber der ist<br />
an e<strong>in</strong>em Spätsommertag wie heute <strong>zu</strong><br />
warm. Da<strong>zu</strong> Oberhemden, weißes oder<br />
schwarzes T -Shirt mit V‐Ausschnitt.<br />
Shoppen gehe ich nicht gerne. Ich entscheide<br />
mich vorher, was ich brauche,<br />
und gehe dann <strong>zu</strong>m Beispiel <strong>zu</strong> Schneider<br />
Lew<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Hamburger Portugiesenviertel.<br />
Mir gefallen auch Zimmermannshosen.<br />
E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige coole Lederhose hatte<br />
ich auch mal.<br />
Zu DDR-Zeiten waren wir e<strong>in</strong>e Clique<br />
von sechs Jungs. Die Oma me<strong>in</strong>es<br />
besten Kumpels besorgte uns <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong><br />
Platten oder e<strong>in</strong> T-Shirt. Wir haben<br />
die Aufschrift abgepaust, sodass jeder<br />
se<strong>in</strong> ureigenes Motörhead-Shirt hatte.<br />
E<strong>in</strong>e Bekannte bastelte uns Basecaps aus<br />
Pappe, überzogen mit Jeans. Das war unsere<br />
Uniform: Weißes Shirt und Jeans,<br />
Jeansjacke, Jeanscap.<br />
CHARLY HÜBNER, 42, ist Schauspieler.<br />
Er stammt aus Neustrelitz<br />
<strong>in</strong> Mecklenburg-Vorpommern.<br />
Im „Polizeiruf 110“ ermittelt er als<br />
Kommissar <strong>in</strong> Rostock. Im November<br />
strahlt das Erste zwei Folgen<br />
aus: „Familienbande“ am 2. und<br />
„Bornholmer Ufer“ am 5. November<br />
Bei Rollen ist die Kleidung natürlich<br />
entscheidend. Zum Beispiel bei dem<br />
Hausmeister, den ich gerade spiele: e<strong>in</strong><br />
ganz naives K<strong>in</strong>d. Clownesk. Wir ziehen<br />
ihm Arbeiterschuhe an, die e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />
Nummern <strong>zu</strong> groß s<strong>in</strong>d. Da<strong>zu</strong> Zweiteiler<br />
aus verschiedenen Blaumanntönen und<br />
e<strong>in</strong>en Werkzeuggürtel, der wie e<strong>in</strong> Waffengürtel<br />
wirkt. In der Vorbereitung für<br />
den Polizeirufkommissar Sascha Bukow<br />
traf ich e<strong>in</strong>en Hamburger Drogenfahnder.<br />
Ich war ziemlich aufgeregt. Und der<br />
kam dann re<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bomberjacke<br />
mit Hoodie, zerlotterter Jeans, kaputten<br />
Knöchelschuhen, wüste Haare – sah<br />
also aus wie e<strong>in</strong> Dealer. So kamen wir auf<br />
das Kostüm von Bukow: das Dunkle, die<br />
blutroten Schuhe. Mit ihm kann alles geschehen,<br />
weil er <strong>zu</strong> allem fähig ist: mal<br />
sanfter Teddybär, dann mordsbrutal und<br />
angstlos. Wann hast du schon e<strong>in</strong>mal so<br />
e<strong>in</strong>e Figur? Im Idealfall, wenn du e<strong>in</strong>en<br />
großen Shakespeare spielst. Und dann<br />
hast du auch nur e<strong>in</strong>en Abend. Hier hast<br />
du e<strong>in</strong> ganzes Leben.<br />
Aufgezeichnet von MARIE AMRHEIN<br />
Foto: David Maupilé für <strong>Cicero</strong><br />
116<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
„ Kunst hat immer<br />
die Aufgabe<br />
der Verklärung “<br />
Der Chansonnier Sebastian Krämer bekennt sich <strong>zu</strong>r Wertschät<strong>zu</strong>ng als schöpferischem<br />
Impuls und schreibt dennoch böse Lieder, Porträt Seite 120<br />
117<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
EIN SCHMERZ IST ES UND SCHÖN<br />
Die deutsche Tänzer<strong>in</strong> Nicole Nau wurde <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Weltstar des Tangos.<br />
Nun kehrt sie nach Europa <strong>zu</strong>rück und erzählt vom ewigen Spagat des Lebens<br />
Von FRIEDERIKE EBELING<br />
Vorhang auf: Vier Füße kommen<br />
aus dem Dunkel. Zwei mit Riemchen,<br />
zwei mit Schnürung. Das<br />
Publikum im Münchner Gasteig ist still.<br />
Dann geht alles sehr schnell – das Bandoneon<br />
ertönt, die vier Füße kommen <strong>in</strong> Bewegung,<br />
kreisen ume<strong>in</strong>ander, zeichnen<br />
jede musikalische Note. Sie tanzen die<br />
Partitur des Tangos.<br />
„Wenn ich tanze, b<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien<br />
und bewege mich durch die Prov<strong>in</strong>zen“,<br />
sagt Nicole Nau mit e<strong>in</strong>er weichen,<br />
jung kl<strong>in</strong>genden Stimme. Die 51-Jährige<br />
lebt <strong>in</strong> Buenos Aires, der Hauptstadt des<br />
Tangos. Argent<strong>in</strong>ien liebt ihren Stil. Ihr<br />
Konterfei erschien auf zwei argent<strong>in</strong>ischen<br />
Briefmarken.<br />
Nicole Nau ist <strong>Deutsche</strong>, <strong>in</strong> Deutschland<br />
aufgewachsen und kennt e<strong>in</strong> Leben<br />
ohne Tango. Sie war Grafiker<strong>in</strong> <strong>in</strong> Düsseldorf.<br />
Als ihr auf dem dortigen Carlsplatz<br />
e<strong>in</strong> Werbezettel mit der Aufschrift<br />
„Tango vom Rio de la Plata. Unterricht <strong>in</strong><br />
der B<strong>in</strong>terimstraße“ am Absatz hängen<br />
blieb, war sie Mitte 20. Schicksal? Schon<br />
als kle<strong>in</strong>es Mädchen tanzte sie heimlich<br />
<strong>zu</strong> den Platten des Vaters.<br />
Erst als Schüler<strong>in</strong>, später als Assistent<strong>in</strong><br />
und Lehrer<strong>in</strong> tanzte sie neben der<br />
Arbeit als Grafiker<strong>in</strong> auf Düsseldorfer<br />
Kle<strong>in</strong>kunstbühnen. Um den Tanz aber <strong>zu</strong><br />
verstehen, musste sie <strong>in</strong> die Hauptstadt<br />
des Tangos. Im Jahr 1988 war es so weit.<br />
Sie stand erstmals auf argent<strong>in</strong>ischem<br />
Boden. „Ich war entsetzt“, sagt Nau. Sie<br />
erwartete das Paradies und landete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Moloch. Sie wollte den Tango kennenlernen<br />
und wurde mit Rock und Pop<br />
enttäuscht. Tango schien e<strong>in</strong> Trend von<br />
gestern <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>, der ausschließlich <strong>in</strong> den<br />
Köpfen der Europäer existierte, ke<strong>in</strong>eswegs<br />
aber <strong>in</strong> Buenos Aires.<br />
Zurück <strong>in</strong> Deutschland bekam sie<br />
e<strong>in</strong>en Anruf aus Kanada. Sie sollte e<strong>in</strong><br />
Engagement tanzen. Die Show dauerte<br />
mehrere Monate. Sie gab ihren Job als<br />
Grafiker<strong>in</strong> auf, kündigte die Wohnung.<br />
Angekommen <strong>in</strong> Kanada, stand die<br />
1,76 Meter große Frau auf viel <strong>zu</strong> großen<br />
Absätzen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em arg kurzen Kleid<br />
neben Profitänzern und sah aus wie e<strong>in</strong>e<br />
Matrone. Als ihr Partner auf die Bühne<br />
kam, wurde ihre Rolle klar. Er war rundlich<br />
und g<strong>in</strong>g ihr gerade bis <strong>zu</strong>r Brust.<br />
Schallendes Gelächter. Sie sollte e<strong>in</strong>e<br />
Lachnummer spielen. „Jetzt erst recht“,<br />
dachte sie. Mit Biss und Ausdauer probte<br />
sie, nahm Kurse für Klassik und Jazzdance,<br />
übte, bis die Zehen wund waren.<br />
IHRE DISZIPLIN machte sie <strong>zu</strong>m Weltstar.<br />
Den Rückflug von Kanada nach Deutschland<br />
ließ sie umbuchen. Buenos Aires<br />
sollte es wieder se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> zweiter Versuch.<br />
Die Neugierde war <strong>zu</strong> groß. „E<strong>in</strong>e<br />
Walküre strandet am Río de la Plata“,<br />
schreibt die argent<strong>in</strong>ische Presse. Nau<br />
fällt auf <strong>in</strong> Buenos Aires. E<strong>in</strong>e <strong>Deutsche</strong>,<br />
die Tango tanzt. Ihre Diszipl<strong>in</strong> spiegelt<br />
sich im Tanzstil: streng und akkurat. Wer<br />
führt hier wen, der Mann die Frau, oder<br />
ist es umgekehrt? Sie trifft den argent<strong>in</strong>ischen<br />
Tangotänzer Luis Pereyra. Mit<br />
ihm lernt sie den Tango noch e<strong>in</strong>mal ganz<br />
anders kennen. „Ich war 38 und konnte<br />
noch e<strong>in</strong>mal von vorne anfangen.“<br />
Pereyra versteht den Tango als traditionellen<br />
Tanz, der von Auswanderern<br />
aus Europa, Hafenarbeitern, Prostituierten<br />
und Tagelöhnern getanzt wurde.<br />
Es ist e<strong>in</strong> Tango, der mehr als Erotik ist,<br />
der von Lust und Gewalt erzählt und sich<br />
zwischen Überlebenskampf und Verzweiflung<br />
bewegt. Pereyra s<strong>in</strong>gt ihr Lieder<br />
der Gauchos vor, br<strong>in</strong>gt ihr Steppen<br />
und Trommeln bei. Sie fahren durch das<br />
Land. Das Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g mit ihm ist kräftezehrend,<br />
immer wieder gibt es Wut und<br />
Tränen: Der Oberkörper, die Hand, der<br />
Oberkörper, die Füße, die Füße, die Füße.<br />
Sie tanzen immer noch Seite an Seite,<br />
als Tanz- und mittlerweile auch als Ehepaar.<br />
Mit e<strong>in</strong>er <strong>Deutsche</strong>n Tango <strong>zu</strong> tanzen,<br />
sei nicht wirklich anders, me<strong>in</strong>t<br />
Pereyra. „Das Bandoneon kommt ursprünglich<br />
aus Deutschland, so wie Nicole.<br />
Sie ist aus der Wurzel des Tangos<br />
gemacht.“<br />
Tango und Tradition – zwei Worte,<br />
die <strong>in</strong> Buenos Aires kaum mehr Platz<br />
f<strong>in</strong>den. Früher tanzte man <strong>in</strong> H<strong>in</strong>terhof-Milongas<br />
und trank Whiskey da<strong>zu</strong>.<br />
Heute fassen die Tangotheater mehr als<br />
1000 Plätze. Serviert wird We<strong>in</strong>. Im Stundentakt,<br />
allabendlich. Auf der Bühne geht<br />
es weniger um Tango, mehr um Akrobatik,<br />
kurze Röcke und tiefe Ausschnitte.<br />
Es gibt Tangoschulen, Tangohotels, Tangoschneider.<br />
Alles für die Touristen, alles<br />
für das Geld. „Sie verkaufen Kitsch<br />
und Provokation“, me<strong>in</strong>t Nau. Aber Kultur<br />
dürfe man nicht wie im Ausverkauf<br />
verramschen, sondern müsse sie teilen.<br />
In Buenos Aires leiten Nau und ihr<br />
Mann e<strong>in</strong>e Tangobar im Stadtviertel San<br />
Telmo. Um den Spielregeln des argent<strong>in</strong>ischen<br />
Touristengeschäfts <strong>zu</strong> entkommen,<br />
touren sie mit ihrer eigenen Show „The<br />
Great Dance of Argent<strong>in</strong>a“ jeden Herbst,<br />
wie gerade auch nun wieder, durch Europa.<br />
Die Kostüme entwirft Nau selbst.<br />
Nach der Münchner Show steht sie<br />
<strong>in</strong> ihrem langen Kleid im Foyer, verkauft<br />
CDs und gibt Autogramme. Aus<br />
der Nähe sieht sie strenger aus, vielleicht<br />
sogar traurig. Monate später erzählt sie,<br />
dass ihr Vater e<strong>in</strong>en Tag vor der Aufführung<br />
verstorben war. „Ich tanze“, sagte<br />
sie e<strong>in</strong>mal, „nicht, weil ich will. Ich tanze,<br />
weil ich muss.“<br />
FRIEDERIKE EBELING lebte e<strong>in</strong> halbes Jahr<br />
<strong>in</strong> Südamerika und sah dort e<strong>in</strong>en Tango<br />
vom Fließband. Erst <strong>in</strong> München fand sie den<br />
authentischen Tanz<br />
Foto: Sub.coop für <strong>Cicero</strong><br />
118<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
DAS LEBEN VERKLÄREN<br />
Der Chansonnier Sebastian Krämer massiert die deutsche Seele. Se<strong>in</strong>e Lieder s<strong>in</strong>d<br />
vertrackte und poetische Expeditionen. Jetzt blickt er <strong>zu</strong>rück auf 20 Jahre Bühnenkunst<br />
Von ALEXANDER KISSLER<br />
Foto: David Oliveira für <strong>Cicero</strong><br />
Der Ste<strong>in</strong> des Anstoßes liegt zwischen<br />
uns. Er hört auf den Namen<br />
„Ständige Staubsauger-Vertretung“,<br />
misst 14 mal 12 Zentimeter und<br />
ist Sebastian Krämers drittes Album. Wo,<br />
lacht der Hausherr bitter, wo ich diese<br />
schreckliche CD aufgetrieben habe? Er<br />
kaufte damals doch alle verbliebenen Exemplare,<br />
um sie <strong>zu</strong> vernichten. E<strong>in</strong>e missratene<br />
Scheibe. Und nun das! Es hätte e<strong>in</strong><br />
schwieriges Gespräch <strong>werden</strong> können.<br />
Davor bewahrte uns Ludwig Wittgenste<strong>in</strong>.<br />
In dessen „Philosophischen<br />
Betrachtungen“ steht geschrieben: „Die<br />
Kompliziertheit der Philosophie ist nicht<br />
die ihrer Materie, sondern die unseres<br />
verknoteten Verstandes.“ Im Booklet der<br />
missratenen Scheibe sah man Sebastian<br />
Krämer Wittgenste<strong>in</strong> lesen – neben dem<br />
bösen Lied von der „Frau ohne Gefühl“:<br />
„Sie br<strong>in</strong>gt die K<strong>in</strong>der <strong>zu</strong>r Schule, gibt<br />
jedem ’nen Kuss. Wenn ich da das K<strong>in</strong>d<br />
wäre, nähm’ ich den Bus.“ Zwölf Jahre<br />
später steht Krämer auf vom Sofa, greift<br />
<strong>zu</strong>m nämlichen Buch im Regal. Wittgenste<strong>in</strong><br />
thront oberhalb von Thomas Mann,<br />
e<strong>in</strong> Klavier steht still <strong>zu</strong> ihren Füßen.<br />
Hier, am Flügel, entsteht Sebastian<br />
Krämers Chronik bundesdeutscher Lebensarten,<br />
mal romantisch abgefedert,<br />
mal dramatisch <strong>zu</strong>gespitzt, hier, im zweiten<br />
Stock e<strong>in</strong>es 100-jährigen Hauses aus<br />
rotem Ste<strong>in</strong>, das e<strong>in</strong>en Heilmasseur und<br />
e<strong>in</strong>e Praxis für Zivilisationskrankheiten<br />
beherbergt und dem, wie überall <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />
e<strong>in</strong> Thaimassage-Studio gegenüberliegt.<br />
Sebastian Krämer ist Masseur der<br />
deutschen Seele, sagt er doch den erstaunlichen<br />
Satz: „Kunst hat immer die<br />
Aufgabe der Verklärung.“ Im aktuellen<br />
Programm, „Tüpfelhyänen“, s<strong>in</strong>gt er:<br />
„E<strong>in</strong> Kabarettist kennt 2017 Synonyme<br />
für ‚doof‘.“ Kabarett sei e<strong>in</strong> Synonym für<br />
Erwartbarkeit, sei Selbstbestätigung im<br />
Modus fremden Furors.<br />
Der Gew<strong>in</strong>ner des Sonderpreises<br />
beim <strong>Deutsche</strong>n Kabarettpreis 2012 und<br />
des <strong>Deutsche</strong>n Kle<strong>in</strong>kunstpreises 2009<br />
will ke<strong>in</strong> Kabarettist se<strong>in</strong>, sondern Chansonnier.<br />
Von Anfang an habe er Musik<br />
und Text verbunden, und der Anfang<br />
liegt weit <strong>zu</strong>rück. Noch ke<strong>in</strong>e 40 Jahre<br />
ist Krämer alt, doch nun wird er <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
„20 Lieder aus 20 Jahren“ vorstellen.<br />
Es hätte, sagt er, auch „25 Jahre“ heißen<br />
können, doch 25 Lieder wären <strong>zu</strong> viel des<br />
Guten. 13-jährig war Sebastian Krämer<br />
aus Kalletal bei Vlotho bei Bielefeld, als<br />
er auf Schulbühnen sang, bis e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>kunstveranstalter<br />
ihn ansprach.<br />
IM ELTERNHAUS standen Klaviere. Cello<br />
spielte e<strong>in</strong> Bruder, Querflöte die Mutter.<br />
Der Vater unterrichtete Deutsch. Se<strong>in</strong><br />
Sohn plädiert heute dafür, den Deutschunterricht<br />
