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Cicero Judenfeind Luther (Vorschau)

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Nº04<br />

APRIL<br />

2014<br />

€ 8.50<br />

CHF 13<br />

Krim-Krise<br />

Und morgen die ganze Welt<br />

Putins neokonservativer<br />

Masterplan<br />

Geht es ohne Russengas ?<br />

Energiekommissar<br />

Günther Oettinger im Interview<br />

Feuertaufe eines Außenministers<br />

Unterwegs mit<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Die überfällige Debatte zur 500-Jahr-Feier:<br />

Die Protestantin MARGOT KÄSSMANN bezieht Position,<br />

der Kriminologe CHRISTIAN PFEIFFER führt Beweis<br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />

Spanien: 9.50 € , Finnland: 12.80 €<br />

04<br />

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ATTICUS<br />

N°-4<br />

HÄSSLICHES ERBE<br />

Titelbild: Agentur Bridgeman, Corbis; Titelmontage: <strong>Cicero</strong>; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Von den Deutschen wird gern behauptet,<br />

sie hätten bis 1989 nie eine Revolution<br />

zustande gebracht. Das stimmt nicht. Vor<br />

fast 500 Jahren hat auf deutschem Boden<br />

die größte Revolution stattgefunden, die<br />

das Abendland je gesehen hat. Sie heißt<br />

nur nicht Revolution, sondern Reformation.<br />

Ein Mönchlein namens Martin <strong>Luther</strong><br />

stand auf gegen die gesamte Kurie, stellte<br />

einen direkten Draht her zwischen den<br />

Gläubigen und dem lieben Gott, brach mit<br />

seiner Volksbibel das Lese- und damit Bildungsmonopol<br />

der Kirche. <strong>Luther</strong>s Name<br />

und die Reformation werden in Heinrich<br />

August Winklers epochaler „Geschichte<br />

des Westens“ zu Recht eine entscheidende<br />

Rolle beigemessen. Die Geschichte des<br />

Westens beginnt mit Martin <strong>Luther</strong>.<br />

Deshalb werden 500 Jahre Reformation<br />

auch nicht einfach in einem Jahr<br />

gefeiert, sondern in einer Dekade, der sogenannten<br />

<strong>Luther</strong>-Dekade, die ins Jubiläumsjahr<br />

2017 mündet. Zeit für ein würdevolles<br />

Gedenken, aber auch Zeit, über<br />

die dunkle Seite des Kirchengründers<br />

offen zu diskutieren. Dass sich <strong>Luther</strong> in<br />

seinen späten Jahren offen judenfeindlich<br />

äußerte, ist aktenkundig. Aber eine<br />

ehrliche Debatte der evangelischen Kirche<br />

über dieses hässliche Erbe steht noch<br />

aus. Margot Käßmann, die offizielle<br />

<strong>Luther</strong>-Botschafterin der EKD, stellt sich<br />

in ​<strong>Cicero</strong> als erste namhafte Protestantin<br />

dieser Debatte – im Gipfeltreffen mit<br />

dem <strong>Luther</strong>-Biografen Heinz Schilling<br />

und Walter Kardinal Brandmüller, dem<br />

langjährigen Chefhistoriker des Vatikans<br />

( ab Seite 24 ). Der Kriminologe Christian<br />

Pfeiffer weist mit der Akribie eines Ermittlers<br />

nach, dass der Antisemitismus in<br />

Deutschland besonders in protestantisch<br />

geprägten Regionen gedieh ( ab Seite 16 ).<br />

Pfeiffer, selbst Protestant, hat eine Indizienkette<br />

recherchiert, die von <strong>Luther</strong>s<br />

Schriften zum Antisemitismus der Nazizeit<br />

führt.<br />

Die Krimkrise bildet den zweiten<br />

Schwerpunkt dieses Heftes. Man muss<br />

nicht so weit gehen wie Egon Bahr, der<br />

sagte, wir lebten wieder in einer „Vorkriegszeit“.<br />

Aber das erste Mal seit Jahrzehnten<br />

gibt es in Europa wieder einen<br />

regionalen Territorialkonflikt, der weitreichende<br />

Folgen haben könnte. Was treibt<br />

Putin? Gibt es ein Muster seines Handelns,<br />

von der Schwulenfeind lichkeit bis zum<br />

Imperialismus? Der britische Journalist<br />

Owen Matthews, lange Jahre Korrespondent<br />

von Newsweek in Moskau, sieht einen<br />

Masterplan in Putins Aktivitäten von<br />

Sotschi bis zur Krimkrise ( ab Seite 52 ).<br />

Der frühere tschechische Außenminister<br />

Karel Schwarzenberg plädiert für<br />

eine harte Position des Westens: „Appeasement<br />

ist nicht das Gebot der Stunde“<br />

( ab Seite 60 ).<br />

Mit besten Grüßen<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Chefredakteur<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

16<br />

DIE DUNKLE SEITE DES REFORMATORS<br />

Martin <strong>Luther</strong>s Hass auf die Juden machten sich die<br />

Nationalsozialisten zunutze. Höchste Zeit, dass die evangelische<br />

Kirche ihre Geschichte selbstkritisch aufarbeitet<br />

Von CHRISTIAN PFEIFFER<br />

Foto: IAM/AKG Images<br />

24<br />

„ER SCHLEUDERTE KILOMETERHOCH LAVA“<br />

Heinz Schilling, Margot Käßmann<br />

und Walter Kardinal Brandmüller im Streitgespräch<br />

über <strong>Luther</strong> und die Folgen der Reformation<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

34 ZAHN UM ZAHN<br />

Bodo Ramelow will Ministerpräsident<br />

werden. Er wäre der erste<br />

Regierungschef aus der Linkspartei<br />

52 PUTINS MASTERPLAN<br />

Der russische Präsident strebt nach<br />

der rechtskonservativen Herrschaft<br />

Von OWEN MATTHEWS<br />

80 PLÜSCHVOGELS HÖHENFLUG<br />

Sky-Manager Brian Sullivan beweist:<br />

Pay-TV in Deutschland funktioniert<br />

Von THOMAS SCHULER<br />

Von MERLE SCHMALENBACH<br />

36 DER POLITIKDARSTELLER<br />

Der Schauspieler Charles M. Huber, der<br />

Bundestag und die CDU: eine Komödie<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

56 DIE STUNDE DER<br />

EUROPÄISCHEN UNION<br />

In der Krimkrise kann sich der<br />

Westen einen und seine Stärke zeigen<br />

Von JUDITH HART<br />

82 FÜR PÄPSTE UND BARBIESAMMLER<br />

Jan Paschens Bücherregale stehen<br />

im Vatikan und bei Altkanzlern<br />

Von FLORIAN FELIX WEYH<br />

38 PAPST HÖRT PUNK<br />

Peter Tauber, Yasmin Fahimi, Andreas<br />

Scheuer – die Generalsekretäre<br />

der Regierungsparteien sind ein<br />

faszinierendes Trio der Gegensätze<br />

Von WULF SCHMIESE, CHRISTOPH SEILS UND<br />

ANDREAS THEYSSEN<br />

45 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… was an Gutmenschen<br />

schlecht sein soll<br />

Von AMELIE FRIED<br />

46 RAUS AUS DEM TUNNEL<br />

Unterwegs mit Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Von WERNER SONNE<br />

58 SPIELBALL DER MÄCHTIGEN<br />

Die Geschichte der Krim begann nicht<br />

mit der Eroberung durch Russland<br />

Von GWENDOLYN SASSE<br />

60 „ES GIBT IMMER LEUTE, DIE<br />

DIE HOSEN VOLLHABEN“<br />

Der frühere Außenminister Karel<br />

Schwarzenberg will eine starke EU<br />

Von BARBARA TÓTH<br />

64 KINDERSPIEL KRIEG<br />

In Ungarn werden Jungs<br />

in Feriencamps militärisch<br />

gedrillt. Ein Fotoessay<br />

Von ORIOL SEGON TORRA und KENO VERSECK<br />

84 „MAN HÖRT MEIN<br />

SCHWÄBISCH. UND?“<br />

EU-Kommissar Günther Oettinger<br />

über Sprachprobleme, Merkel,<br />

Mappus – und das Gas der Russen<br />

Von GEORG LÖWISCH und<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

92 BÖSE SPENDE, GUTE SPENDE<br />

Ein Plädoyer des Evonik-Chefs für<br />

Obergrenzen bei Parteispenden<br />

Von KLAUS ENGEL<br />

94 ELEKTRIFIZIERT AUF<br />

DER SAHNESPUR<br />

Ein Tag in Oslo, dem Paradies<br />

der Elektroautos<br />

Von LUTZ MEIER<br />

50 UNTER DEN ROBEN DIE POLITIK<br />

Rauchen, reiten, wählen – Karlsruhe<br />

herrscht. Warum sind die Deutschen<br />

den Verfassungsrichtern hörig?<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

38<br />

Wie tickt der Vermarkter der<br />

Kanzlerin?<br />

74 „DIE QUEEN BLEIBT UNSER<br />

STAATSOBERHAUPT“<br />

Wie wird man England<br />

los? Ein Gespräch mit Alex<br />

Salmond, Kopf der schottischen<br />

Unabhängigkeitsbewegung<br />

Von ELLEN ALPSTEN<br />

76 AUF HORCHPOSTEN<br />

Wie verändert die Veröffentlichung<br />

vertraulicher Telefonate die Politik?<br />

Von RICHARD HERZINGER<br />

52<br />

Welche Strategie steckt hinter<br />

der Krise?<br />

100 HERRENLOSE SKLAVEREI<br />

Max Weber wäre ein Gegner<br />

des heutigen Kapitalismus<br />

Von MAX A. HÖFER<br />

84<br />

Was denkt er über kaspisches<br />

Gas und Fracking in der Ukraine?<br />

Fotos: Fabrizio Bensch/Reuters/Corbis, Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong>, Bettmann/Corbis; Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein<br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

104 RAUSCH, WOHL DOSIERT<br />

Beate Hindermann ist Barfrau –<br />

und Meisterin im Erzeugen von<br />

Stimmungen<br />

Von ALEXANDER GRAU<br />

106 MR. WUNDERKIND<br />

Im Alter von 26 Jahren ​hat<br />

der Sohn von Mia Farrow und<br />

Woody Allen unnatürlich<br />

viel erreicht<br />

Von CLAUDIA STEINBERG<br />

108 KLEID DER MACHT<br />

Streng, sexy oder<br />

ungemein beruhigend:<br />

Uniformen wirken stark.<br />

Wie funktioniert das genau?<br />

Von ANNE WAAK<br />

114 VOM DRACHEN,<br />

DER GLÜCK BRACHTE<br />

Was bedeutet eine Erbschaft?<br />

Viel mehr als Geld<br />

Von DANIEL HAAS<br />

116 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Man sollte es sich<br />

als Kreativer leisten, der ewige<br />

Turnschuhtyp zu sein<br />

Von WERNER AISSLINGER<br />

108<br />

Warum wurde für Stewardessen<br />

die Uniform erfunden?<br />

118 IMMER NUR 100 PROZENT<br />

Die Sängerin Dillon treibt ihre<br />

Kunst der Reduktion weiter voran<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

120 ER GEHÖRT ZU UNS<br />

Der Tenor Jonas Kaufmann verzückt<br />

die Massen. Warum eigentlich?<br />

VON MICHAEL STALLKNECHT<br />

122 DER GEFÜHLSKOLOSS<br />

Der Schauspieler Ronald Zehrfeld<br />

verkörpert einen deutschen<br />

Soldaten in Afghanistan<br />

Von BJÖRN EENBOOM<br />

124 BÜCHER, ZUM GLÜCK<br />

Im Ersten Weltkrieg gehörte<br />

das Lesen zum Frontalltag<br />

Von CHRISTOPHE FRICKER<br />

130 MAN SIEHT NUR,<br />

WAS MAN SUCHT<br />

James Ensor zeigt Politik<br />

als Mummenschanz der<br />

Satten und Frivolen<br />

Von BEAT WYSS<br />

132 LITERATUREN<br />

Bücher von Emmanuel Carrère,<br />

Julio Cortázar und Carol Dunlop,<br />

Thor Kunkel, Grace Paley<br />

138 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

Der Politologe Herfried Münkler<br />

macht sich gern den Zufall zunutze<br />

Von SOPHIE DANNENBERG<br />

142 HOPES WELT<br />

Das Schiff des Lebens<br />

Von DANIEL HOPE<br />

144 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Mein Texas, mein Scotch,<br />

mein Schaukelstuhl<br />

Von ETHAN HAWKE<br />

5 ATTICUS<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

10 STADTGESPRÄCH<br />

12 FORUM<br />

14 IMPRESSUM<br />

146 POSTSCRIPTUM<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Der Titelkünstler<br />

Er prägte das Bild seines<br />

Freundes über Jahrhunderte.<br />

Lucas Cranach und Martin<br />

<strong>Luther</strong> – die beiden lernten<br />

sich in Wittenberg kennen.<br />

Dort wirkte Cranach als<br />

Hof maler, aber auch als<br />

Unternehmer und Politiker.<br />

Er wurde <strong>Luther</strong>s Trau zeuge,<br />

illustrierte und verlegte<br />

Schriften seines Freundes<br />

und dessen Übersetzung des<br />

Neuen Testaments. Und er<br />

malte ihn. Kein Porträt des<br />

Reformators hat sich so eingeprägt<br />

wie jenes mit dem<br />

schwarzen Barett von 1528.<br />

Wenig präsent ist da gegen,<br />

dass Martin <strong>Luther</strong> einst<br />

forderte, jüdische Gebäude<br />

in Brand zu setzen. Seine<br />

Juden feindlichkeit wirkte<br />

lange im Protestantismus<br />

nach. Um das zu zei gen,<br />

hat Viola Schmieskors,<br />

Art-Direktorin von <strong>Cicero</strong>,<br />

Cranachs Porträt etwas<br />

hin zugefügt: eine brennende<br />

Synagoge, <strong>Luther</strong>s<br />

dunkle Seite.<br />

Lucas Cranach, der Ältere,<br />

Selbstbildnis, 1550<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Ein Linker holt eine Piratin an Bord, ein Badener einen Schwaben, Politiker<br />

treten gern in Spielfilmen auf, und der Alex könnte Berlins Maidan sein<br />

Warum die AfD-Sprecherin zurücktrat:<br />

Metzger bleibt Metzger<br />

Politiker in Spielfilmen:<br />

„Clowns“ am Set<br />

Piratin über Bord:<br />

Koalition am linken Ufer<br />

Manchmal strengt Dagmar Metzger<br />

ihr Name an. Vor ein paar Jahren<br />

wurde sie mit Drohungen und Lobpreis<br />

überschüttet, weil Andrea Ypsilanti<br />

ihret wegen nicht Ministerpräsidentin in<br />

Hessen geworden war. Eine Verwechslung:<br />

Anders als ihre sozialdemokratische<br />

Namensbase lebt sie in München.<br />

Und schwäbelt, weil sie aus Tomerdingen<br />

bei Ulm kommt.<br />

2013 gründete sich die Alternative<br />

für Deutschland, und Dagmar Metzger<br />

– die aus München – wurde deren<br />

Sprecherin. Als nun gemeldet wurde,<br />

dass sie ihr Amt abgibt, ging es wieder<br />

los: Hat sie nicht schon die Ypsilanti erledigt?<br />

Und jetzt den Lucke? Hat sie<br />

Krach mit dem Chef? Oder mit der Frau<br />

von Storch, die aus der AfD eine Art<br />

deutsche „Teaparty“ machen will. Nein.<br />

Sie will sich, sagt sie, nur auf den Euro<br />

konzentrieren. Und nicht mit den AfD-<br />

Rechten identifiziert werden? Sie lacht.<br />

Kein Dementi? Sie sei froh, wieder<br />

ganz Dagmar Metzger zu sein. hp<br />

Politiker treten gelegentlich auch in<br />

Spielfilmen auf. Frank-Walter Steinmeier<br />

spielte vor kurzem sich selbst in<br />

dem Film „Stromberg“ – und dies, obwohl<br />

der Titelheld ein ausgesprochener<br />

Fiesling ist. Der Regisseur lobte, der<br />

Außenminister habe am Set sehr professionell<br />

gearbeitet. Nach vier oder<br />

fünf Klappen war die Szene im Kasten.<br />

Schon Gerhard Schröder wirkte als<br />

Komparse im Mehrteiler „Der große<br />

Bellheim“ mit, nachdem sich Björn<br />

Engholm, damals noch SPD-Chef, in<br />

der Serie „Der Landarzt“ von einem<br />

solchen medizinisch hatte untersuchen<br />

lassen. Helmut Schmidt („Schnauze“)<br />

schalt beide deswegen als „Clowns“.<br />

Christian Wulff trat später trotzdem in<br />

einem „Tatort“ auf. „Wie kann ein Politiker<br />

nur Schauspieler werden?“, wurde<br />

Ronald Reagan, einst Hollywood-Star<br />

und später US-Präsident, einmal gefragt.<br />

Seine Antwort: „Wie kann ein<br />

Politiker kein Schauspieler sein?“ hp<br />

Klaus Ernst fuhr – außer einem alten<br />

Porsche – schon immer einen<br />

besonderen Kurs. Jetzt praktiziert der<br />

ehemalige Vorsitzende der Linkspartei<br />

( bis April 2002 ) eine ungewöhnliche<br />

Koalition: Er engagierte die attraktive<br />

Cornelia Otto, die bei der Bundestagswahl<br />

noch als Spitzenkandidatin der<br />

Berliner Piraten angetreten war, als<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin in seinem<br />

Bundestagsbüro. Die Frage, ob<br />

da vielleicht mehr läuft als ein politisches<br />

Bündnis, beantwortet Ernst ausweichend<br />

politisch: „Die Cornelia passt<br />

genau in mein Team!“ Kennengelernt<br />

haben sich die Ex-Oberpiratin und der<br />

Linksaußen-Obere an passendem Ort:<br />

in der Stefan-Raab-Show „Absolute<br />

Mehrheit“ vor einem Jahr. Nach einigen<br />

Meetings war klar, gesteht Ernst,<br />

„dass wir in Sachen sozialer Gerechtigkeit<br />

denselben Drang haben“. Sonst<br />

nichts? Ernst zu <strong>Cicero</strong>: „Ein bisschen<br />

haben wir auch im Programm ändern<br />

müssen.“ Ach ja?! tz<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Berlins Maidan:<br />

Wutplatz Alex<br />

Lange Zeit ist gerätselt worden, wieso<br />

Revolutionen in Deutschland so<br />

schwierig und selten sind. Spätestens<br />

seit den Ereignissen in der Ukraine ist<br />

endlich klar, woran dies liegt – es fehlt<br />

an den geeigneten Plätzen, auf denen<br />

sich Wut dauerhaft bündeln lässt. Der<br />

Maidan wurde ebenso zum Schlagzeilen-<br />

und Twitter-geeigneten Codewort<br />

für den Aufstand wie der Tahrir in<br />

Kairo oder der Taksim in Istanbul.<br />

Aber in Berlin? Auf dem Pariser<br />

Platz lässt sich eine Regierung nicht<br />

wirklich stürzen – zumal es schnell Ärger<br />

mit Touristen geben dürfte und den<br />

Hunderten, eng getakteten Demonstrationen<br />

gegen alle möglichen Übel dieser<br />

Welt. Der Willy-Brandt‐Platz vor dem<br />

Kanzleramt wirkt nicht wirklich einladend.<br />

Und auf dem Platz der Republik<br />

vor dem Reichstag ist sogar das Fußballspielen<br />

verboten. Eine Revolution<br />

würde hier wahrscheinlich am Eingreifen<br />

des Bezirksamts Mitte zum Schutz<br />

der Rasenfläche scheitern.<br />

Am besten geeignet ist eindeutig<br />

noch der „Alex“, also der Alexanderplatz<br />

in Ostberlin. Die vier Buchstaben<br />

sind absolut Twitter-freundlich. Die Architektur<br />

lässt keine versöhnlichen Gefühle<br />

aufkommen. Schon am 4. November<br />

1989 fand hier die größte nicht<br />

staatlich gelenkte Demonstration in der<br />

DDR-Geschichte statt – woran allerdings<br />

heute nichts mehr erinnert. Das<br />

Problem ist nur: Mehrfach im Jahr fällt<br />

der Alex als Platz der gesammelten<br />

Umsturzwut einfach aus – weil er dann<br />

mit unpolitischen Würstchen- und Tingel-Tangel-Buden<br />

verbaut ist. ink<br />

Schäubles neuer Sprecher:<br />

Kein Schwabenstreich<br />

Wieso engagiert der überzeugte<br />

Badener Wolfgang Schäuble als<br />

seinen künftigen Sprecher ausgerechnet<br />

einen Schwaben? Zwei Antworten:<br />

Die seriöse lautet: Einen Besseren hätte<br />

er nicht finden können. Die ironische:<br />

„Der Bundesfinanzminister will eben<br />

auch mal Daimler fahren.“<br />

Ein kluger Schachzug ist es allemal.<br />

Martin Jäger, 49 Jahre alt, bis Oktober<br />

noch deutscher Botschafter in<br />

Afghanistan, ist zwar kein Finanzexperte.<br />

Aber ein exzellenter Europapolitiker.<br />

Schrieb schon für den früheren<br />

Außenminister Klaus Kinkel und<br />

auch für Kanzler Gerhard Schröder<br />

die europapolitischen Reden, bevor<br />

Frank-Walter Steinmeier ihn 2005 als<br />

seinen Sprecher ins Auswärtige Amt<br />

holte. Von 2008 bis Herbst 2013 war<br />

er dann bei Daimler in Berlin Chef der<br />

Konzern-Repräsentanz.<br />

Dieser „Kerle“, wie Kinkel über Jäger<br />

zu sagen liebt, hat „Politik in den<br />

Fingerspitzen“. Und auch eine ideale<br />

Ausbildung für die Europapolitik. In<br />

seiner Jugend, ehe er 1994 in den diplomatischen<br />

Dienst ging, arbeitete er<br />

als Fotojournalist in Paris, schrieb von<br />

dort für deutsche Zeitungen und spricht<br />

fließend Französisch.<br />

Jägers Frau Nicole wurde 1965 in<br />

Böhmen geboren, hat einst für die Süddeutsche<br />

Zeitung als Journalistin gearbeitet,<br />

schreibt heute unter dem Namen<br />

Helena Reich Krimis. Ihre Bücherideen<br />

beziehe sie, spottet sie, „aus der heißen<br />

Luft um mich herum“. Kommt also bald<br />

ein Politkrimi? tz<br />

Minipartei auf dem Weg nach Brüssel:<br />

Familienpolitik<br />

Arne Gericke, aufgewachsen als<br />

Sohn eines Missionars in Papua-<br />

Neuguinea und heute Trauerredner in<br />

Tessin in Mecklenburg, hat vier Kinder,<br />

drei Pflegekinder, einen Hund und eine<br />

Katze. Seine Frau leitet den Pflegedienst<br />

einer Rostocker Tagesklinik. Weil er<br />

Freiberufler ist, lässt sich alles gut organisieren<br />

oder besser: spitze. 2012 kürte<br />

ihn die Bundesfamilienministerin zum<br />

„Spitzenvater“. Nun ist er obendrein<br />

Spitzenkandidat der Familien-Partei<br />

Deutschlands, 600 Mitglieder, Kurzbezeichnung:<br />

FAMILIE. 2009 holte sie bei<br />

der Europawahl 1 Prozent. Da das Verfassungsgericht<br />

die Drei-Prozent-Hürde<br />

niedergerissen hat, müsste die FAMI-<br />

LIE ihr Ergebnis nur halten, und Gericke,<br />

49, säße im Parlament. Straßburg,<br />

Brüssel – wie soll er das noch schaffen?<br />

Anders gefragt: Schadet die FAMILIE<br />

dann der Familie?<br />

Am Telefon wirkt Arne Gericke gelassen.<br />

Die Kinder seien sehr selbstständig,<br />

der Jüngste werde zwölf, „wir<br />

wollen was bewegen“. Er kritisiert die<br />

Benachteiligung der Familien, kritisiert<br />

die CDU, aus der er austrat, weil Roland<br />

Koch und Friedrich Merz nichts<br />

mehr zu melden haben. Nach dem Telefonat<br />

kommt per Mail noch eine Pressemitteilung.<br />

Ungewöhnlich daran ist,<br />

dass kein Name unter der Mail steht,<br />

nur: Mit den besten Grüßen, Pressestelle<br />

der Familien-Partei Deutschlands.<br />

Aber halt, da ist eine Handynummer.<br />

Hallo? „Hier ist Jakob Gericke.“ Nanu,<br />

schon wieder Gericke? „Ich mach die<br />

Pressearbeit für meinen Vater.“<br />

FAMILIE? Familie! löw<br />

11<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht um Sarrazin, das vermeintliche Recht<br />

auf Randale, um Müntefering und den Dativ<br />

Zum Beitrag „Sarrazin“ von Alexander Marguier, März 2014, und zu der von <strong>Cicero</strong><br />

geplanten, aber von Demonstranten blockierten Veranstaltung, auf der wir mit Thilo<br />

Sarrazin im Berliner Ensemble über sein neues Buch „Tugendterror“ diskutieren wollten<br />

„Keine Auseinandersetzung, nur Allgemeinplätze“<br />

Sehr geehrte Redaktion, leider wurde erneut versäumt, sich kritisch – selbstkritisch<br />

– mit den Thesen Thilo Sarrazins auseinanderzusetzen. Herr Marguier beließ<br />

es bei wenigen Allgemeinplätzen, anstatt sich argumentativ den Thesen des<br />

Buches zu stellen. Damit bestätigt er jedoch ausgerechnet das Thema des Buches.<br />

Dr. Wolfgang Scheck, Eutin<br />

Meinungsfreiheit bedroht<br />

Die Betroffenheit einiger Störer mit<br />

nichtdeutschem Hintergrund kann<br />

ich verstehen, im Besonderen im Hinblick<br />

auf den NSU-Skandal. Ich halte<br />

diese Vermischung aber für schwierig.<br />

Gleichzeitig stelle ich mir die Frage,<br />

was dazu geführt hat, dass Störer im<br />

Foyer sich im Recht fühlen, ihnen unbekannte<br />

Menschen pauschal als Rassisten<br />

zu bezeichnen?<br />

Ich wollte an einer Diskussion<br />

zur Meinungsfreiheit teilnehmen; was<br />

ich erlebt habe, ist eine praktische<br />

Demonstration, dass Meinungsfreiheit<br />

in Gefahr ist und dass einer Minderheit<br />

das Recht des Meinungsdiktats/<br />

Meinungsterrors zugestanden wurde.<br />

Thomas Kasten, Berlin<br />

Sarrazin bestätigt<br />

Jetzt fragt man sich allerdings, wieso<br />

niemand bei <strong>Cicero</strong> in der Lage ist,<br />

die Meinungsfreiheit zu verteidigen<br />

und sich gegen die lautstarke<br />

Meinungsdiktatur einer Minderheit<br />

zu wehren. Ich kenne Sarrazins neues<br />

Buch nicht, aber die Vorgänge in<br />

Berlin bestätigen doch genau, was der<br />

Titel des Buches aussagt.<br />

G. Wirtz, Bergisch-Gladbach<br />

Allergisch gegen Zensur<br />

Ich war bisher begeistert von <strong>Cicero</strong>:<br />

Endlich ein Heft mit Geist, so etwas<br />

suchte ich vergeblich seit Jahren. Leider<br />

kam heute die große Ernüchterung:<br />

<strong>Cicero</strong> hat zur Störung einer Lesung<br />

von Sarrazin aufgerufen. Nein, danke!<br />

Ich bin kein Fan von Sarrazin. Habe<br />

keines seiner Bücher gelesen. Aber ich<br />

habe Zensur, Schikanen und Verbote<br />

in einem totalitären Staat am eigenen<br />

Leib erfahren: in der Tschechoslowakei.<br />

Hochschulbildung habe ich nicht,<br />

meine Familie war „unzuverlässig“,<br />

ich durfte deshalb nicht studieren.<br />

Gegen Einflussnahmen bin ich deshalb<br />

allergisch.<br />

Margitta Bischoff, Schelklingen<br />

In eigener Sache:<br />

Anders, als einige unserer<br />

Leserinnen und Leser meinten,<br />

hat <strong>Cicero</strong> nicht zur Störung<br />

einer Sarrazin-Lesung<br />

aufgerufen, sondern im<br />

Gegenteil versucht, eine solche<br />

stattfinden zu lassen. Und das<br />

Hausrecht ausüben konnten<br />

wir auch nicht, da wir es im<br />

Berliner Ensemble nicht hatten.<br />

Die Reaktionen auf die<br />

geplatzte Veranstaltung sind<br />

trotzdem ermutigend. Sie<br />

zeigen, dass eine große<br />

Mehrheit sensibel auf Zensur<br />

und Meinungsterror reagiert.<br />

Die Redaktion<br />

Krude Ideen<br />

Ich war überrascht über die Idee, Herrn<br />

Sarrazin ein Podium für seine kruden<br />

Ideen zu geben. Nehmen Sie mir also<br />

ruhig übel, dass ich für Ihre Aktion nur<br />

Satire übrig habe. Mich wundert, dass<br />

Sie anscheinend glaubten, mit Herrn<br />

Sarrazin eine sachliche Veranstaltung<br />

durchführen zu können.<br />

Arne Bustorff, Heide<br />

Vorhersehbarer Aufmarsch<br />

Der Aufmarsch dieser intoleranten,<br />

indoktrinierten, linksverqueren<br />

Politclique als berufsmäßige Störer war<br />

doch vorauszusehen. Warum wählen Sie<br />

dann bewusst so eine „störanfällige“<br />

Location? Dann lässt man diese<br />

gewalt bereite Truppe gewähren, macht<br />

nicht einmal von seinem Hausrecht<br />

Gebrauch, sondern trabt geschlagen<br />

davon.<br />

Günther Kahlich, Unterschleißheim<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Was derzeit in Griechenland,<br />

Spanien, Portugal und Italien passiert,<br />

steht auch uns noch bevor.<br />

Sparen, sparen, sparen ist die<br />

Devise der meisten europäischen<br />

Politiker, denn nur dadurch sei die<br />

Krise zu bewältigen und der Wohlstand<br />

zu sichern. In Wirklichkeit<br />

geht es aber um etwas ganz<br />

anderes: Unter dem Deckmantel<br />

der Krisenbewältigung findet ein<br />

stiller Putsch gegen die europäischen<br />

Bürger statt. Bestsellerautor<br />

Jürgen Roth zeigt, wer die Putschisten<br />

sind, was sie bezwecken und<br />

wie wir uns dagegen wehren<br />

können – und müssen.<br />

320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag<br />

€ 19,99 [D] · ISBN 978-3-453-20027-2<br />

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VERLEGER Michael Ringier<br />

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REDAKTION<br />

TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />

RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),<br />

Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexander Kissler ( Salon ),<br />

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( Reportagen ), Dr. Frauke Meyer-Gosau ( Literaturen )<br />

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ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS<br />

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REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />

ART-DIREKTORIN Viola Schmieskors<br />

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PRODUKTION Utz Zimmermann<br />

VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

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VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

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REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

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HERSTELLUNG Roland Winkler<br />

DRUCK/LITHO Neef+Stumme,<br />

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Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Zum Beitrag „Kein Recht auf Randale“<br />

von Alexander Marguier, März 2014<br />

„Heidschi bumbeidschi“<br />

Endlich haben Sie dem „Schwarzen<br />

Block“ die politische Antifa-Maske<br />

vom Gesicht gerissen. Zum Vorschein<br />

kommt der hemmungslose<br />

Spaß-„Protestler“, der in Wahrheit<br />

ein hemmungsloser Spaß- Zerstörer<br />

ist. Jahrzehntelang wurde diese<br />

halbstarke Jugendkriminalität von<br />

den Medien als irgendwie „politisch<br />

wertvoll“ veredelt. Das hat die<br />

Gewalt eskalieren lassen, und die<br />

Täter mit dem Umhang des politischen<br />

Saubermanns geschützt.<br />

Wie immer, wenn die Grenzen<br />

des Fehlverhaltens nicht deutlich<br />

gezogen werden, wenn stattdessen<br />

Beschwichtigung, Deeskalation,<br />

latentes oder offenes „politisches“<br />

Verständnis den zerstörerischen<br />

Aktionsradius der „Kämpfer für das<br />

Gute“ erweitern, dann immer endet<br />

das Geschehen im sinnleeren Chaos.<br />

Ich bin mir nicht ganz sicher,<br />

ob „Widerstand gegen die Staatsgewalt“<br />

in seiner jetzigen Form noch<br />

ein zeitgemäßer Straftatbestand ist.<br />

Ich bin mir aber ganz sicher, dass<br />

der Staat, der sich statt als Tiger als<br />

Bettvorleger geriert, seine Ordnung,<br />

seine Würde und das Vertrauen<br />

seiner Bürger in sein schützendes<br />

Gewaltmonopol verliert.<br />

Vor vielen Jahren hat es den<br />

Vorschlag gegeben, dem „Schwarzen<br />

Block“ mit einer Schall-Offensive<br />

zu begegnen, nämlich mit<br />

„Heidi, deine Welt sind die Berge“<br />

oder „Heidschi, bumbeidschi, bum,<br />

bum“. Das wäre Deeskalation, das<br />

wäre das angemessene Niveau, und<br />

das hätte den „Schwarzen Block“<br />

auch medial als das bedient, was<br />

er ist: ein aus den Fugen geratener<br />

Kindergarten.<br />

Lutz Bauermeister, Wilhelmshaven<br />

14<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag „Der letzte Schrei ist ein Echo“<br />

von Daniel Haas, Februar 2014<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