<strong>zu</strong>r Harry-Potter-freien Zone<br />
<strong>zu</strong> erklären; Überset<strong>zu</strong>ngen hätten da<br />
nichts <strong>zu</strong> suchen. S<strong>in</strong>gend spricht er sich<br />
gegen die neue Rechtschreibung aus.<br />
„Deutschlehrer, ihr hättet sie verh<strong>in</strong>dern<br />
können!“ Das erste Programm entstand<br />
bereits 1992: „Nicht mit mir“.<br />
Im Lied, das den Zunftkollegen Bescheid<br />
gibt, wird deren Liebl<strong>in</strong>gshassobjekt<br />
rehabilitiert: „Politiker können nichts<br />
dafür. Die Nieten im Amt s<strong>in</strong>d wir. (…)<br />
Wir bezahlen sie dafür, sich hassen <strong>zu</strong><br />
lassen, damit unser Hass uns nicht selbst<br />
erfasst.“ Da<strong>zu</strong> Schlagersound im Breitwandformat.<br />
Zuvor war es Sw<strong>in</strong>g bei der<br />
Moritat von den „Siebzehn Kugelschreibern“<br />
im Rücken e<strong>in</strong>es Autogrammjägers,<br />
war es e<strong>in</strong> Chansonklavier auf Morgensterns<br />
Spuren, <strong>zu</strong> dessen Klängen die Heimat<br />
überall gleich aussieht und h<strong>in</strong>ter deren<br />
nächster Ecke das Meer dann doch<br />
lockt: „… und da liegst du auf e<strong>in</strong>em Diwan,<br />
mit geschloss’nen Augenlidern, wie<br />
Plutonium so schwer. Und dah<strong>in</strong>ter de<strong>in</strong>e<br />
Augen, und dah<strong>in</strong>ter ist das Meer.“<br />
Nicht Verachtung treibe ihn an, sondern<br />
Wertschät<strong>zu</strong>ng. Verklärung dürfe<br />
nicht mit Wahrheit verwechselt <strong>werden</strong>.<br />
„E<strong>in</strong> Lied hat nicht die Aufgabe, wahre<br />
Aussagen <strong>zu</strong> formulieren.“ Kunst ähnle<br />
dem Gerichtsverfahren, bei dem der<br />
Mörder nach bestem Wissen verteidigt<br />
<strong>werden</strong> muss, damit die Wahrheit offenbar<br />
wird. Es geht um Positionen, Gefühle,<br />
Gedanken, nicht Themen. „Ich b<strong>in</strong> da radikaler<br />
Ästhetizist.“ Wovon e<strong>in</strong> Roman<br />
handelt, sei ihm fast egal. Inhaltsromane<br />
lese er nicht und ergo ke<strong>in</strong>e zeitgenössischen<br />
Autoren. Ob das ignorant sei?<br />
Die Krämer’schen Positionenlieder<br />
machen Unterhaltung durchlässig für den<br />
berühmten Blick h<strong>in</strong>ter die D<strong>in</strong>ge, jenseits<br />
der Materie. Vertrackte Expeditionen<br />
<strong>in</strong>s Zauberreich des Geistes s<strong>in</strong>d es.<br />
Sie weiten den Raum des Denkbaren, <strong>in</strong>dem<br />
sie die Gestaltungskraft der Sprache<br />
ausschöpfen, vom Kalauer <strong>zu</strong>m Zeilensprung,<br />
vom melancholischen Vers <strong>zu</strong>r<br />
Weltformel: „Ich frag’ mich, wo<strong>zu</strong> wir im<br />
Zoo s<strong>in</strong>d, wenn wir zwei dann im Zoo gar<br />
nicht froh s<strong>in</strong>d.“ Und kann es se<strong>in</strong>, dass<br />
mancher Nonsens brutale Lebenswirklichkeit<br />
birgt, e<strong>in</strong>mal gar häusliche Gewalt?<br />
„Hätt’st du mir heut’ nicht gesagt,<br />
‚Ich liebe dich‘, hätt’s auf die Fresse gegeben,<br />
me<strong>in</strong> Schatz.“<br />
Missraten sei das dritte Album nicht<br />
der Lieder, sondern des Vortrags wegen.<br />
Er habe die Texte kaputt gesungen. Gute<br />
Chancen auf Aufnahme <strong>in</strong> den Kanon der<br />
besten hat dennoch das wunderzarte<br />
Lied von den Albträumen des Herrn Krämer.<br />
„In me<strong>in</strong>en Träumen kann ich fliegen,<br />
doch ich tu’ es meistens nicht.“ Das<br />
nennt man wohl e<strong>in</strong>e Conditio humana.<br />
ALEXANDER KISSLER leitet das <strong>Cicero</strong>-<br />
Ressort Salon. Als er Sebastian Krämer das<br />
erste Mal sah, <strong>in</strong> Fürstenfeldbruck, trug dieser<br />
e<strong>in</strong>en Rucksack, und beide waren jünger<br />
121<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
STURKOPF TRIFFT BEKLOPPTEN<br />
Eichendorff als Freund, Dostojewski im Blick: <strong>Wie</strong> Eckhard Henscheid die literarische<br />
Tradition erneuert, den Ma<strong>in</strong>stream verspottet und e<strong>in</strong> alter L<strong>in</strong>ker geblieben ist<br />
Von HOLGER FUSS<br />
Beim Schimpfen ist er e<strong>in</strong> Trapezkünstler.<br />
Kaum e<strong>in</strong>er vermag den<br />
Tatbestand der Beleidigung so<br />
kraftstrotzend und anmutig mit Leben<br />
<strong>zu</strong> erfüllen wie Eckhard Henscheid.<br />
Hören wir h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: Der „m<strong>in</strong>derbedarfte“<br />
Schriftstellerkollege muss<br />
es sich gefallen lassen, als „Schwirrkopf,<br />
Strohwisch, Faselhans“ enttarnt<br />
<strong>zu</strong> <strong>werden</strong>, un<strong>zu</strong>längliche Kulturjournalisten<br />
schmäht Henscheid als „Banausen<br />
und Me<strong>in</strong>ungsautomaten“. H<strong>in</strong>ter<br />
deren „flotten Klebrigkeit der ewig<br />
Heutigen“ wähnt er „verbales Imponiergewurstel<br />
bei gleichzeitiger Verschleierungs-<br />
und Verhöhnungsabsicht oder<br />
auch umgekehrt Angst“. Alice Schwarzer<br />
sei „unsere ewige Randaleuse“ und<br />
Joschka Fischer e<strong>in</strong> „sog. Außenm<strong>in</strong>ister“.<br />
Der Kanzler der E<strong>in</strong>heit schrumpft<br />
<strong>zu</strong>m „Lebewesen Kohl“, die Kanzler<strong>in</strong><br />
<strong>zu</strong>m „Brotbrocken im Hosenan<strong>zu</strong>g“.<br />
Es ist nämlich so: „Schimpfen und<br />
Humor gehören eben schon <strong>zu</strong>sammen.<br />
Doch.“ Dies postuliert Henscheid <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
soeben erschienenen Essay „Dostojewskis<br />
Gelächter – Die Entdeckung<br />
e<strong>in</strong>es Großhumoristen“. Eckhard Henscheid<br />
ist 73 und Dostojewski se<strong>in</strong> diskreter<br />
Lebensbegleiter. Dostojewskis<br />
Humor sei „der Realismus des Geredes,<br />
des Draufloslaberns“, von ihm habe er<br />
gelernt. Ohne dessen E<strong>in</strong>fluss wäre Henscheids<br />
erster, berühmtester Roman nicht<br />
entstanden: „Die Vollidioten – E<strong>in</strong> historischer<br />
Roman aus dem Jahr 1972“.<br />
Seit 40 Jahren erlebt dieses Werk<br />
immer neue Auflagen, gut 400 000 Exemplare<br />
wurden verkauft. Verdient hat<br />
er damit dermaßen viel, „dass ich übers<br />
Lebensende h<strong>in</strong>aus eigentlich nichts Zusätzliches<br />
brauche“. Vordergründig s<strong>in</strong>d<br />
„Die Vollidioten“ das komische Sittengemälde<br />
e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Boheme im Frankfurter<br />
Nordend, die sich promilleschwanger<br />
durch den Alltag schwafelt. Tatsächlich<br />
ist Henscheid e<strong>in</strong> vielstimmiges Panorama<br />
des Schweigens gelungen: E<strong>in</strong><br />
Vierteljahrhundert nach den Schrecken<br />
des Krieges beschreibt er die seelischen<br />
Trümmerlandschaften der ersten Nachkriegsgeneration.<br />
Geschwätz wird <strong>zu</strong>m<br />
Medium e<strong>in</strong>es Verstummtse<strong>in</strong>s, das die<br />
eigene Stille nicht erträgt. Bei Henscheid<br />
fangen die Dämonen an <strong>zu</strong> plappern.<br />
Schon im Titel w<strong>in</strong>ken „Die Vollidioten“<br />
dem „Idioten“ Dostojewskis <strong>zu</strong>.<br />
Die Vorrede beschließt Henscheid mit<br />
den Worten: „So. Und nun <strong>zu</strong>r Sache!“<br />
E<strong>in</strong> Echo auf „Die Brüder Karamasoff“.<br />
Dort lässt der Russe das Vorwort auskl<strong>in</strong>gen<br />
mit: „Jetzt aber <strong>zu</strong>r Sache!“<br />
WIR SIND IN AMBERG. Henscheid ist hier<br />
geboren. Die Barockidylle an der träge<br />
plätschernden Vils hatte er zwischenzeitlich<br />
verlassen, um <strong>in</strong> München Germanistik<br />
und Publizistik <strong>zu</strong> studieren und sich<br />
<strong>in</strong> Frankfurt als Satiriker und Schriftsteller<br />
<strong>in</strong> Stellung <strong>zu</strong> br<strong>in</strong>gen. Aber bereits <strong>in</strong><br />
den siebziger Jahren spürte er, dass e<strong>in</strong><br />
katholischer Poltergeist wie Henscheid<br />
nach Amberg gehört. Jahrelang hauste<br />
er wechselweise an der Vils und am Ma<strong>in</strong><br />
sowie im Feriendomizil im schweizerischen<br />
Arosa. Seit mehr als zwei Jahrzehnten<br />
wohnt er mit Ehefrau Reg<strong>in</strong>a<br />
vornehmlich <strong>in</strong> der Oberpfalz.<br />
Am Flussufer <strong>in</strong>mitten der Altstadt<br />
residiert Henscheid <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schmucklosen<br />
Mietshaus. Se<strong>in</strong>e Wohnung zeugt<br />
vom Charme e<strong>in</strong>es ewigen Studenten. An<br />
den Wänden Bilder, Fotos, Bücher, Unmengen<br />
an CDs und DVDs neben großformatigem<br />
Flachbildfernseher und Stereoanlage.<br />
Klassische Musik ist ihm fast<br />
noch wichtiger als Literatur. Immer wieder<br />
schreibt er über Wagner, Mozart und<br />
Verdi. Ursprünglich wollte Henscheid<br />
Musiklehrer <strong>werden</strong>. Er spielt Klavier.<br />
Die Cäsarenfrisur ist längst ergraut,<br />
er trägt e<strong>in</strong> dunkles Polohemd. Auf<br />
dem Küchentisch steht e<strong>in</strong>e elektrische<br />
Schreibmasch<strong>in</strong>e. Hier schreibe er am<br />
liebsten, sagt Henscheid mit Brummbass<br />
und Oberpfälzer Idiom. Hier sei se<strong>in</strong> Dostojewski-Buch<br />
entstanden. Mit unbändiger<br />
Freude verweigert er sich dem Computer<br />
– Internet und E-Mail<strong>in</strong>g sowieso.<br />
„Da b<strong>in</strong> ich Ste<strong>in</strong>zeitmensch. Aus purer<br />
Sturheit.“ Den verzweifelten Verlagen<br />
stellt er sauber getippte Manuskriptkonvolute<br />
mit der Post <strong>zu</strong>, die <strong>in</strong> den Computer<br />
abgeschrieben <strong>werden</strong> müssen.<br />
Lausbübische Verspieltheit glitzert<br />
<strong>in</strong> den Augen, wenn er so etwas berichtet.<br />
Aber auch der besserwisserische Gestus<br />
des begabten K<strong>in</strong>des. „E<strong>in</strong> Rechthaber“<br />
sei er, „so<strong>zu</strong>sagen das Buchhalterischste,<br />
was es gibt“. Und weil es viel mehr Spaß<br />
macht, e<strong>in</strong>e paradoxe Existenz <strong>zu</strong> führen,<br />
beschreibt er sich im gleichen Atem<strong>zu</strong>g<br />
als „<strong>zu</strong>rückhaltenden, bescheidenen, sich<br />
<strong>zu</strong>weilen sogar kle<strong>in</strong>machenden, e<strong>in</strong>en<br />
dünkellosen Menschen“. Der wiederum<br />
umgehend darauf h<strong>in</strong>weist, dass die Verlagsprospekte<br />
ihn gern als e<strong>in</strong>en „Klassiker“<br />
anpreisen: „Da würde ich nicht<br />
widersprechen. Aber Sie können das natürlich<br />
e<strong>in</strong>schränken.“ Er lacht.<br />
Dostojewskis Komik nennt Henscheid<br />
e<strong>in</strong>e „Humoristik der Disproportion<br />
(von Erwartung und Erfüllung, von<br />
Amt und Würdelosigkeit usw.)“. Auch<br />
hieran hat Henscheid sich emporgerankt.<br />
Se<strong>in</strong> eigener Witz lebt von sprachlicher<br />
Musikalität, die sich steigert und <strong>zu</strong>rücknimmt,<br />
um Kontraste <strong>zu</strong> schaffen. So<br />
kommt er <strong>zu</strong>m Befund, dass „Dostojewski<br />
selber wirklich bekloppt gewesen se<strong>in</strong><br />
muss. Zum<strong>in</strong>dest partiell, will sagen <strong>in</strong><br />
nuce respektive jedenfalls <strong>in</strong> Frageform.“<br />
Mit derlei Stilmitteln betreibt Henscheid<br />
e<strong>in</strong>e Dostojewski-Huldigung ohne<br />
Heldenverehrung. „Vor dem H<strong>in</strong>tergrund,<br />
Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />
122<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
Eckhard<br />
Henscheid hat<br />
früh gespürt,<br />
dass die Political<br />
Correctness<br />
der Achtundsechziger<br />
e<strong>in</strong> Macht<strong>in</strong>strument<br />
ist<br />
dass Dostojewski nur noch Legende ist<br />
und ihn fast niemand mehr gelesen hat.<br />
Deshalb ist <strong>in</strong> diesem Buch der pädagogische<br />
Impuls wichtig. Dostojewski war e<strong>in</strong><br />
großer Schlamper“, oft unter Zeitdruck.<br />
Den „Spieler“ habe er „<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Monat<br />
runtergeschmiert“. Der Russe war „e<strong>in</strong><br />
Schlamper <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Maßstab, den ich mir<br />
nicht erlauben wollte und dürfte“.<br />
Die FAZ nannte Henscheid e<strong>in</strong>en<br />
„von der deutschen Romantik verfe<strong>in</strong>erten<br />
Dostojewski“. So was gefällt ihm:<br />
„Das liest man ganz gerne.“ Se<strong>in</strong>e Mutter<br />
Maria setzte noch e<strong>in</strong>en drauf. „Ja,<br />
also, wenn der Eichendorff heut’ noch leben<br />
tät’“, fragte sie ihren Eckhard e<strong>in</strong>mal,<br />
„dann wär’ er wohl de<strong>in</strong> Freund, oder?“<br />
Dem Gastgeber knurrt der Magen.<br />
Wir wandern durch altertümliche Gassen<br />
<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Restaurant und bestellen<br />
Flammkuchen. Henscheid erzählt, wie er<br />
und se<strong>in</strong>e Freunde von der Neuen Frankfurter<br />
Schule das Land verändern wollten.<br />
Na ja, <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest das Komikniveau<br />
anheben.<br />
Ach, waren das Zeiten, als sich<br />
<strong>junge</strong> Burschen wie Robert Gernhardt,<br />
F. W. Bernste<strong>in</strong>, Bernd Eilert, F. K. Waechter,<br />
Chlodwig Poth, Hans Traxler und<br />
eben Eckhard Henscheid <strong>in</strong> den sechziger<br />
Jahren bei der Satirezeitschrift Pardon<br />
<strong>zu</strong>sammenfanden und 1979 das Magaz<strong>in</strong><br />
Titanic gründeten. Ihnen war die humorfreie<br />
Trauerarbeit <strong>in</strong> der Nachkriegszeit<br />
<strong>zu</strong> ergebnisarm. Sie entschieden sich<br />
für Subversion durch S<strong>in</strong>nverweigerung.<br />
Was sie „Hochkomik“ nannten, stellten<br />
sie e<strong>in</strong>er Als-ob-Seriosität der „Ernstler“<br />
(Gernhardt) entgegen.<br />
Die Programmatik der Gruppe<br />
br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Zweizeiler von F. W. Bernste<strong>in</strong><br />
auf den Nenner: „Die schärfsten Kritiker<br />
der Elche, / waren früher selber welche.“<br />
Mit dem Erbe von Dadaismus und<br />
Surrealismus sollte e<strong>in</strong>e kollektive Therapieform<br />
geschaffen <strong>werden</strong> – die E<strong>in</strong>übung<br />
<strong>in</strong> Selbstdistanz durch befreiendes<br />
Ablachen.<br />
Heute sagt Henscheid: „Nichts hat<br />
dieses üppige Werk <strong>in</strong> den Herzen und<br />
Hirnen der Leser bewegt. Nichts über<br />
die e<strong>in</strong>gefahrenen Schemen von Erfolg<br />
und Konsum, von Prestige und platt hedonistischer<br />
S<strong>in</strong>nerfüllung h<strong>in</strong>aus.“ Insbesondere<br />
„das heutige Komikniveau ist<br />
so dumm wie eh und je“. Endlich kommen<br />
die Flammkuchen. Der Blut<strong>zu</strong>ckerspiegel<br />
wenigstens kann steigen.<br />
Henscheid hat früh gespürt, dass<br />
jene Political Correctness, die dem gesellschaftlichen<br />
Diskurs vom ideologischen<br />
Konformismus der Achtundsechziger-Generation<br />
aufgeprägt wurde, e<strong>in</strong><br />
mentales Macht<strong>in</strong>strument ist. Se<strong>in</strong>e<br />
Sprachkritik an den Umerziehungsfloskeln<br />
hat er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wörterbuch über<br />
das „Dummdeutsch“ niedergelegt – dar<strong>in</strong><br />
so lakonische E<strong>in</strong>träge wie: „Frauenfe<strong>in</strong>dlich:<br />
Ist heute eigentlich alles.“<br />
Als Intellektueller ist Henscheid<br />
Avantgarde geblieben. E<strong>in</strong> alter L<strong>in</strong>ker<br />
aber auch: „Ja, das bilde ich mir e<strong>in</strong>“,<br />
sagt er. In dieser Komb<strong>in</strong>ation erregt<br />
er Anstoß. Wer liberal drapierter Verwilderung<br />
widerstehen will, greift notwendigerweise<br />
auf Werte <strong>zu</strong>rück, die<br />
bislang als konservativ gelten. Weil er<br />
<strong>in</strong> der l<strong>in</strong>ken Zeitschrift Konkret das<br />
„Simplifizierungsklischee“ vom Antisemitismus<br />
Richard Wagners differenziert<br />
hatte, mussten „zwei oder drei<br />
Lesungen von mir unter Polizeischutz“<br />
stattf<strong>in</strong>den: „Das war e<strong>in</strong> wichtigtuerischer<br />
Korrektheitswahn.“<br />
Und weil er <strong>in</strong> der Jungen Freiheit,<br />
e<strong>in</strong>er Art Maoisten-Postille der rechten<br />
Intelligenz, Interviews gab und Beiträge<br />
veröffentlichte, die genauso gut <strong>in</strong> der<br />
FAZ hätten stehen können, wurde er „als<br />
Faschist durchschaut“. So etwas „hat mit<br />
Verwahrlosung <strong>zu</strong> tun“, sagt Henscheid.<br />
Das seien „Lauerer“, diese Feuilletonisten,<br />
„die davon leben, andere <strong>zu</strong> belauern.<br />
E<strong>in</strong>e Ges<strong>in</strong>nung, die mir nachdrücklich<br />
missfällt.“ Nicht, dass er die Junge<br />
Freiheit verherrlichen würde: „Zum Teil<br />
s<strong>in</strong>d das ganz furchtbare Schnarcher. Die<br />
schicken mir jede Woche e<strong>in</strong> Heft im<br />
Frei-Abo <strong>zu</strong>. Aber e<strong>in</strong>en rechtsradikalen<br />
Beitrag habe ich noch selten dr<strong>in</strong> gefunden.<br />
Allenfalls e<strong>in</strong>en absenten Artikel.“<br />
Wir flanieren <strong>zu</strong>rück. Entlang des<br />
Flüsschens, mit Blick auf die gotischen<br />
Fassaden beiderseits der Vils. In dieser<br />
Ruhe, Freundlichkeit und Gemächlichkeit<br />
ist e<strong>in</strong> Gegenglück <strong>zu</strong> spüren, das<br />
<strong>zu</strong>m Handwerkszeug des Satirikers gehört.<br />
„In der Satire“, heißt es bei Schiller,<br />
„wird die Wirklichkeit als Mangel<br />
dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt.“<br />
Satire als Diskrepanz<br />
zwischen Gegebenheit und Utopie. Ambergs<br />
Altstadt war nie nur bloße <strong>Wie</strong>ge,<br />
sondern immer auch Sehnsuchtsort.<br />
Auf dem Lederersteg, e<strong>in</strong>er schmalen<br />
überdachten Holzbrücke gegenüber se<strong>in</strong>er<br />
Wohnung, schauen wir den Enten am<br />
Ufer <strong>zu</strong>. Am nächsten Tag will er mit Gatt<strong>in</strong><br />
und Freunden den Fluss h<strong>in</strong>auf wandern<br />
<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Wallfahrtsfest außerhalb<br />
von Amberg. „Die meisten gehen dorth<strong>in</strong>,<br />
um Bier <strong>zu</strong> tr<strong>in</strong>ken und um Wurscht <strong>zu</strong><br />
essen. Bei uns geht das e<strong>in</strong> bisschen tiefer.<br />
Wir gehen da schon mit der ausreichenden<br />
Andacht h<strong>in</strong>.“<br />
Ach? E<strong>in</strong> Leben lang Kirchenwitze<br />
reißen – und im Alter dann h<strong>in</strong>terrücks<br />
wallfahren? Henscheid w<strong>in</strong>kt ab. „Bei<br />
mir war Religion nie verpönt. Ich habe<br />
zwar viele religionskritische Texte geschrieben.<br />
Aber selbst <strong>in</strong> den kirchenkritischen<br />
Zeiten habe ich immer e<strong>in</strong> offenes<br />
Ohr gehabt für die freundlichen<br />
und andachtserzw<strong>in</strong>genden Seiten dieser<br />
Religion.“<br />
HOLGER FUSS ist Autor <strong>in</strong> Hamburg und<br />
hat im oberpfälzischen Amberg den Zauber<br />
der Prov<strong>in</strong>z wiederentdeckt<br />
124<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
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Kalender
SALON<br />
Interview<br />
„ ZERSTÖRUNG IST HEITER “<br />
In den Achtzigern spielten die E<strong>in</strong>stürzenden Neubauten<br />
auf Kreissägen <strong>in</strong> Autobahnbrücken. S<strong>in</strong>d sie heute Liebl<strong>in</strong>ge<br />
des Feuilletons? Frontmann Blixa Bargeld wehrt sich<br />
Herr Bargeld, auf Ihrer neuen Platte<br />
„Lament“ kommen Sie uns mit dem<br />
Ersten Weltkrieg, nachdem wir uns bereits<br />
das ganze Jahr schw<strong>in</strong>delig er<strong>in</strong>nert<br />
haben …<br />
Blixa Bargeld: Der Anstoß kam von<br />
außen. Das Album ist e<strong>in</strong>e Auftragsarbeit<br />
und als Performance konzipiert. Wir<br />
wurden von der Region Flandern gebeten,<br />
das Thema <strong>zu</strong> bearbeiten – als Auftakt<br />
für deren Jubiläumsjahr. Ich habe<br />
versucht, die niedergetrampelten Pfade<br />
<strong>zu</strong> verlassen und mithilfe von zwei Wissenschaftlern,<br />
e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>guist<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>em<br />
Historiker, e<strong>in</strong> paar Nischen <strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den,<br />
die noch nicht so ausgeleuchtet s<strong>in</strong>d.<br />
Dabei <strong>in</strong>teressierte mich vor allem der<br />
Aspekt der klanglichen, musikalischen<br />
Quellenlage.<br />
Blixa Bargeld<br />
55, Musiker, Künstler, Autor und<br />
Sänger der Band E<strong>in</strong>stürzende<br />
Neubauten, die mit selbst<br />
gebauten Instrumenten die<br />
Musikwelt revolutionierte. Für<br />
ihr neues Album „Lament“<br />
hörten sie sich durch Tonaufnahmen<br />
von Kriegsgefangenen<br />
Das war e<strong>in</strong>e statistische Komposition.<br />
Wenn man die Dauer des Ersten<br />
Weltkriegs <strong>in</strong> Viervierteltakte aufteilt<br />
und 120 Schläge pro M<strong>in</strong>ute <strong>zu</strong>grunde<br />
legt, dann dauert das Ganze 13 M<strong>in</strong>uten.<br />
Jeder e<strong>in</strong>zelne Taktschlag <strong>in</strong>nerhalb<br />
e<strong>in</strong>es Viervierteltakts ist e<strong>in</strong> Tag. Dann<br />
kommen die e<strong>in</strong>zelnen Kriegsparteien<br />
an bestimmten Takten da<strong>zu</strong> und steigen<br />
nach und nach aus diesem Krieg aus.<br />
Und s<strong>in</strong>d Sie fündig geworden?<br />
Es gibt im Pr<strong>in</strong>zip ke<strong>in</strong>e Tonaufzeichnung<br />
aus dem Ersten Weltkrieg,<br />
weil es ke<strong>in</strong>e Tonaufzeichnungsverfahren<br />
gab. E<strong>in</strong>zige Ausnahme bilden die<br />
Walzenaufnahmen. Wir hatten das Glück,<br />
dass diese Aufnahmen, die Wissenschaftler<br />
von den Kriegsgefangenen gemacht<br />
haben, teilweise während Verhören, <strong>in</strong><br />
Berl<strong>in</strong>er Lautarchiven <strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d.<br />
Gibt es e<strong>in</strong>e Akustik des Krieges?<br />
Es g<strong>in</strong>g überhaupt nicht um den<br />
Klang. Das ist e<strong>in</strong> Aspekt, der mich gar<br />
nicht <strong>in</strong>teressiert hat. Ich wollte von<br />
vornhere<strong>in</strong> vermeiden, dass es <strong>zu</strong> der<br />
Gleichung kommt, E<strong>in</strong>stürzende Neubauten<br />
sei gleich Krach plus Erster Weltkrieg.<br />
Auf Ihrem Album gibt es e<strong>in</strong>e spannende<br />
Akustikversion des Ersten Weltkriegs.<br />
Jedes Land wird von e<strong>in</strong>er bestimmten<br />
Melodie repräsentiert, gespielt auf<br />
Plastik-Abwasserrohren.<br />
Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>
Eigentlich wollte ich das auf Styroporplatten<br />
spielen, aufgespießt auf Beckenständer,<br />
sodass während des Spieles die<br />
Nationen zerkrümeln und verschw<strong>in</strong>den.<br />
In e<strong>in</strong>em Song s<strong>in</strong>gen Sie „Heil dir im<br />
Siegerkranz, Kartoffeln mit Her<strong>in</strong>gsschwanz“.<br />
E<strong>in</strong> anderes Stück handelt<br />
vom Beg<strong>in</strong>n des Ersten Weltkriegs, dargestellt<br />
unter Zuhilfenahme e<strong>in</strong>es Tierstimmenimitators.<br />
In solchen Momenten<br />
könnte man me<strong>in</strong>en, Sie hätten Humor.<br />
Ich habe Humor. „Heil dir im Siegerkranz“<br />
ist e<strong>in</strong>e Montage der größten<br />
Hit-Hymnen des Krieges überhaupt. Unter<br />
den Kriegsparteien gab es an die acht<br />
Nationen, die dieselbe Hymne verwendeten,<br />
mit verschiedenen Texten. Die Tierstimmenimitation<br />
fand ich im Rundfunkarchiv.<br />
Aus dem Jahre 1926. Das Stück<br />
schließt mit e<strong>in</strong>em Pfau, der Ludendorff<br />
vorbeireiten sieht, e<strong>in</strong> Rad schlägt und<br />
„Hitler“ schreit. 1926 wohlgemerkt. Das<br />
hat mich umgehauen.<br />
Darf Krieg lustig se<strong>in</strong>?<br />
Darf man Witze über den Krieg machen?<br />
Ja, man darf. Man muss sogar. Hätten<br />
mehr Leute darüber gelacht, wäre<br />
es vielleicht anders gelaufen. Haben sie<br />
natürlich nicht. Der Tierstimmenautor<br />
musste se<strong>in</strong>erzeit emigrieren.<br />
Musikalisch haben Sie im Vergleich <strong>zu</strong><br />
früher längst anderes Terra<strong>in</strong> betreten.<br />
Hat die Zerstörung als schöpferisches<br />
Pr<strong>in</strong>zip Pause?<br />
Zerstörung war nie e<strong>in</strong> Neubauten-<br />
Motto. Mit Walter Benjam<strong>in</strong> gesprochen:<br />
Der zerstörerische Charakter ist heiter<br />
und freundlich, er kennt nur e<strong>in</strong>e Devise:<br />
Platz schaffen.<br />
Wo aber ist die Radikalität der Neubauten<br />
heute?<br />
Wo haben Sie sie denn vorher<br />
verortet?<br />
In der Musik, im Visuellen und im Ersche<strong>in</strong>ungsbild.<br />
In den achtziger Jahren<br />
haben Sie <strong>in</strong> Autobahnbrücken musiziert.<br />
Heute <strong>in</strong>teressieren Sie sich vermutlich<br />
mehr für Spielplätze.<br />
Das ist sicherlich richtig. Es gibt ja<br />
<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte nicht so viele Autobahnbrücken.<br />
Von me<strong>in</strong>em Haus aus f<strong>in</strong>den<br />
Sie aber 30 Meter <strong>in</strong> jede Richtung e<strong>in</strong>en<br />
„ Darf man<br />
Witze über den<br />
Krieg machen?<br />
Ja, man darf.<br />
Man muss sogar “<br />
Spielplatz. Und das f<strong>in</strong>det me<strong>in</strong>e Tochter<br />
auch vollkommen richtig so. Das hat aber<br />
wenig mit dem Ersten Weltkrieg <strong>zu</strong> tun.<br />
In ihren Anfängen s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>stürzenden<br />
Neubauten akustisch Amok gelaufen.<br />
Heute sche<strong>in</strong>t es, als hätten sie sich<br />
längst <strong>in</strong> der bürgerlichen Kunstszene<br />
etabliert.<br />
Schön wär’s. Die E<strong>in</strong>stürzenden<br />
Neubauten haben <strong>in</strong> ihrer 35-jährigen<br />
Karriere ganze zwei Theaterstücke beschallt.<br />
Trotzdem werde ich <strong>in</strong> jedem Interview<br />
gefragt, wie das jetzt so ist mit<br />
dem Theater. Die angebliche Umarmung<br />
des bürgerlichen Feuilletons, das Aufsteigen<br />
<strong>in</strong> die sogenannte Hochkultur, ist etwas,<br />
das sich Journalisten gegenseitig aus<br />
ihren eigenen Archiven abschreiben. Das<br />
spielt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Lebensrealität überhaupt<br />
ke<strong>in</strong>e Rolle.<br />
Lassen Sie mich auch mal abschreiben:<br />
Sie s<strong>in</strong>d heute Liebl<strong>in</strong>ge des Feuilletons,<br />
haben den Bohrer gegen Streicher getauscht,<br />
lieben gutes Essen und s<strong>in</strong>d<br />
Hausbesitzer. Fehlt nur noch e<strong>in</strong> <strong>Cicero</strong>-<br />
Abo, und die Bürgerlichkeit ist total.<br />
Ich habe gar nichts gegen <strong>Cicero</strong>.<br />
Im Ernst, ich habe nicht vor <strong>zu</strong> leugnen,<br />
dass me<strong>in</strong>e Lebenssituation 2014 natürlich<br />
e<strong>in</strong>e ganz andere ist als 1980. Das<br />
bedeutet aber auch, dass das, was ich<br />
jetzt mache, nicht mehr dasselbe ist wie<br />
1980. Andererseits b<strong>in</strong> ich genetisch immer<br />
noch derselbe Mensch. Vielleicht gibt<br />
es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Denken e<strong>in</strong>e Evolution, es<br />
hat aber sicher nicht radikal die Richtung<br />
gewechselt. Insofern müsste es beides geben:<br />
Kont<strong>in</strong>uität und Weiterentwicklung.<br />
Für die meisten Journalisten spielt das<br />
ke<strong>in</strong>e Rolle. Sie gucken <strong>in</strong> den Computer,<br />
<strong>in</strong> ihre Archive und dann gibt es diese<br />
unendlichen Selbstläufer. Das selbstläuferischste<br />
Zitat, das mir immer wieder<br />
aufstößt, stammt ursprünglich von Diedrich<br />
Diederichsen. Diederichsen hat irgendwann<br />
e<strong>in</strong>mal gesagt, der Tourplan<br />
liest sich wie e<strong>in</strong>e Agenda der Goethe-<br />
Institute. Da kann ich auch nur sagen,<br />
schön wär’s. Das ist e<strong>in</strong>fach nicht wahr.<br />
Berl<strong>in</strong> war immer Ihr Thema. Die E<strong>in</strong>stürzenden<br />
Neubauten haben diese<br />
Stadt hörbar gemacht. Ihr mit „Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />
des Landes“ im Jahre 2000<br />
e<strong>in</strong>e düstere Hymne geschrieben, <strong>in</strong> der<br />
es heißt „Melancholia schwebt über der<br />
neuen Stadt und über dem Land“. E<strong>in</strong><br />
Lied, das <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Berl<strong>in</strong> passte, das<br />
noch nicht wusste, woh<strong>in</strong> es gehörte.<br />
Das war die Wut über die Architektur<br />
des Potsdamer Platzes, über den<br />
Wahns<strong>in</strong>n, die Geschichte unter immer<br />
neuen Schichten verschw<strong>in</strong>den <strong>zu</strong> lassen.<br />
Berl<strong>in</strong> ist erwachsen geworden. Die<br />
zarte Melancholie ist mittlerweile dem<br />
Glatten, Sauberen gewichen. Welches<br />
Lied müsste gespielt <strong>werden</strong>, um dieser<br />
Stadt heute gerecht <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>?<br />
Das weiß ich nicht. Da<strong>zu</strong> habe ich<br />
mich <strong>in</strong> letzter Zeit e<strong>in</strong>fach mit anderen<br />