Lieber im alten Ledersessel<br />

Mit großer Begeisterung habe ich den<br />

überaus gelungenen Artikel „Der letzte<br />

Schrei ist ein Echo“ lesen dürfen. Ich<br />

sehe das Geschriebene als rhetorisch<br />

exzellent gleichwohl erschreckend<br />

engstirnig.<br />

Ich sehe Vintage weniger als das<br />

vom „Bürgertum“ gefundene „Vokabular<br />

(…), um seine Orientierungslosigkeit<br />

zu kaschieren“, als vielmehr als den<br />

längst überfälligen Hilfeschrei einer sich<br />

nach Qualität sehnenden Käuferklientel.<br />

Nutzdienliches, das für die Ewigkeit<br />

gemacht und nicht die erbärmliche<br />

Frucht kapitalistischen Kostenminimierungswahns<br />

ist. Minderwertige<br />

Produkte, deren Vorbilder sich ohnehin<br />

in vergangenen Dekaden wiederfinden<br />

lassen. Dann doch bitte lieber das Original.<br />

Es wird auch in Zukunft der Stilfindung<br />

Kreativer und der Wegebnung<br />

prägender Schöpfer dienen.<br />

Es muss ja nicht immer Avantgarde<br />

sein. Solange sich schwedische Großkonzerne<br />

unbedingter Quantität verschreiben<br />

und es vermeiden, Werte zu schaffen,<br />

bleibe ich guten Gewissens meinen<br />

wochenendlichen Gängen über die Flohund<br />

Antikmärkte Deutschlands treu.<br />

In einem durchgesessenen Ledersessel<br />

von 1959 liest sich <strong>Cicero</strong> doch nun<br />

wirklich besser als in einem glanzlosen<br />

Sessel namens Ystad.<br />

Dennis Obanla, Berlin<br />

Zum Beitrag „APPokalypse Now“ von<br />

Lena Bergmann, Februar 2014<br />

Zum Lachen und Nachdenken<br />

Ich sitze gerade in Wien in einem wunderschönen<br />

Hotel namens „Das Triest“,<br />

das glücklicherweise <strong>Cicero</strong> ausliegen<br />

hat, endete eben mit Ihrem grandiosen<br />

Beitrag „APPokalypse Now“ und<br />

griff nun „brav“ zu meiner Maschine,<br />

um Ihnen für diesen Beitrag zu danken<br />

und herzlichst zu gratulieren!<br />

Selten hat mich in den vergangenen<br />

Wochen und Monaten das geschriebene<br />

Wort so sehr unterhalten, zum Lachen,<br />

aber auch zum Nachdenken gebracht!<br />

Großartig!<br />

Stefan Ratzenberger, Wien<br />

Zum Beitrag „Das ist ignorant“ von<br />

Franz Müntefering, März 2014<br />

Arbeitnehmer im Fokus<br />

Schön, dass die SPD inzwischen wieder<br />

mehr den Arbeitnehmer in den Fokus<br />

rückt. Die Jahrgänge, um die es dabei<br />

geht, sind in der Regel nach acht Jahren<br />

Volksschule, mit 14 oder 15 Jahren,<br />

ins Erwerbsleben eingetreten und haben<br />

somit 49 Jahre gearbeitet, wenn sie mit<br />

63 Jahren in Rente gehen. 49 Jahre Vollzeitarbeit<br />

haben ihre Spuren hinterlassen,<br />

denn es handelt sich dabei ja nicht<br />

um Beamte oder Politiker.<br />

Der Rentenabschlag mit 63 wird<br />

deshalb für die fünfziger Jahrgänge zu<br />

einer Rentenkürzung, neben der Absenkung<br />

des Renten niveaus, der Versteuerung<br />

und der Verbeitragung in<br />

Kranken- und Pflegeversicherung. Hilfreich<br />

ist, dass die Jüngeren in der SPD<br />

diese Fakten nicht mehr ignorieren<br />

und den Menschen wieder mehr in den<br />

Mittelpunkt stellen werden. Hilfreich<br />

wäre aber auch eine Reform, die Politiker,<br />

Beamte und Selbstständige mit<br />

einschließt.<br />

Gerhard Oechsler, Waghäusel<br />

Zum Beitrag „Donner über Uchtelfangen“<br />

von Constantin Magnis, Januar 2014<br />

Trotz dieses Dativs<br />

Mit Interesse und Begeisterung lese ich<br />

Ihre Zeitschrift. Doch heute muss ich<br />

mal mein Befremden aussprechen über<br />

eine Stelle in Nr. 13 ( Januar ), Seite 61,<br />

rechte Spalte, Zeile 1 des letzten<br />

Absatzes, die da heißt: „Doch statt dem<br />

Frieden rückt …“, also nach „statt“ der<br />

Dativ. Da bekommt man beim Lesen<br />

Zahnschmerzen! Jedenfalls ich als<br />

ehemalige Lehrerin, Jahrgang 1921! Ich<br />

dachte: „Schon wieder eine Änderung in<br />

der Rechtschreibung“ und schaute im<br />

neuen Duden ( Ausg. 2013 ) nach. Dort<br />

steht aber immer noch: „Präposition<br />

mit Genitiv“ und weiter: „mit Dativ<br />

veraltet oder umgangssprachlich“. Ich<br />

meine, als gute, moderne Zeitschrift –<br />

dann auch noch aus Hamburg – dürfte<br />

das nicht passieren! (sic!) Ich bleibe<br />

Ihnen auch trotz dieses Dativs treu und<br />

sende freundliche Grüße<br />

Ingeborg Köhnecke, Wede<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

15<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Von CHRISTIAN PFEIFFER<br />

Martin <strong>Luther</strong>s Hass auf die Juden machten<br />

sich die Nationalsozialisten zunutze.<br />

Es waren mehr Protestanten als Katholiken,<br />

die Adolf Hitler zur Macht verhalfen.<br />

Die evangelische Kirche sollte im Rahmen<br />

des Reformationsjubiläums ihre eigene Geschichte<br />

selbstkritisch aufarbeiten<br />

17<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Im Jahr 1543 veröffentlichte der<br />

60 Jahre alte Martin <strong>Luther</strong> seine<br />

Schrift „Von den Juden und ihren<br />

Lügen“. Darin entwickelte er sieben<br />

Forderungen, die nachfolgend<br />

auf ihre Kernaussagen verkürzt werden:<br />

„Was wollen wir Christen nun tun mit<br />

diesem verworfenen, verdammten Volk<br />

der Juden? [...] Ich will meinen treuen<br />

Rat geben:<br />

Erstlich, daß man ihre Synagoga<br />

oder Schule mit Feuer anstecke und, was<br />

nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe<br />

und beschütte, daß kein Mensch<br />

einen Stein oder Schlacke davon sehe<br />

ewiglich.<br />

Zum anderen, daß man auch ihre<br />

Häuser desgleichen zerbreche und<br />

zerstöre.<br />

Zum Dritten, daß man ihnen nehme<br />

alle ihre Betbüchlein und Talmudisten.<br />

Zum Vierten, daß man ihren Rabbinern<br />

bei Leib und Leben verbiete, hinfort<br />

zu lehren.<br />

Zum Fünften, daß man den Juden<br />

das Geleit und Straße ganz und gar<br />

aufhebe.<br />

Zum Sechsten, daß man ihnen den<br />

Wucher verbiete und ihnen alle Barschaft<br />

und Kleinode an Silber und Gold nehme.<br />

Zum Siebten, daß man den jungen,<br />

starken Juden und Jüdinnen in die Hand<br />

gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken,<br />

Spindel, und lasse sie ihr Brot verdienen<br />

im Schweiß der Nase.“<br />

Im Grunde hatte <strong>Luther</strong> damit das<br />

gefordert, was knapp 400 Jahre später<br />

in der Reichspogromnacht realisiert<br />

wurde. In einem Punkt unterscheidet<br />

sich allerdings sein Appell vom Antisemitismusprogramm<br />

der Nationalsozialisten.<br />

<strong>Luther</strong> hatte nicht zum Holocaust<br />

aufgerufen.<br />

Margot Käßmann hat in einem Artikel<br />

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />

kürzlich darauf hingewiesen, dass dieser<br />

Text <strong>Luther</strong>s nur dann richtig verstanden<br />

werden könne, wenn man sich mit seiner<br />

ersten Judenschrift „Dass Jesus ein<br />

geborener Jude sei“ aus dem Jahr 1523<br />

auseinandersetzt. Darin hatte <strong>Luther</strong> sich<br />

schützend vor die Juden gestellt. Damals<br />

hoffte er wohl noch, sie zu seinem reformierten<br />

Christentum bekehren zu können.<br />

Er übte jedenfalls scharfe Kritik an<br />

den vielen Christen, die die Juden behandelten,<br />

„als wären es Hunde“. Für die<br />

Weigerung der Juden, sich bekehren zu<br />

lassen, zeigte er großes Verständnis und<br />

schrieb, angesichts solcher Erfahrungen<br />

wäre auch er an ihrer Stelle „eher eine<br />

Sau, denn ein Christ geworden“. Aber<br />

20 Jahre später folgten dieser von Judenhass<br />

und Polemik geprägte Aufruf sowie<br />

weitere entsprechende Texte, Tischreden<br />

und Predigten.<br />

Es stellen sich somit drei Fragen.<br />

Erstens: Wie ist dieser Kurswechsel <strong>Luther</strong>s<br />

zu erklären? Zweitens: Welche Bedeutung<br />

hat seine Schrift von 1543 dafür,<br />

dass die Nationalsozialisten knapp<br />

400 Jahre später, in der Nacht vom 9. auf<br />

den 10. November 1938, genau das taten,<br />

wozu er aufgerufen hatte? Drittens:<br />

Wie geht die evangelische Kirche heute<br />

in der <strong>Luther</strong>-Dekade mit dieser schweren<br />

Erblast um?<br />

Zur ersten Frage vermitteln die <strong>Luther</strong>-Biografie<br />

Heinz Schillings und die<br />

2011 erschienene Neuauflage des Buches<br />

Christian Pfeiffer<br />

Der Direktor des Kriminologischen<br />

Forschungsinstituts<br />

Niedersachsen e.V. studierte<br />

Jura, Sozialwissenschaften und<br />

Kriminologie in München und<br />

London. Von Dezember 2000 bis<br />

März 2003 war er niedersächsischer<br />

Justizminister. Am<br />

Fachbereich Rechtswissenschaften<br />

der Leibniz Universität<br />

Hannover hatte er eine Professur<br />

für Kriminologie, Jugendstrafrecht,<br />

Strafvollzug inne. Er ist<br />

evangelisch<br />

„<strong>Luther</strong>s ‚Judenschriften‘“ des Göttinger<br />

Kirchengeschichtlers Thomas Kaufmann<br />

sehr sorgfältig recherchierte Erkenntnisse.<br />

Kurz gesagt: Der späte <strong>Luther</strong> war<br />

geradezu getrieben von der Sorge, dass<br />

sein Lebenswerk noch scheitern könnte.<br />

Er hatte damals die Obrigkeit aufgefordert,<br />

gegen alle, die von seiner Lehre abwichen,<br />

mit aller Macht vorzugehen. Für<br />

ihn gab es nur eine Lesart der heiligen<br />

Texte – seine. Erst im Zeitalter der Aufklärung<br />

wurde die Basis dafür geschaffen,<br />

dass sich der moderne Toleranzbegriff<br />

entfalten konnte und dass auch die<br />

Kirchen schrittweise lernten, die Existenz<br />

anderer Religionen neben der eigenen<br />

hinzunehmen.<br />

BEI LUTHER KAM HINZU, dass sich im<br />

Alter, wie Kaufmann es formuliert, sein<br />

cholerisches Temperament immer stärker<br />

bemerkbar machte. Durchdrungen<br />

von seinem Sendungsbewusstsein<br />

fühlte er sich dazu berufen, die von ihm<br />

als verstockte Feinde Christi angesehenen<br />

Juden mit zu attackieren, nachdem<br />

sie seinem Werben um Bekehrung nicht<br />

entsprochen hatten.<br />

Zu der zweiten Frage nach der späteren<br />

Bedeutung von <strong>Luther</strong>s judenfeindlichen<br />

Spätschriften haben Wolfgang<br />

Thielmann und vorher der Kirchenhistoriker<br />

Johannes Wallmann in Christ<br />

und Welt beziehungsweise der FAZ eine<br />

sehr umstrittene These aufgestellt. Diese<br />

Schriften <strong>Luther</strong>s seien in späteren Jahrhunderten<br />

innerhalb der evangelischen<br />

Kirche anders als seine projüdische<br />

Schrift von 1523 abgelehnt worden und<br />

bald in Vergessenheit geraten. Erst die<br />

braunen Machthaber hätten die Christen<br />

an das vergessene Erbe erinnert. Wallmann<br />

kann die kirchliche Ablehnung<br />

allerdings nur im Hinblick auf die relativ<br />

kleine Gruppe der Pietisten belegen.<br />

Zweifelhaft wird seine Argumentation<br />

zudem dadurch, dass er sich auf nationalsozialistische<br />

Historiker oder völkische<br />

Antisemiten beruft.<br />

Der von ihm zitierte Karl Grunsky<br />

(1933) oder auch Mathilde Ludendorff<br />

(1928) hatten der evangelischen Kirche<br />

in der Tat vorgeworfen, sie habe <strong>Luther</strong>s<br />

antijüdische Schriften unterschlagen,<br />

entsprechende Texte anderer Autoren<br />

bewusst unterdrückt und dadurch systematisch<br />

Verrat an <strong>Luther</strong>s Reformation<br />

Fotos: Agentur Bridgeman (Seite 16), Rainer Unkel/Vario Images [M]<br />

18<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


geübt. Doch Wallmann negiert damit völlig,<br />

dass bereits der Theologe Hermann<br />

Steinlein diese Thesen im Jahr 1932 als<br />

antikirchliche Propaganda entlarvt hatte.<br />

Steinlein konnte aufzeigen, dass<br />

sämtliche bis dahin erschienenen Gesamtausgaben<br />

<strong>Luther</strong>s dessen zweite Judenschrift<br />

enthielten und dass es ferner<br />

vier gesonderte Nachdrucke gab, mit denen<br />

das Werk im 16. bis 19. Jahrhundert<br />

vollständig oder in Auszügen erneut publiziert<br />

worden war. Zudem benannte er<br />

allein zehn evangelische Theologen, die<br />

sich seit dem Tod <strong>Luther</strong>s über die Jahrhunderte<br />

hinweg in ihren Schriften intensiv<br />

mit <strong>Luther</strong>s judenfeindlichen Thesen<br />

auseinandergesetzt hatten – überwiegend<br />

zustimmend, nur wenige kritisch.<br />

Steinlein führte ergänzend eindrucksvolle<br />

Beispiele für volkstümliche<br />

Schriften an, in denen mit scharf antisemitisch<br />

orientierter Grundhaltung<br />

<strong>Luther</strong>s Thesen verbreitet wurden. Er<br />

wies auf Gutachten von theologischen<br />

Fakultäten hin, in denen sich die Autoren<br />

auf <strong>Luther</strong>s Standpunkte bezogen.<br />

Schließlich zitierte er mit Heinrich<br />

Graetz und Reinhold Lewin zwei jüdische<br />

Historiker, die über die negative<br />

Wirkung von <strong>Luther</strong>s antijüdischen Texten<br />

berichtet hatten.<br />

Graetz beklagte 1853 unter Hinweis<br />

auf eine große Zahl antijüdischer Autoren,<br />

die sich auf <strong>Luther</strong> berufen hatten,<br />

dieser habe „mit seinem judenfeindlichen<br />

Testament die protestantische Welt auf<br />

lange Zeit hinaus vergiftet“. Reinhold<br />

Lewin war 1911 zu der Einschätzung<br />

gelangt: „Die Saat des Judenhasses, die<br />

er darin ausstreut, (…) wirkt noch lange<br />

durch die Jahrhunderte fort; wer immer<br />

aus irgendwelchen Motiven gegen<br />

die Juden schreibt, glaubt das Recht zu<br />

besitzen, triumphierend auf <strong>Luther</strong> zu<br />

verweisen.“<br />

In einer in Christ und Welt gedruckten<br />

Replik auf Thielmanns Thesen benennt<br />

der Erziehungswissenschaftler Micha<br />

Brumlik eine Reihe weiterer Autoren<br />

des 19. und 20. Jahrhunderts, die nur zu<br />

gerne <strong>Luther</strong>s judenfeindliche Thesen<br />

aus seinen Schriften übernommen hätten.<br />

Beispiele sind für ihn Hartwig von<br />

Hundt-Radowskys hassverzerrte Polemik<br />

aus dem Jahr 1819 „Der Judenspiegel“<br />

oder das von Theodor Fritsch seit 1887<br />

fast jährlich publizierte „Handbuch der<br />

Judenfrage“. Darüber hinaus gab es aber<br />

auch im 19. Jahrhundert, worauf Graetz<br />

zu Recht hingewiesen hatte, hochgeachtete<br />

Wissenschaftler, wie etwa den Historiker<br />

Friedrich Rühs oder den Naturwissenschaftler<br />

Jakob Friedrich Fries, die<br />

1816 die <strong>Judenfeind</strong>schaft des späten <strong>Luther</strong><br />

zur Begründung ihrer entsprechenden<br />

Thesen herangezogen hatten.<br />

1985 publizierte der Historiker Günther<br />

B. Ginzel eine Analyse zur Bedeutung<br />

von <strong>Luther</strong>s zweiter Judenschrift.<br />

Unter Berufung auf zahlreiche Texte<br />

von Theologen und anderen Autoren<br />

des 19. Jahrhunderts und der zwanziger<br />

Jahre gelangt er zu der Einschätzung,<br />

MARTIN LUTHER<br />

dass Martin <strong>Luther</strong> mit seinen judenfeindlichen<br />

Thesen die Gesinnung und<br />

Haltung der evangelischen Geistlichkeit<br />

nachhaltig beeinflusst habe. Er sei so zum<br />

„Kronzeugen des modernen Antisemitismus“<br />

geworden. Viele der Autoren seien<br />

zudem von einer geradezu „sakralen<br />

Überhöhung des Deutschtums“ geprägt<br />

und bezögen sich auf <strong>Luther</strong>.<br />

Die hier herangezogenen Texte zeigen<br />

klar auf: <strong>Luther</strong>s späte Schriften erfuhren,<br />

gerade weil ihr Autor der große<br />

Reformator war, immer wieder starke<br />

Beachtung. Sie konnten so über Jahrhunderte<br />

hinweg bei der Begründung<br />

und Fortentwicklung judenfeindlicher<br />

19<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Predigerseminars 1926 den Aufsatz „Die<br />

evangelische Gemeinde und die Judenfrage“<br />

veröffentlichte. Darin fordert er<br />

Maßnahmen zur Zurückdrängung des<br />

jüdischen Geistes im öffentlichen Leben<br />

und zur Reinhaltung des deutschen Blutes.<br />

„Gott hat jedem Volk seine völkische<br />

Eigenart und seine rassischen Besonderheiten<br />

doch nicht dazu gegeben,<br />

damit es seine völkische Prägung in rassisch<br />

unterwertige Mischlingsbildungen<br />

auflösen lässt.“<br />

Ob Wittenberger „Judensau“ oder<br />

Holzschnitt mit brennenden Juden: Zu<br />

<strong>Luther</strong>s Zeit war Antijudaismus verbreitet<br />

Einstellungen und Verhaltensweisen<br />

eine wichtige Rolle spielen. Die Nationalsozialisten<br />

erkannten das sehr früh<br />

und nutzten die eigentlich theologisch<br />

begründeten antijudaistischen Schriften<br />

<strong>Luther</strong>s für ihren rassistisch orientierten<br />

Antisemitismus.<br />

Der junge Adolf Hitler hatte Anfang<br />

der zwanziger Jahre mit den aufeinanderfolgenden<br />

Chefredakteuren<br />

des Völkischen Beobachters, Dietrich<br />

Eckart und Alfred Rosenberg, zwei Berater<br />

an seiner Seite, die <strong>Luther</strong> gerade<br />

wegen seines Kurswandels vom Judenfreund<br />

zum <strong>Judenfeind</strong> bewunderten.<br />

Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass<br />

Hitler bereits in seiner Nürnberger Parteitagsrede<br />

von 1923 und ein Jahr später<br />

in „Mein Kampf“ seine Wertschätzung<br />

<strong>Luther</strong>s zum Ausdruck brachte.<br />

Den „großen Reformator“ würdigte er<br />

in einer Reihe mit Friedrich dem Großen<br />

und Richard Wagner als herausragenden<br />

Deutschen.<br />

Innerhalb der evangelischen Kirche<br />

wuchs bereits in den zwanziger<br />

Jahren die Zustimmung zur nationalsozialistischen<br />

und antisemitischen Bewegung.<br />

Ein Beispiel bietet der spätere<br />

bayerische Landesbischof Hans Meiser,<br />

ein Mitglied der „Bekennenden Kirche“,<br />

der als Direktor des evangelischen<br />

AM 12. JUNI 1932 berichtet die Neue Zürcher<br />

Zeitung, viele führende Vertreter<br />

der Evangelischen Kirche Deutschlands,<br />

vor allem aber die jüngeren Pastoren,<br />

sympathisierten mit Hitler und betätigten<br />

sich in der NSDAP. In beinahe allen<br />

Landeskirchen bestünden nationalsozialistische<br />

Pfarrer-Bünde. 1933 bestätigt<br />

sich diese Einschätzung. Die mächtige<br />

Evangelische Kirche der Altpreußischen<br />

Union und ihr folgend bald auch<br />

die Evangelische Rheinische Landeskirche<br />

beschlossen auf ihren Generalsynoden<br />

die Einführung des Arierparagrafen.<br />

Die Folge: Ausschluss aller jüdischstämmigen<br />

Christen aus dem hauptamtlichen<br />

kirchlichen Dienst. Der Protest<br />

des Theologen Dietrich Bonhoeffer gegen<br />

den kirchlichen Arierparagrafen erzielte<br />

keine Wirkung.<br />

Hinzu kommt, dass sich 1932 innerhalb<br />

der evangelischen Kirche mit den<br />

„Deutschen Christen“ eine immer stärker<br />

werdende Strömung entwickelte,<br />

die schon durch das Hakenkreuz in ihrer<br />

Fahne dokumentierte, wo sie stand.<br />

Ein Beispiel für ihre Linientreue bot ihr<br />

Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach.<br />

1938 sorgte er dafür, dass <strong>Luther</strong>s<br />

zweite Judenschrift in einer Auflage von<br />

150 000 Exemplaren erneut veröffentlicht<br />

wurde, nachdem die Nationalsozialisten<br />

den Text bereits mehrfach neu gedruckt<br />

hatten.<br />

Im Vorwort dieser Publikation<br />

„Martin <strong>Luther</strong> und die Juden – weg mit<br />

ihnen!“ äußerte sich Bischof Sasse so:<br />

„Am 10. November 1938, an <strong>Luther</strong>s Geburtstag,<br />

brennen in Deutschland die Synagogen<br />

(…). In dieser Stunde muss die<br />

Stimme des Mannes gehört werden, der<br />

als der Deutsche Prophet im 16. Jahrhundert<br />

aus Unkenntnis einst als Freund der<br />

Juden begann, der getrieben von seinem<br />

Fotos. Action Press/Ullstein Archiv Gerstenberg, Christel Gerstenberg/Corbis<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Gewissen, getrieben von den Erfahrungen<br />

und der Wirklichkeit, der größte Antisemit<br />

seiner Zeit geworden ist, der Warner<br />

seines Volkes wider die Juden.“<br />

Die Einführung des Judensterns<br />

1941 wurde von acht norddeutschen<br />

Landeskirchen der „Deutschen Christen“<br />

mit folgender Erklärung begrüßt:<br />

„Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft<br />

stehen die unterzeichneten deutschen<br />

evangelischen Landeskirchen und<br />

Kirchenleiter in der Front dieses historischen<br />

Abwehrkampfes, der unter anderem<br />

die Reichspolizeiverordnung über<br />

die Kennzeichnung der Juden als der geborenen<br />

Welt- und Reichsfeinde notwendig<br />

gemacht hat. Wie schon Dr. Martin<br />

<strong>Luther</strong> nach bitteren Erfahrungen die<br />

Forderungen erhob, schärfste Maßnahmen<br />

gegen die Juden zu ergreifen, und<br />

sie aus deutschen Landen auszuweisen.“<br />

Aber auch führende Mitglieder der<br />

„Bekennenden Kirche“ profilierten sich<br />

mit judenfeindlichen Äußerungen. Ein<br />

Beispiel bietet der evangelisch-lutherische<br />

Oberkirchenrat Otto Bezzel aus<br />

Bayreuth, der dem Führungsstab von<br />

Bischof Meiser in München angehörte. In<br />

einer Predigt in der Erlöserkirche in Bamberg<br />

forderte er 1937, „die Juden sind die<br />

Zerstörer und gehören hinausgepeitscht“.<br />

Selbst der württembergische Landesbischof<br />

Theophil Wurm leitete als<br />

Mitglied der „Bekennenden Kirche“ ein<br />

kritisches Schreiben an den Reichsjustizminister<br />

vom 3. Dezember 1938 mit folgender<br />

antisemitischer Passage ein: „Ich<br />

bestreite mit keinem Wort dem Staat das<br />

Recht, das Judentum als gefährliches Element<br />

zu bekämpfen. Ich habe von Jugend<br />

auf das Urteilen von Männern wie Heinrich<br />

von Treitschke und Adolf Stoecker<br />

über die zersetzende Wirkung des Judentums<br />

auf religiösem, sittlichem, literarischem,<br />

wirtschaftlichem und politischem<br />

Gebiet für zutreffend gehalten und vor<br />

30 Jahren als Leiter der Stadtmission in<br />

Stuttgart gegen das Eindringen des Judentums<br />

in die Wohlfahrtspflege einen<br />

öffentlichen und nicht erfolglosen Kampf<br />

geführt.“<br />

Damit wird erneut deutlich, dass die<br />

„Bekennende Kirche“ in dieser Zeit nur<br />

partiell in Distanz zum NS-Regime stand.<br />

Zwar wehrte sie sich dagegen, als kirchliche<br />

Organisation wie die „Deutschen<br />

Christen“ Teil des nationalsozialistischen<br />

Unterdrückungssystems zu werden, und<br />

beharrte in Fragen der kirchlichen Lehre<br />

auf ihrer Eigenständigkeit. Zur Verfolgung<br />

der Juden schwieg sie jedoch meist<br />

oder trat sogar öffentlich mit antisemitischen<br />

Thesen auf. Die von Wolfgang<br />

Gerlach in seiner Dissertation von 1987<br />

belegte Tatsache, dass es in der „Bekennenden<br />

Kirche“ eine beachtliche Zahl<br />

mutiger Christen gab, die bedrohten Juden<br />

zur Seite standen, kann diese Einschätzung<br />

nicht relativieren.<br />

Dass sich die Nationalsozialisten<br />

immer wieder auf <strong>Luther</strong> als „Kronzeugen“<br />

ihres Antisemitismus bezogen<br />

haben, wird schließlich in einer Erklärung<br />

deutlich, die Julius Streicher, Herausgeber<br />

des Hetzblatts Der Stürmer,<br />

am 29. April 1946 bei den Nürnberger<br />

Kriegsverbrecherprozessen abgegeben<br />

hat: „Dr. Martin <strong>Luther</strong> säße heute sicher<br />

an meiner Stelle auf der Anklagebank,<br />

wenn dieses Buch in Betracht gezogen<br />

würde. In dem Buch ‚Die Juden und<br />

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ERHÄLTLICH BEI


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

ihre Lügen‘ schreibt Dr. Martin <strong>Luther</strong>,<br />

die Juden seien ein Schlangengezüchte,<br />

man solle ihre Synagogen niederbrennen,<br />

man solle sie vernichten (…). Genau das<br />

haben wir getan!“<br />

Wenn man anhand der historischen<br />

Quellen das Verhalten der katholischen<br />

Kirche untersucht, zeigt sich ein anderes<br />

Bild. Vor allem hinsichtlich des Antisemitismus<br />

hatte sie größere Distanz zum<br />

Regime gewahrt und sich nicht auf solche<br />

Formen aktiver Kooperation mit ihm eingelassen,<br />

die insbesondere für die „Deutschen<br />

Christen“ typisch waren – auch<br />

deshalb, weil die Nationalsozialisten<br />

<strong>Luther</strong> stets als einen der „großen Deutschen“<br />

priesen und seine judenfeindlichen<br />

Thesen von Beginn an propagandistisch<br />

eingesetzt hatten.<br />

Dadurch konnten sie eine spezifische<br />

Nähe zu der von ihm gegründeten<br />

Kirche herstellen. Es setzte sich etwas<br />

fort, was bereits seit Jahrhunderten bis<br />

1933 zu beobachten war. Dies zeigt beispielhaft<br />

eine Analyse der Religionszugehörigkeit<br />

von 48 deutschen Autoren judenfeindlicher<br />

Texte, die in den Schriften<br />

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von Graetz, Steinlein, Ginzel und Brumlik<br />

zitiert werden. Nur drei gehörten der<br />

katholischen Kirche an. Zu sechs weiteren<br />

ließ sich die Religion nicht ermitteln.<br />

39 waren evangelisch, 18 von ihnen hatten<br />

evangelische Theologie studiert.<br />

Die Verbindung der evangelischen<br />

Kirche zum Antisemitismus dürfte einen<br />

wichtigen Beitrag dazu geleistet haben,<br />

dass die NSDAP bei den Reichstagswahlen<br />

vom Juli 1937 zum ersten Mal mit<br />

37,2 Prozent stärkste Partei wurde. Wie<br />

der Wahlforscher Jürgen Falter ermittelt<br />

hat, verdankte sie ihren Sieg den evangelischen<br />

Wählern. Von ihnen hatte sich<br />

jeder Zweite für Hitler entschieden, von<br />

den Katholiken dagegen nur jeder Fünfte.<br />

Letzteres kann nicht überraschen. Die<br />

katholische Kirche hatte im Jahr 1930<br />

ihren Mitgliedern verboten, der NSDAP<br />

beizutreten, und den Nationalsozialisten<br />

die Sakramente, zum Beispiel Taufe<br />

und Hochzeit, verweigert. Außerdem<br />

hatte sie 1932 in einem Hirtenbrief zur<br />

Reichstagswahl ihre Gläubigen dazu aufgerufen,<br />

nur christlich orientierte Politiker<br />

und Parteien zu wählen.<br />

Europa<br />

Nach dem Kriegsende kam die<br />

schockartige Konfrontation mit dem Holocaust.<br />

Seitdem wird der Antisemitismus<br />

von beiden christlichen Kirchen eindeutig<br />

abgelehnt. Auch im Vergleich der Einstellungen<br />

ihrer Mitglieder ergeben sich<br />

heute keine signifikanten Unterschiede.<br />

In einer repräsentativen Schülerbefragung<br />

des Kriminologischen Forschungsinstituts<br />

Niedersachsen wurden 2013<br />

knapp 10 000 niedersächsische Jugendliche<br />

befragt. Von den katholischen<br />

deutschen Schülern stimmten 7,2 Prozent<br />

antisemitischen Thesen zu, von den<br />

evangelischen waren es 6,7 Prozent.<br />

Doch nun zur dritten Frage. Wie geht<br />

die evangelische Kirche mit ihrer Vergangenheit<br />

um? 1950 hatte sie erklärt,<br />

sie sei durch „Unterlassen und Schweigen<br />

mitschuldig geworden an dem Frevel,<br />

der durch Menschen unseres Volkes<br />

an den Juden begangen wurde“. Aber<br />

das war nur die halbe Wahrheit. Darüber,<br />

dass starke Kräfte der evangelischen<br />

Kirche im Dritten Reich den Antisemitismus<br />

aktiv unterstützt hatten, verlor man<br />

1950 kein Wort.<br />

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Heute sind wir zeitlich weit genug<br />

entfernt von den damaligen Verstrickungen<br />

vieler Akteure der evangelischen<br />

Kirche. Trotzdem nutzte sie den 75. Jahrestag<br />

der Pogromnacht 2013 nicht, um<br />

selbstkritisch Rückschau zu halten.<br />

2017 wird es 500 Jahre her sein, dass<br />

die 95 Thesen des Reformators in Umlauf<br />

gebracht wurden. Dann endet die 2008<br />

begonnene <strong>Luther</strong>-Dekade. Bis dahin<br />

bliebe ausreichend Zeit, das Versäumte<br />

nachzuholen und sich an der programmatischen<br />

Aussage Margot Käßmanns<br />

zu orientieren: „Es kann kein Reformationsjubiläum<br />

geben, das bei aller Freude<br />

über die Errungenschaften der Reformation<br />

ihre Schattenseiten nicht benennt.“<br />

DAS SPEKTRUM DER MÖGLICHKEITEN<br />

reicht von einer Historikerkommission,<br />

wie sie etwa das Auswärtige Amt oder<br />

verschiedene große Firmen eingesetzt<br />

haben, bis hin zu einem sorgfältig vorbereiteten<br />

und gründlich dokumentierten<br />

Symposium.<br />

Ganz gleich, welchen Weg die<br />

EKD und die evangelischen Landeskirchen<br />

einschlagen werden: Die Entscheidung,<br />

eine solche Analyse bei kompetenten<br />

Wissenschaftlern in Auftrag zu<br />

geben, hätte eine positive Konsequenz.<br />

Sie würde den Freiraum dafür schaffen,<br />

<strong>Luther</strong>s große historische Leistung<br />

500 Jahre später angemessen zu würdigen.<br />

Schließlich ist es in hohem Maße seinem<br />

entschlossenen und kraftvoll vorgetragenen<br />

Protest zu verdanken, dass<br />

die Kirche ihren damaligen Irrweg verlassen<br />

konnte.<br />

Einerseits begründete <strong>Luther</strong> die<br />

Reformation. Andererseits förderte er<br />

eine innere Wandlung der katholischen<br />

Kirche. Auch als Übersetzer der Bibel<br />

ins Deutsche bleibt seine Lebensleistung<br />

gewaltig. Wenn sich dagegen manche<br />

Kirchenhistoriker und maßgebliche<br />

Vertreter der Kirche weiterhin wie Denkmalschützer<br />

vor den Reformator stellen,<br />

werden sie in eine unglaubwürdige, die<br />

eigene Position schwächende Abwehrhaltung<br />

geraten.<br />

Eine kritische Rückschau kann allerdings<br />

nur gelingen, wenn hierfür nicht<br />

nur Historiker, sondern auch Sozialwissenschaftler<br />

herangezogen werden. Erst<br />

dadurch könnten – ergänzend zu einer<br />

historischen Aufarbeitung – weitere,<br />

überaus wichtige Fragen geklärt werden:<br />

Woran liegt es, dass sowohl die<br />

große Mehrheit der Pfarrer als auch der<br />

von ihnen betreuten Christen nicht die<br />

Kraft hatten, die zentrale Botschaft ihres<br />

Glaubens umzusetzen und gegenüber<br />

den bedrohten Juden Nächstenliebe zu<br />

praktizieren?<br />

Welche Bedeutung gewinnt die Tatsache,<br />

dass die damals in Deutschland<br />

lebenden Menschen in ihrer Kindheit<br />

ganz überwiegend sehr autoritären Erziehungsmethoden<br />

ausgesetzt waren?<br />

Sind sie gerade auch dadurch zu willfährigen<br />

Untertanen geworden? Zeigt sich<br />

andererseits am Beispiel der wenigen<br />

JULIUS STREICHER<br />

BEI DEN NÜRNBERGER PROZESSEN<br />

Christen, die die Kraft zum Widerstand<br />

und zur tätigen Nächstenliebe hatten,<br />

dass sie von ihren Eltern und Lehrern<br />

sehr liebevoll und gewaltfrei erzogen<br />

worden sind?<br />

Die in den siebziger Jahren vom Ehepaar<br />

Oliner sowie von Eva Fogelman mit<br />

über 400 „Judenrettern“ geführten Interviews<br />

haben die hinter diesen Fragen stehenden<br />

Annahmen eindrucksvoll bestätigt.<br />

Ihre Studien zeigen: Es wäre wichtig,<br />

die hier angeregte Kommission auch damit<br />

zu beauftragen, die Biografie solcher<br />

Menschen zu untersuchen, die ihr Christentum<br />

während der Nazizeit überzeugend<br />

gelebt haben.<br />

23<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

„ER SCHLEUDERTE<br />

KILOMETERHOCH LAVA“<br />

Wer war <strong>Luther</strong>? Historiker Heinz Schilling, <strong>Luther</strong>-Botschafterin<br />