D<strong>in</strong>gen beschäftigt. Kurz nach diesem<br />
Lied habe ich Berl<strong>in</strong> verlassen. Ich hab<br />
dann jahrelang <strong>in</strong> San Francisco, dann<br />
<strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g gelebt und b<strong>in</strong> letztendlich aus<br />
familiären Gründen <strong>zu</strong>rück nach Berl<strong>in</strong><br />
gekommen. Wohne aber <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong>, das<br />
ist für e<strong>in</strong>en Westberl<strong>in</strong>er immer noch<br />
e<strong>in</strong> Unterschied.<br />
Inwiefern?<br />
Für mich ist das Terra <strong>in</strong>cognita. In<br />
Ostberl<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>de ich ke<strong>in</strong>erlei Er<strong>in</strong>nerungen<br />
mit irgendwas. Insofern ist es für<br />
mich, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Stadt <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />
Das Gespräch führte TIMO STEIN<br />
127<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Welches Kapitel öffnet sich da? Unser<br />
Autor im Sommer 2013, bewegungsbereit
SALON<br />
Essay<br />
DAS GROSSE<br />
VERSCHWINDEN<br />
Als sich alles ause<strong>in</strong>anderschob: E<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung<br />
an den Herbst 1989, den Fall der Mauer,<br />
me<strong>in</strong>e neblige Angst und das Gelbe vom Ei<br />
Fotos: Gene Glover/Agentur Focus, Christoph Püschner<br />
Von CLEMENS MEYER<br />
129<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
Essay<br />
Ich trage e<strong>in</strong>e Schärpe, die über me<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>ke Schulter<br />
gelegt ist. „Neues Forum“ steht auf dem Stoffband<br />
auf me<strong>in</strong>er Brust. Neben mir stehen me<strong>in</strong>e Mutter<br />
und me<strong>in</strong>e Schwester. Auch sie tragen diese Schärpen.<br />
Auf der me<strong>in</strong>er Mutter steht „Ohne Gewalt“. Ich<br />
b<strong>in</strong> zwölf Jahre alt. Herbst 1989. Anfang November?<br />
Ende Oktober? Mitte Oktober? Es steht ke<strong>in</strong> Datum<br />
unter dem Foto.<br />
Die Zeitschrift Quick, auf deren bereits leicht vergilbten<br />
Seiten ich me<strong>in</strong>e Mutter, me<strong>in</strong>e Schwester und<br />
mich selbst betrachte, existiert nicht mehr. Ich kann<br />
mich nicht er<strong>in</strong>nern, dass wir damals fotografiert wurden.<br />
Das Foto ist schwarz-weiß, im H<strong>in</strong>tergrund erkenne<br />
ich Lampen, Sche<strong>in</strong>werfer, e<strong>in</strong> trübes Licht. Es<br />
wirkt, als würden Herbstnebel ziehen, mir kommt das<br />
Wort „Industrienebel“ <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n. Nannten nicht unsere<br />
Lehrer so den Smog, der, so er<strong>in</strong>nere ich mich, <strong>in</strong><br />
den W<strong>in</strong>tern 1987 und 1988 besonders <strong>in</strong>tensiv und<br />
dicht über der Stadt Leipzig lag, verstärkt durch den<br />
Rauch aus Zehntausenden, ne<strong>in</strong>, Hunderttausenden<br />
Kachelöfen? Nebel, der wie e<strong>in</strong>e Glocke über der Stadt<br />
lag und den die w<strong>in</strong>terliche Kälte oft bis <strong>in</strong> die Straßen<br />
drückte.<br />
Leipzig war umz<strong>in</strong>gelt von Industrieschloten, Böhlen,<br />
Bitterfeld („seh’n wir uns nicht <strong>in</strong> dieser Welt,<br />
seh’n wir uns <strong>in</strong> Bitterfeld“), Espenha<strong>in</strong>, Leuna, Buna.<br />
<strong>Wie</strong> war das Wetter im Herbst 89? Nass und kalt? Oder<br />
doch e<strong>in</strong> goldener Oktober? Dunkel war es, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />
Er<strong>in</strong>nerung wird es <strong>in</strong> diesem beziehungsweise jenem<br />
Herbst sehr zeitig dunkel. Nieselte es nicht manchmal,<br />
sodass das Pflaster und die Straßenbahnschienen<br />
glänzten, die Luft feucht und herbstlich? In der alten<br />
Quick, unter dem Foto, lese ich: „Reg<strong>in</strong>a Meier: Ich<br />
stand mit me<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern am Stasi-Gebäude ‚Runde<br />
Ecke‘, um Gewalt <strong>zu</strong> verh<strong>in</strong>dern und die <strong>zu</strong> schützen,<br />
die es eigentlich nicht verdient hatten. Die K<strong>in</strong>der habe<br />
ich ganz bewusst mitgenommen.“<br />
Die Familie und die Zeitgeschichte:<br />
Clemens Meyer ( l<strong>in</strong>ks ), 1989 <strong>in</strong> der Quick<br />
Me<strong>in</strong>e Mutter, die e<strong>in</strong>en großen Schal um ihren<br />
Hals gewickelt hat, lacht, wir halten Kerzen <strong>in</strong> den Händen,<br />
die kann man zwar nicht sehen auf dem Foto, aber<br />
ihren Lichtsche<strong>in</strong>, der unsere Gesichter flackernd erhellt.<br />
Me<strong>in</strong>e Schwester, die e<strong>in</strong> Jahr älter ist als ich, lächelt,<br />
Lichtreflexe auf ihrer Brille. Nur ich schaue skeptisch,<br />
der zwölfjährige Clemens Meyer hat die Zunge<br />
auf die Oberlippe gelegt, hält den Blick gesenkt. H<strong>in</strong>ter<br />
mir steht e<strong>in</strong> Mann mit Schirmmütze, die Glut se<strong>in</strong>er<br />
Zigarette ist deutlich <strong>zu</strong> sehen. Vor uns, auf dem<br />
Foto nicht erkennbar, der Strom der Menschen, die gegen<br />
die graue Fassade der Runden Ecke – so nennen<br />
die Leipziger dieses Eckgebäude direkt am R<strong>in</strong>g, dieser<br />
breiten Straße, die das Zentrum der Stadt kreisförmig<br />
e<strong>in</strong>schließt –, die gegen diese graue Fassade der Stasi-<br />
Zentrale ihre Stimmen erheben. „Stasi <strong>in</strong> den Tagebau.“<br />
„Wir s<strong>in</strong>d das Volk“, immer wieder: „Wir s<strong>in</strong>d das Volk!“<br />
„WIR SIND EIN VOLK“ kam erst später. Und wurde anfangs<br />
nicht gerne gehört. Auch me<strong>in</strong>e Mutter erzählt<br />
mir heute, dass sie lange noch den Traum von e<strong>in</strong>er<br />
reformierten DDR träumte, e<strong>in</strong> demokratischer Sozialismus.<br />
<strong>Wie</strong> sang doch Wolf Biermann mehr als zehn<br />
Jahre <strong>zu</strong>vor und im Dezember 89 <strong>in</strong> Leipzig, <strong>in</strong> den<br />
Messehallen: „Der Westn is besser / Der Westn is bunter<br />
/ … Und trotzalledem / Ich sag dir die Wahrheit:<br />
Der Westn is ooch nicht – det Gelbe von’ Ei / Der Ostn<br />
is schlechter / Der Ostn is grauer / Und kle<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d die<br />
Chancen / Und groß ist die Not / Und trotzalledem: /<br />
Der Traum der Commune / Der schlief nur und is doch –<br />
noch lange nich tot.“<br />
Bis heute bereue ich, dass ich das Konzert Biermanns<br />
am 1. Dezember 1989 nicht wie me<strong>in</strong>e Mutter<br />
und me<strong>in</strong>e Schwester <strong>in</strong> den nicht weit von unserer<br />
Wohnung entfernten Messehallen gehört und erlebt<br />
habe, sondern nur im Fernsehen, es wurde live übertragen.<br />
Aber das Pathos der Biermann’schen Verse und<br />
Stimme ist mir bis heute im Ohr, wenn ich an 1989<br />
denke.<br />
<strong>Wie</strong> sah es aus <strong>in</strong> der Stadt, im Herbst 89, an den<br />
Montagen? <strong>Wie</strong> roch es? <strong>Wie</strong> fühlte es sich an? Was<br />
passierte? Und wie nahm ich es wahr, das zwölfjährige<br />
K<strong>in</strong>d mit dem skeptischen Blick, bereits <strong>in</strong> der Pubertät<br />
(was für e<strong>in</strong> blödes Wort), wann spürte ich, dass sich<br />
etwas <strong>zu</strong> ändern, <strong>zu</strong> verändern begann, dass sich etwas<br />
bewegte, verschob, dass sich die Realität b<strong>in</strong>nen<br />
weniger Wochen komplett veränderte?<br />
Ich er<strong>in</strong>nere mich, dass bereits im Frühjahr 89 immer<br />
mehr Menschen verschwanden. In den Westen ausreisten.<br />
Die große Ausreisewelle. In me<strong>in</strong>er Klasse waren<br />
plötzlich e<strong>in</strong>ige Stühle leer. Im Herbst g<strong>in</strong>gen dann<br />
immer mehr, auch Lehrer, e<strong>in</strong> großes Verschw<strong>in</strong>den,<br />
das Land blutete langsam aus, während die Massen auch<br />
an dem Abend, an dem das Foto entstand, skandierten:<br />
„Wir bleiben hier! Wir bleiben hier!“ Me<strong>in</strong>e Mutter, die<br />
kurioserweise im Herbst 89 kurze Zeit <strong>in</strong> Budapest war,<br />
erzählte dann von den gespenstisch leeren Zügen auf<br />
Fotos: Quick, Christoph Püschner<br />
130<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
89, den wir, me<strong>in</strong>e Mutter, me<strong>in</strong>e Schwester, ich, die<br />
drei auf dem Foto <strong>in</strong> der Quick, besuchten. Der Slogan<br />
„Schwerter <strong>zu</strong> Pflugscharen“ kursierte. Auf e<strong>in</strong>em<br />
Hügel vor e<strong>in</strong>em im wahrsten S<strong>in</strong>ne des Wortes<br />
verseuchten See wurde gebetet, gesungen. E<strong>in</strong> <strong>junge</strong>r<br />
Pfarrer mit Vollbart und schulterlangen Haaren predigte,<br />
erzählte von der hohen Anzahl Krebserkrankter<br />
<strong>in</strong> dem Dorf nahe dem See und dem Kraftwerk<br />
(welches es war, habe ich vergessen), Fürbitte wurde<br />
s<strong>in</strong>gend gehalten, „großer barmherziger Gott, mach,<br />
dass die Menschen nicht weiter de<strong>in</strong>e Schöpfung zerstören“.<br />
Nach diesem Gottesdienst gab es Schnitten<br />
und Apfelsaft, während im H<strong>in</strong>tergrund die Schlote<br />
des Kraftwerks apokalyptische, schwarz durchrauchte<br />
Flammen spien.<br />
Beide Eltern waren <strong>in</strong> der Kirche aktiv. „… die<br />
38-jährige Reg<strong>in</strong>a Meier, die seit Jahren als K<strong>in</strong>dergärtner<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> der ‚Nische Kirche‘ arbeitet …“, heißt es <strong>in</strong><br />
der Quick. Me<strong>in</strong> Vater, der sehr belesen war und sich<br />
mit Politik ause<strong>in</strong>andersetzte – seit Mitte der Achtziger<br />
engagierte er sich <strong>in</strong> der Ost-CDU – befürchtete<br />
e<strong>in</strong>e „ch<strong>in</strong>esische Lösung“, wie es damals hieß. Die Bilder<br />
vom Platz des Himmlischen Friedens waren noch<br />
frisch, wurden auch von uns K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> der Schule auf<br />
dem Pausenhof diskutiert, „von Panzern platt gefahren<br />
…“ Ich er<strong>in</strong>nere mich, wie me<strong>in</strong> Vater, wie viele<br />
andere auch, glaubte, dass irgendwann Schüsse fallen<br />
würden. Angst im Oktober.<br />
Über Prag <strong>in</strong> die Freiheit: E<strong>in</strong>stige<br />
DDR-Bürger im Hauptbahnhof Hof<br />
der Rückfahrt nach Leipzig und den überfüllten Zügen<br />
Richtung Ungarn auf dem Gegengleis.<br />
Ich er<strong>in</strong>nere mich, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ausgabe der Pionierzeitung<br />
Trommel e<strong>in</strong> Text abgedruckt war, den<br />
fleißige Thälmann-Pioniere <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Flasche steckten,<br />
diese wiederum <strong>zu</strong>sammen mit Utensilien aus dem Pionier-<br />
sowie Alltagsleben anno 89 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kiste taten,<br />
die sie dann vergruben, den Lageplan den Pionieren<br />
des Jahres 1999 h<strong>in</strong>terließen. Von durch Provokateure<br />
aufgeheizten Randalierern war dort die Rede, die aber<br />
von diszipl<strong>in</strong>ierten Volkspolizisten und Volksarmisten<br />
<strong>in</strong> Schach gehalten würden.<br />
Bewegungen im Land. Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong>en<br />
Umweltgottesdienst im Frühjahr oder Sommer<br />
JEDEN MONTAG FUHR ICH <strong>zu</strong>r Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
(AG) „<strong>junge</strong> Rezitatoren“, wir trafen uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kulturhaus<br />
<strong>in</strong> der Nähe des Rosentals, zwei Straßenbahnhaltestellen<br />
vom Hauptbahnhof entfernt. Ich trat 1988<br />
und 1989 mit selbst geschriebenen Geschichten („Die<br />
Ameise Pontifax“ und „Die Rückkehr der Ameise Pontifax“)<br />
<strong>in</strong> sogenannten Talentwettbewerben auf, kann<br />
mich er<strong>in</strong>nern, dass ich e<strong>in</strong>er der wenigen war, die<br />
dort ohne Pionieruniform auftraten, denn ich war nicht<br />
Mitglied der Pionierorganisation, was den Pionierleiter<br />
unserer Schule <strong>zu</strong>weilen ärgerte. Noch bis Anfang<br />
November g<strong>in</strong>gen er, unsere Direktor<strong>in</strong> und der Parteisekretär<br />
der Schule durch die Klassen und beschworen<br />
die Schüler, montags nicht <strong>in</strong> die Innenstadt <strong>zu</strong><br />
gehen, nicht an den „Märschen“ teil<strong>zu</strong>nehmen. Von<br />
Krawallmachern war die Rede, die verantwortungslos<br />
die Fußgängerbrücke an der sogenannten Blechbüchse<br />
(e<strong>in</strong> großes Warenhaus im sozialistischen Stil)<br />
besetzen und damit deren E<strong>in</strong>sturz riskieren würden.<br />
Oh, ihr klugen Agitatoren im Herbst!<br />
Unser Pionierleiter war im Juli 1990, neun Monate<br />
später, e<strong>in</strong>e andere Welt, auf e<strong>in</strong>em Zeitungsfoto <strong>zu</strong> sehen,<br />
das die endlose Schlange vor e<strong>in</strong>er Bankfiliale <strong>zu</strong>r<br />
Währungsunion zeigte. Be<strong>in</strong>ahe verschreckt schaute<br />
er <strong>in</strong> die Kamera, das Bild kursierte <strong>in</strong> unserer Klasse,<br />
se<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Tochter, die auch an unserer Schule war,<br />
hatte darunter sehr <strong>zu</strong> leiden, Hohn und Spott und<br />
mehr. E<strong>in</strong>e Art Tragik, wenn ich darüber nachdenke.<br />
131<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
Essay<br />
Rezitatoren“ <strong>zu</strong>m Posaunenchor. So sahen me<strong>in</strong>e Montage<br />
aus, wenn me<strong>in</strong>e Mutter uns nicht mitnahm <strong>in</strong> die<br />
Stadt, wenn ich nicht mit me<strong>in</strong>em guten Freund, der<br />
zwölf Jahre nach 89 an e<strong>in</strong>er Überdosis Hero<strong>in</strong> starb,<br />
den Massen h<strong>in</strong>terherstaunte, wir uns nicht voll Abenteuerlust<br />
und k<strong>in</strong>dlicher Neugier den Menschen anschlossen.<br />
„Mit zwölf ist die K<strong>in</strong>dheit vorbei“, habe<br />
ich irgendwo gelesen.<br />
Nach der Wende blieb die Welt gefährlich<br />
und weit: Clemens Meyer um 1993<br />
Und nach den großen Rezitationsübungen <strong>in</strong> der<br />
AG „<strong>junge</strong> Rezitatoren“ fuhr ich mit der Straßenbahn<br />
<strong>zu</strong>rück, zwischen fünf und sechs Uhr war das, manchmal<br />
g<strong>in</strong>g ich auch die zwei Haltestellen <strong>zu</strong> Fuß bis <strong>zu</strong>m<br />
Hauptbahnhof. Der Abend dämmerte, die dunkelblaue<br />
Stunde, und e<strong>in</strong>e seltsame Gespanntheit lag <strong>in</strong> der Luft.<br />
Still war es, so er<strong>in</strong>nere ich mich. Die Menschen schienen<br />
<strong>zu</strong> warten. Und e<strong>in</strong>e langsame Bewegung Richtung<br />
Innenstadt setzte e<strong>in</strong>. Begriff ich als K<strong>in</strong>d, was vor sich<br />
g<strong>in</strong>g? E<strong>in</strong>mal traf ich mich nach me<strong>in</strong>er Montags-AG<br />
mit e<strong>in</strong>em guten Freund, der 2001 an e<strong>in</strong>er Überdosis<br />
Hero<strong>in</strong> starb, wir wollten schauen, was abends auf<br />
dem R<strong>in</strong>g passierte. Schlossen wir zwei K<strong>in</strong>der uns an<br />
oder standen wir nur staunend am Rande?<br />
In me<strong>in</strong>em Roman „Als wir träumten“ von 2006<br />
dramatisierte ich das, die zwölf-, 13-jährigen Jungen,<br />
Helden und Antihelden, erleben e<strong>in</strong>e Montagsdemonstration<br />
– wann kam dieser Name eigentlich auf? –, als<br />
e<strong>in</strong> gewaltiges Abenteuer, e<strong>in</strong>er macht Fotos für die<br />
Foto-AG, sie verstehen, dass etwas passiert <strong>in</strong> ihrer<br />
K<strong>in</strong>dheitswelt, aber sie begreifen nicht, dass die ganze<br />
große Welt sich <strong>zu</strong> verändern begann.<br />
E<strong>in</strong>ige me<strong>in</strong>er Schulfreunde erzählten dienstags,<br />
wie sie am Vorabend mit ihren Eltern dabei waren.<br />
„Wir waren dabei“, das war etwas Besonderes. E<strong>in</strong><br />
Junge, Pfarrerssohn, verteilte handgeschriebene Zettel<br />
<strong>in</strong> der Pause, das muss Anfang November gewesen<br />
se<strong>in</strong>, kurz danach g<strong>in</strong>g das Gerücht um, er würde von<br />
der Schule fliegen. Ne<strong>in</strong>, er flog nicht von der Schule,<br />
alles andere flog, beschleunigte sich, die Ereignisse<br />
überschlugen sich, dennoch waren diese Tage, auch aus<br />
der Sicht des zwölfjährigen Clemens Meyer, lang, nicht<br />
enden wollend <strong>in</strong> ihrer Fülle immer neuer Ereignisse.<br />
Als am 9. Oktober, wie durch e<strong>in</strong> Wunder, die<br />
Lage im abendlichen Zentrum von Leipzig nicht eskalierte,<br />
war ich bei e<strong>in</strong>er Übungsstunde des Posaunenchors<br />
unserer Kirchengeme<strong>in</strong>de, dort spielte ich<br />
damals Trompete, zweite Stimme. Von der AG „<strong>junge</strong><br />
UND IM POSAUNENCHOR wurde am 9. Oktober nicht<br />
viel geübt, so er<strong>in</strong>nere ich mich. Es waren auch nicht<br />
alle Bläser gekommen, wir saßen nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Beset<strong>zu</strong>ng,<br />
Völker höret die Signale. Wir redeten, beziehungsweise<br />
die Erwachsenen redeten, was ist los<br />
im Land? Und woh<strong>in</strong> gehen wir? Ich weiß noch, dass<br />
ich mitreden wollte, dass ich von den Veränderungen<br />
<strong>in</strong> der Schule erzählen wollte, dass ich von den heimlichen<br />
Ausflügen mit me<strong>in</strong>em Freund <strong>in</strong> die Stadt erzählen<br />
wollte, von me<strong>in</strong>en Wegen aus der AG „<strong>junge</strong><br />
Rezitatoren“, auf denen sich die Stadt förmlich <strong>zu</strong>sammenzog,<br />
<strong>zu</strong> schrumpfen schien, um sich dann, gleichsam<br />
ausatmend, wieder <strong>zu</strong> dehnen. Aber ich war ja<br />
noch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, auch wenn die K<strong>in</strong>dheit mit zwölf Jahren<br />
angeblich enden soll.<br />
Über me<strong>in</strong>e Mutter und diesen 9. Oktober lese ich<br />
<strong>in</strong> der alten Ausgabe der längst untergegangenen Zeitschrift<br />
Quick: „Aufgeregt, wütend und voller Angst<br />
g<strong>in</strong>g sie am 9. Oktober 1989 <strong>in</strong> die Stadt. ‚Dass es an<br />
diesem Tag so viele Demonstranten wurden, kann ich<br />
heute immer noch nicht begreifen.‘“<br />
Wusste ich damals, dass sie an diesem vielleicht<br />
entscheidenden Demonstrationsabend <strong>in</strong> die Stadt<br />
g<strong>in</strong>g? Während ich beim Posaunenchor saß, im Geme<strong>in</strong>dehaus<br />
der Marienkirche, am Rand der Stadt. War<br />
me<strong>in</strong>e Schwester dabei, oder ließ me<strong>in</strong>e Mutter sie aus<br />
Vorsicht <strong>zu</strong> Hause? Ich kann mich er<strong>in</strong>nern, dass es<br />
darüber, also ob me<strong>in</strong>e Mutter me<strong>in</strong>e Schwester am<br />
9. Oktober wie an den Septembermontagen und wie<br />
am 2. Oktober mit <strong>in</strong> die Stadt nimmt, e<strong>in</strong>en Disput mit<br />
me<strong>in</strong>em Vater gab. <strong>Wie</strong> viele ähnliche Dispute muss<br />
es <strong>in</strong> anderen Wohnungen <strong>in</strong> dieser Zeit gegeben haben?<br />
Man urteilt schnell, von später aus, von heute aus.<br />
„Me<strong>in</strong>e Hoffnungen auf e<strong>in</strong>e Art von drittem Weg<br />
erfüllten sich nicht, waren mit dieser desolaten Wirtschaft<br />
wohl auch nicht möglich. Aber schon das bisschen<br />
Hoffnung auf Veränderung der e<strong>in</strong>gefahrenen Lebensverhältnisse<br />
<strong>zu</strong> haben, war gut.“ So me<strong>in</strong>e Mutter<br />
<strong>in</strong> der Quick. Die uns e<strong>in</strong> Jahr nach dem Herbst 89<br />
besuchte, zwei Reporter kl<strong>in</strong>gelten im Oktober 1990,<br />
kurz nach der <strong>Wie</strong>dervere<strong>in</strong>igung, an unserer Tür.<br />
„ Ich staune, dass ich<br />
dabei war. Ich staune<br />
über unsere Gesichter “<br />
Foto: Privat, Picture Alliance/DPA/AFP<br />
132<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Leipziger Montagsdemo: „E<strong>in</strong>ig Vaterland“<br />
forderte man im Dezember 1989
SALON<br />
Liste<br />
25 FEHLER,<br />
DIE WIR BEI DER NÄCHSTEN WIEDERVEREINIGUNG<br />
VERMEIDEN SOLLTEN<br />
25 Jahre Mauerfall s<strong>in</strong>d<br />
e<strong>in</strong> Grund <strong>zu</strong>m Feiern.<br />
Aber wir hätten da<br />
doch noch e<strong>in</strong> paar<br />
Anmerkungen da<strong>zu</strong>,<br />
was bei der <strong>Wie</strong>dervere<strong>in</strong>igung<br />
schieflief<br />
Von PETRA SORGE und<br />
CHRISTOPH SEILS<br />
1. VOLLSTÄNDIGER ABRISS DER<br />
BERLINER MAUER<br />
Man hätte ahnen können, dass die<br />
Touristen nur deshalb nach Berl<strong>in</strong><br />
kommen, um die Mauer <strong>zu</strong> sehen.<br />
2. TREUHANDANSTALT<br />
Rund 8500 volkseigene Betriebe<br />
wurden abgewickelt. Statt erhoffter<br />
Gew<strong>in</strong>ne entstand e<strong>in</strong> Milliardengrab.<br />
Da<strong>zu</strong> kle<strong>in</strong>e und große Gaunereien.<br />
3. ABWICKELN DER POLIKLINIKEN<br />
Das ist doch Sozialismus, schrien die<br />
Ärzte (West), bis die Krankenkassen<br />
<strong>zu</strong> rechnen begannen und Mediz<strong>in</strong>ische<br />
Versorgungszentren gründeten.<br />
4. IGNORIEREN DES WESTDOPINGS<br />
Nur gedopte DDR-Helden wurden<br />
gestürzt. Im Westen? Fehlanzeige.<br />
5. ABSCHAFFUNG DES<br />
IMPFZWANGS FÜR BABYS<br />
Ihre 1000 Mark Geburtsprämie<br />
erhielten Osteltern nur, wenn sie ihr<br />
K<strong>in</strong>d pieksen ließen. Heute haben<br />
Impfverweigerer Hochkonjunktur.<br />
6. AMPELMÄNNCHEN-RETTUNG<br />
Ausgerechnet das kle<strong>in</strong>e Männchen<br />
mit dem Strohhut à la Honecker<br />
wurde so <strong>zu</strong>r Ikone der Nostalgiker.<br />
7. BUSCHZULAGE<br />
Über die Sonderprämie für Westbeamte<br />
wurden vor allem unfähige<br />
Staatsdiener <strong>in</strong> den Osten gelockt.<br />
8. WEST-VERKEHRSKONZEPTE<br />
Statt Straßen und Bahnen klug mit<br />
Fuß- und Radwegen <strong>zu</strong> komb<strong>in</strong>ieren,<br />
wurde im Osten die westdeutsche<br />
Autostadt der Nachkriegszeit kopiert.<br />
9. OSTPRESSE AN WESTVERLAGE<br />
Die Shopp<strong>in</strong>gtour der Westverlage<br />
festigte die Vormachtstellung der<br />
e<strong>in</strong>stigen SED-Zeitungen.<br />
10. FÜNF NEUE LÄNDER<br />
So wurde die föderale Kle<strong>in</strong>staaterei<br />
erweitert. Zwei Ostländer hätten<br />
auch gereicht.<br />
11. RUSSISCHUNTERRICHT<br />
VERKÜMMERN LASSEN<br />
Mehr Russischversteher statt<br />
Russlandversteher könnten wir<br />
gerade jetzt gut gebrauchen.<br />
12. DEM WÄHLER BLÜHENDE<br />
LANDSCHAFTEN VERSPRECHEN<br />
Helmut Kohl hat mit diesem<br />
Versprechen <strong>zu</strong> schnell <strong>zu</strong> hohe<br />
Erwartungen geweckt.<br />
13. OSTFUSSBALL VERKAUFEN<br />
Billig deckten sich Westvere<strong>in</strong>e mit<br />
Osttalenten e<strong>in</strong> und machten den<br />
Osten <strong>zu</strong>m Bundesliga-Niemandsland.<br />
Die späte Rache heißt RB Leipzig.<br />
14. FLUGHAFEN BERLIN-<br />
BRANDENBURG IN SCHÖNEFELD<br />
Zum Skandalflughafen hätte es e<strong>in</strong>e<br />
Alternative gegeben: den ehemaligen<br />
sowjetischen Militärflugplatz<br />
Sperenberg <strong>in</strong> Brandenburg.<br />
15. AUS FÜR DIE SENDUNG ELF 99<br />
ARD und ZDF sehnen sich heute<br />
nach <strong>junge</strong>n Zuschauern. Die<br />
DDR wusste, wie man e<strong>in</strong>e gute<br />
Teenager-Sendung macht.<br />
16. HALBER BERLIN-UMZUG<br />
Die zwischen Bonn und Berl<strong>in</strong><br />
geteilten M<strong>in</strong>isterien tun ke<strong>in</strong>em gut.<br />
17. RÜCKGABE VOR<br />
ENTSCHÄDIGUNG<br />
Das Restitutionspr<strong>in</strong>zip verunsicherte<br />
die Ostmieter, überforderte die<br />
Ämter und hemmte Investitionen.<br />
18. KÜRZUNG DER KITA-ZEITEN<br />
6 bis 18 Uhr. E<strong>in</strong> Elterntraum <strong>in</strong> der<br />
DDR. Öffnungszeiten von 9 bis 16<br />
Uhr stressen alle Väter und Mütter.<br />
19. ABSCHAFFUNG DES<br />
HAUSHALTSTAGES<br />
Frauen, teils auch alle<strong>in</strong>stehende<br />
Männer, hatten Anspruch auf e<strong>in</strong>e<br />
unbezahlte Auszeit.<br />
20. SONDERABSCHREIBUNGEN<br />
Dem Fiskus entg<strong>in</strong>gen so jährlich<br />
14 Milliarden Mark. Die Besserverdienenden<br />
rieben sich die Hände.<br />
21. SCHONUNG DER STASI-<br />
BONZEN<br />
Vor Gericht mussten sich die wenigsten<br />
Stasi-Größen verantworten.<br />
MfS-Chef Erich Mielke wurde 1993<br />
verurteilt, weil er zwei Polizisten<br />
erschossen hatte – im Jahr 1931.<br />
22. … UND KEINE KONFRONTATION<br />
MIT IHREN OPFERN<br />
In Südafrika gab es nach dem Ende<br />
des Apartheid-Regimes e<strong>in</strong>e<br />
Versöhnungskommission, <strong>in</strong> der<br />
Bundesrepublik nicht.<br />
23. SCHLECHTE AUFARBEITUNG<br />
DER SED-DIKTATUR<br />
Die DDR kommt im Geschichtsunterricht<br />
<strong>zu</strong> kurz. Heute hält sie jeder<br />
dritte Schüler für demokratisch.<br />
24. ABRISS DES PALASTS DER<br />
REPUBLIK<br />
Honeckers Lampenladen war auch<br />
nicht hässlicher als die Schlossattrappe,<br />
die jetzt gebaut wird.<br />
25. AUFBAU WEST VERGESSEN<br />
Zwei Billionen flossen <strong>in</strong> den<br />
Osten – aber jetzt siecht der Westen.<br />
Fotos: Christoph Püschner<br />
134<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Kurz vorher hatte es wohl e<strong>in</strong>e Fotoausstellung gegeben,<br />
eben dieses Foto, auf das ich jetzt schaue: me<strong>in</strong>e<br />
Mutter, me<strong>in</strong>e Schwester, die Schärpen, die Schriftzüge,<br />
die Kerzen, die Sche<strong>in</strong>werfer, der Nebel, ich.<br />
„E<strong>in</strong> wenig Resignation kl<strong>in</strong>gt heraus“, schreibt<br />
die Quick über dieses Gespräch, „e<strong>in</strong> Stück Traurigkeit.<br />
Schließlich hatten sie sich alle irgendwie mit dem<br />
System arrangiert.“ Und wieder e<strong>in</strong> Zitat me<strong>in</strong>er Mutter,<br />
<strong>in</strong> den Quick-Text montiert: „Da ist die sozialistische<br />
Erziehung nicht spurlos an mir vorübergegangen.“<br />
Der berühmte dritte Weg. Immer wieder e<strong>in</strong> Thema<br />
<strong>in</strong> den Tagen des 89er Herbstes. Der Westen ist auch<br />
nicht das Gelbe vom Ei? Aber als er dann kam, sehr<br />
schnell und schon im November, mit se<strong>in</strong>en Schokoladensorten,<br />
Autos, Tausenden Joghurts, Zeitschriften<br />
mit Nackten, Kassettenrekordern, da waren nicht nur<br />
wir K<strong>in</strong>der erst e<strong>in</strong>mal überwältigt.<br />
Und immer wieder lese ich die fett gedruckte Zwischenüberschrift<br />
<strong>in</strong> der Quick: „Ich stand mit me<strong>in</strong>en<br />
K<strong>in</strong>dern am Stasi-Gebäude ‚Runde Ecke‘, um Gewalt <strong>zu</strong><br />
verh<strong>in</strong>dern und die <strong>zu</strong> schützen, die es eigentlich nicht<br />
verdient hatten. Die K<strong>in</strong>der habe ich ganz bewusst mitgenommen.“<br />
Und wieder staune ich über diesen Idealismus.<br />
Ich staune, dass ich dabei war. Ich staune über unsere<br />
Gesichter. Ich staune über den seltsamen dunklen<br />
und doch frischen Geruch <strong>in</strong> diesem Herbst. Über die<br />
Bilder der leeren Straßenbahnen <strong>in</strong>mitten der demonstrierenden<br />
Menschen, die Fahrer standen <strong>in</strong> den offenen<br />
Türen, das gelbe Licht h<strong>in</strong>ter den großen Scheiben.<br />
Schulfrei, Flugblätter, Losungen, Lehrer l<strong>in</strong>ientreu,<br />
Lehrer im Aufbruch … Die erste Schülerzeitung<br />
Anfang 90, die große Versammlung vor dem heutigen<br />
Reichsgericht im Dezember 89, als das Neue Forum<br />
<strong>zu</strong>gelassen wurde, auch da s<strong>in</strong>d die drei vom Foto<br />
h<strong>in</strong>gegangen. Die Ehe der Eltern zerbrach, me<strong>in</strong> Vater<br />
begrüßte die <strong>Wie</strong>dervere<strong>in</strong>igung, die für se<strong>in</strong>en Politikverstand<br />
der e<strong>in</strong>zig gangbare Weg war, me<strong>in</strong>e Mutter<br />
träumte noch e<strong>in</strong>e Weile vom dritten Weg.<br />
„… hat sie große Probleme mit ihren K<strong>in</strong>dern, die<br />
sich plötzlich antiautoritär gebärden.“ <strong>Wie</strong>der die gute<br />
alte Quick über Frau Meier, me<strong>in</strong>e Mutter, die eigentlich<br />
Frau Meyer ist. 1990/91 begann die Zeit, die ich <strong>in</strong><br />
„Als wir träumten“ schildere, der Tanz auf den Trümmern,<br />
die sich erst ganz langsam, sehr, sehr langsam,<br />
<strong>zu</strong> blühenden Landschaften formierten. Aber davon<br />
wussten die drei auf dem Foto noch nichts. Da waren<br />
sie Teil von etwas, e<strong>in</strong>es Stroms, e<strong>in</strong>er Entwicklung, etwas<br />
Großem, e<strong>in</strong>er seltsam geordneten Eruption, Geschichte?<br />
„Neues Forum“, „Ohne Gewalt“, „Schwerter<br />
<strong>zu</strong> Pflugscharen“, schöne, bedeutungsvolle, hoffnungsvolle<br />
Worte waren das, aber wir dachten sicher nicht<br />
an Geschichte. Es war e<strong>in</strong> Abend im Oktober.<br />