Margot Käßmann und Kardinal Walter Brandmüller über die Folgen<br />

der Reformation. Ein Gipfeltreffen im Hôtel de Rome zu Berlin<br />

Konservative protestantische Kreise<br />

schlagen vor, das Reformationsjubiläum<br />

mit einem Bußakt zu begehen.<br />

Die evangelische Kirche solle sich entschuldigen,<br />

dass sie <strong>Luther</strong>s Erbe an den<br />

Zeitgeist verraten habe. Wird es, Frau<br />

Käßmann, einen solchen Bußakt geben?<br />

Margot Käßmann: Vor jedem Jubiläum<br />

melden sich endlos viele Stimmen.<br />

Es wird 2017 auf jeden Fall kein deutschtümelndes<br />

<strong>Luther</strong>-Gedenken geben, sondern<br />

ein internationales Reformationsjubiläum<br />

mit ökumenischem Horizont.<br />

Unter diesem Dach kann viel passieren.<br />

Herr Schilling, Sie sind Historiker und<br />

Protestant. Wie stark lebt <strong>Luther</strong> in<br />

seiner Kirche?<br />

Heinz Schilling: Meiner Erfahrung<br />

nach gibt es einen großen Unterschied<br />

zwischen der Art und Weise, wie die<br />

EKD <strong>Luther</strong> interpretiert und wie er an<br />

der Basis wahrgenommen wird. Dort begegnet<br />

einem ein sachlich tiefes, Differenzierungen<br />

verlangendes <strong>Luther</strong>-Interesse,<br />

aber auch harsche Kritik bis hin<br />

zu der Forderung, den Reformator wegen<br />

seiner schlimmen Judenschriften aus<br />

dem historischen Gedächtnis zu löschen.<br />

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund<br />

sinnvoll gedenken?<br />

Schilling: Es darf sich nicht nur um ein<br />

kirchliches Gedenken handeln. <strong>Luther</strong> ist<br />

zu wichtig, als dass man ihn den Theologen<br />

überlassen könnte. Man müsste beim<br />

Jubiläum auch Menschen wie Gregor Gysi<br />

begreiflich machen: Tua res agitur – deine<br />

Sache wird hier verhandelt. Durch das,<br />

was Anfang des 16. Jahrhunderts geschah,<br />

Moderation ALEXANDER KISSLER<br />

ist auf vermittelte, aber wichtige Weise<br />

auch die heutige Existenz von Nichtchristen<br />

mitgeprägt.<br />

Für Sie, Kardinal Brandmüller, ist die Sache<br />

einfacher. Die römisch-katholische<br />

Kirche kann im Reformationsjubiläum<br />

keinen Grund zum Feiern, sondern nur<br />

zur Trauer erblicken.<br />

Kardinal Brandmüller: Jubiläen sind<br />

für Historiker eine problematische Angelegenheit.<br />

Geht es um Erinnerung, um<br />

Vergegenwärtigung, um den Blick in die<br />

Zukunft? Für viele Zeitgenossen sind<br />

Jubiläen ein vordergründiges Spektakel<br />

oder eine kommerzielle Angelegenheit.<br />

Ich hörte, es gibt jetzt <strong>Luther</strong>-Socken.<br />

Schilling: Meine Assistenten haben<br />

mir welche geschenkt mit der Aufschrift:<br />

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“<br />

Käßmann: Es gibt sie auch kleiner<br />

und rosafarben, für meine Enkeltochter.<br />

Den Satz soll <strong>Luther</strong> auf dem Wormser<br />

Reichstag gar nicht gesagt haben.<br />

Schilling: Die Rede wurde von seiner<br />

Wittenberger „PR-Agentur“ genial zugespitzt.<br />

Eigentlich sagte er: „Solange mein<br />

Gewissen durch die Worte Gottes gefangen<br />

ist, kann und will ich nichts widerrufen,<br />

weil es unsicher ist und die Seligkeit<br />

bedroht, etwas gegen das Gewissen<br />

zu tun. Gott helf mir. Amen.“<br />

Brandmüller: Das Ergebnis der Reformation,<br />

die Spaltung der Christenheit,<br />

kann kein Anlass zur Freude sein. Aber<br />

es lohnt sich, einen solchen Anlass zu ergreifen,<br />

um nach Ursachen und Wirkungen<br />

zu fragen und eine gewisse Extrapolation<br />

auf das Heute zu versuchen.<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> ( Seiten 24 bis 32)<br />

Margot Käßmann<br />

Die Pastorin ist Botschafterin<br />

des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum<br />

2017. Von<br />

1999 bis 2010 war sie Landesbischöfin<br />

der Evangelischlutherischen<br />

Landeskirche<br />

Hannovers, 2009/2010 auch<br />

EKD-Ratsvorsitzende. Sie<br />

veröffentlichte zuletzt „Mehr<br />

als Ja und Amen. Doch, wir<br />

können die Welt verbessern“


Heinz Schilling<br />

Der Historiker legte mit<br />

„Martin <strong>Luther</strong>. Rebell in einer<br />

Zeit des Umbruchs“ die<br />

maßgebliche Biografie des<br />

Reformators vor. Er lehrte<br />

Europäische Geschichte der<br />

frühen Neuzeit an der<br />

Humboldt-Universität, schrieb<br />

u.a. „Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa<br />

zum Euro pa<br />

der Staaten 1250 bis 1750“


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Käßmann: Natürlich darf ein solches<br />

Jubiläum nicht nur historisierend<br />

sein. Die Frage lautet auch, wie gehen<br />

Christinnen und Christen in einer säkularer<br />

werdenden Welt ins 21. Jahrhundert?<br />

Wir schauen auf 100 Jahre ökumenische<br />

Bewegung zurück. In dieser Zeit<br />

haben wir die kreative Kraft der konfessionellen<br />

Differenz entdeckt. Wir Protestanten<br />

würden nicht so intensiv über<br />

unser Abendmahls-Verständnis diskutieren,<br />

täten wir es nicht auch im Gegenüber<br />

zu den Katholiken. Darin liegt eine positive<br />

Kraft.<br />

Schilling: Sie sagen, das Jubiläum<br />

dürfe „nicht nur historisierend“ begangen<br />

werden. Das ist ein falsches Verständnis<br />

von Geschichte. Geschichte ist<br />

immer dynamisch auf die Gegenwart<br />

ausgerichtet und setzt Zukunftspotenziale<br />

frei. Es ist sehr fraglich, ob sich die<br />

Säkularisierung in jener Weise fortsetzt,<br />

wie wir sie die vergangenen 200 Jahre<br />

erlebt haben. Die Geschichte eröffnet<br />

alternative Welten, die man ernst nehmen<br />

muss.<br />

Worin bestand das alternative Denken<br />

der Reformation?<br />

Käßmann: Ein starker Impuls der<br />

Reformation war der gebildete Glaube,<br />

der immer widerständig ist gegen alle<br />

Formen von Fundamentalismus. Manche<br />

Religiosität, die heute entsteht, tendiert<br />

dazu, das Weltgeschehen nicht kritisch<br />

zu reflektieren. Christen müssen<br />

wie <strong>Luther</strong> die Welt am Maßstab der Bibel<br />

messen.<br />

Waren die Menschen vor <strong>Luther</strong> religiös<br />

ungebildet?<br />

Brandmüller: Aber nein. Es gab seit<br />

der Erfindung des Buchdrucks, vor <strong>Luther</strong>,<br />

17 vollständige Bibelausgaben auf<br />

Deutsch. Rechnet man die Teilausgaben<br />

hinzu mit den Evangelien und Apostelbriefen,<br />

kommt man auf fast 30 verschiedene<br />

Ausgaben. Es ist nicht wahr, dass<br />

das vorreformatorische Glaubensvolk in<br />

einem religiösen Analphabetismus gefangen<br />

gewesen wäre.<br />

Schilling: Dennoch war es ein reformatorisches<br />

Anliegen, die Gläubigen so<br />

gut zu bilden, dass sie die Bibel lesen und<br />

verstehen konnten.<br />

Brandmüller: Andererseits wuchs<br />

die Gefahr einer subjektivistischen, ja<br />

„Das<br />

Glaubensvolk<br />

war vor der<br />

Reformation<br />

keineswegs<br />

religiös<br />

analphabetisch“<br />

Walter Kardinal Brandmüller<br />

individualistischen Bibelauslegung. So<br />

entstand im Raum der Reformation eine<br />

Pluralität, die <strong>Luther</strong> enorm zu schaffen<br />

machte, obwohl er sie provoziert hatte.<br />

Thomas Mann legt in „Doktor Faustus“<br />

dem Erzähler die Worte in den Mund:<br />

Die Reformation sei „der Aufstand subjektiver<br />

Willkür gegen die objektive Bindung“<br />

gewesen. Ähnlich äußerten sich<br />

Hugo Ball, Paul Hacker, Eric Voegelin.<br />

Ist damit die anthropologische Wende<br />

im Protestantismus richtig benannt?<br />

Brandmüller: Von Willkür würde ich<br />

nicht sprechen, von Subjektivität schon.<br />

Selbstverständlich muss der Einzelne<br />

sich die Botschaft des Evangeliums persönlich<br />

zu eigen machen. Aber dass er<br />

diese Botschaft verbindlich anderen gegenüber<br />

formulieren kann, bezweifle ich.<br />

Es dauerte keine Generation, ehe es unzählbar<br />

viele reformatorische Einzelströmungen<br />

gab. Schauen Sie sich die Flut<br />

an Bekenntnisschriften an, die Confessio<br />

Augustana, die Variata, die Schmalkaldischen<br />

Artikel, die Konkordienformel.<br />

Ist das ein Zugewinn an Pluralität oder<br />

ein Verlust an Einheitlichkeit?<br />

Käßmann: Beides. Das ist eine falsche<br />

Alternative. In Nordamerika gibt es<br />

22 lutherische Kirchen. Das Reformationsjubiläum<br />

wäre ein guter Anlass, dass<br />

die <strong>Luther</strong>aner sich fragen, wie es mit<br />

dem lutherischen Einheitsgedanken bei<br />

ihnen aussieht. Andererseits ist eine solche<br />

kreative Vielfalt kennzeichnend für<br />

das protestantische Kirchenverständnis.<br />

Brandmüller: Wie aber steht es mit<br />

der Übereinstimmung in der Wahrheit?<br />

Vielfalt ist nur positiv, wenn diese Vielfalt<br />

sich nicht widerspricht.<br />

Käßmann: Ich bezweifle, dass wir<br />

etwa im Abendmahlsstreit die eine<br />

Wahrheit finden werden. Es bleibt, lutherisch<br />

gesprochen, ein Geheimnis, wie<br />

Christus in, mit und unter den Gestalten<br />

vom Brot und Wein präsent ist.<br />

Brandmüller: Ja, das Mysterium<br />

bleibt bestehen. Visus, tactus, gustus in<br />

te fallitur – Gesicht, Gefühl, Geschmack<br />

betrügen sich in dir. Quia te contemplans<br />

totum deficit – sagt Thomas von<br />

Aquino. Das Dogma bietet einen Rahmen<br />

und grenzt ab zum Irrtum.<br />

Schilling: <strong>Luther</strong> unterschied zwischen<br />

der sichtbaren und der unsichtbaren<br />

Kirche. Die sichtbaren Kirchen sind<br />

differenziert und können doch an der<br />

einen Wahrheit der einen unsichtbaren<br />

Kirche teilhaben. So könnten Protestanten<br />

und Katholiken sich 2017 wechselseitig<br />

ihre Kirchlichkeit anerkennen. Papst<br />

Franziskus wäre es zuzutrauen.<br />

Brandmüller: Die Differenzierung,<br />

von der Professor Schilling spricht,<br />

hat es in der katholischen Kirchengeschichte<br />

immer gegeben. Nehmen Sie<br />

die Vielfalt der Orden. Benediktiner,<br />

Franziskaner, Augustiner, Karmeliter,<br />

Jesuiten haben ihre spezifische Spiritualität,<br />

aber stimmen im Credo überein.<br />

27<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Differenzierungen bestehen in Akzentverschiebungen,<br />

jedoch ohne Widersprüche.<br />

Das ist im Verhältnis zu den<br />

Protestanten anders. Die Unterscheidung<br />

zwischen sichtbarer und unsichtbarer<br />

Kirche scheint mir problematisch.<br />

Natürlich ist das innerste Wesen<br />

der Kirche empirisch nicht zu greifen.<br />

Aber Christus, der sich in der Kirche inkarniert,<br />

ist nicht in Gott und Mensch<br />

aufzuspalten. Er ist, wie das Konzil von<br />

Chalcedon sagt …<br />

Käßmann: … wahrer Mensch und<br />

wahrer Gott …<br />

Brandmüller: … unvermischt und<br />

ungetrennt. Das gilt auch von der Kirche.<br />

Das unteilbare, unsichtbare Mysterium<br />

muss sich in sichtbarer Form präsentieren.<br />

Sie plädieren für die Rückkehr der Protestanten<br />

nach Rom?<br />

Brandmüller: Ich würde eher davon<br />

sprechen, dass Seitenarme wieder<br />

in das ursprüngliche Strombett einmünden<br />

sollten.<br />

Käßmann: Das Strombett wäre für<br />

Sie die römisch-katholische Kirche, von<br />

der es Abspaltungen gab. Protestantische<br />

Einheitsmodelle erkennen die Vielfalt der<br />

Zugänge an.<br />

<strong>Luther</strong> war kein Apostel der Vielfalt. Sie,<br />

Herr Schilling, schreiben von seiner „Unfähigkeit,<br />

mit Andersdenkenden in einen<br />

Dialog zu treten“. Was von seiner<br />

Einsicht abwich, hielt <strong>Luther</strong> für eine<br />

„direkte Einflüsterung des Teufels“.<br />

„<strong>Luther</strong> hat die<br />

Grundlage für<br />

Religion und<br />

Politik als zwei<br />

unterschiedliche<br />

Bereiche<br />

geschaffen“<br />

Heinz Schilling<br />

Schilling: <strong>Luther</strong> konnte sich die<br />

Welt überhaupt nicht anders vorstellen.<br />

Auch diese Unfähigkeit zum Dialog war<br />

damals keine Besonderheit. Aber <strong>Luther</strong><br />

hat eben die Grundlage dafür geschaffen,<br />

Religion und Politik als zwei unterschiedliche<br />

Bereiche zu definieren.<br />

Das wäre die Zwei-Reiche-Lehre.<br />

Schilling: Richtig. Sie geht auf eine<br />

mittelalterliche Tradition zurück, wurde<br />

aber erst nach <strong>Luther</strong> und nach dem Dreißigjährigen<br />

Krieg fruchtbar. Der Staat<br />

war nicht mehr verantwortlich, die religiöse<br />

Wahrheit durchzusetzen, die Kirchen<br />

mussten sich nicht vom Staat in die<br />

Pflicht nehmen lassen.<br />

Dennoch gab es im 19. Jahrhundert eine<br />

protestantische Allianz von Thron und<br />

Altar. Sie, Frau Käßmann, sprachen neulich<br />

davon, der Protestantismus habe<br />

manchmal „sich mit einem Untertanengeist<br />

verbandelt“. Die Kulturbeauftragte<br />

der EKD, Petra Bahr, kritisiert,<br />

dass der Protestantismus immer gefährdet<br />

sei, sich dem Zeitgeist anzupassen.<br />

Sie erinnert an stramm nationalistische<br />

Predigten im Ersten Weltkrieg.<br />

Käßmann: Es gibt eine Lerngeschichte<br />

der Reformation. <strong>Luther</strong> hat die<br />

Freiheit des Menschen in Glaubens- und<br />

Gewissensfragen, die er proklamierte,<br />

selbst nicht respektiert. Aber er hat den<br />

Samen gelegt. Ich habe auch Kriegspredigten<br />

von 1914 gelesen, da wird einem<br />

mulmig, aber wir haben gelernt.<br />

Schilling: Solche Predigten finden<br />

Sie auch auf katholischer Seite.<br />

Brandmüller: Die Motivation war<br />

aber verschieden. Im protestantischen<br />

Raum führte eine für selbstverständlich<br />

gehaltene Staatstreue dazu. Im katholischen<br />

Bereich war es der Versuch<br />

eines: „Ich auch, ich auch!“ Katholiken<br />

wurden im Kaiserreich als unzuverlässig,<br />

undeutsch deklariert. Diesen Argwohn<br />

wollten sie dann mit verbalem Säbelrasseln<br />

aus der Welt schaffen: Wir Katholiken<br />

sind auch gute Deutsche!<br />

Käßmann: Andererseits gab es zur<br />

Zeit des Nationalsozialismus, etwa im<br />

Kreisauer Kreis, Widerstand aus christlichem<br />

Geist, jenseits konfessioneller<br />

Differenzen.<br />

Größer ist die Zahl der Antisemiten, die<br />

sich auf <strong>Luther</strong> beriefen. Führt ein direkter<br />

Weg von <strong>Luther</strong> zu Hitler?<br />

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Schilling: Gewiss nicht.<br />

Käßmann: Natürlich ist <strong>Luther</strong>s<br />

Schrift von 1543 über die „Juden und ihre<br />

Lügen“ furchtbar. 20 Jahre zuvor hatte er<br />

judenfreundlich argumentiert. Wir können<br />

uns von der Schuld nicht freisprechen,<br />

dass im Protestantismus ein starker Antijudaismus<br />

vorhanden war. Insofern gibt<br />

es eine Schuldgeschichte. Gott sei Dank<br />

gehört es aber zur Lerngeschichte, dass<br />

ein solcher Antijudaismus heute in der<br />

evangelischen Kirche undenkbar ist.<br />

Brandmüller: <strong>Luther</strong> war alles andere<br />

als ein kühler Intellektueller, eher<br />

ein Vulkan, der kilometerhoch Lava in<br />

die Luft schleuderte. Nicht nur gegen Juden,<br />

auch gegen den Papst hat er gewütet.<br />

Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde<br />

ich als Kardinal mit einem Mühlstein um<br />

den Hals bei Ostia im Meer ersäuft sein.<br />

Ich nehme diese Ausbrüche nicht ernst.<br />

<strong>Luther</strong> sagte, er sei „dazu geboren, dass<br />

ich mit den Rotten und Teufeln muss<br />

kriegen und zu Felde liegen“. War er ein<br />

Choleriker vor dem Herrn?<br />

Schilling: Ich würde sein Verhalten<br />

vor dem Hintergrund der Zeit interpretieren.<br />

Die Abwehrhaltung gegen die jüdische<br />

Minderheit war damals nahezu Konsens.<br />

Fast tragisch ist es, dass <strong>Luther</strong> aus<br />

Sorge um sein Selbstbild als Prophet des<br />

wahren Wortes die Weigerung der Juden,<br />

sich taufen zu lassen, für ein Zeichen<br />

des Teufels hielt. Daraus lässt sich<br />

jedoch für Hitlers Antisemitismus nichts<br />

ableiten. Rassist war <strong>Luther</strong> gerade nicht.<br />

„<strong>Luther</strong> hat die<br />

Freiheit des<br />

Menschen in<br />

Glaubens- und<br />

Gewissensfragen<br />

selbst nicht<br />

respektiert“<br />

Margot Käßmann<br />

Sie schreiben aber von seinem „bedingungslosen<br />

Vernichtungswillen gegen<br />

Juden wie Türken“.<br />

Schilling: Er wollte beide aus den<br />

Territorien der christlichen Welt verbannen,<br />

aber nicht töten. <strong>Luther</strong> sah kurz<br />

vor seinem Tod in den Juden so etwas<br />

wie eine ansteckende Krankheit, durch<br />

die die Reinheit des Evangeliums getrübt<br />

und damit seine Reformation zunichte<br />

würde. Um eine Traditionslinie zu<br />

den Nationalsozialisten ziehen zu können,<br />

müsste der Beweis erbracht werden,<br />

dass die antijudaistischen Schriften flächendeckend<br />

in den Bibliotheken protestantischer<br />

Prediger gestanden haben.<br />

Dieser Beweis fehlt. Im Gegenteil: Hitler<br />

beschwerte sich, dass die Kirchen den<br />

Deutschen den wahren, den antisemitischen<br />

<strong>Luther</strong> vorenthalten hätten. Vorwerfen<br />

kann man dem deutschen Protestantismus<br />

hingegen, dass er, neudeutsch<br />

gesprochen, keine Firewall gegen den<br />

Antisemitismus errichtete. Die fatale<br />

Verknüpfung von nationalistisch-deutschem<br />

Bewusstsein und <strong>Luther</strong>tum hat<br />

das verhindert. Beim Katholizismus gab<br />

es das nicht.<br />

Damals gab es also keinen Schutzwall<br />

gegen den Antisemitismus. Heute,<br />

heißt es, sauge der Protestantismus den<br />

Zeitgeist auf. Die „Bibel in gerechter<br />

Sprache“ und die „Orientierungshilfe“<br />

zur Familie seien solche Sündenfälle.<br />

Käßmann: <strong>Luther</strong> nannte es den Beruf<br />

des Christen, das Wort mitten in der<br />

Welt zu ergreifen. Ich erkenne da keine<br />

Anpassung an den Zeitgeist.<br />

Günther Beckstein beklagt, es gebe<br />

kaum konservative Stimmen in der EKD.<br />

Käßmann: Das sehe ich nicht so.<br />

Herr Beckstein ist anderer Meinung, aber<br />

das hält der Protestantismus aus.<br />

Wenn, Frau Käßmann, das Wort der Bibel<br />

der Maßstab bleiben soll: Warum<br />

wird an diesem Wort herumgedoktert?<br />

Käßmann: Die evangelische Kirche<br />

doktert nicht. Es entsteht gerade eine behutsame<br />

Revision der <strong>Luther</strong>bibel, die bis<br />

2017 abgeschlossen sein wird. Die „Bibel<br />

in gerechter Sprache“ ist durch eine<br />

freie Gruppe aus Übersetzern und Exegeten<br />

entstanden. Sie wurde nie von der<br />

EKD autorisiert.<br />

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TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Käßmann: Für mich bleibt die<br />

<strong>Luther</strong>bibel der Maßstab. Aber ich finde<br />

auch in der „Bibel in gerechter Sprache“<br />

manche Anregung.<br />

Schilling: Die „Bibel in gerechter<br />

Sprache“ ist an vielen Stellen eine<br />

sprachliche Zumutung. Menschen, die an<br />

der <strong>Luther</strong>bibel hängen, stößt man vor<br />

den Kopf. Zudem sind in der Übersetzung<br />

massive ideologische Aussagen enthalten,<br />

unter anderem feministischer Art.<br />

Es ist die Rede von Apostelinnen.<br />

Käßmann: Die Apostelin Junia ist biblisch<br />

belegt.<br />

Brandmüller: Aber ich bitte Sie! Mit<br />

welcher Begründung denn?<br />

Schilling: Beim biblischen Abendmahl<br />

waren nur Männer dabei. Es widerspricht<br />

der historischen Situation, wenn<br />

eine Pastorin die Einsetzungsworte verändert<br />

und heute von „Jüngern und Jüngerinnen“<br />

spricht. Warum traut sie den<br />

Frauen und Männern ihrer Gemeinde<br />

nicht zu, dass sie zwischen der damaligen<br />

Realität eines Männerclubs und der<br />

universellen, Frauen einschließenden<br />

theologischen Verheißung des Abendmahls<br />

zu unterscheiden wissen? Dahinter<br />

steht ein grundsätzliches Problem:<br />

Geht der Protestantismus zurück zu seinen<br />

Wurzeln oder passt er sich der Gegenwart<br />

an?<br />

Käßmann: Wie gesagt, die <strong>Luther</strong>bibel<br />

bleibt der Maßstab, die Übersetzung<br />

„in gerechter Sprache“ finde ich<br />

interessant, anregend. Das Buch Hiob<br />

etwa wurde großartig übertragen. Was<br />

den Zeitgeist anbelangt: Bei der Frauenordination<br />

wurde der EKD auch vorgeworfen,<br />

sie beuge sich dem Zeitgeist.<br />

Dabei ergibt sich ein solcher Schritt konsequent<br />

aus der Lehre Martin <strong>Luther</strong>s.<br />

Schilling: Das stimmt. Obwohl <strong>Luther</strong><br />

sich einen solchen Schritt nicht vorstellen<br />

konnte.<br />

Brandmüller: In der Tat meint <strong>Luther</strong><br />

mit Ordination etwas ganz anderes<br />

als die katholische Priesterweihe.<br />

Der gegenwärtige Papst gilt als Reformpapst.<br />

Zu Recht?<br />

Brandmüller: Was bedeutet Reform?<br />

Reform kann nicht einfach Veränderung<br />

sein, sondern der Versuch, das Wesen<br />

einer Sache präziser zum Ausdruck zu<br />

bringen. Reform kann nie zum Ergebnis<br />

„Ich bestreite<br />

aber, dass Martin<br />

<strong>Luther</strong> die<br />

kirchliche Reform<br />

angestoßen hat“<br />

Walter Kardinal Brandmüller<br />

haben, dass das Reformierte nicht mehr<br />

mit dem vorher zu Reformierenden identisch<br />

ist. <strong>Luther</strong> reformierte nicht die Kirche,<br />

sondern lieferte mit eigener Lehre,<br />

eigener Liturgie, eigenen pastoralen<br />

Strukturen und eigenem Recht alle Elemente<br />

einer alternativen Kirchengründung<br />

im Widerspruch zur bestehenden.<br />

Schilling: Gleichwohl hat er Reformen<br />

angestoßen. Er war Stachel im<br />

Fleisch des Papsttums, das sich dann bemühen<br />

musste, sich seinerseits zu reformieren.<br />

Die katholische Kirche ist<br />

genauso herausgefordert, wie die protestantische<br />

Kirche zu sagen, was sie<br />

an diesem Mann gehabt hat und wie sie<br />

heute zu ihm steht.<br />

Brandmüller: Keine Frage, aber dass<br />

<strong>Luther</strong> die kirchliche Reform angestoßen<br />

hat, bestreite ich. Es gab, wie Sie selbst<br />

schreiben, im 15. Jahrhundert energische<br />

Reformbewegungen, in Spanien und Italien,<br />

lange vor <strong>Luther</strong>.<br />

Schilling: Aber alle verliefen im<br />

Sand. Ohne diese Alternative, die sich<br />

mit <strong>Luther</strong> auftat, hätte die katholische<br />

Kirche den Weg der Reform mit dem<br />

Tridentinischen Konzil nicht so rasch<br />

beschritten.<br />

Käßmann: <strong>Luther</strong> war, wie wir heute<br />

sagen würden, Reformkatholik, als er<br />

1517 mit seinen Thesen wider den Ablasshandel<br />

an die Öffentlichkeit trat.<br />

Hämmerte er sie eigentlich an die Kirchenpforte<br />

in Wittenberg?<br />

Schilling: Nein, er ließ die 95 Thesen<br />

als Plakat drucken, das vermutlich an der<br />

Tür der Schloss-, die gleichzeitig Universitätskirche<br />

war, ausgehängt wurde. Wir<br />

dürfen uns aber keinen hammerschwingenden<br />

Mönch vorstellen. Es war ein an<br />

den europäischen Universitäten üblicher<br />

Akt der Information. Damit sollte<br />

zur akademischen Disputation eingeladen<br />

werden – zu der es dann nicht kam.<br />

Brandmüller: Mit der Kritik am Ablass<br />

hatte <strong>Luther</strong> vollen Erfolg. Es wäre<br />

gut gewesen, hätte er sich damit begnügt.<br />

Käßmann: Hätte seine Kirche früher<br />

darauf reagiert, hätte es damit vielleicht<br />

sein Bewenden gehabt. An eine Spaltung<br />

oder Kirchengründung dachte <strong>Luther</strong> im<br />

Oktober 1517 nicht.<br />

Sehr wichtig war ihm die Frage nach<br />

dem gnädigen Gott. <strong>Luther</strong> hatte große<br />

Angst, im Endgericht dereinst nicht zu<br />

bestehen. Treibt diese Sorge Sie auch<br />

um?<br />

Käßmann: Ich sehe in dieser Frage<br />

die Frage nach der richtigen Lebenshaltung.<br />

Gott schaut nicht auf das, was ich<br />

tue oder leiste. Er sagt mir Lebenssinn zu,<br />

von sich aus. Darin liegt die große Freiheit,<br />

gerade in einer Gesellschaft wie der<br />

heutigen, in der Menschen nur etwas zählen,<br />

wenn sie schön sind, reich sind, Erfolg<br />

haben. Vor Gott ist es anders.<br />

Der Mensch muss sich demnach gar<br />

nicht bemühen?<br />

30<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Walter Kardinal Brandmüller<br />

Der Kirchenhistoriker leitete<br />

von 1998 bis 2009 das Päpstliche<br />

Komitee für Geschichtswissenschaft.<br />

Benedikt XVI.<br />

ernannte ihn 2010 zum Kardinal.<br />

Er schrieb „Das Konzil von<br />

Konstanz“, „Der Fall Galilei<br />

und andere Irrtümer“, „Licht<br />

und Schatten: Kirchengeschichte<br />

zwischen Glaube,<br />

Fakten und Legenden“


TITEL<br />

<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />

Käßmann: Wenn ich erfahre, dass<br />

Gott mir Lebenssinn zusagt, werde ich<br />

alles tun, so zu leben, dass Gott an mir<br />

seine Freude hat.<br />

Brandmüller: Das ist gut katholisch<br />

gedacht.<br />

Käßmann: <strong>Luther</strong> war ja zunächst<br />

Katholik und Mönch. Der Bruch kam<br />

1520 mit dem päpstlichen Bann.<br />

Brandmüller: Die von <strong>Luther</strong> kritisierte<br />

Leistungsfrömmigkeit war jedoch<br />

in der spätmittelalterlichen Kirche allenfalls<br />

ein pathologisches Randphänomen.<br />

Die „Nachfolge Christi“ hingegen<br />

des Thomas von Kempen war mit rund<br />

3000 Ausgaben denkbar weit verbreitet.<br />

Darin finden Sie von Leistungsfrömmigkeit<br />

und Werkgerechtigkeit keine Silbe,<br />

die persönliche Gottesbeziehung steht<br />

ganz im Zentrum.<br />

Schilling: Zumindest in Deutschland<br />

sahen sich gegen Ende des Mittelalters<br />

die Leute durch diese Leistungsfrömmigkeit<br />

aber unter Druck gesetzt.<br />

Auch ein Mann wie Albrecht Dürer<br />

sagte, durch <strong>Luther</strong>s Gnadenlehre falle<br />

diese tägliche Sorge, wie ich vor Gott<br />

Käßmann, Brandmüller,<br />

Schilling im Gespräch mit<br />

Alexander Kissler<br />

„Das Jubiläum der<br />

Reformation<br />

könnte gerade die<br />

Menschen in<br />

Ostdeutschland<br />

neugierig machen“<br />

Margot Käßmann<br />

bestehen kann, in sich zusammen. <strong>Luther</strong><br />

hat den Wert des einzelnen Menschen<br />

theologisch neu verankert und<br />

dessen Grenzen akzeptiert.<br />

Brandmüller: Dennoch finden<br />

Glaube, Liebe, Hoffnung nicht nur im<br />

Kopf statt, sondern verlangen den ganzen<br />

Menschen. Eine Wallfahrt, ein Werk<br />

der Buße oder eine Tat der Nächstenliebe<br />

sind ganz menschlicher Ausdruck dieser<br />

Beziehung des Menschen zu Gott.<br />

Käßmann: Wenn die tiefe und tägliche<br />

Angst um das Seelenheil, die<br />

Furcht vor dem Fegefeuer pathologische<br />

Randphänomene waren – warum<br />

stieß dann der Bußprediger Tetzel mit<br />

seinen Ablassgeschäften auf so großen<br />

Widerhall?<br />

Schilling: Und warum schrieb der<br />

damalige päpstliche Nuntius, „ganz<br />

Deutschland“ sei in Aufruhr, „neun Zehntel<br />

erheben das Feldgeschrei ‚<strong>Luther</strong>‘“?<br />

Brandmüller: Man sollte, denke ich,<br />

da auch sozialpsychologische Faktoren<br />

bemühen. <strong>Luther</strong> war, wie Sie selbst<br />

schrei ben, Herr Schilling, „Rebell in einer<br />

Zeit des Umbruchs“. Die ganze soziale<br />

Wirklichkeit war damals von Umbrüchen<br />

geprägt.<br />

Käßmann: Seine Kritik an der Kirche<br />

zeigte existierende Missstände auf.<br />

Ich denke da etwa an die Gewissensnot<br />

vieler Priester, die Frau und Kinder hatten.<br />

Sonst wäre die Bewegung nicht in<br />

Gang gekommen.<br />

Brandmüller: Warum aber blieben<br />

zum Beispiel Erasmus von Rotterdam,<br />

Thomas Morus, John Fisher und viele<br />

andere katholisch? Niemand bezweifelte,<br />

dass die konkret existierende Kirche reformbedürftig<br />

war, doch an Reformation<br />

im Sinne <strong>Luther</strong>s dachten sie und viele<br />

andere nicht.<br />

Die Bundeskanzlerin erhofft sich vom<br />

Reformationsjubiläum eine „missionarische<br />

Komponente“. Wird dafür Platz<br />

sein?<br />

Käßmann: Sicher. Wenn Mission bedeutet:<br />

Lebe so, dass andere dich fragen,<br />

warum du so lebst. Das Reformationsjubiläum<br />

könnte gerade auch die<br />

Menschen in Ostdeutschland neugierig<br />

machen auf die Glaubenserfahrung der<br />

Reformatoren und auf den Glauben in<br />

heutiger Zeit. In diesem Sinne bin ich<br />

gerne missionarisch.<br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Wir haben zu wenig<br />