CLEMENS MEYER wurde 1977 <strong>in</strong> Halle an der Saale geboren.<br />
Er lebt <strong>in</strong> Leipzig und schrieb <strong>zu</strong>letzt den Roman „Im Ste<strong>in</strong>“.<br />
Für se<strong>in</strong>e Bücher erhielt er zahlreiche Preise, etwa den Preis<br />
der Leipziger Buchmesse und den Bremer Literaturpreis<br />
135<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014<br />
816 S., 97 Grafiken, 18 Tab. Geb. € 29,95<br />
ISBN 978-3-406-67131-9<br />
„Dieses Buch wird die Ökonomie<br />
verändern und mit ihr die<br />
ganze Welt.“ Paul Krugman,<br />
The New York Review of Books<br />
„E<strong>in</strong>e brillante Erzählung über<br />
Reichtum und Armut.“<br />
Nikolaus Piper, Süddeutsche Zeitung<br />
525 S., 38 Abb., 7 Ktn. Ln. € 29,95<br />
ISBN 978-3-406-65921-8<br />
„So umfassend und souverän, so<br />
str<strong>in</strong>gent argumentierend, hat<br />
man die Geschichte des aus<br />
Baumwolle gewobenen Kapitalismus<br />
noch nicht gelesen.<br />
Kim Christian Priemel,<br />
Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung<br />
C.H.BECK<br />
www.chbeck.de
SALON<br />
Man sieht nur, was man sucht<br />
Denn LUXUSKAROSSEN<br />
küsst man nicht<br />
Von BEAT WYSS<br />
Sie hielt stand: <strong>Wie</strong> William Turners<br />
Kriegsschiff <strong>zu</strong>m beliebtesten Motiv der Briten<br />
wurde. Und weshalb uns das militärisch<br />
Erhabene verloren g<strong>in</strong>g<br />
136<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Foto: Mauritius Images/United Archives, Gaetan Bally/Keystone Schweiz/Laif<br />
Reden wir also über „Die<br />
kämpfende Temeraire, <strong>zu</strong><br />
ihrem letzten Landeplatz<br />
geschleppt, um abgewrackt<br />
<strong>zu</strong> <strong>werden</strong>“. Wem dieser<br />
Bildtitel auf der Zunge zergeht, hat Geschmack<br />
fürs militärisch Erhabene. Das<br />
sche<strong>in</strong>t den Briten <strong>zu</strong> liegen, hat doch<br />
die BBC William Turners „Kämpfende<br />
Temeraire“ als beliebtestes Gemälde<br />
der Nation ermittelt. Die Umfrage erfolgte<br />
2005 im Rahmen der Feierlichkeiten<br />
<strong>zu</strong>m 200. Jahrestag der Schlacht von<br />
Trafalgar.<br />
Während des dritten Koalitionskriegs,<br />
am 21. Oktober 1805, stellte Vizeadmiral<br />
Horatio Nelson die napoleonischen<br />
Schiffe südlich vom andalusischen<br />
Cádiz. Die HMS Temeraire, e<strong>in</strong> Dreidecker,<br />
bestückt mit 98 Kanonen, segelte<br />
<strong>in</strong> der Schlachtl<strong>in</strong>ie direkt h<strong>in</strong>ter dem<br />
Flaggschiff HMS Victory, das, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Nahgefecht<br />
verwickelt, durch Beschuss von<br />
der spanischen Santissima Tr<strong>in</strong>idad e<strong>in</strong>en<br />
Teil der Takelage verlor. Die Temeraire<br />
rückte vor, um das britische Flaggschiff<br />
<strong>zu</strong> decken, während der befehlshabende<br />
Nelson von der Kugel e<strong>in</strong>er Muskete getroffen<br />
wurde.<br />
Der Besat<strong>zu</strong>ng der Temeraire gelang<br />
es, die Flaggschiffe der spanischfranzösischen<br />
Flotte aus<strong>zu</strong>schalten. Der<br />
schwer verletzte Admiral starb heiter,<br />
im Bewusstse<strong>in</strong>, mit se<strong>in</strong>er Taktik trotz<br />
unterlegener Schiffs- und Mannschaftsstärke<br />
gesiegt <strong>zu</strong> haben. „God and my<br />
country“ waren se<strong>in</strong>e letzten Worte. Den<br />
Empfänglichen zieht solche Nachricht tiefer<br />
<strong>in</strong>s Rückgrat e<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> WM-Sieg.<br />
„Die kämpfende Temeraire, <strong>zu</strong><br />
ihrem letzten Landeplatz geschleppt,<br />
um abgewrackt <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>“,<br />
malte Turner 1838. Sie hängt <strong>in</strong><br />
der National Gallery London<br />
Gemalt ist hier e<strong>in</strong> Strammstehen<br />
fürs Vaterland, auch wenn es wehtut.<br />
Her Majesty’s Ship Temeraire, Baujahr<br />
1798, wird nach 40 Jahren im Dienst abgetakelt.<br />
Der Dreimaster taucht auf im<br />
Leichenhemd, unwirklich strahlend: e<strong>in</strong><br />
<strong>Wie</strong>dergänger aus Britanniens glorreicher<br />
Geschichte. Der gedrungene Schaufelraddampfer,<br />
der das alte Kriegsschiff<br />
<strong>zu</strong>m Schrottplatz schleppt, bildet den<br />
rußigen Kontrast der Sachzwänge. Das<br />
rauchende Industriezeitalter hat die Zeit<br />
der W<strong>in</strong>djammer überflügelt. Zwar todgeweiht,<br />
behauptet sich die breitbrüstige<br />
Temeraire, stolz wie der sterbende Nelson:<br />
Die Pflicht ist getan.<br />
Die patriotische Haltung ist mit e<strong>in</strong>em<br />
bengalisch beleuchteten Abendhimmel<br />
exotisch gewürzt. 1815 war auf der<br />
<strong>in</strong>donesischen Insel Sumbawa der Vulkan<br />
Tambora ausgebrochen und hatte mit<br />
dem Auswurf von gigantischen Aschewolken<br />
<strong>in</strong> die Stratosphäre e<strong>in</strong>e globale<br />
Klimaveränderung mit Missernten und<br />
Hungersnöten hervorgerufen: das berüchtigte<br />
Jahr ohne Sonne. Noch über<br />
e<strong>in</strong> Jahrzehnt später konnte die Katastrophe<br />
<strong>in</strong> solch atemberaubenden Sonnenuntergängen<br />
ausglühen. Turner malt die<br />
Mündung der Themse als e<strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>flüssen<br />
offenes Tor <strong>zu</strong>r Welt.<br />
Mit überwältigender Mehrheit<br />
stimmte kürzlich das englische Parlament<br />
für Luftschläge der Royal Air<br />
Force gegen Isis. Deutschland dagegen<br />
ziert sich, es hat ke<strong>in</strong>en Nelson als Vorbild.<br />
Zu den wenigen vorzeigbaren Offizieren<br />
der jüngeren Geschichte gehört<br />
Claus Schenk Graf von Stauffenberg,<br />
der das gescheiterte Attentat auf Hitler<br />
mit dem Leben bezahlte. Die neue Bundesrepublik<br />
ist e<strong>in</strong>e spät <strong>zu</strong> sich gekommene<br />
Wohlstandsnation, die ihren Führungsanspruch<br />
allenfalls im Fußball und<br />
im Export von Edelkarossen auslebt. In<br />
den globalen Konfliktzonen sollen jene<br />
die Drecksarbeit machen, die sich das militärisch<br />
Erhabene leisten können. Jede<br />
Kritik am Abseitsstehen der reichsten<br />
Beat Wyss<br />
ist e<strong>in</strong>er der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes.<br />
Er lehrt Kunstwissenschaft<br />
und Medienphilosophie an der<br />
Staatlichen Hochschule für<br />
Gestaltung <strong>in</strong> Karlsruhe und<br />
schreibt jeden Monat <strong>in</strong><br />
<strong>Cicero</strong> über e<strong>in</strong> Kunstwerk<br />
und dessen Geschichte.<br />
Kürzlich erschien bei Philo<br />
F<strong>in</strong>e Arts se<strong>in</strong> Essay „Renaissance<br />
als Kulturtechnik“<br />
Nation Europas wird abgewehrt mit der<br />
Ausrede, man habe schließlich schon<br />
zweimal gezeigt, wie der deutsche Michel<br />
militärisch ausrasten kann. Deutschland<br />
droht nach Gutmenschenart <strong>in</strong> die<br />
alte Kle<strong>in</strong>staaterei <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>fallen.<br />
Anfang November kommt Mike<br />
Leighs Film „Mr. Turner – Meister des<br />
Lichts“ <strong>in</strong> die K<strong>in</strong>os, pünktlich <strong>zu</strong>m<br />
40. Geburtstag des Turner-Preises. Im<br />
Namen also e<strong>in</strong>es patriotisch-pathetischen<br />
Romantikers grillt England, von<br />
Damien Hirst <strong>zu</strong> Elizabeth Prize, den<br />
künstlerischen Nachwuchs der Spaßgesellschaft.<br />
William Turner ist der Caspar<br />
David Friedrich der Engländer – nur anschlussfähiger<br />
an die Gegenwart als der<br />
altmeisterliche Greifswalder. Undenkbar<br />
wäre darum e<strong>in</strong> C. D. Friedrich-Stipendium,<br />
<strong>zu</strong> deren Begünstigten Rabauken<br />
wie Mart<strong>in</strong> Kippenberger gehörten.<br />
137<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
SALON<br />
Literaturen<br />
Neue Bücher, Texte, Themen<br />
Reisebericht<br />
Die Revolution tanzt<br />
Im Jahr 1918 reist die Schriftsteller<strong>in</strong> Teffy von Russland <strong>in</strong> die<br />
Ukra<strong>in</strong>e – und erlebt die Tragödie als Farce<br />
Als Nadeshda Alexandrowna Lochwitzkaja,<br />
geboren am 24. April<br />
1872 <strong>in</strong> Sankt Petersburg, ihre<br />
Heimat im Herbst 1919 für immer verließ,<br />
hatte sie schon seit fast 20 Jahren aufgegeben,<br />
was eigentlich ihre gesellschaftliche<br />
Bestimmung hätte se<strong>in</strong> sollen – und<br />
sie hatte es nicht bereut. H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e alte Adelsfamilie hatte sie, Tochter<br />
e<strong>in</strong>er Französ<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>es russischen<br />
Rechtsgelehrten, <strong>zu</strong>nächst standesgemäß<br />
geheiratet, war mit ihrem Mann auf dessen<br />
Gut im heutigen Weißrussland gezogen<br />
und hatte drei K<strong>in</strong>der geboren. Doch<br />
Revolutionäre verteilen während der<br />
Oktoberrevolution von 1917<br />
Propagandaschriften auf e<strong>in</strong>er<br />
Versammlung beim Haus des<br />
Sowjets <strong>in</strong> Moskau – e<strong>in</strong> Jahr später<br />
verlässt Teffy die Stadt und macht<br />
sich mit Freunden und Kollegen<br />
nach Süden auf<br />
im Jahr 1900 verließ sie ihre Familie,<br />
wundersamerweise ohne damit Skandal<br />
<strong>zu</strong> erregen, und schloss sich <strong>zu</strong>erst <strong>in</strong> Petersburg,<br />
dann <strong>in</strong> Moskau als Schriftsteller<strong>in</strong><br />
den Kreisen liberaler Künstler und<br />
Journalisten an. Gleichzeitig legte sie sich<br />
e<strong>in</strong>en neuen Namen <strong>zu</strong>: „Teffy“. Unter<br />
diesem Pseudonym schrieb sie Romane,<br />
Theaterstücke und Gedichte, mit „Teffy“<br />
unterzeichnete sie auch ihre Feuilletons,<br />
für die sie alsbald im Zarenreich berühmt<br />
wurde. Mit Leo Tolstoi war sie befreundet,<br />
von Wladimir Iljitsch Len<strong>in</strong> heißt es,<br />
dass er ihre Texte schätzte.<br />
Als Teffy sich im Jahr 1918 <strong>in</strong>mitten<br />
der Wirren der Russischen Revolution<br />
mit e<strong>in</strong>em Trüppchen von Autoren,<br />
Schauspieler<strong>in</strong>nen, Sängern und Impresarios<br />
aus Moskau <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Lesereise<br />
Foto: Eastblockworld.com<br />
138<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
nach Süden, <strong>in</strong> die Ukra<strong>in</strong>e, aufmacht,<br />
führt sie nicht mehr als e<strong>in</strong>e Truhe voller<br />
Kleidungsstücke mit sich. Und natürlich<br />
e<strong>in</strong>e stattliche Summe Geldes: Als<br />
von allen Bevölkerungsschichten gelesene,<br />
höchst populäre Schriftsteller<strong>in</strong><br />
(e<strong>in</strong> Parfüm war nach ihr benannt worden,<br />
ebenso e<strong>in</strong>e Bonbonsorte) hatte sie<br />
immer gut verdient. Dass am Ende dieser<br />
Reise allerd<strong>in</strong>gs der Abschied von Russland<br />
stehen könnte, war weder ihren Reisegefährten<br />
noch ihr selbst <strong>in</strong> Moskau <strong>in</strong><br />
den S<strong>in</strong>n gekommen.<br />
„Die Revolution ist Aufschrei und<br />
Pfeifen. / Das Unterste ist hervorgebrochen.<br />
/ Hat alles überrannt. Tanzt.“ So<br />
lautete Teffys Revolutionsbilanz, nachdem<br />
sie mit e<strong>in</strong>em Dampfer von Noworossijsk<br />
am Schwarzen Meer via Konstant<strong>in</strong>opel<br />
schließlich nach Paris, ihrem<br />
Lebenszentrum für die nächsten 30 Jahre,<br />
gelangt war. Ihren Reisebeobachtungen<br />
selbst aber, die der schöne und kenntnisreich<br />
kommentierte Band „Champagner<br />
aus Teetassen“ versammelt, war von<br />
Bitterkeit oder Schrecken noch kaum etwas<br />
an<strong>zu</strong>merken. Denn Teffy warf offenkundig<br />
nicht nur nichts so schnell aus der<br />
Bahn – sie war vor allem e<strong>in</strong>e begnadete<br />
Humorist<strong>in</strong>.<br />
Diese Gabe allerd<strong>in</strong>gs konnte sie auf<br />
ihrer Reise auch gut gebrauchen: Immer<br />
wieder sitzt die Reisegesellschaft fest,<br />
weil ihr Papiere <strong>zu</strong>m Grenzübertritt,<br />
dann für die Schiffspassage fehlen, immer<br />
neue Repräsentanten immer anderer<br />
Machthaber – Revolutionäre, „Weiße“,<br />
deutsche oder französische Militärs –<br />
verlangen Bestechungsgelder oder auch<br />
materielle Gegenleistungen für ihre Hilfe.<br />
Dann müssen Teffy und ihre Freunde <strong>in</strong><br />
<strong>zu</strong>gigen Baracken vor Bauern und Soldaten<br />
auftreten oder spontan e<strong>in</strong>en Abend<br />
<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em Stadttheater organisieren.<br />
Dass gerade die Ukra<strong>in</strong>e <strong>zu</strong>m attraktiven<br />
Reiseziel der Künstler wird, hat damit<br />
<strong>zu</strong> tun, dass das Land 1918 kurzzeitig<br />
autonom geworden ist. In Kiew, so<br />
e<strong>in</strong> Gerücht, könne man das Leben, das<br />
man aus Moskau gewohnt ist, fortführen:<br />
Hier herrsche ke<strong>in</strong> Mangel, weder<br />
an Schokolade noch an Champagner,<br />
hier versammle sich überdies die Künstlerszene<br />
und lebe vergnügt, als habe es<br />
die Revolution gar nicht gegeben. In der<br />
Realität freilich zeichnet sich der große<br />
Umsturz dann auch hier deutlich ab. Als<br />
„Ich b<strong>in</strong> Adliger<br />
und Gutsbesitzer<br />
und habe im<br />
ganzen Leben<br />
noch nie<br />
gearbeitet – ich<br />
arbeite nicht<br />
und werde<br />
nie arbeiten.<br />
Niemals! Merken<br />
Sie sich das!“<br />
e<strong>in</strong> revolutionärer Kulturkommissar die<br />
Künstler auf e<strong>in</strong>em Bahnhof abfängt,<br />
fällt an ihm <strong>zu</strong>nächst nur auf, dass er<br />
mit der L<strong>in</strong>ken fortwährend se<strong>in</strong>e rutschende<br />
Hose hochzieht und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
riesigen Pelz unterwegs ist. Erst als er<br />
sich umdreht, bemerken die Reisenden<br />
das E<strong>in</strong>schussloch zwischen den Schulterblättern,<br />
an dessen Rändern noch Blut<br />
klebt – Morde quasi im Vorübergehen,<br />
aus Gier nach Schmuck oder erlesenen<br />
Kleidungsstücken, s<strong>in</strong>d an der Tagesordnung,<br />
Tötungen von „Verrätern“ sowieso.<br />
Als die Künstler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schtetl unterkommen,<br />
<strong>werden</strong> sie zwar (gegen gutes<br />
Geld) noch ausreichend verpflegt. Das <strong>in</strong><br />
jedem Satz wiederkehrende Mantra des<br />
Hausherrn jedoch lautet: „Aber was wird<br />
weiter?“<br />
Insgesamt aber reiht Teffys Reiseerzählung<br />
e<strong>in</strong>e absurde Situation <strong>in</strong> der<br />