Frauen, zu wenig<br />

Junge und zu wenig<br />

Zuwanderer “<br />

Peter Tauber, CDU-Generalsekretär, zur Mitgliederstruktur seiner Partei – zitiert in<br />

der Reportage über die drei neuen Parteimanager der Regierungskoalition, Seite 38<br />

33<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

ZAHN UM ZAHN<br />

Als Kind biss er zu. Als Lehrling biss er sich durch. Bei der Thüringen-Wahl im Herbst<br />

hat Bodo Ramelow Chancen, erster Ministerpräsident der Linkspartei zu werden<br />

Von MERLE SCHMALENBACH<br />

Foto: Roger Hagmann für <strong>Cicero</strong><br />

Einmal schnappte sich Bodo Ramelow<br />

im Dunkeln eine Hand und<br />

biss zu. Er war etwa acht Jahre alt.<br />

Es passierte in der Jugendherberge, andere<br />

Kinder wollten seinen Bruder mit<br />

Schuhcreme einschmieren. Bodo hörte<br />

ihn schreien, sprang vom Bett herunter<br />

und schlug die Zähne in das Erste, was er<br />

zu fassen kriegte. Der Betroffene zeigte<br />

ihm Jahre später den Handrücken. Der<br />

Abdruck der Zähne war noch zu sehen.<br />

Bodo Ramelow, 58 Jahre alt, ist ein<br />

bissiger Typ geblieben. Aber er agiert keinesfalls<br />

blindwütig, eher wie ein Fuchs.<br />

Im Volksglauben gelten die Tiere als<br />

schlau, listig und etwas arrogant. All das<br />

sagt man auch dem Linken-Fraktions chef<br />

im Thüringer Landtag nach.<br />

Zurzeit ist Ramelow in Lauerstellung.<br />

In diesem Herbst will er der erste<br />

Ministerpräsident seiner Partei werden.<br />

Es läuft gut für ihn: Die Thüringer Regierungsparteien<br />

CDU und SPD haben sich<br />

zuletzt mit Pannen und Blamagen überboten.<br />

In Karlsruhe hat Ramelow gegen<br />

den Verfassungsschutz gewonnen, der<br />

ihn nicht mehr bespitzeln darf. In Umfragen<br />

zur Landtagswahl am 14. September<br />

schwanken die Werte stark. Alles<br />

scheint möglich. Nur etwas ändert sich<br />

nicht: Ramelows Partei liegt vor der SPD.<br />

Schon 2009 wäre eine rot-rot-grüne<br />

Mehrheit drin gewesen. Von den drei Parteien<br />

war Ramelows die stärkste. Doch<br />

die SPD wollte keinen Linken zum Regierungschef<br />

wählen, sondern lieber Christine<br />

Lieberknecht von der CDU.<br />

Seitdem ist viel passiert. Die SPD<br />

braucht neue Bündnisoptionen, wenn<br />

sie sich 2017 aus der Großen Koalition<br />

im Bund befreien und endlich den Kanzler<br />

stellen will. Schritt für Schritt öffnet<br />

Sigmar Gabriel seine Partei nach links.<br />

Eine rot-rote Regierung in Thüringen<br />

wäre eine weitere Lockerungsübung.<br />

Christoph Matschie, der Thüringer SPD-<br />

Chef, schließt neuerdings nichts mehr<br />

aus. Heike Taubert, Sozialministerin<br />

und SPD-Spitzenkandidatin, auch nicht.<br />

In Ramelow hätte die SPD einen<br />

pragmatischen Partner. Einen, der den<br />

DDR-Staatsapparat kritisiert. Ramelow<br />

geht in die Kirche, politische Positionen<br />

leitet er aus der christlichen Ethik ab. In<br />

der Linkspartei irritiert das viele. Aber<br />

Ramelow zieht sein Ding trotzdem durch.<br />

Das ist seine Mentalität. „Ich neige zum<br />

Querdenken, was mir schon mal als Querulantentum<br />

ausgelegt wird“, sagt er.<br />

DAS MINISTERPRÄSIDENTENAMT wäre<br />

ein Aufstieg für die Partei – und ein<br />

noch größerer für Ramelow. Geboren<br />

wird er 1956 in Niedersachsen. Seine<br />

Mutter stammt aus einer alten, protestantischen<br />

Familie, ein Vorfahr hat Goethe<br />

getauft. Schon, dass er das erwähnt,<br />

erzählt etwas. Das Geld ist knapp in der<br />

Familie. Ramelows Vater fällt als Ernährer<br />

aus. Aus dem Krieg hat er Gelbsucht<br />

mitgebracht, sein Lebensmittelladen ist<br />

bankrott. Um die Familie durchzubringen,<br />

arbeitet die Mutter nachts in einer<br />

Spülküche. Kuchenränder vom Bäcker<br />

sind etwas Besonderes.<br />

Als Bodo acht Jahre alt ist, stirbt sein<br />

Vater in seinen Armen, kein Erwachsener<br />

ist anwesend, die Mutter muss arbeiten.<br />

Lange verdrängt er das.<br />

In der Schule scheitert er. Seine<br />

Rechtschreibung ist eine Katastrophe.<br />

Weil die Lehrer nicht wissen, was Legasthenie<br />

ist, unterstellen sie ihm Faulheit.<br />

„Das hat mich verletzt“, sagt er. Die<br />

Mutter schlägt ihn aus Verzweiflung. Ramelow<br />

lernt, dass er ausdauernder sein<br />

muss als alle anderen. Mit 14 geht er in<br />

die Lehre, er soll Einzelhandelskaufmann<br />

werden, auch Feinkost ist Teil der<br />

Ausbildung in einem Kaufhaus in Gießen.<br />

Gummistiefel und Kittel sind ihm viel zu<br />

groß, er sieht albern aus. Aber er hält<br />

durch. Ein Kaninchen nimmt er in weniger<br />

als zehn Minuten aus. Ratsch, das<br />

Fell ab, zack, die Vorderbeine ab.<br />

Zäh und unbequem ist er. Weil er die<br />

Arbeitsbedingungen der Lehrlinge verbessern<br />

will, riskiert er den Rausschmiss.<br />

Am Ende rettet ihn wohl nur, dass er der<br />

beste Lehrling Gießens ist.<br />

Er ist ein Verkäufer geworden, der<br />

sich mit Etiketten auskennt. Das ist immer<br />

noch so: Ramelow vermarktet das<br />

Produkt Ramelow. Er führt Tagebuch im<br />

Internet, lädt Fotos seines Jack-Russell-<br />

Terriers Attila hoch. Ob er auch ein Bundesland<br />

repräsentieren kann?<br />

An einem trüben Donnerstag eilt er<br />

durch den Erfurter Landtag. Medienfunktionäre<br />

der chinesischen Provinz<br />

Jilin erwarten ihn, sie haben wichtige<br />

Mienen aufgesetzt. Sie sind nach Thüringen<br />

gekommen, um sich mit den Vertretern<br />

lokaler Fernsehsender zu treffen.<br />

Ramelow empfängt sie im Landtag. Für<br />

den Termin hat er extra seinen Linkspartei-Pin<br />

vom Jackett genommen und durch<br />

einen Thüringen-Stecker ersetzt. Auch<br />

chinesische Visitenkarten hat er dabei.<br />

Er steht jetzt am Mikrofon im Foyer,<br />

neben ihm kichert der chinesische Dolmetscher<br />

etwas hilflos. Er soll den Gästen<br />

Ramelows Funktion übersetzen. Aber<br />

wie erklärt man Chinesen, was ein linker<br />

Oppositionschef ist? Hihihi. Hinterher erzählt<br />

man sich amüsiert, als Ramelow als<br />

„Chairman of the left group“ vorgestellt<br />

wurde, hätten die Chinesen nach links<br />

geguckt. „Ministerpräsident“, so viel ist<br />

sicher, ließe sich leichter übersetzen.<br />

MERLE SCHMALENBACH, Reporterin in<br />

Berlin, fasziniert die thüringische Politik,<br />

in der auf die Unberechenbarkeit von<br />

Wählern und Parteichefs Verlass ist<br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

DER POLITIKDARSTELLER<br />

Mit dem ehemaligen Schauspieler Charles M. Huber hat die CDU einen Quereinsteiger in<br />

den Bundestag geschickt – inzwischen muss das Experiment als gescheitert gelten<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Über das politische Talent von<br />

Charles M. Huber gehen die Meinungen<br />

zwar auseinander. Aber<br />

eine Fußnote in der Geschichte des deutschen<br />

Parlamentarismus dürfte dem<br />

57‐Jährigen schon heute sicher sein: als<br />

erstem Bundestagsabgeordneten, dem<br />

der eigene Kreisverband noch während<br />

der laufenden Legislaturperiode das Vertrauen<br />

entzog.<br />

„Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen<br />

über die Wahlkreisarbeit und<br />

eine nach wie vor nicht tragfähige Basis<br />

für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit<br />

sieht sich der CDU-Kreisvorstand<br />

Darmstadt veranlasst, eine Zusammenarbeit<br />

mit dem Bundestagsabgeordneten<br />

Charles M. Huber nicht weiter zu<br />

verfolgen.“ So stand es kurz und bündig<br />

in einer am 1. März von den örtlichen<br />

Christdemokraten verbreiteten<br />

Pressemitteilung. Weitere Nachfragen<br />

unerwünscht. Zur Vorgeschichte dieser<br />

Peinlichkeit lässt sich nur so viel mit Sicherheit<br />

sagen: Die Versuchsanordnung<br />

war von Anfang an riskant.<br />

Die Darmstädter CDU hielt es vor<br />

der zurückliegenden Bundestagswahl jedenfalls<br />

für eine gute Idee, die sozialdemokratische<br />

Direktkandidatin Brigitte<br />

Zypries mit einem prominenten Gegenkandidaten<br />

herauszufordern – schließlich<br />

ist Zypries als ehemalige Bundesjustizministerin<br />

selbst eine Art Promi. Über<br />

etwas verschlungene Wege verfiel die mit<br />

dem Kandidatencasting betraute Darmstädter<br />

CDU-Landtagsabgeordnete Karin<br />

Wolff auf ihren damaligen Facebook-<br />

Freund Charles M. Huber. Der gelernte<br />

Zahntechniker, Sohn eines senegalesischen<br />

Diplomaten und einer bayerischen<br />

Hausangestellten, ist einem älteren Fernsehpublikum<br />

noch durch seine Auftritte<br />

in der Krimiserie „Der Alte“ bekannt;<br />

diese Schauspielkarriere endete freilich<br />

im Jahr 1997, danach versuchte sich<br />

Karl-Heinz Huber, so sein bürgerlicher<br />

Name, unter anderem als Gastronom in<br />

München, wurde SPD-Mitglied und trat<br />

später zur CSU über. Seine politische<br />

Expertise beschränkte sich im Wesentlichen<br />

auf eine unterstützende Teilnahme<br />

an Angela Merkels Wahlkampf-Zugfahrt<br />

im „Rheingold-Express“ anno 2009. Karin<br />

Wolff, der einstigen hessischen Kultusministerin,<br />

schien das ausreichend.<br />

HUBER LIESS SICH von ihr nicht lange<br />

bitten, übersiedelte von München nach<br />

Südhessen sowie von der CSU zur CDU –<br />

und wurde im Oktober 2012 tatsächlich<br />

von 94 Prozent der Darmstädter Delegierten<br />

als Bundestagskandidat für den<br />

Wahlkreis 186 nominiert. Ein hessischer<br />

CDU-Insider, der Huber zuvor auf dessen<br />

Politiktauglichkeit testen sollte, berichtet<br />

allerdings, ihm seien schon damals<br />

Zweifel gekommen. Der Wunschkandidat<br />

habe in Gesprächen nämlich keinerlei<br />

inhaltliches Profil erkennen lassen, sondern<br />

nur Allgemeinplätze von sich gegeben.<br />

Bis heute heißt es auf Hubers Homepage<br />

übrigens wörtlich: „Ich habe mir<br />

als Quereinsteiger mit eine Partei ausgesucht,<br />

welche in der Lage ist, über einen<br />

soliden Haushalt und gesunden Perspektiven<br />

für die Wirtschaft und nicht<br />

über Steuererhöhungen, eine Basis für<br />

unsere gesamte Gesellschaft schaffen.<br />

Eine Kandidat sollte sich der Partei verpflichtet<br />

fühlen, mit deren Arbeit und<br />

deren Werte er sich identifizieren kann.<br />

Meine Partei ist daher die CDU.“<br />

Dann kam der Wahlkampf, und der<br />

Ärger begann. Er wurde über die Wochen<br />

sogar so groß, dass Huber am Abend<br />

des 22. September nicht einmal zur Wahlparty<br />

seiner Partei erschien – offenbar<br />

aus Frust über das verpasste Direktmandat.<br />

Erst als am nächsten Morgen klar<br />

wurde, dass er es über die Landesliste<br />

doch in den Bundestag geschafft hatte,<br />

ließ Huber wieder von sich hören. Doch<br />

da war das Verhältnis zwischen dem<br />

Kandidaten und der Darmstädter CDU<br />

offenbar längst zerrüttet.<br />

Alsbald wetterte Charles M. Huber<br />

öffentlich, die Partei habe ihn im Wahlkampf<br />

nicht ausreichend unterstützt,<br />

70 Prozent der Plakate habe er selbst kleben<br />

müssen – ohnehin sei der Darmstädter<br />

Kreisvorsitzende „ungeeignet“ und<br />

sollte am besten zurücktreten. Die so Gescholtenen<br />

werfen dem Quereinsteiger<br />

Arroganz und maßlose Selbstüberschätzung<br />

vor. Angeblich hat er sogar Geld<br />

dafür verlangt, dass sein Konterfei auf<br />

den Wahlplakaten zu sehen war. Auch<br />

die Tatsache, dass Huber noch während<br />

des Wahlkampfs bekundete, Darmstadt<br />

erinnere ihn „an viele Städte im Osten<br />

direkt nach der Wende“, sorgte für atmosphärische<br />

Störungen. Nach dem Einzug<br />

in den Bundestag, heißt es bei der Darmstädter<br />

CDU, sei der Abgeordnete kaum<br />

zu sprechen gewesen – weil er nach eigenen<br />

Angaben mit der Regierungsbildung<br />

beschäftigt gewesen sei.<br />

Charles M. Huber selbst will sich zu<br />

dem grotesken Schauspiel inzwischen<br />

nicht mehr äußern. Eine Gesprächsanfrage,<br />

die ihn offenbar während einer<br />

Dienstreise erreichte, beantwortete er<br />

via E-Mail mit folgenden Worten: „Bin<br />

als Entwicklungs und Außenpolitiker in<br />

Afrika unterwegs. Ich werde mich an dieser<br />

Provinzposse nicht weiter beteiligen.“<br />

In einem Zeitungsinterview hatte<br />

Huber wenige Wochen nach seiner Wahl<br />

verkündet, Politik sei „kein Lehrberuf“.<br />

Wenn er sich da mal nicht getäuscht hat.<br />

ALEXANDER MARGUIER ist<br />

stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Foto: Dominik Beckmann/Brauer Photos<br />

36<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

PAPST HÖRT PUNK<br />

Von WULF SCHMIESE, CHRISTOPH SEILS und ANDREAS THEYSSEN<br />

Trio der Gegensätze: Yasmin Fahimi, Peter Tauber und Andreas<br />

Scheuer sind die neuen Generalsekretäre von SPD, CDU und CSU.<br />

Drei Parteien, drei Temperamente – und alle wollen für sich das<br />

Maximum aus dem Regierungsbündnis rausholen<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


„Es ist auch nicht zwingend<br />

unsere Aufgabe, dass wir uns<br />

lieb haben“, sagt Peter Tauber.<br />

Der CDU-Generalsekretär (vorn),<br />

seine SPD-Kollegin Yasmin<br />

Fahimi und ihr CSU-Pendant<br />

Andreas Scheuer


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Andi und Peter<br />

gegen Frau Fahimi.<br />

Im Restaurant am<br />

Gendarmenmarkt<br />

bleibt die Stimmung<br />

gegnerisch<br />

Gabriels Generalin<br />

Yasmin Fahimi, 46, war<br />

bisher Abteilungsleiterin bei<br />

der Gewerkschaft IG BCE.<br />

Damit ist die Chemikerin<br />

eine Quereinsteigerin auf<br />

der Berliner Bühne und erst<br />

recht in der SPD-Zentrale.<br />

Dem unter chronischer<br />

Betriebsblindheit leidenden<br />

Willy-Brandt-Haus könnte<br />

ein Blick von außen allerdings<br />

helfen<br />

Das erste Treffen ist ein Reinfall.<br />

Es soll eigentlich ein lockeres<br />

Kennenlernen werden,<br />

ein später Lunch im<br />

Refugium am Berliner Gendarmenmarkt.<br />

Als die drei in dem Restaurant<br />

zum ersten Mal zusammen speisen,<br />

ist es höchste Zeit. Ihre drei Parteien<br />

regieren schon seit über zwei Monaten<br />

gemeinsam. Sie sind die Generalsekretäre,<br />

alle neu im Amt: Peter Tauber von<br />

der CDU, Yasmin Fahimi von der SPD<br />

und Andreas Scheuer von der CSU.<br />

Mit den drei kann es zäh werden,<br />

das geht aus den Berichten der Anwesenden<br />

über das Treffen eindeutig hervor.<br />

Die Stimmung bleibt gegnerisch,<br />

trotz aller Vorsätze. Scheuer will sich<br />

leutselig geben, redet und redet. Fahimi<br />

reagiert einsilbig, wundert sich offensichtlich,<br />

dass sie bekehrt werden soll.<br />

Die Männer sehen in ihr wiederum eine<br />

verkniffene Linke ohne Prokura; unsicher,<br />

wie weit sie auf die Kollegen zugehen<br />

darf. SPD-Kader, humorfern<br />

und misstrauisch – so wirkt sie auf die<br />

anderen.<br />

Tauber und Scheuer sind beide<br />

39 Jahre alt, Fahimi ist 46. Die Männer<br />

kennen sich aus der Jungen Union<br />

und arbeiten schon lange in der Bundestagsfraktion<br />

zusammen. Seit sie Generalsekretäre<br />

sind, telefonieren sie jeden<br />

Sonntag miteinander, um die beginnende<br />

Woche abzustimmen. „Der Andi“ und<br />

„der Peter“ duzen einander. Fahimi, die<br />

nicht Mitglied im Parlament ist, bleibt<br />

beim „Sie“. Sie muss sich als Außenseiterin<br />

fühlen.<br />

Auch wenn sie sich selbst nicht als<br />

Traumformation sehen: Tauber, Fahimi,<br />

Scheuer – sie bilden eine faszinierende<br />

Versuchsanordnung und eine wichtige<br />

für diese Regierung. Die Konstellation<br />

bietet Hinweise darauf, wo die drei Parteien<br />

hinwollen.<br />

Generalsekretäre von Regierungsparteien<br />

haben eine Doppelrolle. Sie<br />

müssen die Koalition stabilisieren. Aber<br />

sie müssen zugleich die Partei profilieren.<br />

Der Job verlangt es, auf die nächste<br />

Wahl hinzuarbeiten. Die Koalition muss<br />

vorzeigbar sein, sie darf nicht untergehen.<br />

Aber erst recht darf die eigene Partei<br />

nicht in der Regierung untergehen, so<br />

wie es SPD und FDP in ihren Bündnissen<br />

mit Angela Merkel widerfuhr. Die CSU<br />

wiederum muss Obacht geben, dass sie<br />

neben der großen Unionsschwester nicht<br />

übersehen wird.<br />

ASCHERMITTWOCH, Passau, Dreiländerhalle.<br />

Andreas Scheuer schreit, schmettert,<br />

knarzt. Alljährlich trifft sich hier<br />

die CSU, um in der Bundespolitik einen<br />

krachledernen Akzent zu setzen. Traditionsgemäß<br />

hält der Generalsekretär die<br />

letzte Rede. Für Scheuer ist es eine Premiere,<br />

aber im wahrsten Sinne ein Heimspiel:<br />

Aus Passau stammt er, hier lebt er<br />

mit Frau und Tochter.<br />

„Wer schmarotzt, braucht gar nicht<br />

erst zu kommen“, ruft er in den Saal,<br />

er meint die zuwandernden Bulgaren<br />

und Rumänen. „Der deutsche Pass<br />

ist kein Ramschartikel“, bellt er angesichts<br />

der Doppelpass-Initiative einiger<br />

SPD-Ministerpräsidenten.<br />

Auch später, als er übers Land zieht<br />

und in Dorfgasthöfen bei den traditionellen<br />

CSU-Fischessen vorbeischaut, schont<br />

er die Sozialdemokraten nicht. Die Doppelpass-Initiative:<br />

„versuchter Vertragsbruch“.<br />

Der Fall Edathy: „absoluter<br />

Fotos: Steffi Loos/CommonLens [M], Michael Gottschalk/Photothek via Getty Images [M], Alicja Gola Matt/Glänzend GbR [M] (Seiten 38 bis 39), Axel Schmidt/CommonLens/DDP Images [M]<br />

40<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Vertrauensbruch“. Auch mit Ratschlägen<br />

an den Koalitionspartner spart er<br />

nicht. „Der Sigmar Gabriel ist ein ganz<br />

Netter. Aber er muss seine Truppen zusammenhalten“,<br />

sagt er im Bräustüberl<br />

zu Passau-Hacklberg.<br />

Scheuer betreibt ein riskantes Spiel.<br />

Denn der Koalitionsvertrag gibt nur die<br />

Richtung vor. Viele Details müssen noch<br />

ausgehandelt werden. Wie werden Zeiten<br />

der Arbeitslosigkeit bei der Rente berücksichtigt?<br />

Welche Ausnahmen wird<br />

es beim Mindestlohn geben? Angesichts<br />

der exzessiven Orientierungshilfe, die<br />

Scheuer ihnen gibt, könnten die Sozialdemokraten<br />

sich hartleibig zeigen.<br />

Denn er teilt gegen jeden aus, der<br />

ein SPD-Parteibuch hat. Gegen Gabriel,<br />

gegen Sozialministerin Andrea Nahles.<br />

„Ich würde mir wünschen, dass die SPD-<br />

Minister ihre Arbeit machen und den<br />

Koalitionsvertrag abarbeiten.“ Die beiden<br />

kämen bei der Rente mit 63 und der<br />

Energiewende ständig mit neuen Wasserstandsmeldungen<br />

um die Ecke anstatt<br />

endlich Gesetzesentwürfe vorzulegen.<br />

Er geht auch Fahimi an. Dass sie<br />

den SPD-Landesverbänden im Osten<br />

freistellen wolle, mit der Linkspartei<br />

zusammenzuarbeiten, „war nicht vertrauensbildend“,<br />

wettert er. „Wir haben<br />

Fairplay vereinbart. Da kann es nicht<br />

sein, dass manche am linken Rand Spielchen<br />

machen.“<br />

500 Kilometer entfernt steht Yasmin<br />

Fahimi auf der Bühne. Aschermittwoch,<br />

Baunatal bei Kassel, Kulturhalle.<br />

Fahimi referiert, doziert, verschluckt<br />

Regierung<br />

stabilisieren,<br />

Partei<br />

profilieren – die<br />

Generalsekretäre<br />

haben eine<br />

Doppelrolle<br />

ihre Pointen. Vor den 300 Genossen<br />

kämpft sie sich durch ihr Manuskript.<br />

Das Redepult ist zu hoch für sie. Zwischen<br />

Karnevalsgarde und Kommunalpolitikern<br />

wirkt sie wie ein Fremdkörper.<br />

„Farbe bekennen statt abtauchen“ kürt<br />

sie zum Motto ihres Vortrags, „den klaren<br />

Standpunkt in der Regierung haben<br />

Sigmar Gabriel und Merkel eben nicht“.<br />

Das „Nichtstun“ sei ein Politikstil, den<br />

Merkel jetzt perfektionieren wolle. Neu<br />

ist das nicht.<br />

Aufmunternden Beifall erhält die<br />

Rednerin aus der Hauptstadt nur vorne,<br />

wo die örtliche Parteiprominenz sitzt.<br />

Dabei ist Baunatal sozialdemokratisches<br />

Kernland, hier ist die SPD noch Volkspartei,<br />

fest in den örtlichen Vereinen<br />

und in der Kommunalpolitik verankert.<br />

Im VW-Werk bilden Partei und Gewerkschaft<br />

noch eine Einheit. Doch Fahimi<br />

weiß das nicht zu nutzen. Sie hat nach<br />

der Rede keine Zeit für einen Plausch mit<br />

den Genossen, für eine Beratung mit den<br />

örtlichen Funktionären. Sie eilt weiter.<br />

DIE BÜHNE IM GRÜNEN Salon der Volksbühne<br />

in Berlin liegt ihr mehr. Zwei Tage<br />

vorher tritt sie hier auf. „Sprache. Macht.<br />

Denken“, so heißt ein Buch, das sie mit<br />

anderen Politikern von SPD und Grünen<br />

herausgebracht hat, und das an diesem<br />

Abend beim „Denkwerk Demokratie“<br />

vorgestellt wird. Es fallen Begriffe<br />

wie „Frames“ oder „Narrative“. Natürlich<br />

geht es auch um die ewig linke Frage,<br />

wie sich im politischen Diskurs eine Hegemonie<br />

erringen lässt.<br />

Anders als beim politischen Aschermittwoch<br />

spricht Yasmin Fahimi frei. Sie<br />

trägt einen schwarzen Hosenanzug und<br />

eine pinkfarbene Bluse und sitzt entspannt<br />

im tiefen grünen Sessel. Sie hakt<br />

nach, nimmt Gedanken auf, in Debattensalons<br />

ist sie zu Hause. Mit dem Ex-Juso-<br />

Chef, der neben ihr sitzt, hat sie schon<br />

die eine oder andere Schlacht geschlagen.<br />

Mit der grünen Bundestagsabgeordneten<br />

in der ersten Reihe ist sie per Du.<br />

Im Raum sind Aktivisten und Theoretiker,<br />

die von einer rot-rot-grünen Regierung<br />

träumen. Sie schätzen es, wenn<br />

eine Politikerin mehr Fragezeichen als<br />

Ausrufezeichen setzt. „Wie schaffen wir<br />

Diskurse, die mit den Lebensräumen der<br />

Menschen verbunden sind?“, fragt Fahimi.<br />

„Wie lautet die sozialdemokratische<br />

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BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Seehofers General<br />

Andreas Scheuer, 39, ist seit<br />

2002 Bundestagsabgeordneter,<br />

ab 2009 Staatssekretär<br />

im Bundesverkehrsministerium.<br />

2013 machte ihn<br />

Horst Seehofer zum CSU-<br />

Generalsekretär. Kurz nach<br />

Amtsantritt musste er einen<br />

in Tschechien erworbenen<br />

Doktortitel wegen Ungereimtheiten<br />

ruhen lassen<br />

Scheuer beherrscht<br />

das Feine nicht,<br />

Fahimi misslingt<br />

das Grobe. Ihre<br />

Schwächen setzen<br />

beide unter Druck<br />

Erzählung für das 21. Jahrhundert?“ Dies<br />

hier ist ihr Heimspiel. Nicht auszudenken,<br />

was passieren würde, wenn Andreas<br />

Scheuer vor so einem Publikum aufträte.<br />

Narrative? Frames? Zum Auftakt seiner<br />

Generalsekretärszeit erwies sich seine<br />

Doktorarbeit als so dünn, dass er den<br />

Titel rasch von seiner Homepage löschte.<br />

Scheuer beherrscht das Feine nicht,<br />

Fahimi misslingt das Grobe. Das wird sie<br />

beide unter Druck setzen. Und die Kooperation<br />

der Regierungsparteien?<br />

Alle vier Wochen wollen sich die drei<br />

Generalsekretäre nun treffen – eine mühsame<br />

Pflicht, auf die sich niemand von ihnen<br />

zu freuen scheint. „Es ist auch nicht<br />

zwingend unsere Aufgabe, dass wir uns<br />

lieb haben“, sagt Peter Tauber in seinem<br />

Büro hoch oben im Adenauer-Haus.<br />

Diese Koalition werde auf drei Ebenen<br />

zusammengehalten: Die wichtigste sei<br />

das Kabinett, dann komme die Fraktion,<br />

zum Schluss erst wirkten die Generalsekretäre,<br />

bei denen könnten „die Fliehkräfte<br />

am stärksten“ sein.<br />

Wie Generalsekretäre agieren, hängt<br />

davon ab, was ihre Vorsitzenden erwarten.<br />

Sie entwickeln ihre Rolle aber auch immer<br />

anhand ihrer persönlichen Stärken und<br />

Schwächen. Es gibt in der Welt der Parteimanager<br />

die klassischen Phänotypen,<br />

die legendären Parteistrategen, die großen<br />

Vorbilder. In der Hochzeit der Parteiendemokratie<br />

in den siebziger und achtziger<br />

Jahren glänzten der Christdemokrat<br />

Kurt Biedenkopf und der Sozialdemokrat<br />

Peter Glotz als intellektuelle Vordenker<br />

ihrer Parteien. Heiner Geißler galt<br />

noch dazu als begnadeter Populist. Peter<br />

Hintze zählte eher zum Typ nimmermüdes<br />

Schlitzohr, er legte in den neunziger<br />

Jahren mit einem einzigen Rote-Socken-<br />

Plakat für fast zwei Jahrzehnte die strategische<br />

Handlungsfähigkeit der SPD lahm.<br />

Alexander Dobrindt manövrierte mit kalkulierter<br />

Aggressivität die Grünen aus.<br />

Auf der anderen Seite gab es jene traurigen<br />

Gestalten, die zur falschen Zeit am<br />

falschen Ort waren, die als „Scholzomat“<br />

oder „Party-Meyer“ verspottet wurden.<br />

Andrea Nahles, Hermann Gröhe und<br />

Alexander Dobrindt hingegen nutzten ihren<br />

Posten als Parteigeneral als Sprungbrett<br />

für höhere politische Aufgaben und<br />

sind nun Minister in der Bundesregierung.<br />

Das war die Chance für die drei Neulinge.<br />

„Die Rolle des CSU-Generalsekretärs<br />

ist einzigartig“, sagt Andreas Scheuer,<br />

„wegen der Tradition und den herausragenden<br />

Personen, die dieses Amt bisher<br />

ausübten. Deshalb ist das Amt ein wuchtiges<br />

Amt.“<br />

Edmund Stoiber, Erwin Huber und<br />

Markus Söder waren einige seiner Vorgänger,<br />

sie haben das Amt geprägt.<br />

Durch Schneid, Biss und Hitzigkeit. Da<br />

muss Scheuer mithalten. Er wird es in<br />

den Talkshows tun, in die sein Chef Seehofer<br />

aus Prinzip nicht mehr geht.<br />

VOR ALLEM ABER ist es das bayerische<br />

Ambiente, das CSU-Generalsekretäre<br />

prägt. Scheuer erfährt dies in Windorf<br />

bei Vilshofen. Eigentlich soll er nur kurz<br />

reden beim Fischessen im Landgasthof<br />

Moser. Doch der Bürgermeister bittet ihn<br />

spontan, sich ins Goldene Buch des Ortes<br />

einzutragen. So zieht Scheuer umgeben<br />

von örtlichen Honoratioren zum Rathaus,<br />

das extra für ihn aufgeschlossen<br />

wird. „Ein CSU-Generalsekretär, das ist<br />

schon was“, sagt der Bürgermeister.<br />

Scheuer arbeitete vorher als Staatssekretär<br />

im Verkehrsministerium. Sein<br />

Foto: Andreas Gebert/ Picture Alliance/DPA [M], Dominik Butzmann/Laif [M]<br />

42<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Mentor war Peter Ramsauer, der Mann,<br />

den Horst Seehofer von der Kabinettsliste<br />

tilgte. Aber der CSU-Chef hat dem<br />

Schützling seines Erzfeinds eine neue<br />

Heimat angeboten. Als Seehofer Scheuer<br />

anrief, sagte er zu, ohne sich auch nur<br />

eine Stunde Bedenkzeit zu erbitten.<br />

Hat Scheuer Erfolg, winken ihm höhere<br />

Ämter. Im Misserfolgsfall kann er<br />

mit Ramsauer Bier trinken gehen.<br />

Auch Fahimis Fallhöhe ist beachtlich.<br />

Es war eine Überraschung, als Gabriel<br />

im Dezember die Berufung der Diplom-Chemikerin<br />

verkündete. „Mutig“<br />

sei diese Entscheidung, hieß es bei jenen,<br />

die sich frischen Wind im Willy-<br />

Brandt-Haus wünschten. Sie verwiesen<br />

auf Fahimis Erfahrung bei der Gewerkschaft<br />

Bergbau, Chemie, Energie. Dort<br />

leitete sie die Abteilung Grundsatz und<br />

Organisationsentwicklung; ihr Lebensgefährte<br />

ist der Gewerkschaftsvorsitzende<br />

Michael Vassiliadis.<br />

„Risikoreich“, wandten dagegen jene<br />

ein, denen Stallgeruch wichtiger ist als<br />

Außenblick und Intellektualität. Unerfahren<br />

sei sie, sie habe kein Bundestagsmandat,<br />

sei nicht in die Fraktion eingebunden<br />

und besitze keine Hausmacht,<br />

um ihre Ideen in der SPD durchsetzen<br />

zu können.<br />

Immerhin ist Fahimi durch und<br />

durch Sozialdemokratin. Sie hat die Kaderschmiede,<br />

die „Führungsakademie<br />

der sozialen Demokratie“ durchlaufen.<br />

Sie ist in einer Hochhaussiedlung<br />

am Rande von Hannover aufgewachsen.<br />

Ihre sozialdemokratische Mutter arbeitete<br />

sich auf dem zweiten Bildungsweg<br />

von der Kauffrau zur Sozialpädagogin<br />

hoch. Anders als ihr Name vermuten<br />

lässt, wuchs Yasmin Fahimi nicht in einer<br />

Einwandererfamilie auf. Ihr Vater, ein<br />

Die SPD braucht<br />

neue Themen,<br />

Fahimi muss sie<br />

vorbereiten. Für<br />

2017, wenn<br />

Gabriel Kanzler<br />

werden will<br />

iranischer Student, starb 1967 vor ihrer<br />

Geburt bei einem Unfall in der Heimat.<br />

Zu einer Zeit, als Sozialdemokraten<br />

nicht als besonders sexy galten und die<br />

Jugend auf Grün stand, nahm sie Mitte<br />

der achtziger Jahre Tuchfühlung mit den<br />

Jusos auf, sie ging auf Friedensdemos, engagierte<br />

sich für Nicaragua. Mit 18 trat<br />

sie in die SPD ein, 1986, im Jahr von<br />

Tschernobyl. Bereits damals habe sie die<br />

Gerechtigkeitsfrage bewegt, sagt sie.<br />

Fahimi will das Profil der Partei erweitern,<br />

die Verengung auf die Themen<br />

Rente und Arbeit aufbrechen. Sie spricht<br />

von „neuen Bürgerthemen“, denen sich<br />

die Partei zuwenden müsse. Sie zielt auf<br />

das Lebensgefühl von Wählern, um die<br />

zuletzt eher Unionsparteien und Grüne<br />

konkurrierten. „Gute Arbeit, gutes Leben“,<br />

könnte das Motto lauten, das alte<br />

und neue Themen der Sozialdemokraten<br />

verbindet. Sie hinterfragt die klassische<br />

linke Umverteilungsrhetorik. Es<br />

gehe nicht nur um die Verteilung von<br />

Geld, sondern auch um Zeit, Bildung und<br />

Aufstiegschancen. „Wir müssen zukünftig<br />

viel genauer sagen, was wir umverteilen<br />

wollen und für wen.“ Familien etwa<br />

seien oft mehr Zeit miteinander und eine<br />

bessere Bildung der Kinder wichtiger als<br />

mehr Kindergeld.<br />

Fahimi sagt, es gehe zunächst darum,<br />

die sozialdemokratische Regierungsarbeit<br />

herauszustellen. „Wir werden nur<br />

überzeugen, wenn wir gut regieren und<br />

sich für die Menschen etwas zum Positiven<br />

verändert.“ Es gehe aber auch darum,<br />

über die Regierungsarbeit hinauszudenken,<br />

das Profil der SPD zu erweitern.<br />

Sie klingt vorsichtig, aber im Grunde<br />

ist klar, was sie meint: 2017, das Jahr, in<br />

dem Sigmar Gabriel Kanzler werden will.<br />

Scheuer und Fahimi – Peter Taubers<br />

Interesse muss es sein, dass die beiden<br />

nicht zu starke Fliehkräfte erzeugen.<br />

Denn er ist der General der Kanzlerin.<br />

Sie braucht vor allem Erfolge. Was vorzeigbar<br />

ist, wird ihr gutgeschrieben – jedenfalls<br />

war das in den ersten beiden<br />

Amtszeiten so. Die Profilierung der CDU<br />

ist für Tauber so lange leicht, wie die Koalition<br />

stabil ist.<br />

BEIM AUSBALANCIEREN könnte ihm helfen,<br />

dass er Gegensätze liebt. In seinem<br />

Büro im Adenauer-Haus lehnt an der<br />

Wand seine Yamaha-E-Gitarre, die er als<br />

langhaariger Abiturient spielte. „Papst<br />

hört Punk“ hieß seine Band, und Tauber<br />

übt zuweilen wieder Punkrock und Pogo-<br />

Powerchords. Auf dem Schreibtisch von<br />

Merkels Generalsekretär parkt der Millennium-Falke,<br />

das rasende Raumschiff<br />

des Star-Wars-Helden Han Solo. Tauber<br />

trägt Slim-Anzüge mit schmalen Revers,<br />

er knotet seine Krawatten dazu allerdings<br />

unpassend breit mit dem traditionellen<br />

doppelten Windsor.<br />

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Sein Lebensthema: Radikalität. Sein Lebens werk: Hilfsorganisationen<br />

für Menschen in Not. Seine Helden: Menschen, die im<br />

Widerstand gegen Missstände ihr Leben riskieren. Seine Botschaft:<br />

Die Tugend des Widerstands darf nie verschwinden.<br />

Rupert Neudeck macht deutlich, wie aktuell und überlebensnotwendig<br />

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BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Ein Rieslinggeruch<br />

steht in der Halle,<br />

die Waschbrett<br />

Wuzzys trompeten.<br />

Dann redet Tauber<br />

derart ernst, dass<br />

es völlig still wird<br />

Merkels General<br />

Peter Tauber zählt sich zur<br />

„Generation Golf“. Dieses<br />

Buch liebt er, und wie das<br />

VW-Modell kam er 1974 zur<br />

Welt. Der Hesse machte als<br />

Jungpolitiker steile Karriere<br />

bis zum JU-Landeschef. Wurde<br />

über Sport im Kaiserreich<br />

promoviert, joggt oft ins<br />

Büro und fährt viel Rad. Seit<br />

2009 ist er im Bundestag<br />

Jedes Mal, wenn sein – in Schweinsleder<br />

gebundenes – Smartphone Pling<br />

macht, wird die neue SMS sofort inhaliert.<br />

Er twittert morgens um sieben auf<br />

dem Weg ins Büro, seinen Blog schreibt<br />

er selbst. Mit niemandem müsse er seine<br />

Kommentare absprechen, „ich bin zu<br />

99 Prozent schwarz und muss als Generalsekretär<br />

meine Partei sichtbar machen“.<br />

Bei pluragraph.de misst er seine<br />

Reichweite. „20 000 Leute erreiche ich direkt,<br />

damit bin ich unter den Top Ten der<br />

Union“, sagt er zufrieden. Über die CDU-<br />

Website kämen noch mal 70 000 hinzu.<br />

Er möchte auf neuen Wegen neue<br />

Leute für die CDU gewinnen. Ein Blick<br />

in die Mitgliedskartei zeigt dem jüngsten<br />

Generalsekretär der Parteigeschichte,<br />

woran es mangelt. „Wir haben zu wenig<br />

Frauen, zu wenig Junge und zu wenig Zuwanderer“,<br />

sagt er. Nach ihnen soll Tauber<br />

in der weiten Netzwelt fischen, dafür<br />

hat Merkel ihn sich ausgesucht.<br />

Als 2012 die Piraten erfolgreich<br />

sind, gründet Tauber mit ein paar Dutzend<br />

Gleichgesinnten C-Netz. Mit diesem<br />

Verein möchte er christdemokratische<br />

Positionen ins Internet weben. Merkel ist<br />

angetan. Sie bittet ihn auf einen Kaffee<br />

ins Adenauer-Haus. Als er nach der Bundestagswahl<br />

Generalsekretär wird, vereinbart<br />

sie mit ihm eine „Agenda“, wie<br />

die Partei modernisiert werden soll. Verglichen<br />

mit Fahimi und Scheuer sei seine<br />

Aufgabe die leichteste, sagt Tauber. Von<br />

den anderen beiden werde vor allem erwartet,<br />

dass ihre Partei überhaupt vorkommt.<br />

Er könne sich hingegen auf den<br />

strukturellen Umbau konzentrieren.<br />

Um Merkels Wirken an viele Netzaffine<br />

zu verkaufen, muss Tauber passende<br />

Schlagwörter und Symbolbilder platzieren.<br />

Noch sei es stets gelungen, die Anhänger<br />

konventionell zu motivieren,<br />

sagt Tauber. „Unsere Kampagne-Fähigkeit<br />

war voll gegeben. Dieses Road-Modell<br />

funktioniert aber nicht mehr lange.“<br />

Er will die CDU so reformieren, dass sie<br />

nicht zur Funktionärspartei verkommt.<br />

ASCHERMITTWOCH, Boppard am Rhein,<br />

Stadthalle. Fast unbemerkt von den<br />

überwiegend grauhaarigen Mitgliedern<br />

betritt Tauber den Raum. Erstmals will<br />

die CDU Rheinland-Pfalz einen Politischen<br />

Aschermittwoch zünden – mit dem<br />

neuen Generalsekretär als Hauptattraktion.<br />

Hier wird Angriff erwartet.<br />

Im Saal riecht es süßlich wie der<br />

halbtrockene Riesling auf den Tischen.<br />

Hunderte CDU-Mitglieder klatschen im<br />

Takt zu den „Waschbrett Wuzzys“, einer<br />

Combo alter Männer, die „When the<br />

Saints Go Marching In“ trompeten. Die<br />

Landesvorsitzende Julia Klöckner wiegt<br />

sich zur Musik durch die Menge, lacht,<br />

umarmt und verteilt Küsschen. Peter<br />

Tauber läuft neben ihr, hin und wieder<br />

hebt er scheu die rechte Hand.<br />

Klöckner schlägt alle Saiten an, die<br />

ihr Parteivolk jubeln lassen: Rot-Grün<br />

sei schlimm; Koma-Saufen schade der<br />

Jugend, und hier im Hunsrück brauche<br />

es endlich die Mittelrheinbrücke.<br />

Tauber klingt leise, ernst. „Wir müssen<br />

uns gewahr werden, dass viele Antworten<br />

von 1980 nicht mehr im Jahr<br />

2014 richtig sind“, sagt er dem fröhlichen<br />

Aschermittwochspublikum. Wehrpflicht,<br />

Kernenergie, Familienbild sind<br />

Felder, die er schon neu bestellt sieht.<br />

Aber auch das C sei heute mehr als nur<br />

das Christliche in der Union, es stehe allgemein<br />

für „die Würde des Menschen“,<br />

Foto: Fabrizio Bensch/Reuters/Corbis [M]; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

44<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


womit die CDU auch Nichtchristen erreiche.<br />

Kaum jemand im Saal wagt zu husten,<br />

so still ist es.<br />

Wenigstens die AfD geht er brachial<br />

an. „Das ist eine Partei von alten Männern,<br />

die nicht Sorge um unser Land<br />

umtreibt, sondern nur die Angst um den<br />

persönlichen materiellen Verlust.“ Da<br />

klatschen alle wie befreit. Endlich zeigt<br />

der Neue, dass er auch den Hau-Drauf-<br />

Generalsekretär kann.<br />

Der Berliner Betrieb rätselt noch,<br />

versucht Tauber einzusortieren. Seit er<br />

sich der Öffentlichkeit als „ledig“ vorgestellt<br />

hat, wird in der Partei und besonders<br />

klug tuend unter Hauptstadtjournalisten<br />

geraunt: Der ist doch schwul.<br />

Tauber kratzt das nicht. Seine Freundin<br />

ist Onkologin, sie hat in Medizin promoviert<br />

wie er in Geschichte. Mit ihr teilt er<br />

sich eine Hinterhauswohnung in Berlins<br />

Ur-Arbeiterbezirk. „Mit dem schwarzen<br />

Peter im roten Wedding“ – wieder so ein<br />

Gegensatz, der ihm Spaß macht.<br />

Tauber ist in einem sozialliberalen<br />

Elternhaus aufgewachsen. Der Vater, ein<br />

gut verdienender Anwalt, war einst „wegen<br />

Willy“ in die SPD ein- und wegen<br />

des Umgangs mit Schmidt wieder ausgetreten.<br />

Die Mutter wählte FDP. Teenie<br />

Peter aber gründete im hessischen Heimatstädtchen<br />

Wächtersbach die Junge<br />

Union, weil der SPD-Bürgermeister seinen<br />

Wunsch nach einem Bolzplatz nicht<br />

ernst nahm.<br />

Als Chef der hessischen Jungen<br />

Union tat er 2005 kund, dass er die SPD<br />

seit jeher für den Hauptgegner der CDU<br />

hält und noch dazu Seehofer für sozialdemokratisch.<br />

Nun muss er das Bündnis mit<br />

SPD und der Seehofer-CSU rechtfertigen.<br />

Und er muss verhindern, dass<br />

Scheuer und Fahimi verrückt spielen.<br />

Aber alle Gegensätze bekommt man<br />

nicht zusammen. Han Solo hätte nie<br />

einen doppelten Windsor geknotet im<br />

Krieg der Sterne. Und welcher Papst hört<br />

schon Punk?<br />

CHRISTOPH SEILS leitet <strong>Cicero</strong> Online.<br />

Yasmin Fahimi hätte er 1986 in Hannover auf<br />

Demos begegnen können. WULF SCHMIESE<br />

ist ZDF-Moderator. Tauber fiel ihm 2005 bei<br />

einer Veranstaltung der Jungen Union auf,<br />

wo er sogar Merkel kritisierte. ANDREAS<br />

THEYSSEN, Autor in Berlin, kannte Andreas<br />

Scheuer schon als feurigen Redner von<br />

Veran staltungen in Berlin. Als CSU-General<br />

legt er noch drei Schippen drauf<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… was an Gutmenschen schlecht sein soll<br />

Endlich habe ich es schriftlich: Ich bin ein Gutmensch. Soll heißen,<br />

jemand, der naiv genug ist, sich nicht mit der Realität abzufinden.<br />

Damit zum Beispiel, dass der Gemeinderat meines Heimatdorfs<br />

beschlossen hatte, sich nicht von der Ehrenbürgerwürde für<br />

Hindenburg und Hitler zu distanzieren. Vom skrupellosen Kriegstreiber<br />

und Totengräber der Demokratie sowie vom schlimmsten Massenmörder<br />

der Menschheitsgeschichte. Offenbar wird erwartet, dass<br />

man eine solche Meldung liest, die Zeitung zusammenfaltet und zur<br />

Tagesordnung übergeht. Weil mein Mann und ich es wagten, auf die<br />

Ungeheuerlichkeit dieses Vorgangs öffentlich hinzuweisen, werden<br />

wir in Schmähbriefen aller Art als Wichtigtuer, unerwünschte<br />

Fremde und ( nicht zum ersten Mal ) als Gutmenschen beschimpft –<br />

ein zynischer Begriff, der aber weiter Karriere macht.<br />

In perfider Verdrehung werden damit diejenigen diffamiert, die<br />

sich auch mal für etwas anderes einsetzen als ihr persönliches Wohl,<br />

seien es die Grundwerte unserer Demokratie, eine menschenwürdige<br />

Behandlung von Flüchtlingen oder mehr soziale Gerechtigkeit.<br />

Sie werden gern als hoffnungslose Romantiker hingestellt, die leider<br />

nicht begriffen haben, dass der Markt sowieso alles regelt, dass gesellschaftliches<br />

Engagement Wichtigtuerei ist und Menschenrechte<br />

sowieso ein Luxus, der nur das Wirtschaftswachstum bremst.<br />

Obwohl wahrscheinlich einst die Nazis den Begriff erfunden haben,<br />

um die Gegner der Euthanasie um Graf von Galen verächtlich<br />

zu machen, wird der Gutmensch bis heute hemmungslos als Waffe<br />

im politischen Kampf eingesetzt, und zwar meist von den Bequemen,<br />

die vom Fernsehsessel aus stänkern und sich in satter Selbstgerechtigkeit<br />

über jene erheben, die sich fürs Gemeinwohl starkmachen. Cool<br />

ist, wem Ungerechtigkeit wurst ist, wer ungerührt zusehen kann, wie<br />

Menschen leiden und unsere Werte den Bach runtergehen. Noch<br />

cooler ist es, auf diejenigen einzuschlagen, die sich dagegen wehren.<br />

Ich habe beschlossen, den Titel Gutmensch als Auszeichnung<br />

zu betrachten. Nicht, weil ich mich für einen guten Menschen halte,<br />

weiß Gott nicht. Aber lieber lasse ich mich als naive, bescheuerte<br />

Sozialromantikerin belächeln, als zur Zynikerin zu werden.<br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst noch an Fragen aufwirft<br />

45<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


46<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

RAUS AUS<br />

DEM TUNNEL<br />

„Ich wollte mich nicht damit<br />

abfinden, dass Außenpolitik keinen<br />

Stellenwert hat“ – Außenminister<br />

Steinmeier und der Lichttunnel des<br />

Auswärtigen Amtes in Berlin<br />

Von WERNER SONNE<br />

Zuletzt galt das<br />

Auswärtige Amt als<br />

Verein weltpolitischer<br />

Weicheier. Frank-<br />

Walter Steinmeier<br />

versucht, ihm wieder<br />

Selbstvertrauen einzuflößen.<br />

Ob er gegen<br />

Politiker wie Putin<br />

etwas ausrichten kann,<br />

ist eine andere Frage<br />

Die Luft ist noch kühl, aber die Märzsonne<br />

taucht Tallinn in ein helles,<br />

freundliches Licht. „Ein wunderbarer<br />

Sonnenaufgang über der Ostsee“,<br />

schwärmt Frank-Walter Steinmeier.<br />

Es ist kurz nach neun, der Bundesaußenminister<br />

hat mit seinem estländischen<br />

Kollegen gefrühstückt, gleich geht es zum<br />

Präsidenten. Dann wird Steinmeier nach<br />

Riga aufbrechen und von dort nach Vilnius,<br />

bevor ihn der A390 der Flugbereitschaft<br />

abends wieder nach Berlin bringt.<br />

Aber es wird kein Tag für Frühlingsgefühle<br />

werden, es herrscht Eiszeit.<br />

Mit der Tour will der deutsche Außenminister<br />

ein Signal setzen, den verängstigten<br />

Menschen in den baltischen<br />

Staaten Solidarität zeigen. Er droht Moskau,<br />

er kündigt Sanktionen an für den<br />

Fall, dass Wladimir Putin die Krim annektiert.<br />

Ein „Weiter so!“ in den Beziehungen<br />

mit Russland könne es dann nicht<br />

mehr geben, sagt er wieder und wieder.<br />

Aber während Steinmeier noch in Tallinn<br />

ist, schaffen auf der Krim Putins Vasallen<br />

Fakten, sie erklären noch vor dem<br />

Referendum die Unabhängigkeit von der<br />

Ukraine.<br />

Der Sozialdemokrat tritt kraftvoll<br />

auf, er will der deutschen Diplomatie<br />

Geltung verschaffen. Das Auswärtige<br />

Amt, das er in der ersten Großen Koalition<br />

von Angela Merkel schon einmal geführt<br />

hat, soll wieder im Zentrum der Politik<br />

stehen. Der Minister hat sich in die<br />

Ukraine-Tragödie eingemischt, hat nach<br />

Lösungen gesucht, hat versucht, Brücken<br />

zu bauen. Aber an diesem hellen Tag in<br />

Tallinn wirkt er, als laufe er den Ereignissen<br />

hinterher. Putin geht seinen Weg.<br />

Ist es deshalb ein Fehlstart geworden für<br />

Steinmeier, ein verpatzter Neuanfang für<br />

sein Ministerium, dieses traditionsreiche<br />

Auswärtige Amt, dem die Bedeutung zuletzt<br />

abhandenkam?<br />

Rückblende. Im November 2013 passt<br />

das Wetter in Berlin zur Stimmung im<br />

Auswärtigen Amt. Guido Westerwelle ist<br />

zwar noch der Chef, aber eine Zukunft hat<br />

er nicht mehr. Mit dem einstigen FDP-Superstar<br />

und seinem Absturz war auch der<br />

Glanz des Ministeriums erloschen. Westerwelle<br />

hatte die „Kultur der Zurückhaltung“<br />

zum Markenzeichen seiner Amtszeit<br />

gemacht. Die Diplomatie: verengt auf<br />

eine deutsche Perspektive des Raushaltens,<br />

auf einen Tunnelblick.<br />

Bei ihren Verbündeten wurden die<br />

Deutschen in dieser Zeit zu Weicheiern<br />

der Weltpolitik. Der Ruf lähmte das Amt,<br />

das weltweit 10 000 Mitarbeiter hat.<br />

47<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Das AA liegt in Berlin-Mitte am<br />

Werderschen Markt 1. Der Altbau wurde<br />

in der Nazizeit als Reichsbank errichtet,<br />

später nutzte ihn die SED als Sitz des Zentralkomitees.<br />

Als nach der Wende Berlin<br />

Hauptstadt wurde, baute man das Haus<br />

um und erweiterte es. Alt- und Neubau<br />

verbindet ein Lichttunnel, Glasfassaden<br />

und Lichthöfe signalisieren Offenheit. Es<br />

ist aber auch kein kleines Gebäude, und<br />

diese Mischung aus Weltläufigkeit und<br />

Stolz tragen die Menschen im AA in sich,<br />

vom Hausmeister bis zur Vortragenden<br />

Legationsrätin Erster Klasse.<br />

WIE EINEN PHANTOMSCHMERZ empfanden<br />

da viele den Bedeutungsverlust,<br />

ihren eigenen im Besonderen. Libyen,<br />

jammerten sie, Libyen! „Libyen war der<br />

Tiefpunkt“, sagt ein Diplomat, der das<br />

auf Posten in Asien erlebte. Westerwelle<br />

hatte Deutschland aus der militärischen<br />

Intervention gegen Gaddafi herausgehalten<br />

und in der Uno die Zustimmung verweigert<br />

– der ultimative Sündenfall, den<br />

sie ihm im AA niemals verziehen haben.<br />

Eine Mischung aus Stolz und<br />

Weltläufigkeit. Das Auswärtige<br />

Amt am Werderschen Markt in<br />

Berlin-Mitte<br />

Unprofessionell, stöhnten sie immer wieder,<br />

u-n-p-r-o-f-e-s-s-i-o-n-e-l-l!<br />

Am Rande einer Tagung der Stiftung<br />

Wissenschaft und Politik, wo sich Berlins<br />

außenpolitischer Sachverstand zusammenballt,<br />

sinnieren die Teilnehmer<br />

in jenen Novembertagen in einer Kaffeepause<br />

darüber, wer in der Großen Koalition<br />

eigentlich noch das Auswärtige<br />

Amt haben will. Die Analyse: Eigentlich<br />

niemand so richtig. Während früher<br />

künftige Vizekanzler ins prestigeträchtige<br />

AA drängten, wurde beim Ressortpoker<br />

von Union und SPD dieses Ministerium<br />

nicht als Ass gehandelt.<br />

Nur einer wusste schon damals, dass<br />

ihn das nicht stören würde. Im Gegenteil.<br />

Der Außenminister in der ersten Großen<br />

Koalition von Angela Merkel wollte unbedingt<br />

dorthin – wieder. Frank-Walter<br />

Steinmeier, so schilderte ein Vertrauter,<br />

war begierig darauf, erneut der deutsche<br />

Chefdiplomat zu werden.<br />

Schon bei seinem Amtsantritt im AA<br />

sagt er, noch neben Westerwelle stehend,<br />

den Diplomaten, sie müssten sich neuen<br />

Herausforderungen stellen. „Mit der bloßen<br />

Beschwörung des Altbekannten und<br />

Bewährten kommen wir in Zukunft nicht<br />

mehr ganz durch.“<br />

Ein paar Wochen später steht er vor<br />

der Münchner Sicherheitskonferenz. Vor<br />

der außenpolitischen Weltelite fegt er das<br />

Westerwelle-Erbe vom Tisch. Der Einsatz<br />

des Militärs bleibe das letzte Mittel, sagt<br />

er, allerdings „darf eine Kultur der Zurückhaltung<br />

nicht zu einer Kultur des Heraushaltens<br />

werden“. Wer es noch nicht<br />

verstanden hatte, dem sagt es Steinmeier<br />

in München noch deutlicher: „Deutschland<br />

ist zu groß, um Weltpolitik nur von<br />

der Außenlinie zu kommentieren.“ Er<br />

nennt Mali als Beispiel und verabschiedet<br />

sich mit dem Satz: „Der Außen- und<br />

Sicherheitspolitik wird die Arbeit nicht<br />

ausgehen.“<br />

Seither ist Frank-Walter Steinmeier<br />

in den Krisengebieten unterwegs, als<br />

wäre er der neue Hans-Dietrich Genscher,<br />

von dem man sagte, er fliege so viel herum,<br />

dass er sich manchmal selber in der<br />

Luft begegne.<br />

Im Februar brennen auf dem Maidan<br />

in Kiew die Barrikaden, Menschen sterben.<br />

Steinmeier reagiert. Er macht ein<br />

Europaprojekt daraus. Mit den Außenministern<br />

Polens und Frankreichs, Sikorski<br />

und Fabius, fliegt er in die Ukraine<br />

und handelt ein Abkommen aus, das einen<br />

geordneten Übergang vom noch amtierenden<br />

Präsidenten Janukowitsch hin<br />

zu Neuwahlen ermöglichen sollte – und<br />

scheitert. Der Kraftakt kommt zu spät.<br />

Kaum ist er mit seinen Begleitern wieder<br />

weg, wischen die neuen Machthaber<br />

in Kiew das Abkommen beiseite. Janukowitsch<br />

flieht, bittet Putin um Hilfe –<br />

und liefert den Vorwand für das, was<br />

„Das Haus<br />

atmet durch, als<br />

ob ein Fenster<br />

aufgemacht<br />

worden wäre“<br />

Michael Schaefer, früher politischer<br />

Direktor im Auswärtigen Amt<br />

Steinmeier als „größte Krise seit dem<br />

Ende des Kalten Krieges“ beschreibt.<br />

Seine Leistung ist nur noch Makulatur.<br />

Dennoch hat er etwas erreicht. Dass<br />

er die Kollegen aus den beiden großen<br />

Nachbarländern in die heikle Mission<br />

eingebunden hatte, wertet man in der<br />

Szene als lobenswerten neuen Ansatz.<br />

„Das wäre Westerwelle nie eingefallen“,<br />

sagt ein früherer Wegbegleiter. Und Volker<br />

Perthes, der als Chef der Stiftung<br />

Wissenschaft und Politik die Regierung<br />

berät, lobt: „Da haben die Profis wieder<br />

übernommen.“<br />

Selbst Wladimir Putin signalisierte,<br />

dass er offenbar den Deutschen ernst zu<br />

nehmen bereit ist. Vor Kreml-Journalisten<br />

sagte er, der deutsche Außenminister,<br />

und nur ihn erwähnte er, solle doch<br />

über die Ukraine mit seinem Außenminister<br />

Lawrow verhandeln. Ein Lob von<br />

der falschen Seite, gegen das Steinmeier<br />

sich nicht wehren konnte, und das dann<br />

auch nichts brachte. Im Gegenteil. Als<br />

Steinmeier genau das tat, und es in Paris<br />

schon nach einer Lösung mit Lawrow<br />

aussah, machte Putin nicht mit. Steinmeier,<br />

und mit ihm der US-Kollege John<br />

Kerry, standen düpiert da.<br />

DENNOCH IST ES im geschwätzigen<br />

und im Hintergrund oft boshaften Berlin<br />

schwierig, über Steinmeier kritische<br />

Stimmen einzusammeln. Selbst wenn<br />

man Anonymität zusichert, reden sie<br />

über ihn positiv.<br />

„Das Haus atmet durch, als ob die<br />

Fenster aufgemacht worden wären“,<br />

bringt Michael Schaefer die Stimmung<br />

bei seinen Ex-Kollegen im AA auf den<br />

Punkt. Er war in Steinmeiers erster Amtszeit<br />

politischer Direktor im Auswärtigen<br />

Fotos: Volker Kreidler, Steffi Loos/CommonLens [M] (Seiten 46 bis 47), Mauritius Images/Alamy, Meike Böschemeyer/Action Press [M], Herby Sachs/WDR (Autor)<br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Amt, dann Botschafter in Peking. Vielen<br />