Kampfzone zwischen Roten, Weißen und<br />
europäischen Interventionsmächten an<br />
die nächste. Der Höhepunkt sche<strong>in</strong>t erreicht,<br />
wenn die hochmögenden Passagiere<br />
e<strong>in</strong>es verlassenen Schiffes, um von<br />
Odessa nach Noworossijsk <strong>zu</strong> gelangen,<br />
dieses erst <strong>in</strong>stand setzen und dann Kohlen<br />
schleppen oder an Deck Fische schuppen<br />
müssen. „Sollen etwa … alle arbeiten?“,<br />
fragt e<strong>in</strong>er entsetzt. Warum er<br />
nicht mit anpacke, wird e<strong>in</strong> anderer angeherrscht.<br />
„Aus dem Grund, dass ich<br />
Adliger und Gutsherr b<strong>in</strong>“, brüllt der<br />
stämmige 40-Jährige aufgebracht <strong>zu</strong>rück,<br />
„und im ganzen Leben noch nie<br />
gearbeitet habe, nicht arbeite und nicht<br />
arbeiten werde. Niemals! Schreiben Sie<br />
sich das h<strong>in</strong>ter die Ohren!“<br />
Dass die Russische Revolution gute<br />
Gründe hat – die eben noch herrschende<br />
Klasse, die sich hier auf ihrer Odyssee<br />
quer durchs Land mit Geld und F<strong>in</strong>digkeit<br />
<strong>in</strong> Sicherheit <strong>zu</strong> br<strong>in</strong>gen versucht,<br />
macht es mit ihrem Verhalten selbst deutlich.<br />
Die Revolutionäre aber, auf die Teffy<br />
trifft, wachsen dem Leser auch nicht gerade<br />
ans Herz: Gier und Gewalttätigkeit,<br />
groteske Unbildung, Willkür und schiere<br />
Mordlust zeichnen sie aus. Unverkennbar<br />
ist es der Blick e<strong>in</strong>er Aristokrat<strong>in</strong>, der all<br />
dies erfasst: e<strong>in</strong>er Frau, die mit der <strong>junge</strong>n,<br />
schönen Schauspieler<strong>in</strong> Olenuschka<br />
wie selbstverständlich <strong>in</strong>s <strong>Deutsche</strong> fällt –<br />
sie sagen e<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> putzigem S<strong>in</strong>gsang<br />
Grammatikregeln auf –, um sich auf die<br />
Begegnung mit e<strong>in</strong>em deutschen Offizier<br />
vor<strong>zu</strong>bereiten, der ihnen Papiere für die<br />
Weiterreise beschaffen soll; e<strong>in</strong>er Frau<br />
aber auch, die sich freiwillig meldet, um<br />
<strong>in</strong> Ballkleid und silbernen Schuhen das<br />
Deck ihres Fluchtschiffs <strong>zu</strong> scheuern<br />
(„me<strong>in</strong> schönster Jugendtraum!“). Zu ihrer<br />
Überraschung stellt sich freilich heraus:<br />
Sie kann es nicht.<br />
In der ersten Klasse war Teffy losgefahren,<br />
im Güterwaggon beendet sie ihre<br />
Reise, die durch kle<strong>in</strong>e Städte erst nach<br />
Kiew, von dort nach Odessa, dann nach<br />
Jekater<strong>in</strong>odar, Rostow und Kislowodsk<br />
geführt hatte und schließlich auf e<strong>in</strong>er<br />
Holzbank im Badezimmer e<strong>in</strong>es knapp<br />
seetüchtigen Schiffes nach Noworossijsk<br />
endet. „Jetzt nach Petersburg <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren,<br />
ist schwierig, fahren Sie erst<br />
e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>s Ausland“, rät man ihr. „Im<br />
Frühl<strong>in</strong>g kehren Sie dann <strong>zu</strong>rück <strong>in</strong> die<br />
Heimat.“<br />
Doch daraus wurde nichts, wie wir<br />
wissen. Teffy blieb <strong>in</strong> Paris und schrieb<br />
ihre Er<strong>in</strong>nerungen an den Abschied von<br />
Russland auf: Selbst im Exil erschienen<br />
ihr die Wirren der Revolution als burleske<br />
Farce. Frauke Meyer-Gosau<br />
Teffy<br />
„Champagner aus Teetassen“<br />
Aus dem Russischen von Ganna-Maria<br />
Braungardt<br />
Aufbau, Berl<strong>in</strong> 2014. 285 S., 19,95 €<br />
139<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
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Abs. 2 Nr. 1 EGBGB. Zur Wahrung der Frist genügt bereits das rechtzeitige Absenden Ihres e<strong>in</strong>deutig erklärten Entschlusses,<br />
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DREI<br />
Roman<br />
<strong>Wie</strong> gut schmeckt<br />
der Westen?<br />
<strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs erzählt<br />
von sechs Wende-<br />
Schicksalen aus der DDR<br />
Anne Liebert flieht vor 1989 mit ihrer<br />
Mutter aus der DDR, der Vater<br />
bleibt <strong>zu</strong>rück. Zwar ist sich das<br />
K<strong>in</strong>d gleich nach der Ankunft sicher, „der<br />
Westen schmeckt gut“, doch ihre Hoffnungen<br />
erfüllen sich nicht. Auch als Erwachsene,<br />
nach Berl<strong>in</strong> <strong>zu</strong>rückgekehrt,<br />
schlägt Anne sich mühsam durch – der<br />
Leser stöhnt, wenn sie <strong>in</strong> ihrem Pflegejob<br />
endlich den letzten Alten verpflegt und<br />
die letzte Wohnung geputzt hat.<br />
Bedrückung ist die vorherrschende<br />
Stimmung <strong>in</strong> „Nachbarn“. Von 1998 bis<br />
2006 verfolgt die 1980 <strong>in</strong> Karl-Marx-<br />
Stadt geborene <strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs hier<br />
das Schicksal von sechs Menschen nach<br />
der Wende. Alle suchen sie nach etwas<br />
Neuem, all ihre Wünsche s<strong>in</strong>d eng mit<br />
ihren Erfahrungen <strong>in</strong> der DDR verwoben.<br />
Mit e<strong>in</strong>em fe<strong>in</strong>en Gespür für die unterschiedlichen<br />
Charaktere beschreibt<br />
Prahs deren Befreiungsversuche, und<br />
nach und nach erschließen sich die Figuren,<br />
ohne dass jedoch e<strong>in</strong>e tiefere Nähe<br />
<strong>zu</strong> ihnen entstünde.<br />
Da sie aber alle im Kampf um mehr<br />
Leichtigkeit <strong>in</strong> ihrem Leben an e<strong>in</strong>en<br />
Wendepunkt gelangen, schaut man ihnen<br />
bei diesen persönlichen Wende-Manövern<br />
gern <strong>zu</strong>. Und selbst Annes Dase<strong>in</strong><br />
wird schließlich e<strong>in</strong>facher: Ihre aus<br />
der Not geborene Idee, die kle<strong>in</strong>e Tochter<br />
Marie bei e<strong>in</strong>em ihrer Pflegepatienten<br />
<strong>in</strong> Obhut <strong>zu</strong> geben, erweist sich als<br />
Glücksfall. Zwischen dem alten, wortkargen<br />
Säufer Fritzsche und der still-trotzigen<br />
Marie nämlich entwickelt sich e<strong>in</strong>e<br />
Freundschaft – und auf e<strong>in</strong>mal gibt es<br />
doch noch Zuversicht. Raphaela Sabel<br />
<strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs<br />
„Nachbarn“<br />
dtv, München 2014. 352 S., 19,90 €<br />
<strong>Cicero</strong> Test
Wirtschaftsbuch<br />
Der falsche<br />
Prophet<br />
Auch auf Deutsch<br />
enttäuscht Thomas Pikettys<br />
„Kapital“ se<strong>in</strong>e Leser<br />
In Frankreich wurde das Buch nicht<br />
übermäßig beachtet. E<strong>in</strong>e Kritik der<br />
wachsenden Vermögensungleichheit,<br />
wie sie Thomas Piketty, Ökonomieprofessor<br />
und Berater der Sozialisten, geschrieben<br />
hat, ist unter Pariser Intellektuellen<br />
ke<strong>in</strong>e Seltenheit. Erst <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten<br />
Staaten, dem Kapitalismus-Land par excellence,<br />
gelang Piketty der Durchbruch.<br />
Über Nacht wurde der 43-Jährige <strong>zu</strong>m<br />
„Rockstar-Ökonomen“, se<strong>in</strong> Werk „Das<br />
Kapital im 21. Jahrhundert“ stieß e<strong>in</strong>e<br />
breite Debatte an. 300 000 Exemplare<br />
vom „neuen Marx“ wurden verkauft.<br />
Gelesen hat den Wälzer offenbar kaum<br />
e<strong>in</strong>er, wie die spärlich gesetzten Lesezeichen<br />
<strong>in</strong> E-Books offenbarten.<br />
Auch <strong>in</strong> Deutschland <strong>werden</strong> Leser<br />
enttäuscht se<strong>in</strong>, die sich e<strong>in</strong>e feurige Anklage<br />
des Kapitalismus erhoffen. Der ruhige,<br />
sachliche Tonfall ist mitunter ermüdend.<br />
Statt wie Marx wortmächtig e<strong>in</strong><br />
Todesurteil über den Kapitalismus <strong>zu</strong><br />
sprechen, referiert Piketty auf Hunderten<br />
von Seiten E<strong>in</strong>kommens- und Vermögensverteilungen.<br />
Dar<strong>in</strong> liegt die große<br />
Stärke se<strong>in</strong>er Forschung. Sie stützt sich<br />
auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige Datenbasis über<br />
Vermögen und E<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Handvoll Industriestaaten, die Piketty<br />
mit Kollegen <strong>zu</strong>sammengetragen hat.<br />
<strong>Wie</strong> viel Vermögen gibt es überhaupt?<br />
Im 18. und 19. Jahrhundert betrug<br />
der Gesamtwert aller Kapitalien nach Pikettys<br />
Berechnung <strong>in</strong> England und Frankreich<br />
etwa das Siebenfache der jährlichen<br />
Wirtschaftsleistung, des BIP. Zu e<strong>in</strong>em<br />
tiefen E<strong>in</strong>bruch führten die Weltkriege,<br />
Inflation und Wirtschaftskrise. Von diesen<br />
Schocks erholten sich die Vermögen<br />
nach 1945 nur schleppend; seit den siebziger<br />
Jahren s<strong>in</strong>d sie deutlicher gestiegen<br />
und liegen heute beim Fünf- bis Sechsfachen<br />
des BIP. Ger<strong>in</strong>ger ist das Vermögen<br />
der <strong>Deutsche</strong>n. Immobilien <strong>werden</strong><br />
SALON<br />
Literaturen<br />
nämlich hier<strong>zu</strong>lande weniger hoch bewertet,<br />
und im rhe<strong>in</strong>ischen Kapitalismus<br />
sorgt die gewerkschaftliche Mitbestimmungsmacht<br />
für ger<strong>in</strong>gere Börsenbewertungen<br />
der Konzerne.<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Entwicklung zeichnet<br />
Piketty bei der Vermögenskonzentration<br />
nach. War sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert<br />
extrem hoch, so litten die Vermögen<br />
der Reichen unter den multiplen<br />
Schocks von Krieg, Inflation und Rezession<br />
sowie seit den Vierzigern unter sehr<br />
hoher Besteuerung. Seit den siebziger<br />
Jahren steigt die Vermögenskonzentration<br />
wieder. Allerd<strong>in</strong>gs ist sie noch weit<br />
von der extremen Ungleichheit im Jahr<br />
1910 entfernt, wie Piketty mehrmals betont.<br />
Nun glaubt er an e<strong>in</strong>e weiter steigende<br />
Konzentration im 21. Jahrhundert.<br />
Diese Prognose basiert auf unsicheren<br />
Annahmen, wie Piketty <strong>zu</strong>geben<br />
muss. Im 20. Jahrhundert lag das reale<br />
Wirtschaftswachstum entgegen Pikettys<br />
Annahmen viele Jahrzehnte höher als die<br />
Kapitalrenditen. Es ist vorstellbar, dass<br />
im 21. Jahrhundert die Kapitalrenditen<br />
sehr niedrig liegen <strong>werden</strong>, wie es die<br />
extrem niedrigen Z<strong>in</strong>sen andeuten. Der<br />
Grund dafür könnte neben der ultralockeren<br />
Geldpolitik die enorme Ersparnis<br />
der alternden Gesellschaften se<strong>in</strong>. Kapital<br />
gibt es bald im Überfluss, dagegen<br />
wird der Faktor Arbeit knapp – mith<strong>in</strong><br />
müssten die Löhne relativ steigen.<br />
Das Buch mündet <strong>in</strong> radikale Forderungen<br />
nach e<strong>in</strong>er steil progressiven<br />
E<strong>in</strong>kommensteuer mit e<strong>in</strong>em Spitzensatz<br />
von 80 Prozent und e<strong>in</strong>er Vermögensabgabe<br />
von bis <strong>zu</strong> 10 Prozent jährlich: faktisch<br />
e<strong>in</strong>e schrittweise Enteignung der<br />
ganz großen Vermögen. Wünschenswert<br />
sei e<strong>in</strong>e globale Vermögensabgabe.<br />
Da diese utopisch ist, müsse Europa voranschreiten,<br />
fordert Piketty. In Frankreich<br />
hat Präsident Hollande – auch unter<br />
dem E<strong>in</strong>fluss von Beratern wie Piketty –<br />
bereits e<strong>in</strong>e 75-Prozent-Reichensteuer<br />
e<strong>in</strong>geführt, die Investoren <strong>in</strong> die Flucht<br />
treibt. Das Land liegt ökonomisch am<br />
Boden. Deutschland sollte nicht falschen<br />
Propheten folgen. Philip Plickert<br />
Thomas Piketty<br />
„Das Kapital im 21. Jahrhundert“<br />
Aus dem Französischen von Ilse Utz<br />
und Stefan Lorenzer<br />
C. H. Beck, München 2014. 816 S., 29,95 €<br />
141<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014<br />
VSF&P<br />
BES<br />
Literarisches Trio<br />
Antje Kunstmann<br />
Tickets unter:<br />
030 28 408 155<br />
LER<br />
Sechs Bücher und e<strong>in</strong> Gast<br />
Literaturen-Redakteur<strong>in</strong> Frauke<br />
Meyer-Gosau und Literaturkritiker Jörg<br />
Magenau diskutieren mit der Verle ger<strong>in</strong><br />
Antje Kunstmann über literarische Neuersche<strong>in</strong>ungen<br />
dieses Jahres:<br />
Über Herta Müllers Er<strong>in</strong>nerungsband<br />
„Me<strong>in</strong> Vaterland war e<strong>in</strong> Apfelkern“ und<br />
Teffys „Champagner aus Tee tassen.<br />
Me<strong>in</strong>e letzten Tage <strong>in</strong> Russland“.<br />
Zum Schluss geben die Teilnehmer des<br />
Trios noch drei aktuelle Literaturkurztipps<br />
ab.<br />
Mittwoch, 19. November 2014, 20 Uhr,<br />
Literaturforum im Brecht-Haus,<br />
Chausseestraße 125, 10115 Berl<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>tritt 5 €/3 € an der Abendkasse,<br />
ke<strong>in</strong> Kartenvorverkauf<br />
In Kooperation mit:<br />
Literaturforum<br />
im Brecht-Haus<br />
LEST<br />
© Thomas Dashuber<br />
MiTTwoch,<br />
19. NoveMber,<br />
20 Uhr<br />
cicero.de
SALON<br />
Literaturen<br />
Roman<br />
Das Herz <strong>in</strong> der Schwitztonne<br />
Sofi Oksanens neuer Roman ist e<strong>in</strong> Lehrstück über Propaganda,<br />
Kollaboration und Widerstand<br />
Die Rote Armee zieht ab, doch Juudits<br />
Angst bleibt. Im Tall<strong>in</strong>n von<br />
1941 denkt die <strong>junge</strong> Est<strong>in</strong> mit<br />
Bangen an die Zukunft. Sie will nicht <strong>zu</strong>rück<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Leben mit ihrem Ehemann<br />
Edgar, der sie im Bett wegschiebt „wie<br />
e<strong>in</strong>e Portion verdorbenen Essens“. Noch<br />
ist die estnische Stadt „voller Wunden“,<br />
auf den Landstraßen liegen die Leichen<br />
der Rotarmisten, Splitter knirschen unter<br />
den Sohlen, Papiere fliegen durch die<br />
Luft – Geschichten von Versehrung und<br />
Verwüstung erzählt Sofi Oksanen <strong>in</strong> ihrem<br />
neuen Roman. Der Schauplatz ist e<strong>in</strong><br />
besetztes Land: Mal heißt es Estnische<br />
Sozialistische Sowjetrepublik, dann Generalkommissariat<br />
Estland, dann wieder<br />
Estnische SSR – nach der Besat<strong>zu</strong>ng ist<br />
vor der Besat<strong>zu</strong>ng.<br />
Nachdem die Sowjets <strong>zu</strong>rückgedrängt<br />
s<strong>in</strong>d, übernehmen die <strong>Deutsche</strong>n<br />
die Kontrolle. Juudit wendet den Blick ab,<br />
als e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong> Hitler-Bild <strong>in</strong>s Schaufenster<br />
ihres Knopfladens stellt; darunter<br />
steht: „Hitler, der Befreier“. Die Wirklichkeit<br />
sieht anders aus. Mit der Wehrmacht<br />
kommt neuer Terror – und die<br />
Tauben verschw<strong>in</strong>den: Die deutschen<br />