Kritikern ist klar, dass ihre Westerwelle-Schelte<br />

nicht immer fair ist, in der<br />

zweiten Hälfte seiner Amtszeit habe<br />

sich manches gebessert, räumen sie beinahe<br />

widerwillig ein. Aber dennoch: Mit<br />

Steinmeier, so sagen sie fast trotzig, sei es<br />

eben professioneller, der Mann sei pragmatisch,<br />

unideologisch, bringe Sachverstand<br />

aus seiner ersten Amtszeit mit.<br />

„Das brummt richtig“, urteilt Volker Perthes<br />

über das neue Klima.<br />

Angela Merkel hat mit Maria Böhmer<br />

eine enge Vertraute in Steinmeiers Nähe<br />

installiert. Sie, früher im Kanzleramt, politisch<br />

als Vorsitzende der CDU-Frauenunion<br />

mit solider Hausmacht ausgestattet,<br />

ist jetzt Staatsministerin im Auswärtigen<br />

Amt. Aber auch sie sagt über den Sozialdemokraten<br />

Steinmeier, er habe seine<br />

Erfahrungen sofort aktiviert und klare<br />

Ziele formuliert. „Ich sehe, dass das Haus<br />

das sehr positiv aufnimmt.“ Der Stellenwert<br />

des Ministeriums sei sehr viel höher<br />

geworden.<br />

Die Spitze des AA hat Steinmeier<br />

schnell und entschlossen umgebaut. Er<br />

installierte Vertraute in allen Schlüsselstellungen,<br />

allen voran seinen politischen<br />

Dauerbegleiter Stephan Steinlein,<br />

der zum Staatssekretär aufstieg. Neben<br />

ihm wurde mit Markus Ederer ein Mann<br />

Staatssekretär, der breite Erfahrung auf<br />

dem so wichtigen Europafeld mitbringt,<br />

er war zuletzt EU-Botschafter in Peking,<br />

ebenso wie Martin Kotthaus, der<br />

nach einer Zeit als Sprecher von Wolfgang<br />

Schäuble ins AA zurückgekehrt ist<br />

und dort die wichtige Europaabteilung<br />

übernommen hat. Mit Ralf Beste holte<br />

sich Steinmeier einen Ex-Spiegel-Redakteur<br />

ins Team, und mit Sawsan Chebli<br />

eine praktizierende Muslimin mit palästinensischen<br />

Wurzeln als seine stellvertretende<br />

Sprecherin.<br />

Um Platz zu machen für den radikalen<br />

Umbau, schob er Staatssekretärin<br />

Emily Haber, eine hochgeachtete Karrierediplomatin,<br />

ab. Sie ist nun Staatssekretärin<br />

im Innenministerium. Die Haber-Personalie<br />

hat ihm nicht nur Freunde<br />

im AA beschert. „Das war kein Geniestreich“,<br />

sagt einer, der ansonsten große<br />

Stücke auf Steinmeier hält.<br />

Was macht diesen Steinmeier, 58 Jahre<br />

alt, in seiner zweiten Amtszeit als Außenminister<br />

aus? „Ein Teamplayer“, meint<br />

Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz<br />

und unter Steinmeier I<br />

AA-Staatssekretär und Botschafter. „Er ist<br />

der beste Zuhörer, den ich je erlebt habe“,<br />

fügt er an und sieht bei ihm den Anspruch,<br />

dass „Diplomatie etwas wert ist, dass Außenpolitik<br />

etwas bewirken kann“.<br />

Auch im diplomatischen Korps<br />

kommt der Chef des AA an. „Der Mann<br />

versteht und kennt, worüber er spricht“,<br />

urteilt ein israelischer Spitzendiplomat.<br />

Und fügt, eben diplomatisch, hinzu: „Wir<br />

waren happy mit Westerwelle, aber wir<br />

sind sehr happy mit Steinmeier.“<br />

EINEN TAG NACH der Reise ins Baltikum<br />

sitzt Steinmeier in seinem Amtszimmer<br />

am Werderschen Markt. Die Sonne<br />

scheint ins Zimmer. Der Raum klassischmodern<br />

eingerichtet, er wirkt nüchtern.<br />

Die Willy-Brandt-Plastik, die vier Jahre<br />

in seinem Fraktionschefbüro im Bundestag<br />

stand, ist wieder an ihrem Platz.<br />

Steinmeier kann vielleicht gut zuhören,<br />

aber über die Rolle seines Amtes<br />

kann er auch ziemlich lange reden.<br />

Die Kurzfassung geht so: Die klassische<br />

Außenpolitik funktioniert in einer sich<br />

wandelnden Welt nicht mehr, in der es<br />

so viele Player gibt. Er nennt die unübersichtlichen<br />

Oppositionsgruppen in Syrien<br />

als Beispiel. Eine „Neuvermessung der<br />

Welt“ müsse her, sagt er, ohne konkrete<br />

Antworten anbieten zu können.<br />

Vor diesem Hintergrund will er der<br />

deutschen Diplomatie Relevanz geben.<br />

Da wird er nachdrücklich. „Ich wollte<br />

mich nicht damit abfinden, dass Außenpolitik<br />

keinen Stellenwert hat.“ Dem<br />

AA will er einen „Selbstüberprüfungsprozess“<br />

verordnen. „Der diplomatische<br />

Werkzeugkasten muss erweitert werden“,<br />

sagt er.<br />

Eine etwas weniger diplomatische<br />

Übersetzung könnte lauten: Raus aus<br />

dem Tunnel.<br />

Steinmeier kann sich auch aufregen.<br />

In der Darstellung von Außenpolitik<br />

ärgert ihn das Gerede über das<br />

Versagen der Diplomatie. Er jedenfalls<br />

will nicht „täglich mit aufgeregtem Ton<br />

daherkommen“.<br />

Und das Kanzleramt? Der Bedeutungsverlust<br />

des Auswärtigen Amtes<br />

lag ja nicht nur an Westerwelle, sondern<br />

auch daran, dass die Diplomatie immer<br />

mehr Chefsache geworden ist, dass sich<br />

die Regierungschefs in Europa ohnehin<br />

ständig sehen.<br />

Beide haben ein Interesse, in diesen<br />

Krisenzeiten die Dinge gemeinsam zu<br />

machen. „Mit Angela Merkel verbindet<br />

mich ein sehr professionelles Arbeitsverhältnis,<br />

in dem man sich vertraut“, sagt<br />

Steinmeier. Merkel geht noch weiter. In<br />

ihrer Regierungserklärung zur Ukraine<br />

dankt sie im Bundestag Steinmeier „in<br />

Ihrer aller Namen“ für seinen „unermüdlichen<br />

Einsatz“. Es ist fast eine Eloge.<br />

Steinmeiers Vorgänger Guido<br />

Westerwelle: „Libyen war der<br />

Tiefpunkt“, sagt ein Diplomat<br />

über dessen Amtszeit<br />

Früher schwebten deutsche Außenminister<br />

im Ansehen immer hoch<br />

über den garstigen Untiefen des politischen<br />

Tagesgeschäfts. Selbst der rüpelige<br />

Joschka Fischer schaffte das. Guido<br />

Westerwelle blieb die Ausnahme. Jetzt<br />

nähert sich auch Steinmeier dem Umfrage-Olymp.<br />

In der Beliebtheit liegt er<br />

neuerdings vor der Kanzlerin. Der ARD-<br />

Deutschlandtrend sah ihn im März bei<br />

74, sie bei 71 Prozent. Ob er sich damit<br />

in eine Gefahrenzone begibt, in der die<br />

Kanzlerin nicht mehr einfach nur zuschaut,<br />

muss sich zeigen. Bisher bekam<br />

es niemandem gut, an Angela Merkel<br />

vorbeizuziehen.<br />

WERNER SONNE<br />

war lange ARD-Korrespondent<br />

in Osteuropa und den<br />

USA. Außenpolitik ist seine<br />

Leidenschaft<br />

49<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Kommentar<br />

UNTER DEN ROBEN<br />

DIE POLITIK<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

Das Bundesverfassungsgericht, am provokativsten mit<br />

dem Entscheid über die Drei-Prozent-Hürde, macht<br />

Politik im Gewand der Rechtsprechung<br />

Andreas Voßkuhle wollte nicht Bundespräsident werden.<br />

Ein Angebot Angela Merkels Anfang 2012, seine Kandidatur<br />

zu lancieren, lehnte er ab: im Bewusstsein, als<br />

Präsident des Bundesverfassungsgerichts weitaus mehr Macht<br />

zu haben.<br />

Wie ist diese Absage zu werten? Als Entscheidung für die<br />

Justiz, gegen die Politik?<br />

Nein, Andreas Voßkuhle hat sich nicht für das Recht entschieden.<br />

Wer das Verfassungsgericht aus Gründen der Macht<br />

wählt, der entscheidet sich aus politischen Motiven: für Politik –<br />

ich entscheide mich für Karlsruhe, weil dort die Macht hockt.<br />

Dort thront er nun, der machtgetriebene Richter Voßkuhle:<br />

auf dem höchsten Stuhl von Deutschlands höchster Instanz.<br />

Was immer draußen im Lande geschieht, die Karlsruher<br />

Richter sprechen darüber Recht: vom Reiten im Walde über<br />

das Rauchen im Restaurant bis zur „Vorbereitung eines geeigneten<br />

sozialen Empfangsraums“ im Strafvollzug.<br />

Die roten Roben wissen, was den Deutschen frommt. Am<br />

allerbesten aber wissen sie, was der deutschen Politik frommt.<br />

Darf der Bundespräsident in einer Rede etwas gegen rechte<br />

„Spinner“ sagen? Den Verfassungshütern obliegt es, über Joachim<br />

Gauck zu rechten.<br />

Darf die Europäische Zentralbank unbeschränkt Staatsanleihen<br />

kaufen, um den Euroraum gegen Spekulation abzusichern?<br />

Nein, findet Karlsruhe, das geht zu weit. Und<br />

überweist den Fall gnädig an den Europäischen Gerichtshof.<br />

Der möge nun entscheiden, selbstverständlich im Sinne des<br />

Bundesverfassungsgerichts.<br />

Darf die Bundesrepublik für die Europawahl eine Drei-<br />

Prozent-Hürde errichten? Darf sie nicht. Die Karlsruher haben<br />

die Schranke gegen Kleinstparteien niedergerissen, mit der Begründung:<br />

Die Parlamentarier in Straßburg wählten ja eh keine<br />

Regierung, weshalb die Abwehr von Extremisten nicht vonnöten<br />

sei. Will heißen: Das Europaparlament ist eine Schwatzbude.<br />

All diese Beschlüsse, am aktuellsten und deutlichsten der<br />

Sperrklausel-Entscheid, machen erkennbar, worauf Karlsruhes<br />

Zuständigkeit für alles und jedes hinausläuft: auf politische<br />

Entscheidungen im Gewand höchstrichterlicher Urteile,<br />

auf Karlsruhe als Regierungssitz.<br />

Andreas Voßkuhle dementiert diese Sichtweise indigniert.<br />

Dazu bedient er sich eines Kant-Zitats: „Das Recht muss nie<br />

der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst<br />

werden.“<br />

Der Königsberger Aufklärer kann nichts dafür, in welchen<br />

Zusammenhang seine Thesen heute gestellt werden. Zu Voßkuhles<br />

Kant-Verständnis ist aber sehr wohl etwas zu sagen –<br />

auf die nicht geringe Gefahr hin, beim König von Karlsruhe in<br />

den Verdacht der Majestätsbeleidigung zu geraten.<br />

Kant formulierte sein Diktum: „Alle Politik muss ihre Knie<br />

vor dem Recht beugen“ zu Zeiten des preußischen Absolutismus<br />

und der europäischen Fürstenherrlichkeit. Da war das Recht<br />

noch Mittel des Widerstands gegen feudale Willkür.<br />

Der aufgeklärte Absolutismus hat es Voßkuhle angetan.<br />

Doch mittlerweile herrscht in Europa die Demokratie: vom<br />

Volk legitimierte Politik, die das Recht setzt.<br />

Sogar die unveräußerlichen Artikel eins bis neunzehn des<br />

deutschen Grundgesetzes sind Früchte demokratischer und politischer<br />

Entscheidungen, Resultat historischer Erfahrung und<br />

später Besinnung auf westliche Werte.<br />

Es ist nicht der Himmel, der uns das Recht gibt. Auch die<br />

Richter sind nicht von Gott gesandt. Nicht einmal Andreas<br />

Voßkuhle ist zu uns herabgestiegen. Er wurde von einem politischen<br />

Gremium gewählt.<br />

Warum aber sind die Deutschen ihren höchsten Richtern<br />

hörig?<br />

Ist ihnen auf den verschlungenen Wegen vom Feudalstaat<br />

zur Demokratie die bürgerliche Freude an der Politik abhanden<br />

gekommen? Wirkt die lange Gewöhnung an die wilhelminische<br />

Militär- und Bürokratie-Monarchie nach? Das klägliche Scheitern<br />

der Weimarer Republik? Die verheerenden Nazijahre?<br />

Fehlt es auch 2014 noch an stolzem Staatsbewusstsein?<br />

Braucht das deutsche Bürgertum die Voßkuhles als Ersatzautoritäten<br />

für seine nie gänzlich überwundene Obrigkeitsgläubigkeit?<br />

Die oberste Obrigkeit in roten Roben? Die Politik darunter?<br />

Kein schöner Gedanke, ein böser Verdacht.<br />

FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

50<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

„ Russland könnte ein<br />

großer Verbündeter<br />

für Konservative sein “<br />

Larry Jacobs, Chef des in Illinois beheimateten reaktionären World Congress<br />

of Families, sieht in Wladimir Putin einen neuen Hoffnungsträger, Seite 52<br />

51<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Debatte<br />

PUTINS<br />

MASTERPLAN<br />

Von OWEN MATTHEWS<br />

Illustrationen MIRIAM MIGLIAZZI & MART KLEIN<br />

Nach Sotschi und der Krim die ganze Welt?<br />

Was auf den ersten Blick an den Haaren<br />

herbeigezogen scheinen mag, folgt einer eigenen<br />

Logik. Der russische Präsident strebt nach der<br />

globalen rechtskonservativen Herrschaft<br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Debatte<br />

Nach zwei Jahrzehnten als<br />

wirtschaftlicher Entwicklungsfall<br />

feiert Russland<br />

ein Comeback als ideologische<br />

Macht – dieses Mal<br />

als Sachwalter konservativer Werte. In<br />

seiner Rede an die Nation im vergangenen<br />

Dezember im russischen Parlament<br />

versicherte Wladimir Putin Konservativen<br />

auf der ganzen Welt, dass Russland<br />

bereit und willens sei, für „Familienwerte“<br />

einzustehen und gegen die<br />

Flut liberaler, Homosexuellen-freundlicher<br />

Propaganda, „die von uns verlangt,<br />

das zu akzeptieren, ohne die Gleichwertigkeit<br />

von Gut und Böse hinterfragen<br />

zu dürfen“. Der russische Präsident versprach,<br />

er werde „traditionelle Werte<br />

verteidigen, die seit Tausenden von Jahren<br />

die geistige und moralische Grundlage<br />

der Zivilisation jeder Nation sind“.<br />

Entscheidend ist, dass Putin unmissverständlich<br />

klarmachte, dass seine<br />

Botschaft sich nicht nur an Russen richtet<br />

– die bereits durch die jüngste Gesetzgebung<br />

vor „der Förderung nichttraditioneller<br />

Beziehungen“ geschützt werden –,<br />

sondern auch „an immer mehr Menschen<br />

überall auf der Welt, die unsere Haltung<br />

unterstützen“.<br />

Putin hat Großes vor. Natürlich hat<br />

die Revolution in der Ukraine etwas mit<br />

den Unterschieden im Osten und Westen<br />

des Landes zu tun. Aber sie ist auch<br />

ein Kulturkampf zwischen Konservativen<br />

und Liberalen. Die Demonstranten,<br />

die gegen die Janukowitsch-Regierung<br />

kämpften, neigen der Europäischen<br />

Union und modernen „demokratischen<br />

Werten“ zu, dazu zählen auch Rechte<br />

für Homosexuelle. Die Janukowitsch-<br />

Befürworter hingegen sind tendenziell<br />

russlandfreundlich, und auf manchen ihrer<br />

Plakate war „Euro=Homo“ zu lesen.<br />

Dies ist genau die Kampflinie, entlang derer<br />

Putin seinen konservativen ideologischen<br />

Maßstab errichtet hat.<br />

Der Bericht „Putin: der neue Führer<br />

des internationalen Konservatismus“ des<br />

kremlnahen Thinktanks Centre for Strategic<br />

Communications fasst Putins Absichten<br />

geschickt zusammen. So heißt es<br />

in dem Papier, eine schweigende Mehrheit<br />

in der Welt ziehe traditionelle Familienwerte<br />

dem Feminismus sowie den<br />

Rechten für Homosexuelle vor, und Putin<br />

sei ihr natürlicher Anführer. „Allem<br />

Anschein nach glaubt der Kreml das ultimative<br />

Trennungsmerkmal identifiziert<br />

zu haben, um seine Unterstützer –<br />

in Russland wie im Westen – zu einen,<br />

seine Gegner zu spalten und Unterstützung<br />

gerade in den Entwicklungsländern<br />

zu gewinnen“, sagt Brian Whitmore,<br />

Korrespondent von Radio Free Europe.<br />

„Sie scheinen zu glauben, sie hätten die<br />

Ideologie gefunden, die Russland an ihren<br />

rechtmäßigen Platz zurückbringt<br />

als Macht des Guten mit einem messianischen<br />

Auftrag und der Fähigkeit, die<br />

Herzen und Köpfe überall auf der Welt<br />

zu gewinnen.“<br />

PUTINS SIRENENGESANG hat Unterstützer<br />

aus einer unerwarteten Richtung<br />

gefunden, etwa Pat Buchanan. Der<br />

konservative amerikanische Politiker,<br />

Kommentator – und einstiger Antikommunist<br />

– war während der Reagan-Ära<br />

einer der Architekten der Bewegung<br />

„Moralische Mehrheit“. Jetzt ist er voll<br />

des Lobes für Putins „paläokonservative<br />

Bewegung“. Kürzlich schrieb Buchanan,<br />

die großen ideologischen Kämpfe des<br />

21. Jahrhunderts würden „zwischen einem<br />

Aufgebot von Konservativen und<br />

Traditionalisten aller Länder gegen den<br />

militanten Säkularismus einer multikulturellen<br />

und länderübergreifenden Elite“<br />

ausgefochten. „Während viele amerikanische<br />

und westliche Medien ihn als autoritär,<br />

reaktionär und rückwärtsgewandt<br />

abqualifizieren, könnte Putin die Zukunft<br />

klarer sehen als die Amerikaner.“<br />

Mit dieser Ansicht ist Buchanan nicht<br />

allein. Der in Illinois beheimatete World<br />

Congress of Families, eine Organisation<br />

zur Förderung von Familienwerten, ist<br />

der Einladung gefolgt, ihre 8. Internationale<br />

Jahreskonferenz in Moskau abzuhalten.<br />

„Russland könnte ein großer Verbündeter<br />

für Konservative sein, wenn es um<br />

die Verteidigung der Familie geht, um das<br />

Verbot von Abtreibung, die Stärkung der<br />

Ehe und die Propagierung von mehr Kindern“,<br />

begründet der Chef des Verbands,<br />

Larry Jacobs, die Entscheidung.<br />

Die wahre Zielgruppe des Kremls<br />

ist aber nicht der rechte Rand westlicher<br />

Gesellschaften, sondern es sind die Länder,<br />

die einst unter sowjetischem Einfluss<br />

standen. Dazu gehört der sogenannte<br />

„postsowjetische Raum“, aber auch einige<br />

Staaten des Nahen Ostens und Afrikas.<br />

„Putin könnte<br />

die Zukunft<br />

klarer sehen als<br />

die Amerikaner“<br />

Pat Buchanan,<br />

konservativer<br />

amerikanischer Politiker<br />

54<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Es waren russische Diplomaten und Wissenschaftler,<br />

die führend daran beteiligt<br />

waren, eine Koalition konservativer<br />

Staaten zu formieren und eine Resolution<br />

für den UN-Menschenrechtsrat in Genf<br />

zu formulieren, die sich gegen die Rechte<br />

von Homosexuellen richtete. Menschenrechte,<br />

das war das Ziel, sollten „traditionellen<br />

Werten und kultureller Herrschaft“<br />

untergeordnet werden.<br />

„Russland hat dieses Thema für sich<br />

genutzt, um in muslimischen und afrikanischen<br />

Staaten eine Anhängerschaft zu<br />

gewinnen“, sagt Mark Gevisser, Fellow<br />

der Stiftung Open Society. „Das Markenzeichen<br />

,ideologisch-moralischer Konservatismus‘<br />

wurde ursprünglich in den<br />

USA geprägt. Es ist besonders ironisch,<br />

wenn sich diese Länder nun an einem<br />

antiwestlichen Kreuzzug beteiligen und<br />

sich dabei eines westlichen Werkzeugs<br />

bedienen.“<br />

AM WIRKUNGSVOLLSTEN verfängt Moskaus<br />

Ablehnung der Rechte von Homosexuellen<br />

aber in Russlands unmittelbarer<br />

Nachbarschaft. Als es im vergangenen<br />

November noch so aussah, als würde<br />

Viktor Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen<br />

mit der Europäischen Union<br />

unterzeichnen, waren überall im Land<br />

auf riesigen Werbeflächen Warnungen<br />

zu lesen wie: „Die EU bedeutet Legalisierung<br />

gleichgeschlechtlicher Ehen.“<br />

Die Kampagne wurde von der Bewegung<br />

„Ukrainische Wahl“ bezahlt, einer<br />

Gruppe, die sich gegen eine Integration<br />

der Ukraine in die EU und für eine Allianz<br />

mit Russland engagiert und die dem<br />

kremlnahen Politiker und Geschäftsmann<br />

Viktor Medwedtschuk nahesteht.<br />

Putins neue Mission ist aber viel<br />

mehr als politischer Opportunismus. Wie<br />

in den Zeiten der Kommunistischen Internationale<br />

oder der Komintern knüpft<br />

Moskau eine internationale ideologische<br />

Allianz. Während die Komintern sich<br />

aber einst bemühten, Linke jeder Schattierung<br />

unter Moskaus großes ideologisches<br />

Zelt zu bringen, preist Putin sich<br />

als moralische Leitfigur für alle Konservativen<br />

an, die liberale Werte ablehnen.<br />

Wie damals die Komintern scheint<br />

auch Putin überzeugt, auf einer weltweiten<br />

historischen Mission zu sein. Zweifellos<br />

hat eine solche moralische Mission<br />

tiefe Wurzeln in der russischen<br />

Geschichte. Zahlreiche Kreml-Herrscher<br />

– wie die Zaren Nikolaus I, der „Polizist<br />

Europas“ und der erzkonservative<br />

Alexander III – schwangen sich einst zu<br />

Verteidigern der Orthodoxie und Autokratie<br />

auf. Nicht von ungefähr zitierte<br />

Putin in seiner Duma-Rede den konservativen<br />

Denker aus dem 19. Jahrhundert,<br />

Nikolai Berdjajew. „Der Sinn des Konservatismus<br />

besteht nicht darin, dass er<br />

Fort- oder Rückschritte behindert“, sagte<br />

er, „sondern darin, dass er ein Abrutschen<br />

ins finstere Chaos verhindert – den<br />

Rückfall in alte Zeiten.“<br />

Es wäre ein Leichtes, Putins konservative<br />

Komintern als eine andere<br />

Form eines Sotschi-haften Eitelkeitsprojekts<br />

abzutun. Würde nicht gleichzeitig<br />

Russlands Hard- wie Softpower wachsen.<br />

Erstmals seit einer Generation hatte<br />

Moskau im vergangenen Jahr in einer internationalen<br />

Angelegenheit das Sagen:<br />

Russlands Außenminister Sergei Lawrow<br />

bremste mit seinem Vorschlag für<br />

die Vernichtung der chemischen Waffen<br />

in Syrien US-Pläne für einen Militärschlag<br />

gegen Damaskus aus.<br />

Jahrelang hatte Moskau Gewaltherrscher<br />

in Ägypten, im Jemen, in Tunesien<br />

und Libyen erfolglos unterstützt – und<br />

sie sind gestürzt worden, genau wie die<br />

alte sowjetische Klientel von Afghanistan<br />

bis Jugoslawien. Mit Syrien ging die<br />

Pechsträhne zu Ende. Moskaus diplomatischer<br />

Schutz in den Vereinten Nationen,<br />

abgesichert durch russische Waffen<br />

sowie geheimdienstliche und militärische<br />

Hilfe, bedeutet wieder etwas. Wenn<br />

Harry S. Truman die USA zum Leuchtturm<br />

der Demokratie machen wollte, so<br />

sieht Putin Russland als Leuchtturm der<br />

reaktionären Bewegung.<br />

Schließlich gibt es noch einen dritten<br />

Pfeiler des ambitionierten russischen<br />

Programms, die Welt nach dem eigenen<br />

Bild zu gestalten: die kontinuierliche<br />

Kampagne zur Neugestaltung der globalen<br />

Architektur des Internets, sodass<br />

einzelne Staaten eine größere Kontrolle<br />

ausüben können.<br />

Seit der Geburt des World Wide<br />

Webs befindet sich das Kontrollzentrum<br />

bei der Internet Corporation for Assigned<br />

Names and Numbers, kurz ICANN,<br />

in den USA. Die Non-Profit-Organisation<br />

in Los Angeles vergibt Namen und<br />

Adressen im Internet. Seit langem schon<br />

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© Foto Barenboim: Peter Adamik © Foto Schäuble: Ilja C. Hendel / BMF<br />

© Foto Gabriel: Dominik Butzmann<br />

Die Kunst<br />

des Führens<br />

Berliner<br />

Ensemble<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph<br />

Schwennicke im Gespräch mit Daniel<br />

Barenboim und Wolfgang Schäuble.<br />

Sonntag, 27. April 2014, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28 40 81 55<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

27. April<br />

Wolfgang Schäuble<br />

und<br />

Daniel Barenboim<br />

VORSCHAU<br />

<strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

mit Sigmar Gabriel.<br />

11. Mai, 2014,<br />

11 Uhr,<br />

Berliner Ensemble<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Debatte<br />

DIE STUNDE DER<br />

EUROPÄISCHEN UNION<br />

Ist Putin wirklich nicht zu stoppen und die EU ein zahnloser<br />

Debattierklub? In der Krise kann Brüssel seine wahre Macht zeigen<br />

Wie genau konnte es zu dem Konflikt<br />

kommen, den der deutsche Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier die „größte<br />

Krise seit Ende des Kalten Krieges“<br />

genannt hat? Aufarbeitung lohnt. Eines<br />

ist schon klar: Die Europäische Union hat<br />

es kalt erwischt. Sie war nicht darauf<br />

vorbereitet, dass das Assoziierungsabkommen,<br />

das seit über einem Jahr schon<br />

fertig ausgehandelt war, am Ende nicht<br />

unterzeichnet werden könnte. Erst recht<br />

war sie nicht darauf eingestellt, dass<br />

Hunderttausende Ukrainer monatelang<br />

bei bitterer Kälte auf dem Maidan<br />

ausharren würden, weil sie ihre korrupte<br />

Oligarchenwirtschaft satthaben und ihre<br />

Zukunft näher an der EU denn an<br />

Russlands ebenfalls autoritärer<br />

Oligarchenwirtschaft sehen. Schon gar<br />

nicht hat sie erwartet, dass der russische<br />

Präsident seine Soldaten auf der Krim<br />

aufmarschieren lassen würde.<br />

Dass die EU von den Ereignissen überrumpelt<br />

wurde, verwundert nicht. Sie hat es<br />

versäumt, bei den Verhandlungen mit der<br />

Ukraine russische Interessen zumindest<br />

mitzudenken. Außerdem verhandelten<br />

Unterhändler aus Brüssel und die<br />

Vertreter der nationalen europäischen<br />

Regierungen zwar mit den politischen<br />

Eliten der Ukraine. Sie hätten aber auch<br />

den Dialog mit der ukrainischen<br />

Zivilgesellschaft suchen müssen. Einer<br />

Zivilgesellschaft, die eine „europäische<br />

Passion“ entwickelt hat, die gerade in<br />

den westlichen Ländern der EU schon<br />

lange nicht mehr zu existieren scheint.<br />

Die Ukrainer, die auf dem Maidan<br />

ausharrten, haben die EU daran erinnert,<br />

wofür sie steht: für Rechtsstaatlichkeit,<br />

Demokratie sowie die Wahrung der<br />

Menschenrechte – und eben nicht in<br />

erster Linie für enervierende Brüsseler<br />

Bürokratie. Deshalb steckt in der Krise<br />

auch eine Chance für die EU. Russlands<br />

Krim-Politik könnte der EU einen<br />

außenpolitischen Einigungsschub geben.<br />

Hier geht es nicht nur darum, die – berechtigten<br />

– Ängste der baltischen<br />

Staaten oder Polens vor Russlands<br />

Begehrlichkeiten zu zerstreuen. Es geht<br />

um ganz Europa. Die EU kann Russland<br />

nur dann begegnen, wenn sie einig ist –<br />

und zwar von „Lissabon bis Riga“, wie es<br />

Kanzlerin Merkel jüngst ausdrückte.<br />

Wenn die südlichen Länder, die noch<br />

unter der Rezession der Eurokrise leiden,<br />

auch bereit sind, zu Sanktionen zu stehen,<br />

die vielleicht eine Erholung ihrer Länder<br />

gefährden oder verlangsamen können.<br />

Und wenn deutlich wird: Sichere Grenzen<br />

und friedliche Nachbarn sollten nicht nur<br />

Deutschland, Frankreich oder Spanien<br />

gegönnt sein, sondern eben auch Polen,<br />

Litauen und Lettland.<br />

Dafür stehen der EU Gestaltungsmöglichkeiten<br />

zur Verfügung. Auf der<br />

„Europapassion“ der Ukrainer lässt sich<br />

aufbauen – es liegt im Interesse der EU,<br />

einer solchen Gesellschaft bei dringend<br />

notwendigen Reformen zu helfen, um am<br />

Ende eine demokratische Marktwirtschaft<br />

und nicht eine Kleptokratie näher<br />

an die EU zu binden.<br />

Noch wichtiger ist: Wladimir Putin mag<br />

sich als starker Mann gerieren, aber die<br />

Wirtschaft seines Landes ist schwach. Sie<br />

ist abhängig vom Gas- und Ölexport – vor<br />

allem aber bereiten ihr demografische<br />

Entwicklung, fehlende Innovationskraft<br />

und zurückgebliebene Infrastruktur<br />

Probleme. Sie ist, jenseits des Gasgeschäfts,<br />

nicht wettbewerbsfähig und auf<br />

die Unterstützung des Westens<br />

angewiesen. Auch wenn der Westen<br />

selbst einen Preis für die Sanktionen<br />

zahlen muss, werden sie Russland<br />

langfristig mehr zusetzen als der<br />

Europäischen Union. Die EU sitzt am<br />

längeren Hebel. Sie sollte ihre Stärke<br />

nutzen. JUDITH HART<br />

Wladimir Putin<br />

mag sich als<br />

starker Mann<br />

geben, seine<br />

Wirtschaft aber<br />

ist schwach<br />

fordert Russland, dass der Sitz der Organisation<br />

verlegt wird – und zwar außerhalb<br />

der USA. Unerwarteten Auftrieb<br />

erhielt diese Forderung durch den Whistleblower<br />

Edward Snowden und dessen<br />

Enthüllungen – dessen Berichte waren<br />

für Moskau ein willkommener Anlass,<br />

um Washington zu desavouieren und<br />

die USA als alles andere denn eine Insel<br />

der Freiheit für Internetuser an den<br />

Pranger zu stellen.<br />

VERGANGENEN NOVEMBER beklagte<br />

sich eine Delegation russischer Gouverneure<br />

und Beamter des Außenministeriums<br />

während eines offiziellen Besuchs<br />

in den USA bei amerikanischen Serviceprovidern,<br />

dass diese den Datenschutz<br />

der User nicht ausreichend garantierten.<br />

Und forderten erneut eine Reform des<br />

ICANN. Das mag im Licht der Enthüllungen<br />

Edward Snowdens eine legitime Forderung<br />

sein, schließlich lässt sich mit Fug<br />

und Recht behaupten, dass die Kontrolle<br />

über die US-Geheimdienste versagt hat.<br />

Doch das Problem mit dieser Forderung<br />

ist: Sie könnte zu einer verschärften<br />

Überwachung des Webs nicht nur in<br />

einzelnen Staaten führen und nicht nur<br />

in derem „eigenen“ Internetbereich –<br />

was heute schon möglich ist –, sondern<br />

des gesamten World Wide Webs. Konkret<br />

hieße das: Russland könnte jemanden<br />

in Deutschland, der ihm nicht genehm<br />

ist, blockieren, indem es sich auf<br />

eine Anti-Terror-Klausel beruft, und die<br />

Domain des Gegners oder die DNS, das<br />

Basis-Adressbuch des Internets, außer<br />

Betrieb setzen. Ohne DNS sind Internetseiten<br />

unauffindbar. Sie verschwinden<br />

einfach.<br />

Über die Frage, wer das Internet<br />

kontrolliert, wird im kommenden Jahr<br />

auf einer großen internationalen Konferenz<br />

– der größten confab seit 2005 – diskutiert<br />

werden. Strategisch hat Russland<br />

sein Augenmerk offensichtlich auf zwei<br />

Ziele gelegt: den USA die Kontrolle über<br />

das Internet zu entreißen und eine neue<br />

Definition von „Cyber-Terrorismus“ zu<br />

schaffen, die genauso vage ist wie Moskaus<br />

eigene „Rechtsextremismus“-Gesetzgebung.<br />

Die hatte zuletzt dazu gedient,<br />

Umweltaktivisten, friedliche<br />

Demonstranten, unabhängige Medien<br />

und homosexuelle Aktivisten strafrechtlich<br />

zu verfolgen.<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Anzeige<br />

Eine elegante<br />

Sammlung<br />

Russland ist<br />

zurück als ein<br />

großer globaler<br />

Akteur und<br />

schert sich nicht<br />

darum, wie viel<br />

das kostet<br />

Nach dem Vorschlag Russlands soll<br />

die Kontrolle des Internets die International<br />

Telecommunication Union übernehmen,<br />

jene UN-Behörde, die für die<br />

Koordination des weltweiten Hörfunkspektrums<br />

und der Satellitenbahnen<br />

zuständig ist. Was auf den ersten Blick<br />

harmlos erscheinen mag, erweist sich als<br />

trojanisches Pferd.<br />

Die Charta der Telecommunication<br />

Union garantiert den freien Zugang zum<br />

Internet – außer in Fällen von Cyber-Terrorismus.<br />

In den vergangenen zehn Jahren<br />

hat Russland in der Uno dreimal und<br />

in der Organisation für Sicherheit und<br />

Zusammenarbeit in Europa einmal versucht,<br />

Resolutionen zu Cyber-Terror im<br />

Internet durchzuboxen. Die USA und Europa<br />

widersetzten sich einer solchen Gesetzgebung<br />

stets. „Die einzige praktische<br />

Folge eines solchen Schrittes wäre, Staaten<br />

die Unterdrückung Andersdenkender<br />

zu erlauben“, sagt Alexander Klimburg,<br />

Berater für Internetsicherheit bei der Organisation<br />

für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />

in Europa.<br />

KONSERVATIVE WERTE, internationale<br />

Diplomatie, die Architektur des Internets<br />

– oberflächlich betrachtet sind dies<br />

unterschiedliche Gebiete, auf denen<br />

Russland internationalen Einfluss ausübt.<br />

Aber sie sind verknüpft durch ein<br />

Leitmotiv, das spätestens mit den Olympischen<br />

Winterspielen in Sotschi deutlich<br />

wurde: Russland ist zurück als ein großer<br />

globaler Akteur und schert sich nicht<br />

darum, wie viel es kostet, um dies auch<br />

zu zeigen. Der Plan steht freilich auf tönernen<br />

Füßen –, wie auch Putins Herrschaft,<br />

die auf nichts anderem als hohen<br />

Energiepreisen beruht. Mit der Schiefergasrevolution<br />

und der Entwicklung alternativer<br />

Energien beginnen diese Preise<br />

zwar schon zu fallen. Einstweilen aber<br />

hat Putin die Mittel und den Plan, russische<br />

Macht erstmals seit der sowjetischen<br />

Invasion Afghanistans über Russlands<br />

Grenzen hinaus auszuüben.<br />

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Vorstehende Einwilligung kann durch Senden einer E-Mail an abo@cicero.de oder<br />

postalisch an den <strong>Cicero</strong>-Leserservice, 20080 Hamburg, jederzeit widerrufen werden.<br />

Datum<br />

Unterschrift<br />

Foto: Philippe Matsas<br />

OWEN MATTHEWS war Russlandkorrespondent<br />

für The Times<br />

und Newsweek. Als Sohn einer<br />

Russin und eines Engländers ist<br />

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20080 Hamburg<br />

Bestellnr.: 544103<br />

57<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Hintergrund<br />

SPIELBALL<br />

DER<br />

MÄCHTIGEN<br />

Von GWENDOLYN SASSE<br />

Die wechselvolle Geschichte der<br />

Krim begann nicht erst mit der<br />

Eroberung durch Katharina die<br />

Große. Das Referendum wird<br />

auch nicht ihr Ende bedeuten.<br />

Ein Rück- und Ausblick<br />

Die Krim ist eine geschichtsträchtige Region. Fakten und<br />

Mythen lassen sich oft nur schwer voneinander trennen.<br />

Nun ist die Halbinsel zur größten Herausforderung für<br />

den ukrainischen Staat, das Verhältnis zwischen Russland und<br />

der Ukraine und die Beziehungen zwischen Russland und dem<br />

Westen geworden. Umso wichtiger ist der historische und politische<br />

Kontext der Ereignisse.<br />

Die Krim ist die einzige Region in der Ukraine mit einer<br />

russischen Mehrheit und einem in der ukrainischen Verfassung<br />

verankerten, politisch jedoch schwachen Autonomiestatus.<br />

Ihre Spezifika machen die Region zu einem brauchbaren<br />

Werkzeug in der Innen- und Außenpolitik Russlands. Nationalismus<br />

basiert in der Regel auf einer Kombination von strategischen,<br />

wirtschaftlichen und kulturellen Interessen und Identitäten.<br />

So ist es auch in diesem Fall.<br />

Zu den wichtigsten Zäsuren in der Geschichte der Krim<br />

gehören:<br />

• die 300-jährige Herrschaft des Krim-Khanats ab 1441,<br />

• die Eingliederung der Krim ins Russische Reich unter Katharina<br />

der Großen im Jahr 1783 – im aktuellen Diskurs scheint die<br />

Geschichte auf der Krim erst mit diesem Datum zu beginnen,<br />

• der Krimkrieg 1853 bis 1856 zwischen dem Osmanischen Reich<br />

und Russland, in dem Sewastopol ein Jahr lang belagert war,<br />

• eine zweite Belagerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg,<br />