Soldaten verspeisen die Tiere.<br />
„Hitler, der<br />
Befreier “ steht<br />
auf dem Bild<br />
des Diktators<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Schaufenster<br />
Sofi Oksanen, geboren 1977, ist<br />
Tochter e<strong>in</strong>er Est<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>es F<strong>in</strong>nen. Furore<br />
machte sie mit ihrem Roman „Fegefeuer“<br />
– ihr drittes Buch bewirbt der Verlag<br />
nun als die „literarische Sensation des<br />
Jahres“. Zu Recht?<br />
Der Roman spielt zwischen 1941<br />
und 1966, im Zentrum stehen vier Menschen:<br />
Juudit, ihr Mann Edgar Parts, dessen<br />
Cous<strong>in</strong> Roland Simson und der Nazi<br />
Hellmuth Hertz; mit ihm, dem SS-Hauptsturmführer,<br />
beg<strong>in</strong>nt Juudit e<strong>in</strong>e Liaison.<br />
<strong>Wie</strong> <strong>in</strong> Oksanens früheren Büchern gibt<br />
es auch hier Zeitsprünge, wieder wird<br />
aus der Perspektive verschiedener Protagonisten<br />
erzählt – so erleben die Leser<br />
die Figuren aus mehreren Blickw<strong>in</strong>keln:<br />
Hellmuth ist e<strong>in</strong>mal der zärtliche Geliebte<br />
und dann wieder e<strong>in</strong> Mann, „der<br />
ebenso unbekümmert <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> Austern<br />
schlürfen wie im Ostland Todesbefehle<br />
erteilen“ kann.<br />
Zweifellos ist all dies geschickt arrangiert,<br />
doch bleiben die Figuren leider<br />
flach: Sie s<strong>in</strong>d Typen, die sich kaum verändern.<br />
Edgar etwa ersche<strong>in</strong>t als der geborene<br />
Spitzel, karrieregeil, opportunistisch<br />
und kaltblütig – je nach politischer<br />
Lage wechselt er Identität und Ideologie.<br />
Er fälscht die Geschichte für offizielle<br />
Schriften, verdrängt se<strong>in</strong>e homosexuellen<br />
Neigungen und lebt so auch privat<br />
e<strong>in</strong>e Lüge. Heute verrät er Menschen an<br />
die deutschen Besatzer, morgen an die<br />
Bolschewiken – e<strong>in</strong> durchtriebener, aber<br />
durchschaubarer Bösewicht.<br />
Auch die Rolle se<strong>in</strong>es Gegenspielers<br />
Roland ist klar umrissen: Der Freiheitskämpfer<br />
träumt von e<strong>in</strong>em unabhängigen<br />
Estland. Zudem sucht er den Mörder se<strong>in</strong>er<br />
Frau (was dem Buch manchmal den<br />
Hauch e<strong>in</strong>es Thrillers gibt). 1941 wirft<br />
Roland Handgranaten auf das Vernichtungsbataillon<br />
der Roten Armee, watet<br />
durch „Leichenteile und <strong>zu</strong>ckende Gliedmaßen“.<br />
Später, während der deutschen<br />
Besat<strong>zu</strong>ng, schleust er Flüchtl<strong>in</strong>ge aus<br />
dem Land. Nur Juudit, die sich zwischen<br />
Besetzten und Besatzern bewegt, zeigt<br />
verschiedene Facetten. Sie verstrickt sich<br />
<strong>in</strong> Abhängigkeiten, verfällt dem Alkohol<br />
und bekommt durch den SS-Hauptsturmführer<br />
Zugang <strong>zu</strong> den Zirkeln der<br />
Macht; ihre Privilegien: „Köch<strong>in</strong>, Dienstmädchen<br />
und Chauffeur, Opel und Seidenkleider,<br />
Schuhe mit Ledersohlen, Brot<br />
ohne Sägemehl“. Nach außen bleibt sie<br />
die Ehefrau Edgars und agiert <strong>zu</strong>dem als<br />
Rolands rechte Hand, <strong>in</strong>dem sie Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
versteckt. Gelegentlich fragt sie<br />
sich allerd<strong>in</strong>gs, ob sie den Versprechungen<br />
der <strong>Deutsche</strong>n im H<strong>in</strong>blick auf die<br />
Unabhängigkeit Estlands noch glaubt –<br />
schließlich hat sie ja gehört, was unter<br />
den Besatzern „geredet wurde: Neunhunderttausend<br />
können nicht als selbstständiger<br />
Staat überleben, das <strong>werden</strong><br />
die wohl noch selbst kapieren.“<br />
So erleben wir hier e<strong>in</strong>en Staat im<br />
Klammergriff fremder Gewalten: Oksanen<br />
zeichnet das Porträt Estlands<br />
unter sowjetischem und nationalsozialistischem<br />
Terror. Dar<strong>in</strong> ist das Buch politisch<br />
brisant, literarisch jedoch ist es leider<br />
ke<strong>in</strong>e Sensation. Der Grund liegt <strong>in</strong><br />
der zwar oft s<strong>in</strong>nlichen, aber nur selten<br />
subtilen Sprache: „Mir war so heiß, als<br />
wäre me<strong>in</strong> Herz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schwitztonne gesperrt“,<br />
heißt es da etwa. Gleichwohl liefert<br />
„Als die Tauben verschwanden“ e<strong>in</strong><br />
Lehrstück über Propaganda, Kollaboration<br />
und Widerstand: Oksanen legt die<br />
Wunden europäischer Geschichte frei<br />
und vermittelt uns e<strong>in</strong> Gefühl dafür, was<br />
es bedeutet, wenn die Niederlage e<strong>in</strong>es<br />
Kriegsgegners ke<strong>in</strong>e Freiheit br<strong>in</strong>gt, sondern<br />
nur neue Furcht. Carmen Eller<br />
Sofi Oksanen<br />
„Als die Tauben verschwanden“<br />
Aus dem F<strong>in</strong>nischen von Angela Plöger,<br />
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 432 S., 19,99 €<br />
142<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
WELT.DE/NEU<br />
Die Welt gehört denen,<br />
die Hirn haben<br />
und Stirn bieten.DOROTHEA<br />
SIEMS,<br />
REDAKTEURIN
SALON<br />
MAREN<br />
Die letzten 24 Stunden<br />
Freibad und<br />
Champagner<br />
und jede Menge<br />
Klartext<br />
Maren Kroymann<br />
KROYMANN<br />
Die Schauspieler<strong>in</strong> und<br />
Sänger<strong>in</strong> brachte e<strong>in</strong>st<br />
als „Nachtschwester<br />
Kroymann“ frauenbewegten<br />
Humor <strong>in</strong> die ARD. „In my<br />
Sixties“ heißt ihr aktuelles<br />
Konzertprogramm<br />
Me<strong>in</strong> gesamtes Leben ist<br />
von Deadl<strong>in</strong>es geprägt:<br />
Ich muss bis <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em<br />
bestimmten Term<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Rolle draufhaben, e<strong>in</strong><br />
Liederprogramm e<strong>in</strong>studiert oder e<strong>in</strong><br />
Statement formuliert haben. Den Tod<br />
stelle ich mir als die ultimative Deadl<strong>in</strong>e<br />
vor.<br />
Ich kann die Konzentration davor<br />
genießen, ohne die Performance liefern<br />
<strong>zu</strong> müssen – als ob man sich vorbereitet<br />
hat, und plötzlich fällt die Aufführung<br />
aus. Ungeachtet aller Vorfreude schw<strong>in</strong>gt<br />
e<strong>in</strong> Quäntchen Erleichterung mit. Ob<br />
man die auch verspürt, wenn der Tod<br />
naht? Dass der ganze Stress jetzt endlich<br />
vorbei ist?<br />
Auf Neues oder Lautes würde ich an<br />
me<strong>in</strong>em letzten Tag verzichten. Die Experimente<br />
und Partynächte liegen h<strong>in</strong>ter<br />
mir. E<strong>in</strong>e schwäbische Butterbrezel<br />
freilich ist auf jeden Fall dabei. Im Unterschied<br />
<strong>zu</strong>r bayerischen Brezel ist sie<br />
oben sehr dunkel und knusprig, der Teig<br />
spr<strong>in</strong>gt unten weit auf und öffnet den<br />
Blick <strong>in</strong> ihr Inneres. Trotz des unschuldigen<br />
Charakters dieses Backwerks ruft<br />
das natürlich Assoziationen an das weibliche<br />
Geschlechtsteil hervor, die mir als<br />
lesbischer Frau nicht unlieb s<strong>in</strong>d.<br />
Neben Sex ist auch Essen e<strong>in</strong> Genuss,<br />
der den Augenblick feiert und sich <strong>in</strong> sich<br />
selbst erfüllt. E<strong>in</strong> schönes Essen macht<br />
mich immer glücklich. Ebenso wird es<br />
bei me<strong>in</strong>er Dernière se<strong>in</strong>, <strong>zu</strong>mal ich nicht<br />
weiß, welche anderen s<strong>in</strong>nlichen Vergnügungen<br />
mir – ich denke, ich werde erst im<br />
hohen Alter das Zeitliche segnen – sonst<br />
offenstehen. Ich werde mir e<strong>in</strong>e anständige<br />
Portion Schlagsahne genehmigen,<br />
am besten auf frischen Erdbeeren, die ich<br />
mit e<strong>in</strong> paar engen Freunden verspeise,<br />
denen ich außerdem e<strong>in</strong>en Salat aus weißem<br />
und grünem Spargel <strong>zu</strong>bereite.<br />
Insofern wäre Samstag e<strong>in</strong> günstiger<br />
Sterbetag, weil da der Wochenmarkt<br />
nahe me<strong>in</strong>er Berl<strong>in</strong>er Wohnung<br />
stattf<strong>in</strong>det. Ich hoffe auf sonniges Wetter,<br />
um <strong>in</strong>s Freibad gehen <strong>zu</strong> können. Dort<br />
würde ich alles aus mir herausholen, so<br />
lange wie möglich kraulen, mich dann<br />
erschöpft auf die heißen Ste<strong>in</strong>e am Beckenrand<br />
legen, die Arme ausbreiten<br />
und <strong>in</strong> den blauen Himmel <strong>zu</strong> den Wolken,<br />
Vögeln, Flugzeugen aufblicken, wie<br />
früher als K<strong>in</strong>d.<br />
Obwohl ich kurz vor dem Tod auf<br />
Harmonie bedacht b<strong>in</strong>, möchte ich trotzdem<br />
e<strong>in</strong> letztes Mal die kämpferische und<br />
unverbesserliche Emanze geben. Mit e<strong>in</strong>igen<br />
Mitstreiter<strong>in</strong>nen würde ich e<strong>in</strong><br />
Fernsehstudio kapern und für e<strong>in</strong> paar<br />
M<strong>in</strong>uten die ungeschm<strong>in</strong>kte Wahrheit<br />
<strong>zu</strong>m Beispiel der „Tagesschau“ unterjubeln.<br />
In me<strong>in</strong>er Satiresendung „Nachtschwester<br />
Kroymann“ hatte ich sogenannte<br />
„Klartext-Interviews“.<br />
Dieses Format frische ich nun auf,<br />
ohne mich um E<strong>in</strong>schaltquoten kümmern<br />
<strong>zu</strong> müssen. E<strong>in</strong>e ewig <strong>junge</strong> Schauspieler<strong>in</strong><br />
etwa, die e<strong>in</strong> Reporter für ihr Äußeres<br />
lobt, würde sagen: „Ke<strong>in</strong> Wunder, ich<br />
b<strong>in</strong> ja auch geliftet!“, und e<strong>in</strong> unbegabter<br />
Politiker: „Ich b<strong>in</strong> zwar faul und nicht der<br />
Hellste, aber ich sehe passabel aus, b<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> netter Kerl und ganz gut beim Tennis.<br />
Deswegen hat mich me<strong>in</strong>e Partei <strong>in</strong>s<br />
Europaparlament geschickt, und da verdient<br />
man gar nicht mal schlecht.“<br />
Vielleicht gel<strong>in</strong>gt mir ungeachtet der<br />
Aufregung bei diesem Störmanöver spätabends<br />
nach e<strong>in</strong>em Glas Champagner<br />
e<strong>in</strong>e schöne Meditation. Dann lege ich<br />
mich <strong>in</strong>s Bett und vers<strong>in</strong>ke <strong>in</strong> der Ewigkeit.<br />
Auf me<strong>in</strong> Grab soll e<strong>in</strong> Strauch mit<br />
Himbeeren oder Johannisbeeren gepflanzt<br />
<strong>werden</strong>, damit alle, die mich besuchen,<br />
etwas <strong>zu</strong>m Naschen haben.<br />
Aufgezeichnet von IRENE BAZINGER<br />
144<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
Foto: Anne Schönhart<strong>in</strong>g/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
145<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
POSTSCRIPTUM<br />
N°-11<br />
KOHL<br />
Vor ungefähr zwölf Jahren war ich<br />
e<strong>in</strong>mal mit e<strong>in</strong>em Kollegen <strong>zu</strong> Besuch<br />
beim damaligen Leiter von Helmut Kohls<br />
Altkanzlerbüro. Wir unterhielten uns<br />
schon e<strong>in</strong>e Weile, als plötzlich die Tür<br />
aufg<strong>in</strong>g und Kohl höchstpersönlich <strong>in</strong>s<br />
Zimmer kam. Ich hatte ihn bis dah<strong>in</strong> nur<br />
e<strong>in</strong> paar Mal von weitem gesehen; aus der<br />
Nähe wirkte se<strong>in</strong>e imposante Figur zwar<br />
immer noch gewaltig, aber alles andere als<br />
grobschlächtig. Se<strong>in</strong> Büroleiter machte<br />
ihm gleich den Stuhl am Schreibtisch<br />
frei – auch im Zimmer e<strong>in</strong>es Mitarbeiters<br />
beanspruchte Kohl offenbar aus e<strong>in</strong>em<br />
natürlichen Macht<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt heraus stets den<br />
wichtigsten Platz.<br />
Dann hielt uns Helmut Kohl frohgemut<br />
und ohne jeden Dünkel e<strong>in</strong> etwa<br />
anderthalbstündiges Privatissimum, <strong>in</strong><br />
dessen Verlauf die große Weltpolitik<br />
genauso vorkam wie drollige Episoden<br />
aus se<strong>in</strong>er Zeit als rhe<strong>in</strong>land-pfälzischer<br />
M<strong>in</strong>isterpräsident. Als ihm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Erzählfluss irgende<strong>in</strong> Detail nicht mehr<br />
e<strong>in</strong>fiel, ließ er sich umgehend am Telefon<br />
mit se<strong>in</strong>em alten Weggefährten Eduard<br />
Ackermann verb<strong>in</strong>den, den er mit dem<br />
Spitznamen „Carbonara“ ansprach und<br />
um Gedächtnisstütze bat. Carbonara<br />
konnte helfen, Kohl erzählte weiter. Es<br />
war e<strong>in</strong>e höchst denkwürdige, lehrreiche<br />
und unvergessliche Séance, die der Altkanzler<br />
zwei <strong>junge</strong>n und noch da<strong>zu</strong> ihm<br />
völlig unbekannten Journalisten e<strong>in</strong>fach<br />
so aus e<strong>in</strong>er Laune heraus bot.<br />
An e<strong>in</strong>er Stelle kam er auf e<strong>in</strong>en<br />
ziemlich bekannten und sehr altgedienten<br />
Hauptstadtkorrespondenten <strong>zu</strong> sprechen,<br />
dessen Wohnung sich im Nebenhaus von<br />
Kohls Büro befand. Helmut Kohl bezeichnete<br />
ihn – daran er<strong>in</strong>nere ich mich<br />
genau – ohne lange Umschweife als „die<br />
größte Ratte im deutschen Journalismus“.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs waren weder me<strong>in</strong> Kollege<br />
noch ich selbst darüber irgendwie schockiert.<br />
Denn uns war schnell klargeworden,<br />
dass solche spontanen Invektiven<br />
nun e<strong>in</strong>mal genauso <strong>zu</strong> Kohls Diktion<br />
gehörten wie die Flasche Pfälzer Riesl<strong>in</strong>g<br />
<strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er vormittäglichen Tour d’Horizon.<br />
Helmut Kohl ist e<strong>in</strong>er der letzten<br />
Vertreter jener Generation von Politikern,<br />
deren Schmähreden von den Gescholtenen<br />
durchaus als Kompliment verstanden<br />
<strong>werden</strong> konnten – oder <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest als<br />
Anerkennung. Das sollte jedem klar se<strong>in</strong>,<br />
der sich jetzt mit voyeuristischem Eifer<br />
über das viel zitierte Buch von Kohls<br />
geschasstem Biografen hermacht. Skandalös<br />
an dessen „Kohl-Protokollen“ ist<br />
deshalb allenfalls die Chuzpe des Verfassers,<br />
das Ganze als „Vermächtnis“ <strong>zu</strong><br />
verkaufen.<br />
ALEXANDER MARGUIER<br />
ist stellvertretender Chefredakteur<br />
von <strong>Cicero</strong><br />
DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 20. NOVEMBER<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
146<br />
<strong>Cicero</strong> – 11. 2014
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