• die Deportation der Krimtataren 1944 durch die Sowjetunion,<br />

• Nikita Chruschtschows Transfer der Krim an die Ukrainische<br />

Sowjetrepublik 1954<br />

• und ab 1991 die politische Realität einer unabhängigen Ukraine.<br />

Historische Ungenauigkeiten und Umdeutungen sind integrale<br />

Bestandteile der im (post-)sowjetischen Bewusstsein der<br />

58<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein; Foto: Privat<br />

Krimbewohner und Russen verankerten Geschichte der Region.<br />

So etwa die als Heldentaten interpretierten Verluste in<br />

Sewastopol und eine stark verkürzte Interpretation von Chruschtschows<br />

„Geschenk“. Aus Archivdokumenten geht hervor,<br />

dass der Anlass des 300. Jubiläums des Perejaslaw-Vertrags als<br />

Symbol slawischer Freundschaft die im letzten Moment eingebaute<br />

offizielle Begründung, nicht aber das Motiv für den Transfer<br />

war. Chruschtschow hatte die Idee bereits in den vierziger<br />

Jahren vergeblich mit Stalin diskutiert. 1953/1954 gewann<br />

das Projekt durch administrative Argumente für eine Anbindung<br />

der wirtschaftlich vernachlässigten Region an Kiew sowie<br />

Chruschtschows eigenes machtpolitisches Kalkül an Konturen.<br />

Die Legitimität dieser Entscheidung ist von russischen<br />

Politikern und prorussischen Kräften auf der Krim immer wieder<br />

bestritten worden.<br />

Doch die Krim verbindet sich auch mit anderen Identitäten.<br />

Für die Krimtataren ist die Halbinsel ihre nationale Heimat.<br />

Darüber hinaus weisen Meinungsumfragen immer wieder<br />

auf die Existenz einer regionalen Krimidentität hin, die über<br />

ethnische, linguistische und politische Kategorien hinausgeht.<br />

Der jüngsten Volksumfrage von 2001 zufolge definierten sich<br />

58 Prozent der Krimbevölkerung als Russen, 24 Prozent als<br />

Ukrainer, und 12 Prozent als Krimtataren. Eine Mehrheit der<br />

Ukrainer gab Russisch als ihre Muttersprache an.<br />

Diese Zahlen und das offizielle Referendumergebnis sagen<br />

aber wenig über die tatsächliche Stimmung aus. Die jüngere<br />

Generation der slawischen Bevölkerung ist sich der Besonderheiten<br />

der Krim bewusst, aber im ukrainischen Staat aufgewachsen.<br />

Darüber hinaus ist eine kulturelle Affinität zu Russland<br />

nicht unbedingt mit einer Zustimmung für das politische<br />

System Russlands gleichzusetzen. Die Krimtataren, deren Zahl<br />

inzwischen auf etwa 13 Prozent gestiegen ist, waren bisher eine<br />

geeinte politische Kraft. Nach dem Referendum werden diese<br />

Einheit, ihre traditionell skeptische Haltung gegenüber Moskau<br />

und die Mittel, mit denen sie für ihre Rechte kämpfen, getestet.<br />

Sie werden damit zum wichtigsten regionalen Akteur mit<br />

Einfluss auf die regionale Stabilität und Putins nächste Schritte.<br />

Moskau kann sich eine Destabilisierung der Region nicht leisten<br />

und wird im Falle einer Mobilisierung der Krimtataren eher zu<br />

Verhandlungen über den Krimstatus bereit sein.<br />

Der ukrainische Staat sieht schwächer aus, als er eigentlich<br />

ist. Bedenkt man, dass die Ukraine in den heutigen Grenzen<br />

erst seit 1991 als unabhängiger Staat besteht, der die gewaltsamen<br />

und autoritären Exzesse Russlands vermieden und<br />

einen ersten Konflikt auf der Krim Mitte der neunziger Jahre<br />

entschärft hat, dann ist das ein Erfolg. Krisensituationen bieten<br />

auch Möglichkeiten für Reform. In der Ukraine gibt es nun<br />

die Chance einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen<br />

dem Zentrum und den Regionen – mit oder ohne die Krim.<br />

Der Ausbau föderaler Elemente ist denkbar: Die bislang von<br />

Kiew ernannten regionalen Gouverneure könnten gewählt werden.<br />

Ironischerweise könnte ein dezentralisiertes oder föderales<br />

Staatsmodell die Ukraine intern stärken und sie vor weiteren<br />

russischen Interventionen schützen.<br />

GWENDOLYN SASSE unterrichtet an der Oxford University.<br />

Von der Politologin und Ukraine-Expertin erschien<br />

„The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict“.<br />

Sie weist auf die zentrale Rolle der Krim tataren hin und<br />

sieht in der gegen wärtigen Krise auch eine Chance<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Interview<br />

„ES GIBT IMMER<br />

LEUTE, DIE DIE HOSEN<br />

VOLLHABEN“<br />

Die Europäische Union darf in der<br />

Auseinandersetzung mit Putin nicht in Angst<br />

erstarren, warnt der frühere tschechische<br />

Außenminister Karel Schwarzenberg<br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein; Foto: Dirk Bleicker/Caro Photo Agency [M]<br />

Herr Schwarzenberg, am 16. März wurde<br />

auf der Krim für den Beitritt zu Russland<br />

abgestimmt. Die Urnen waren<br />

durchsichtig, die Stimmzettel nicht einmal<br />

in Kuverts gesteckt.<br />

Karel Schwarzenberg: Diese Abstimmung<br />

ist in etwa so wertvoll wie<br />

jene Volksabstimmung im April 1938 in<br />

Österreich, die den Einmarsch der deutschen<br />

Armee und die Machtübernahme<br />

Adolf Hitlers in Österreich im Nachhinein<br />

für gut und richtig erklären sollte.<br />

Das ist aus demselben historischen Rezeptbuch<br />

genommen. Als hätte Putin ein<br />

Kopiergerät dabeigehabt und mal schnell<br />

bei Hitler nachgeschlagen.<br />

Passt der Vergleich zwischen Hitler und<br />

Putin wirklich?<br />

Nein, die beiden sind natürlich sehr<br />

verschieden. Aber auch unterschiedliche<br />

Persönlichkeiten können die gleichen Instrumente<br />

verwenden. Die gleiche Axt<br />

kann von einem Mönch oder einem<br />

besoffenen Holzhauer benutzt werden.<br />

Hitler führte damals einen aggressiven<br />

Expansionskrieg, Putin hat die Wiederherstellung<br />

seiner Vorstellung eines<br />

Großrusslands vor Augen.<br />

Man muss Putin nur genau zuhören.<br />

Er hat selbst gesagt, dass er den Zerfall<br />

der Sowjetunion für die größte geopolitische<br />

Katastrophe des 20. Jahrhunderts<br />

hält. Welch ein kühner Vergleich. Immerhin<br />

hat es in diesem Jahrhundert zwei<br />

Weltkriege gegeben. Aber so tickt er. Er<br />

hat das Ende seines Reiches nicht verwunden.<br />

Weit schlimmer, auch die Einheit der<br />

osteuropäischen Länder, der sogenannte<br />

„Ostblock“, liegt für ihn in Trümmern. Die<br />

Krim scheint nun einverleibt. Weißrussland<br />

ist selbstständig, wird aber langsam<br />

angekettet. Die Ukraine ist noch selbstständig,<br />

das war für ihn schon immer unausstehlich,<br />

und das wird es auch weiter<br />

bleiben. Sein erstes Ziel war es immer,<br />

dass diese Länder wieder Teil Russlands<br />

sind, dass die ehemaligen Länder der Sowjetunion<br />

die natürliche Hegemonialstellung<br />

Moskaus wieder anerkennen und<br />

dass der Westen am Ende begreift, dass<br />

das seine Interessensphäre ist.<br />

Wie weit geht dieser Anspruch?<br />

Überall dort, wo im Jahr 1945 ein<br />

russischer Soldat stand, ist für Putin<br />

russische Interessensphäre. Ich erinnere<br />

mich gut an ein Erlebnis mit dem russischen<br />

Außenminister Sergei Lawrow aus<br />

der Zeit, als die Tschechische Republik<br />

den EU-Vorsitz hatte. Wir flogen nach<br />

Moskau zu einer dieser rituellen diplomatischen<br />

Begegnungen, haben äußerst<br />

korrekt in einer guten Atmosphäre unsere<br />

Termine absolviert, bis es zur Pressekonferenz<br />

kam. Als erfahrener Politiker<br />

merkt man sofort, wenn bei so einem<br />

Anlass eine Frage bestellt wurde. Siehe<br />

da, ein liebes Mädchen stand auf und<br />

fragte, ob es tatsächlich ernst gemeint<br />

sei, dass Mittelstreckenraketen in Kaliningrad<br />

aufgebaut werden, wenn in der<br />

Tschechischen Republik Radarstationen<br />

für ein US-Raketenschutzschild aufgestellt<br />

werden sollen. Lawrow antwortete,<br />

wenn eine solche Anlage in Osteuropa<br />

aufgestellt würde, sei das tatsächlich eine<br />

Provokation, dann würden Raketen nach<br />

Kaliningrad kommen. Wörtlich, in Osteuropa!<br />

Worauf ich mir erlaubte anzumerken,<br />

dass es von Prag zum Ärmelkanal<br />

wesentlich näher sei als zum Ural,<br />

Karel Schwarzenberg<br />

war zwei Mal Außenminister der<br />

Tschechischen Republik. Der<br />

liberal-konservative Politiker ist<br />

derzeit Chef des außenpolitischen<br />

Ausschusses des<br />

tschechischen Abgeordnetenhauses.<br />

Der 76-Jährige<br />

engagierte sich zeit seines<br />

Lebens gegen den Kommunismus<br />

und unterstützte Dissidenten<br />

im ehemaligen Ostblock<br />

wir also nicht Osteuropa, sondern bestenfalls<br />

Mittel-, aber eigentlich Westeuropa<br />

sind. Lawrow blickte mich siegreich an<br />

und sagte: ,Nein, ihr gehört in den Vereinten<br />

Nationen zur Gruppe der osteuropäischen<br />

Staaten, ihr seid Osteuropa.‘<br />

Das ist die Moskauer Sichtweise. Du gehörst<br />

in mein Tascherl. Punkt.<br />

Aber kann man Putins Aggression auf<br />

der Krim nicht auch als ein Zeichen von<br />

Schwäche interpretieren?<br />

Insofern ja, da sich ein Autokrat immer<br />

beweisen muss. Wenn der Wohlstand<br />

im Land nicht steigt, die Wirtschaft stagniert,<br />

muss er außenpolitische Erfolge<br />

vorzeigen. Die Krim-Sache ist zweifellos<br />

ein solcher. Ohne Aggression funktionieren<br />

solche Herrscher eben nicht.<br />

Stehen wir vor einem neuen kalten<br />

Krieg?<br />

Die Situation kann sich zu einem kalten<br />

Krieg entwickeln, wobei mir ein kalter<br />

Krieg immer lieber ist als ein heißer.<br />

Wir stehen definitiv vor einer Frostperiode.<br />

Die Krim ist ein beträchtliches Stück<br />

Land, Putin hat einen klaren territorialen<br />

Angriff unternommen, im Widerspruch<br />

zu allen völkerrechtlichen Bestimmungen<br />

der Vereinten Nationen und internationaler<br />

Abkommen.<br />

Welche Rolle soll Europa in diesem Konflikt<br />

weiter spielen?<br />

Ich kann nur hoffen, dass wir einig<br />

bleiben, einen festen Standpunkt<br />

einnehmen und uns engstens mit den<br />

Vereinigten Staaten koordinieren, um<br />

die notwendigen Maßnahmen zu treffen.<br />

Wirtschaftliche Sanktionen sind für<br />

mich unausweichlich. Und zwar solche,<br />

die wehtun. Es gibt verschiedene Varianten,<br />

manche sind nicht sehr effektiv.<br />

Aber wie das Beispiel Iran zeigt, gibt es<br />

solche, die wirklich beißen. Wenn Europa<br />

in diesem Punkt hart bleibt, handelt<br />

es richtig. Das ist für mich die entscheidende<br />

Frage. Die EU ist schließlich<br />

immer noch eine der größten Wirtschaftsmächte<br />

der Welt. Natürlich kann<br />

Russland uns wehtun. Öl und Gas werden<br />

teurer werden, die Russlandexporte<br />

zurückgehen. Aber Freiheit kriegt man<br />

nie umsonst, für Freiheit muss man Opfer<br />

bringen. Appeasement ist nicht das<br />

Gebot der Stunde. Auch wenn es immer<br />

61<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Interview<br />

genügend Leute gibt, die die Hosen vollhaben<br />

und irgendwelche Ausreden gegen<br />

noch härtere Sanktionen suchen.<br />

Die osteuropäischen EU-Mitglieder und<br />

die westlichen scheinen sehr unterschiedliche<br />

Ansichten über Russland<br />

zu haben – woher rührt das?<br />

Das ist ganz einfach. Die einen haben<br />

die Erfahrungen mit der Herrschaft<br />

von Moskau, die anderen nicht. Das erzeugt<br />

eine unterschiedliche Sicht auf die<br />

Dinge. So lange ist die Zeit der russischen<br />

Dominanz noch nicht her, und wir haben<br />

das noch nicht vergessen.<br />

Sind die Osteuropäer inzwischen die<br />

überzeugteren Europäer?<br />

Nein, das würde ich nicht behaupten.<br />

Sie wissen nur, dass man Europa verteidigen<br />

muss. Dass Europa keine Selbstverständlichkeit<br />

ist. Wenn man Aggressionen<br />

nachgibt, wird man von diesen abhängig.<br />

Der ehemalige US-Außenminister Henry<br />

Kissinger hat unlängst dafür plädiert,<br />

den Krim-Konflikt nicht auf die Spitze<br />

zu treiben. Für die Ukraine gäbe es kein<br />

Entweder-Oder, Ost oder West, sondern<br />

sie wird immer ein Brückenstaat sein.<br />

Kissinger nennt Finnland als mögliches<br />

Zukunftsmodell für die Ukraine.<br />

Es wird immer eine Sonderbeziehung<br />

zwischen der Ukraine und Russland geben<br />

– allein aufgrund der Ähnlichkeit<br />

der Sprache. Sie ist kein Land, das sich<br />

100-prozentig nach Westeuropa orientieren<br />

wird können. Was wir aber nicht<br />

zulassen dürfen, ist, dass ein Staat von<br />

seinem Nachbarstaat erpresst und tyrannisiert<br />

wird. Diese besondere Beziehung<br />

der Ukraine zu Moskau lässt sich vielleicht<br />

auch mit der „besonderen Beziehung“<br />

vergleichen, die Großbritannien mit den<br />

Vereinigten Staaten hat. Oder eben mit<br />

Finnland. Ich kann mir vorstellen, dass die<br />

Ukraine kein Nato-Mitglied wird. Aber es<br />

ist unbedingt notwendig, dass sie EU-Mitglied<br />

wird, sonst gelingt der wirtschaftliche<br />

Aufbau nicht. Auch wenn es Jahre<br />

dauern kann. Sollte sich Russland aus der<br />

Krim zurückziehen, würde ich diese Perspektive<br />

für die Ukraine befürworten.<br />

Sie gehen aber offensichtlich nicht davon<br />

aus, dass Putin die Krim wieder<br />

hergibt.<br />

„ Es gibt seit dem<br />

18. Jahrhundert<br />

so etwas wie<br />

eine sadomasochistische<br />

Liebe zwischen<br />

Russland und<br />

Deutschland “<br />

Überhaupt nicht. Was ich gefressen<br />

habe, das behalte ich. Die Krim der<br />

Zukunft wird sich vielleicht autonome<br />

Republik nennen dürfen, so wie Südossetien.<br />

Aber wir wissen, was das de facto<br />

heißt. Die Welt ist eben kein Rosengarten.<br />

Gibt es für Deutschland eine eigene<br />

Rolle in dieser, wie Sie es nennen, neuen<br />

Frostperiode gegenüber Moskau?<br />

Deutschland ist in einer schwierigen<br />

Lage. Es ist das europäische Land, das die<br />

intensivsten Beziehungen zu Russland<br />

hat. Es gibt ja seit dem 18. Jahrhundert so<br />

etwas wie eine sadomasochistische Liebe<br />

zwischen Russland und Deutschland. Sie<br />

haben sich beide einige Mal versucht gegenseitig<br />

umzubringen und lieben sich<br />

seitdem heiß. Ein Axiom der deutschen<br />

Außenpolitik war immer, gute Beziehungen<br />

zu Russland zu haben. Das hat es<br />

schon unter Bismarck gegeben, das sollten<br />

wir nicht vergessen. Die Geschäftsinteressen<br />

sind wirklich sehr beträchtlich.<br />

Und bekanntermaßen ist Putins ganzer<br />

Stolz, dass er recht gut Deutsch spricht.<br />

Erfüllt Merkel ihre Rolle?<br />

Weil sie in der DDR aufgewachsen ist,<br />

tut sie sich in manchen Dingen leichter.<br />

Sie hat sicher ein besseres Verständnis<br />

für andere Politiker, die ebenfalls in den<br />

Warschauer-Pakt-Staaten aufgewachsen<br />

sind – und bei den Russen. Sie kann auch<br />

Russisch, wie jeder, der in dieser Generation<br />

in der DDR in die Schule gegangen<br />

ist. Ich glaube, sie ist Russland gegenüber<br />

etwas härter als ihr Außenminister. Aber<br />

auch sie war immer eher dazu geneigt,<br />

das besondere Verhältnis zu pflegen. Sie<br />

sieht aber ein, dass jetzt der Moment gekommen<br />

ist, in dem man hart bleiben<br />

muss. Sie sieht die Sowjetunion realistisch.<br />

Sie unterschätzt sie nicht, aber sie<br />

kennt auch ihre Schwächen. Ich denke,<br />

sie ist da relativ nüchtern.<br />

Kommen wir zur Ukraine zurück. Sehen<br />

Sie eine Art ukrainischen Václav<br />

Havel, also eine Integrationsfigur bei<br />

den oppositionellen Kräften, die das<br />

Land durch die nächsten Jahre führen<br />

könnte?<br />

Es gibt derzeit leider niemanden, der<br />

so integrativ wirkt, wie Havel es konnte.<br />

Am meisten konzentrieren sich die Hoffnungen<br />

jetzt auf Wladimir Klitschko.<br />

Aber ob er das Talent hat, alle anzuziehen,<br />

ist mir noch nicht klar. Die Ukraine<br />

litt leider immer unter den internen Streitigkeiten<br />

ihrer Eliten.<br />

Sie haben sich klar für harte Sanktionen<br />

ausgesprochen, die Europa auch Geld<br />

kosten werden. Wie lange wird die Bevölkerung,<br />

in Zeiten der Wirtschaftskrise,<br />

das mittragen?<br />

Wie ich schon sagte, Freiheit gibt<br />

es nicht umsonst. Europa muss Geld in<br />

die Hand nehmen und die Ukraine jetzt<br />

unterstützen – und zwar mit ordentlichen<br />

Summen. Nicht kleckern, sondern<br />

klotzen! Die Russen haben die Ukraine<br />

wirtschaftlich ja bewusst zugrunde gerichtet.<br />

Erst unlängst haben sie erklärt,<br />

den Gaspreis um 40 Prozent zu erhöhen.<br />

Was bitte ist da schon die Wirtschaftskrise?<br />

Wann immer ich durch Deutschland<br />

oder Österreich fahre, sehe ich unzählige<br />

neue BMWs und andere große<br />

Autos. Wir leben ja nicht wie in den dreißiger<br />

Jahren. Wir haben eine steigende<br />

Arbeitslosigkeit, aber die Hungrigen stehen<br />

nicht am Straßenrand. So arg ist es<br />

noch nicht. Das muss es uns einfach wert<br />

sein. Sonst sind wir international abgeschrieben,<br />

und die Vereinigten Staaten<br />

würden mit Recht sagen: Wir ziehen uns<br />

zurück, macht es selber.<br />

Das Gespräch führte BARBARA TÓTH<br />

62<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


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WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

KINDERSPIEL<br />

KRIEG<br />

Fotos ORIOL SEGON TORRA<br />

Marschieren, strammstehen, schießen. In einem<br />

Feriencamp nahe Budapest werden Jungen gedrillt.<br />

Die Trainingslager sind ausgebucht. Einblicke in die<br />

ungarische Gesellschaft, die sich mehr und mehr<br />

militarisiert<br />

64<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Ist es Entsetzen oder Erschöpfung?<br />

Starr blicken die Jungen nach einer<br />

Übung mit Gasmasken ins Leere


Faszination der Waffen: Neben echten<br />

Pistolen zeigt Feldwebel Balla auch eigens<br />

für das Camp hergestellte Imitationen.<br />

Die Jungen im Militärcamp Mogyoród sind<br />

zwischen 12 und 18 Jahren alt


Wie im echten Manöver wird auch<br />

in den Wäldern im Norden<br />

Budapests in Uniform und mit<br />

Waffe das Heranpirschen an den<br />

„Feind“ geübt


Gewehr im Anschlag. Die Kinder<br />

werden hart gedrillt. Laden, zielen,<br />

schießen. Feldwebel Bass erklärt<br />

ihnen die Fertigkeiten, die ein<br />

Soldat im Krieg braucht


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Hinter Sandsäcken verschanzt sich<br />

einer der „Kombattanten“ während<br />

des simulierten Gefechts<br />

Es nennt sich „komplexe taktische Übung“:<br />

Mit echten Waffen, echter Artillerie, echten<br />

Panzern und angezogen wie echte<br />

kämpfende Soldaten greifen die Kinder und<br />

Jugendlichen eine stillgelegte Raketenbasis an.<br />

Nur die Munition besteht aus Platzpatronen<br />

und Pyrotechnik.<br />

Die Übung ist der Höhepunkt des einwöchigen<br />

Trainingslagers in Mogyoród in der<br />

Nähe von Budapest. Da haben die Teilnehmer,<br />

angeleitet von echten Armeeausbildern, bereits<br />

einen „militärischen Grundlehrgang“ abgeschlossen<br />

– mit Exerzieren, Gelände-, Tarnund<br />

Alarmübungen, Nahkampf, Granatwurf,<br />

Gasangriff und Scharfschießen.<br />

„Militärausbildung und Kriegsspiel für 12-<br />

bis 18-Jährige“ – angeboten wird das vom ungarischen<br />

„Veteranenverein für Militärtraditionen“,<br />

dem VKH Egyesület. Den Kindern<br />

verspricht der Verein „unvergessliche Erlebnisse“,<br />

den Eltern die Erziehungsziele „Ehrfurcht,<br />

Demut, Disziplin und gute Ausbildung“.<br />

Vereinsgründer und Leiter der Trainingslager<br />

ist Zsolt Horváth, 50, ein ehemaliger Ingenieur<br />

für Militärtechnik und nach eigenem<br />

Bekunden ein „Waffen- und Militärgerätenarr“.<br />

Seit 2006 finden jährlich vier bis fünf Trainingslager<br />

statt, die ungarische Armee stellt Ausbilder<br />

und Technik zur Verfügung. „Wir verstehen<br />

uns als Berufswegweiser für Kinder<br />

72<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Bevor die Kinder Uniformen und Waffen –<br />

etwa alte Kalaschnikows mit Platz patronen –<br />

erhalten, müssen sie strammstehen<br />

Fotos: Oriol Segon Torra/Echo Agency (Seiten 64 bis 73)<br />

und Jugendliche“, sagt Horváth. „Die Wehrpflicht<br />

wurde 2005 abgeschafft, aber die Armee<br />

braucht ja Nachwuchs. Natürlich ist Krieg<br />

verurteilenswert, aber der Frieden hat zahlreiche<br />

Voraussetzungen. Wir bieten eine Freizeitgestaltung<br />

für Kinder an, die als Erwachsene<br />

etwas für ihre Heimat tun möchten.“<br />

Horváth ist in Ungarn kein Exot. Seine<br />

Trainingslager sind ausgebucht. Auch das Verteidigungsministerium<br />

und die Armee veranstalten<br />

an Ober-, Berufs- und Fachschulen ein<br />

beliebtes militärisches Lehrprogramm. Überhaupt<br />

findet in Ungarn vor dem Hintergrund<br />

eines gescheiterten Transformationsprozesses,<br />

der Millionen Verlierer hervorgebracht hat, eine<br />

Militarisierung der Gesellschaft und des Staates<br />

statt. Zehntausende Ungarn leisten Dienst<br />

in sogenannten „Bürgerwehren“, einer freiwilligen<br />

kommunalen Ersatzpolizei. Paramilitärische<br />

rechtsextreme Gruppierungen wie die „Ungarische<br />

Garde“ haben trotz Verbots Zulauf. Die Orbán-Regierung<br />

verschärfte das Strafgesetzbuch<br />

und erweiterte die Palette staatlicher Sanktionsmöglichkeiten<br />

im Sozial- und Bildungsbereich.<br />

Zsolt Horváth will sich zu solchen Themen<br />

nicht äußern. „Wir unterstützen keinerlei politische<br />

Ideen oder Parteien“, sagt er. „Wir wollen<br />

auch nicht, dass alle Soldaten werden. Wir<br />

wollen nur, dass man in Ungarn wieder lernt,<br />

Ordnung zu halten.“ KENO VERSECK<br />

73<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Interview<br />

„DIE QUEEN BLEIBT UNSER<br />

STAATSOBERHAUPT“<br />

Ohne England würde Schottland viel besser dastehen. Davon ist<br />

Alex Salmond überzeugt und treibt die Unabhängigkeit voran<br />

32 Jahren tragen wir mehr zum britischen<br />

Haushalt bei als jeder andere Teil<br />

des Königreichs. Wenn wir unabhängig<br />

werden, dann unter glücklicheren Vorzeichen<br />

als je eine andere Nation. Unser<br />

Bruttoinlandsprodukt liegt nur knapp<br />

unter dem Neuseelands. Selbst die Ratingagentur<br />

Standard & Poor’s hat zugegeben,<br />

dass trotz aller Sorgen des Finanzsektors<br />

und trotz aller Kritik aus<br />

Westminster unser Alleingang nicht einfach,<br />

aber auch nicht unmöglich ist. Wir<br />

haben eine reiche, diversifizierte Wirtschaft,<br />

transparente Institutionen, einen<br />

flexiblen Arbeitsmarkt und hochwertiges<br />

Bildungskapital. Bei einer Unabhängigkeit<br />

2016 ist unsere finanzielle Lage stabiler<br />

als die des Vereinigten Königreichs.<br />

Am 18. September stehen die Schotten<br />

vor einer historischen Entscheidung.<br />

In einem Referendum können<br />

sie sich lossagen von dem Vereinigten<br />

Königreich Großbritannien – einer Einheit,<br />

die 1603 durch die Thronbesteigung<br />

von James I. Stuart begonnen und<br />

gut 100 Jahre später unter Queen Anne<br />

durch „The Acts of Union“ zementiert<br />

wurde. Alex Salmond, 59, Erster Minister<br />

Schottlands, Vorsitzender der in<br />

Edinburgh regierenden Scottish National<br />

Party und ein sehr witziger, geistvoller<br />

und charismatischer Mann, führt<br />

einen bitteren Kampf gegen die Elite<br />

von Westminster.<br />

Herr Salmond, kann es wirklich ein<br />

unabhängiges Schottland geben? Sie<br />

müssten Schätzungen zufolge Streichungen<br />

und Steuererhöhungen von<br />

bis zu 4,6 Milliarden Pfund im Jahr<br />

vornehmen.<br />

Alex Salmond: Es geht nicht darum,<br />

ob es die Unabhängigkeit geben kann,<br />

sondern ob es sie geben soll. Meine Antwort<br />

ist in jeder Hinsicht: Ja. Die Unabhängigkeit<br />

würde dem demokratischen<br />

Defizit in Schottland ein Ende bereiten.<br />

62 Prozent aller Schotten vertrauen unserer<br />

Politik verglichen mit nur 31 Prozent<br />

aller Briten und Westminster. Seit<br />

Standard & Poor‘s bindet diese Aussage<br />

aber zum großen Teil an eine Währungsunion<br />

mit England und Wales. Diese<br />

Union schlagen auch Sie vor, neben einer<br />

monarchischen und sozialen Union.<br />

Ist das eine Unabhängigkeit à la carte?<br />

Die Queen wird unser Staatsoberhaupt<br />

bleiben. Unsere sozialen Verbindungen<br />

bleiben bestehen. Ja, derzeit<br />

wollen alle drei Parteien in Westminster<br />

uns das Pfund verweigern. Auf welcher<br />

Basis? Es ist auch unsere Währung,<br />

nicht nur die ihre. Die Rede des<br />

britischen Finanzministers George Osborne<br />

– The Sermon on the Pound (Die<br />

Predigt auf das Pfund) – wird sich als<br />

schwerwiegender Fehler für ihn herausstellen.<br />

Er bezeichnet darin Schottland<br />

als „fremdes Land“, sollten wir uns für<br />

die Unabhängigkeit entscheiden. Wir<br />

werden aber nie Fremde sein – wir sind<br />

hundertfach miteinander verbunden:<br />

durch Familie und Freundschaft; Handel<br />

und Wirtschaft; Geschichte und<br />

Kultur. Diese Faktoren nehmen keine<br />

Foto: Murdo MacLeod<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Befehle aus Westminster entgegen. In<br />

Wahrheit wird ein starkes, unabhängiges<br />

Schottland dem Vereinigten Königreich<br />

zugutekommen. Die Haltung der<br />

regierenden Elite hier ist so antiquiert<br />

wie unannehmbar. Für sie ist der Schotte<br />

der Geringste unter Gleichen.<br />

Wie sähe es mit der Mitgliedschaft des<br />

unabhängigen Schottlands in der Europäischen<br />

Union und der Eurozone<br />

aus? EU-Präsident José Manuel Barroso<br />

nennt sie „schwierig, wenn nicht<br />

unmöglich“.<br />

Eine Mitgliedschaft in der EU ist in<br />

unserem besten Interesse. Wo bitte steht<br />

es in den Statuten der EU geschrieben,<br />

dass über fünf Millionen Mitglieder von<br />

einem Tag auf den anderen auf die Straße<br />

gesetzt werden können? Auch Barrosos<br />

Worte sind mittlerweile als „inakzeptabel“<br />

kritisiert worden. Ich nenne es<br />

den „Barroso-Backlash“ (Alex Salmond<br />

lacht). Ein unabhängiges Schottland wird<br />

jedoch kein Mitglied der Eurozone sein.<br />

Was genau also bringt eine Unabhängigkeit<br />

den Schotten?<br />

Die Wahl am 18. September ist vor<br />

allen Dingen die Wahl zwischen zwei<br />

möglichen Formen der Zukunft. In der<br />

einen Zukunft geht alles so weiter wie<br />

bisher: Das Vereinigte Königreich gerät<br />

immer mehr aus dem Gleichgewicht.<br />

London ist wie ein schwarzes Loch, das<br />

Ressourcen, Talente, Energie aufsaugt<br />

und alles andere desolat zurücklässt. Die<br />

andere Zukunft erlaubt es uns, ein besseres<br />

Land zu formen. Wir wären ein neuer<br />

Nordstern, gerade auch für unsere Nachbarn<br />

im Norden Europas.<br />

Wie genau müssen wir uns diesen<br />

„Nordstern“ vorstellen?<br />

Schottland würde endlich von all<br />

dem profitieren, was es generiert, und<br />

eine Politik schaffen, die auf das Land<br />

zugeschnitten ist. Schottische Steuern<br />

verschwinden auf Nimmerwiedersehen<br />

in Westminster. Für grundlegende Verbesserungen<br />

der Infrastruktur wurden<br />

zum Beispiel in London 2600 Pfund<br />

pro Einwohner aufgebracht. Im Nordosten<br />

der Insel aber nur 5 Pfund. 5 Pfund!<br />

Die Maßnahmen der Koalition sind nicht<br />

für uns bestimmt, aber wir leiden darunter:<br />

In den achtziger Jahren mit der<br />

„Eine<br />

Mitgliedschaft<br />

in der EU ist in<br />

unserem besten<br />

Interesse“<br />

„Poll Tax“ und heute mit der „Bedroom<br />

Tax“ (ein Gesetz, das das Wohngeld limitiert,<br />

wenn ein Empfangsberechtigter ein<br />

überzähliges Schlafzimmer hat, Anm. d.<br />

Red.). Es ist auch kein Wunder: Im House<br />

of Parliament sitzt gerade mal ein einziger<br />

schottischer konservativer Abgeordneter!<br />

Das war bereits bei den vergangenen<br />

drei Regierungen so, davor gab<br />

es sogar keinen einzigen Abgeordneten.<br />

Wir weisen seit Generationen Westminster<br />

an der Wahlurne zurück. Schottland<br />

braucht grundlegende Reformen.<br />

Haben Sie ein Beispiel für diese<br />

Reformen?<br />

Zum einen möchte ich die Zahl berufstätiger<br />

Frauen durch eine radikale<br />

Reform der Kinderbetreuung steigern –<br />

derzeit zahlen Eltern in Großbritannien<br />

mehr für diese als irgendwo sonst in der<br />

Europäischen Union. Schon heute arbeiten<br />

mehr schottische Frauen als in England,<br />

Nordirland oder Wales. Mein Ziel<br />

aber sind schwedische Verhältnisse, was<br />

pro Jahr etwa 700 Millionen Pfund Steuergelder<br />

generieren würde. 700 Millionen<br />

Pfund, die nicht nach Westminster<br />

fließen, sondern in Edinburgh bleiben.<br />

Gleichzeitig möchte ich nach dem Beispiel<br />

Irlands die Unternehmenssteuer<br />

wie auch die Abgaben auf internationale<br />

Flüge senken. Insgesamt soll der<br />

Arbeitsmarkt noch flexibler und attraktiver<br />

werden.<br />

Weshalb drängen Sie David Cameron zu<br />

einer TV-Debatte? Der hat Ihr Anliegen<br />

doch wiederholt abgelehnt.<br />

Der Premier hat mehrere Male versucht,<br />

das Terrain für die Debatte um die<br />

schottische Unabhängigkeit zu definieren,<br />

nun soll seine „Better Together“-<br />

Kampagne von rein wirtschaftlichen<br />

Argumenten auch noch die Köpfe und<br />

Herzen berühren. Aber er weigert sich,<br />

so viel demokratische Verantwortung zu<br />

übernehmen und sich mir in einer Debatte<br />

zu stellen. Westminster sieht sich<br />

als Dammbrecher: Cameron tut schön,<br />

ehe Osborne uns den Magenschwinger<br />

verpasst.<br />

Wie wird die Wahl am 18. September<br />

ausgehen? Bei den bisherigen Umfragen<br />

haben Sie seit September vergangenen<br />

Jahres pro Monat je einen Prozentpunkt<br />

zugelegt und liegen nun bei<br />

geschätzten 42 Prozent Ja-Stimmen.<br />

Bei dem Tempo würden Sie die notwendige<br />

Mehrheit verfehlen.<br />

Am Wahltag wird eine sehr andere<br />

Demografie an den Urnen vertreten sein.<br />

Dieses Referendum hat nichts mit einer<br />

normalen Wahl zu tun. Ganz Schottland,<br />

und ich meine ganz Schottland, wird auf<br />

den Beinen sein. Zum ersten Mal wird<br />

dieses Land über seine Zukunft frei entscheiden<br />

können. Es gibt auf dieser Welt<br />

keine absolute Souveränität. Aber es gibt<br />

den absolut magischen Moment, über<br />

sein Schicksal zu entscheiden (Salmond<br />

hat Tränen in den Augen). Glauben Sie<br />

mir: Mein Land wird so viel besser sein,<br />

wenn es stark und unabhängig ist. Um so<br />

unglaublich vieles besser!<br />

Alex Salmond bleiben noch knapp<br />

170 Tage, um die Schotten von seinem<br />

Anliegen zu überzeugen. Für die heiße<br />

Phase des Wahlkampfs hat die Scottish<br />

National Party 2,5 Millionen Pfund an<br />

Werbeetat zur Verfügung. Bei den Parlamentswahlen<br />

2011 sicherte sich Salmonds<br />

Partei nach zunächst enttäuschenden<br />

Umfrageergebnissen mit<br />

einem Monat leidenschaftlicher Kampagne<br />

die absolute Mehrheit. Auch die<br />

britischen Stars nehmen an der Debatte<br />

teil: Sean Connery beschwört die<br />

Schotten, für die Unabhängigkeit zu<br />

stimmen; während David Bowie seine<br />

Dankesreden bei Preisübergaben mit<br />

dem Slogan beendet: „Scotland, stay<br />

with us!“<br />

Das Gespräch führte ELLEN ALPSTEN<br />

75<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

AUF<br />

HORCHPOSTEN<br />

Die Zeiten, in denen Spitzenpolitiker weltweit vertraulich telefonieren konnten,<br />

sind vorbei. Mit Indiskretionen wird längst harte Politik gemacht<br />

Von RICHARD HERZINGER<br />

Eine ganze Reihe von Telefon-Abhöraffären hat die internationale<br />

Politik erschüttert. Empörung über die<br />

Praxis, in den telekommunikativen Austausch von<br />

Politikern einzudringen, brandete in der deutschen<br />

Öffentlichkeit freilich nur im Falle des US-Geheimdiensts<br />

NSA auf. Dabei ist bisher nicht bekannt geworden, dass<br />

die NSA etwaige Geheimnisse,<br />

die sie durch das Anzapfen von<br />

Telefonleitungen hochrangiger<br />

Politiker wie Angela Merkel<br />

und Gerhard Schröder erfahren<br />

haben könnte, publik gemacht<br />

und zur öffentlichen Diskreditierung<br />

der Objekte ihrer Wissbegierde<br />

eingesetzt hätte.<br />

Anders verhält es sich mit<br />

dem russischen Geheimdienst.<br />

Er steckt höchstwahrscheinlich<br />

hinter zwei Lauschangriffen,<br />

die im Zusammenhang<br />

mit dem Konflikt um die Ukraine<br />

Schlagzeilen gemacht haben.<br />

Als Anfang Februar ein<br />

Mittschnitt aus einem Gespräch<br />

zwischen der Europaexpertin<br />

im US-Außenministerium, Victoria<br />

Nuland, und dem US-Botschafter<br />

in Kiew auftauchte, erregte<br />

sich hierzulande niemand<br />

über die Verletzung der Persönlichkeitsrechte<br />

der Beteiligten.<br />

Wenn führende amerikanische<br />

Politiker von ausländischen Geheimdiensten<br />

ausgespäht werden,<br />

wird dies kaum als anstößig<br />

empfunden, sondern nur, wenn ein US-Dienst dies seinerseits<br />

mit ausländischen, schon gar mit deutschen Politikern tut.<br />

Jedenfalls waren es nicht die Urheber dieser propagandistisch<br />

motivierten Indiskretion, es war deren Opfer, das sich<br />

wegen des illegal abgehörten Telefonats rechtfertigen und entschuldigen<br />

musste. Hatte Nuland darin doch ihrer Verärgerung<br />

über die Zögerlichkeit der Europäer im Umgang mit dem<br />

Janukowitsch-Regime durch eine drastische Wendung Luft gemacht:<br />

„Fuck the EU!“ Wobei Nuland mit diesem Kraftausdruck<br />

im Kontext des Gesprächs nicht mehr gemeint hatte als<br />

sinngemäß: „Mit der EU können wir eh nicht rechnen.“ Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel hielt es jedoch für angebracht, nicht<br />

etwa den Akt der Ausspähung der Politikerin und die mit der<br />

Veröffentlichung verbundene<br />

Absicht – Moskau wollte Keile<br />

zwischen USA und EU treiben<br />

–, sondern Nulands auf<br />

diese Weise bekannt gewordene<br />

Äußerung für „absolut<br />

inakzeptabel“ zu erklären.<br />

Einem ähnlichen Muster<br />

folgte im März, nach dem Sturz<br />

Janukowitschs, die Veröffentlichung<br />

einer abgehörten Gesprächspassage<br />

zwischen dem<br />

estnischen Außenminister Urmas<br />

Paet mit der EU-Außenbeauftragten<br />

Catherine Ashton.<br />

Darin berichtet Paet über<br />

ihm zugetragene Gerüchte,<br />

nach denen die Kugeln, mit<br />

denen über 40 Demonstranten<br />

der Maidan-Bewegung getötet<br />

worden waren, nicht von<br />

Scharfschützen des Regimes,<br />

sondern von denselben bewaffneten<br />

Oppositionellen stammten,<br />

die auf regime treue Polizisten<br />

gefeuert hatten. In den<br />

internationalen Medien las sich<br />

das dann so, als habe Paet die<br />

Schuld des Janukowitsch-Regimes<br />

an der Ermordung der Demonstranten von sich aus in Zweifel<br />

gezogen, statt solche Zweifel nur zu referieren.<br />

In der abgehörten Konversation wurde als angebliche<br />

Quelle der Gerüchte eine Ärztin erwähnt, die bei erschossenen<br />

Demonstranten und Polizisten dieselbe Art von Wunden<br />

festgestellt habe – was darauf hinweise, dass die Mörder derselben<br />

Tätergruppe angehört hätten. Als besagte Ärztin bestritt,<br />

Illustration: Jens Bonnke<br />

76<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


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WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

Derartiges jemals diagnostiziert und ausgesagt zu haben, löste<br />

sich die vermeintliche Enthüllung in Nichts auf. Irgendwie hängen<br />

blieb aber der diffuse Eindruck, der Westen verberge, in<br />

Komplizenschaft mit dem Maidan und der ukrainischen Übergangsregierung,<br />

ein düsteres Geheimnis – nämlich, dass die<br />

blutigen Übergriffe auf die Demonstranten von deren Anführern<br />

selbst inszeniert worden seien, um sie dem prorussischen<br />

Regime in die Schuhe zu schieben.<br />

Das Publikmachen des Telefonats fügte sich in die russische<br />

Propagandastrategie, die alles daransetzt, die siegreiche<br />

Demokratiebewegung in der Ukraine als Ausgeburt des „Faschismus“<br />

und den Westen als<br />

dessen heimlichen Steigbügelhalter<br />

zu diffamieren.<br />

In anderen Fällen, die für<br />

Turbulenzen sorgten, fällt die<br />

politische und moralische Bewertung<br />

der Spähpraxis nicht<br />

so leicht. Dient doch das Aushorchen<br />

des türkischen Ministerpräsidenten<br />

Recep Erdogan<br />

und des ehemaligen französischen<br />

Präsidenten Nicolas Sarkozy<br />

auf den ersten Blick einem<br />

hehren demokratischen<br />

Zweck: der Aufdeckung von<br />

Korruption an höchster politischer<br />

Stelle.<br />

Was Sarkozy betrifft, scheinen<br />

die ruchbar gewordenen<br />

Lauschattacken sogar legal gewesen<br />

zu sein. Wie es heißt,<br />

wurden sie im Rahmen staatsanwaltlicher<br />

Ermittlungen gegen<br />

den Ex-Präsidenten wegen<br />

des Verdachts verfügt, er habe<br />

sich seinen Wahlkampf 2007<br />

in Teilen von Libyens Diktator<br />

Muammar al Gaddafi finanzieren<br />

lassen – von eben<br />

jenem Despoten, zu dessen Sturz er später mittels der Entsendung<br />

französischer Kampfjets beitragen sollte. Mag die Überwachung<br />

Sarkozys, in deren monatelangem Verlauf sich Hinweise<br />

auf Amtsmissbrauch und Günstlingswirtschaft ergeben<br />

haben sollen, Recht und Gesetz entsprochen haben – auf die<br />

Lancierung dieser Verdachtsmomente an die Medien trifft das<br />

nicht zu. Sie folgte offensichtlich der interessengeleiteten Absicht,<br />

ein mögliches politisches Comeback des ehrgeizigen Ex-<br />

Staatschefs zu verhindern.<br />

Dass sich die bislang nicht erwiesenen Vorwürfe aber auf<br />

Aussagen aus einem Telefonat stützen, verleiht ihnen in der öffentlichen<br />

Wahrnehmung den Anschein vollendeter Tatsachen.<br />

Denn obwohl dank neuester Technik inzwischen potenziell jeder<br />

nahezu jede Telefonleitung anzapfen kann, umgibt das Telefonieren<br />

noch immer die Aura intimer Vertraulichkeit, in der<br />

die Beteiligten aus ihrem Innersten preisgeben, was sie sonst<br />

sorgsam in sich verschließen. Das fördert den Wunsch des Publikums,<br />

da einmal hineinzuhören und die Mitmenschen in ihrer<br />

ungeschminkten Authentizität auf die Schliche zu kommen –<br />

schon gar, wenn es sich um Politiker handelt, denen man mit<br />

Vorliebe ohnehin nur das Schlechteste zutraut.<br />

Umso erstaunlicher ist es, dass Politiker am Telefon noch<br />

immer so ungezwungen daherzuplaudern und finstere Pläne<br />

auszubreiten scheinen, als glaubten sie weiter fest an die Unverletzlichkeit<br />

des Telefongeheimnisses.<br />

Besonders drastisch eines Besseren belehren lassen musste<br />

sich in dieser Hinsicht jüngst der türkische Ministerpräsident.<br />

Von ihm gelangten gleich massenweise<br />

– verschlüsselte wie<br />

unverschlüsselte – Telefonate<br />

über ein klaffendes Sicherheitsleck<br />

im Telekommunikationssystem<br />

seiner Regierung<br />

an obskure Adressaten.<br />

Aber ist es denn nicht gut,<br />

wenn sich ein Mann wie Erdogan,<br />

der seinerseits im Begriff<br />

ist, die Demokratie in der<br />

Türkei seiner autoritären Willkür<br />

zu unterwerfen, auf diesem<br />

Wege gleichsam selbst als<br />

Kleptokrat und Manipulator der<br />

Justiz bloßstellt? Immerhin befeuern<br />

diese entlarvenden Audiodokumente<br />

die demokratischen<br />

Proteste in der Türkei.<br />

Freilich hat der Trend, das<br />

ungezügelte Ausspähen und<br />

Publizieren vertraulicher Telefonate<br />

zum akzeptierten Gewohnheitsrecht<br />

werden zu lassen,<br />

seinen Preis. Zuweilen mag<br />

es als Waffe demokratischer<br />

Aufklärung dienen. Es öffnet<br />

aber zugleich jeglicher Form<br />

von Manipulation und propagandistischer<br />

Irreführung der Öffentlichkeit durch staatliche<br />

Apparate wie durch anonyme Interessengruppen Tür und Tor.<br />

Dass der umfassende Zugriff auf die Kommunikation von<br />

Politikern diese auf Dauer zu moralischer Läuterung bewegen<br />

wird, darf jedenfalls bezweifelt werden. Eher wird diese die<br />

Aussicht, dem zeitgenössischen Ideal totaler Transparenz ausgeliefert<br />

zu sein, dazu anstacheln, ihrerseits avanciertere Formen<br />

der Geheimniskrämerei zu entwickeln.<br />

RICHARD HERZINGER ist Korrespondent für<br />

Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am<br />

Sonntag. Vertrauliche Gespräche führt er nur noch in<br />

abgelegenen Parks<br />

Illustration: Jens Bonnke; Foto: privat<br />

78<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

„ Wenn Carl Benz und<br />

seine Frau so kritisch<br />

rangegangen wären<br />

wie die Deutschen<br />

beim Fracking, hätten<br />

sie ihr Auto nie auf die<br />

Straße gekriegt “<br />

Günther Oettinger, der deutsche EU-Energiekommissar, kritisiert im Interview<br />

die Skepsis seiner Landsleute gegenüber der Schiefergasförderung, Seite 84<br />

79<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

PLÜSCHVOGELS HÖHENFLUG<br />

Brian Sullivan, Chef von Sky Deutschland, zeigt, dass man auch hierzulande mit Pay‐TV<br />

Geld verdienen kann. Wie das geht, lernte er als Maskottchen beim Baseball<br />

Von THOMAS SCHULER<br />

Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />

Brian Sullivan schließt die Augen.<br />

Man möge ihm die mittlere<br />

der drei Fernbedienungen geben,<br />

die auf dem Tisch in seinem Büro liegen.<br />

An der Wand hängen sieben Bildschirme.<br />

Sullivan streckt den rechten<br />

Arm in die Luft. „So, jetzt gehe ich ins<br />

Menü und schalte Sky ein.“ Er drückt,<br />

die Augen immer noch geschlossen, dreimal.<br />

Geschafft.<br />

Das ist seine Art, die Frage zu beantworten,<br />

wieso britische Journalisten ihm<br />

einst den Spitznamen Inspector Gadget<br />

verpasst haben. Geräte haben ihn schon<br />

immer fasziniert. Die Tastatur der Fernbedienung<br />

ließ er so anordnen, dass man<br />

sie blind bedienen kann.<br />

Es gibt noch eine Frage, die ihm dauernd<br />

gestellt wird: Was ist das Erfolgsgeheimnis,<br />

um Pay-TV in Deutschland<br />

profitabel zu machen? Die eine Antwort<br />

darauf gäbe es nicht, sagt er und erzählt<br />

lieber eine Anekdote: Während seines<br />

Studiums arbeitete er für das Baseball-<br />

Team Philadelphia Phillies. Laut Lebenslauf<br />

war er im Marketing, in Wirklichkeit<br />

war er Philli Phanatic, das Maskottchen<br />

des Teams. Als überlebensgroßer grüner<br />

Plüsch-Fantasievogel hüpfte er am Spielfeldrand<br />

auf und ab, umarmte Cheerleader,<br />

Spieler und Fans. „Dass ich an den<br />

Job kam, war purer Nepotismus“, sagt<br />

Sullivan, dessen Vater für das Rahmenprogramm<br />

im Stadion zuständig war.<br />

„Aber ich habe jede Minute geliebt.“ Er<br />

lernte, wie man Massen mit Sport unterhält.<br />

Nichts anderes macht er heute mit<br />

exklusiven Fußballübertragungen.<br />

Aber er macht noch mehr: „Fußball<br />

allein reicht nicht, der Erfolg hängt<br />

nicht an einem Detail, sondern an tausend<br />

Details.“ Bei Sky in München hat<br />

Sullivan den Kundenservice verbessert,<br />

einen Sportnachrichtensender gestartet,<br />

die Rechte für Fußball-Bundesliga und<br />

Champions League verlängert. Allein<br />

für die Bundesliga zahlt Sky jährlich fast<br />

eine halbe Milliarde Euro. Sullivan hat<br />

einen erfahrenen Programmchef geholt,<br />

der in den USA exklusive Film- und Fernsehrechte<br />

einkauft. Er hat mit SkyGo das<br />

eigene Programm auf mobile Endgeräte<br />

gebracht, um mehr jüngere Kunden zu<br />

erreichen. Die Maßnahmen machen sich<br />

bezahlt. Die Zahl der Abonnenten steigt<br />

stetig, seit Sullivans Antritt 2010 von 2,7<br />

auf jetzt 3,7 Millionen. Ende 2014 sollen<br />

es mehr als vier Millionen sein.<br />

DABEI GALT DEUTSCHLAND wegen des<br />

großen Angebots frei empfangbarer Sender<br />

bisher als aussichtsloser Markt für<br />

Pay-TV. 25 Jahre häuften Teleclub, Premiere<br />

und ihr Nachfolger Sky nichts als<br />

Verluste an. Nach Leo Kirchs Pleite investierte<br />

Rupert Murdoch einen Milliardenbetrag,<br />

aus Premiere wurde Sky. Es<br />

half zunächst wenig. Als Sullivan im Januar<br />

2010 nach München kam, verlor der<br />

Sender immer noch eine Million Euro –<br />

jeden Tag. Nun hat der 52-Jährige in seinem<br />

vierten Jahr erstmals geschafft, woran<br />

alle vor ihm gescheitert sind: einen<br />

operativen Jahresgewinn. 35 Millionen<br />

Euro sind zwar nicht viel, und das Wörtchen<br />

operativ ist wichtig, denn nach Abzug<br />

von Zinsen, Steuern und Abschreibungen<br />

gab es auch 2013 einen Verlust<br />

von 133 Millionen Euro. 2014 will Sullivan<br />

den operativen Gewinn auf 70 bis<br />

90 Millionen Euro fast verdreifachen.<br />

Obwohl Sullivan der Typ Manager<br />

ist, den schwierige Aufgaben eher motivieren,<br />

empfand er seinen Start in München<br />

als „beängstigend und einsam“. Er<br />

lebte im Hotel und pendelte zwischen<br />

München und London. „Meine Familie<br />

hat mir einfach gefehlt.“ Nicht nur zum<br />

Entspannen, sondern auch als Testkunden.<br />

Schon in London bei BSkyB wollte<br />

er eine neue Fernbedienung einführen.<br />

Zu Hause machte er einen Probelauf. Als<br />

sein Sohn abends weinend zu ihm kam,<br />

dachte Sullivan erst, es sei etwas Schlimmes<br />

passiert. Der Kleine heulte aber, weil<br />

er den Disney Channel nicht mehr finden<br />

konnte. Die Umstellung wurde gestoppt.<br />

Freund-Feind-Denken sei ihm fremd,<br />

sagen seine Mitarbeiter. Da passt es perfekt<br />

ins Bild, dass Sullivan die neue Konkurrenz<br />

der Online-Videoportale wie<br />

Watchver, Maxdome oder den US-Anbieter<br />

Netflix eher begrüßt als fürchtet.<br />

Er müsse den Deutschen dann nicht mehr<br />

alleine beibringen, fürs Fernsehen zu bezahlen,<br />

sagt Sullivan.<br />

Auch sonst kennt er keine Berührungsängste.<br />

Bei der Ehrung zum Medienmann<br />

des Jahres überraschte er das<br />

Publikum, als er in seiner Rede einen<br />

der Laudatoren lobte. Das Ungewöhnliche<br />

daran: Es handelte sich um Alan<br />

Rusbridger, den Chefredakteur des Guardian,<br />

dessen Enthüllungen Murdochs<br />

News Corporation in eine tiefe Krise gestürzt<br />

hatten. Sullivan bedankte sich bei<br />

Rusbridger dafür, dass der Guardian die<br />

Abhörpraktiken der NSA enthüllt und<br />

die Welt damit verbessert habe.<br />

Seinem obersten Chef Rupert<br />

Murdoch hat er davon wahrscheinlich<br />

nichts erzählt. Der zeigt sich aber „sehr<br />

zufrieden“ mit der Entwicklung von Sky<br />

Deutschland. Sullivans Vertragsverlängerung<br />

scheint eine reine Formsache zu<br />

sein. Er will auf jeden Fall weitermachen,<br />

weil er und seine Familie sich in München<br />

inzwischen sehr wohl fühlen und er noch<br />

da sein will, wenn Sky Deutschland auch<br />

unterm Strich Gewinn macht.<br />

THOMAS SCHULER ist freier Medien-<br />

Journalist in München. Einen seiner ersten<br />

Artikel schrieb er 1989 über den Start von<br />

Leo Kirchs Pay-TV-Sender Teleclub<br />

81<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

FÜR PÄPSTE UND BARBIESAMMLER<br />

Seine Luxusregale stehen im Vatikan und bei Ex-Kanzlern. Aber Buchliebhaber sterben<br />

aus und zwingen Jan Paschen, das Familienunternehmen neu zu erfinden<br />

Von FLORIAN FELIX WEYH<br />

Es muss schön sein, als Buch in einem<br />

Paschen-Regal zu landen! In<br />

ein Paschen-Regal wird man zwar<br />

geschoben, doch nie abgeschoben. Selbst<br />

missratene Romane und längst verglühte<br />

Pamphlete wirken zwischen edlen Regalhölzern<br />

wie Ikonen abendländischer<br />

Kultur.<br />

Das Wort Regal hörte man im westfälischen<br />

Wadersloh bei Paschen & Companie<br />

allerdings lange Zeit ungern. Selbst<br />

frei stehende Einzelstücke hießen firmenintern<br />

Bibliothek. Der Unterschied ist<br />

leicht zu merken: Regale tragen Vornamen<br />

(Billy oder Ivar), Bibliotheken für<br />

Liebhaber einen Nachnamen. Und zwar<br />

den des Familienunternehmens, das Carl<br />

Paschen 1883 gründete.<br />

„Wir sind extrem nischentreu“, erklärt<br />

Jan Paschen, der kaufmännische<br />

Geschäftsführer. Zusammen mit seinem<br />

Bruder Christian, der für Design und Produktion<br />

verantwortlich ist, hält er zwei<br />

Drittel der Firma. Der Rest gehört den<br />

vier jüngeren Geschwistern. Die Nische<br />

heißt freilich nicht mehr Zigarrenkisten<br />

aus Zedernholz, mit denen der Ururgroßvater<br />

einst begann, sondern Buchaufbewahrungskultur.<br />

Dazwischen offerierte<br />

der Mittelständler Wohnmöbel zwischen<br />

kleinbürgerlichem Muff und Popart-Kreischen,<br />

begleitet von einem seltsamen Ruf<br />

in der Branche: „Möbel-Hippie aus Wadersloh“<br />

nannte die Konkurrenz Günter<br />

Paschen, Jans und Christians Vater. Mehr<br />

noch als dessen Haarlänge trug dazu die<br />

in der konservativen Branche als landesverräterisch<br />

gewertete Parteinahme für<br />

Brandts Ostpolitik bei.<br />

Anfang der neunziger Jahre hatte<br />

Günter Paschen genug vom Massengeschäft.<br />

Als Mittfünfziger wollte er noch<br />

einmal richtig Herzblut in die Arbeit stecken;<br />

sein Thema waren Bücher. Strategisch<br />

war die väterliche Entscheidung<br />

keineswegs durchdacht. Oder wie Jan<br />

Paschen heute sagt: „Seine ganze Strategie<br />

bestand aus der Fokussierung.“ Die<br />

beiden ältesten Söhne halfen ihm beim<br />

Umbau des Unternehmens. Dabei hatten<br />

die beiden heutigen Chefs bis dahin gar<br />

nichts mit Bibliotheken zu tun gehabt.<br />

Jan hatte sich als Schlagzeuger in Berlin<br />

verdingt. Der gelernte Tischler und<br />

Bootsbauer Christian war mit Freunden<br />

um die Welt gesegelt.<br />

Gemeinsam warf man den ganzen<br />

kleinbürgerlichen Wohnzimmerkrempel<br />

über Bord, durchlitt eine ökonomisch<br />

schwierige Zeit und befriedigte danach<br />

für mehr als ein Jahrzehnt höchst erfolgreich<br />

die Kundensehnsüchte nach einem<br />

intellektuellen Wohnambiente, in dem<br />

man sich Thomas Mann beim Korrigieren<br />

seiner Romane vorstellen kann.<br />

WER WIE EX-PAPST BENEDIKT, Ex-Kanzler<br />

Gerhard Schröder oder TV-Literaturderwisch<br />

Denis Scheck etwas auf sich<br />

hält, leistet sich seither eine Paschen-Bibliothek.<br />

Auch wenn diese erheblich mehr<br />

kostet als die Regalmeter mit den schwedischen<br />

Vornamen. Allein: Die Umsatzkurve<br />

flacht ab. „In den vergangenen<br />

Jahren ist uns die bürgerliche Mitte weggebrochen“,<br />

gibt Jan Paschen zu.<br />

Dem E-Book will er dabei gar nicht<br />

die Schuld geben, es ist ein Generationswechsel,<br />

vielleicht sogar ein genereller<br />

Kulturbruch. Und wieder sind die Akteure<br />

bei Paschen um die 50, wieder muss<br />

etwas passieren, um das Familienunternehmen<br />

mit seinen 150 Angestellten in<br />

die sechste Generation hinüberzuretten.<br />

Momentan gleicht das kulturelle<br />

Imponiergehabe osteuropäischer Eliten<br />

in Russland und – ja! – der Ukraine die<br />

Umsatzdelle noch aus. „Das hat bis jetzt<br />

nicht abgenommen“, sagt Jan Paschen,<br />

rechnet aber dieses Jahr mit Einbußen.<br />

Aber bieten Regale nicht neutralen<br />

Stauraum? Jan Paschen ist hin- und hergerissen:<br />

Nicht nur sei die bürgerliche<br />

Mittelschicht dem Buch weniger zugeneigt<br />

als früher, sie „minimalisiere“ auch<br />

ihren Lebensstil: Weniger Dinge in entleerten<br />

Wohnräumen. Um ein weiteres<br />

Marktsegment für sich zu gewinnen, hat<br />

Paschen längst Vitrinen und Regalwände<br />

für Sammler aller Art im Angebot: Leica-<br />

Kameras, Porzellanfiguren, Barbiepuppen,<br />

wofür auch immer sich jemand entflammen<br />

mag.<br />

Will Paschen in einer Übergangsphase<br />

beide Zielgruppen ansprechen,<br />

muss ihm ein Spagat gelingen. Oberflächlich<br />

betrachtet, verkauft er Möbel, doch<br />

wettbewerbsfähig ist er nur dort, wo die<br />

mitgelieferte Aura den hohen Preis rechtfertigt.<br />

Für Sammler von Märklin-Loks<br />

oder Überraschungsei-Figuren muss ein<br />

solch wertsteigernder Glorienschein erst<br />

erfunden werden. Damit könnte Paschen<br />

Sammler von dem schrulligen Image befreien,<br />

das ihnen häufig anhängt – vor allem,<br />

wenn ihre Leidenschaft bisher fern<br />

aller kulturellen Akzeptanz lag.<br />

FLORIAN FELIX WEYH ist selbst Gegner<br />

übertriebenen Minimalisierens. Denn die<br />

Schönheit der Welt teilt sich ihm nur mit,<br />

wenn er die Dinge noch anfassen kann<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />

einen mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

finden Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Foto: Marcus Simaitis für <strong>Cicero</strong><br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

Interview<br />

„MAN HÖRT MEIN<br />

SCHWÄBISCH. UND?“<br />

Das Amt, auf das Angela Merkel ihn abschob, wurde sein Traumjob.<br />

EU-Energiekommissar Günther Oettinger über die englische<br />

Sprache und das russische Gas, über Fracking und Ökostrom – und<br />

den Bedarf der CDU an unbequemen Köpfen<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Foto: Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong><br />

Herr Oettinger, Sie sind jetzt vier Jahre<br />

in Brüssel. Was machen eigentlich Ihre<br />

Sprachkenntnisse?<br />

Günther Oettinger: Französisch verstehe<br />

ich sehr gut. Smalltalk geht aktiv<br />

auch, aber ich spreche ansonsten hier in<br />

Brüssel mehr Deutsch und Englisch.<br />

Zu Beginn Ihrer Amtszeit gab es einen<br />

Videoclip von einer Rede, die Sie<br />

in einem etwas grobkörnigen Englisch<br />

hielten.<br />

Eine Veranstaltung in Berlin, ein<br />

paar Tage nach meiner Benennung.<br />

Das Video wurde fast so populär wie Edmund<br />

Stoibers Ausführungen zum Bau<br />

des Transrapids in München. Hat es Sie<br />

getroffen, verhohnepiepelt zu werden?<br />

Ich habe neun Jahre Latein gelernt,<br />

dann sechs Jahre Französisch und nur<br />

vier Jahre Englisch. Nach der Schule<br />

habe ich, außer wenn ich Jeans in New<br />

York eingekauft habe, das Englisch nicht<br />

wirklich gebraucht. Wenn Briten oder<br />

Amerikaner nach Stuttgart kamen, hat<br />

man mit Dolmetscher gearbeitet, auch<br />

aus Gründen der Präzision bei Fachbegriffen.<br />

Das heißt: Ich hatte praktisch<br />

40 Jahre kaum Englisch gesprochen.<br />

Und heute?<br />

Man hört, woher ich komme. Na<br />

und? Wir Deutschen haben da eine verklemmte<br />

Position. Ich rede viel mehr<br />

„Hochenglisch“ als ein Franzose. Ein<br />

Franzose würde alles tun, damit er<br />

Französisch sprechen kann. Und wenn<br />

er schon Englisch sprechen muss, nur mit<br />

einem stolzen Akzent.<br />

Als baden-württembergischer Ministerpräsident<br />

wirkten Sie oft angespannt:<br />

Sie rasten von einem Termin zum nächsten,<br />

regierten das Land aus dem Auto<br />

und redeten wie ein Maschinengewehr.<br />

Haben Sie sich in Brüssel entspannt?<br />

Ich bin älter geworden und damit<br />

auch gelassener. Und Sie haben recht:<br />

Der Termindruck war ein Grund für<br />

diese Anspannung. Fragen Sie mal den<br />

Winfried Kretschmann, der springt auch<br />

ganz schön rum.<br />

Den hat aber noch niemand mit einem<br />

Maschinengewehr verglichen. Wie gerieten<br />

Sie damals so unter Druck?<br />

Durch den Zeitablauf. Es war von<br />

Anfang an ein harter Sprint. Die Mitgliederbefragung<br />

in der CDU Ende 2004,<br />

als Annette Schavan und ich zur Wahl<br />

standen. Dann die Arbeit im neuen Amt.<br />

Alle wollten einen Termin: Gewerkschafter,<br />

Unternehmer, Kammerpräsidenten.<br />

Stadtjubiläen, Verbandstage, Parteiveranstaltungen.<br />

Ich war ständig in<br />

Berlin, 2005 die vorgezogene Bundestagswahl,<br />

und 2006 musste ich in den<br />

Landtagswahlkampf.<br />

Ist das nicht erstaunlich? Sie arbeiten<br />

14 Jahre als Chef der Stuttgarter<br />

CDU-Landtagsfraktion darauf hin, Ministerpräsident<br />

zu werden. Sie werden<br />

es endlich, aber es wird ein Albtraum.<br />

Den wirklichen Traumjob bekommen Sie<br />

2009, als Angela Merkel Sie quasi über<br />

Nacht nach Brüssel komplimentiert.<br />

Ich war in Wien, ein Donnerstagnachmittag.<br />

Die Jahrestagung der<br />

deutsch-österreichischen Handelskammer.<br />

Sie hat mich angerufen. Ich habe<br />

meine Lebensgefährtin gefragt, meine<br />

frühere Frau, mit der ich ein sehr gutes<br />

Verhältnis habe, wegen unseres Sohnes.<br />

Um 8 Uhr morgens habe ich Angela Merkel<br />

zugesagt. Ich würde mich mein Leben<br />

lang ärgern, wenn ich es mir nicht<br />

zugetraut hätte.<br />

Günther H. Oettinger<br />

Der Jurist, 60, CDU, ist EU-Kommissar<br />

für Energie. Nach der Europawahl<br />

am 25. Mai entscheidet sich, ob<br />

er in der Kommission bleibt; das<br />

Ressort müsste er nach den<br />

Brüsseler Gepflogenheiten wechseln.<br />

Ein Wahlsieg der Sozialisten könnte<br />

Martin Schulz zum Kommissionspräsidenten<br />

machen; für Oettinger<br />

wäre dann kein Platz mehr.<br />

Bekommt Schulz kein Amt, müsste<br />

Oettinger immer noch von der<br />

Bundeskanzlerin vorgeschlagen<br />

werden. Sie schickte ihn 2009 nach<br />

Brüssel, nachdem er als badenwürttembergischer<br />

Regierungschef<br />

zum Problemfall geworden war.<br />

Heute ist er Merkel dafür dankbar<br />

Sie hat Sie erlöst?<br />

Ich bin ihr dankbar.<br />

Steht ein EU-Kommissar weniger unter<br />

Beschuss als ein Ministerpräsident?<br />

Die Fronten sind nicht so klar wie<br />

in Stuttgart oder Berlin. Wir sind in der<br />

Kommission eine Art Allparteienregierung.<br />

28 Kollegen, davon acht Sozialisten,<br />

sieben Liberale und 13 Konservative<br />

und Christdemokraten.<br />

Dafür konkurrieren Kommission und<br />

Parlament immer stärker um Macht.<br />

Da ist mehr Konkurrenz zwischen<br />

Rat und Parlament, würde ich sagen. Das<br />

Parlament hat schon jetzt bei Gesetzentwürfen,<br />

die von der Kommission kommen,<br />

eine starke Stellung. Vor allem die<br />

jeweiligen Berichterstatter. Da arbeite<br />

ich auch gern mit einem Sozialisten zusammen<br />

oder mit einem Grünen.<br />

Teilen Sie die Kritik, dass Martin Schulz,<br />

der Präsident des Europaparlaments,<br />

sein Amt für den Wahlkampf der Sozialisten<br />

missbraucht?<br />

Den Begriff „missbraucht“ würde<br />

ich nicht nehmen. Dass er das Parlament<br />

gestärkt hat, rechne ich ihm hoch<br />

an. Aber gerade weil der Präsident keine<br />

unbekannte Größe mehr ist, muss er das<br />

Amt abgeben. Der Präsident ist der Präsident<br />

aller Abgeordneten aller Parteien.<br />

Norbert Lammert macht ja auch nicht<br />

den Wahlkampf der CDU.<br />

Warum sind Sie der Meinung, dass die<br />

deutsche Energiewende gebremst werden<br />

muss?<br />

Das deutsche Erneuerbare-Energien-<br />

Gesetz hat in den ersten Jahren glänzend<br />

funktioniert. Aber jetzt führt es zu<br />

Fehlanreizen. Vor allem weil Strom nicht<br />

speicherbar ist – allen Programmen von<br />

Parteien zum Trotz. Der Strom muss in<br />

der gleichen Millisekunde hergestellt und<br />

geliefert werden. Wenn sich kein einziges<br />

Windrad dreht und die Sonne nicht<br />

scheint, haben Sie ein Problem.<br />

Es gibt noch viele konventionelle Kraftwerke.<br />

Außerdem lässt sich Energie<br />

schon lange speichern, indem Wasser<br />

bergauf gepumpt und dann durch eine<br />

Turbine abgelassen wird, sobald Elektrizität<br />

gebraucht wird.<br />

85<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

Interview<br />

Ja, aber wie weit reicht das? Nach<br />

der Ölkrise im Jahr 1973 wollten meine<br />

Vorgänger in der Kommission vorsorgen.<br />

Es ist mittlerweile Pflicht, dass die Mitgliedstaaten<br />

Öl im Ausmaß von 90 Tagen<br />

Nettoimport speichern. Heute haben<br />

wir etwa Öl im Ausmaß von 99 Tagen<br />

Nettoimport im Tank. Der gespeicherte<br />

Strom in den Stauseebecken würde aber<br />

nur für 24 Minuten reichen.<br />

Wie lange hat die EU Gas, wenn Russland<br />

den Hahn zudrehen würde?<br />

Wir analysieren die Gasversorgungssicherheit<br />

in diesen Tagen ständig. Aber<br />

ich habe allen Grund anzunehmen, dass<br />

die Russen an einer Eskalation nicht interessiert<br />

sind. Davon abgesehen: Unsere<br />

Unternehmen müssen die Gasversorgung<br />

für Haushalte für 30 Tage sicherstellen,<br />

auch wenn eine wichtige Pipeline ausfällt,<br />

berechnet nach einem Wintermonat. Wegen<br />

des milden Winters haben wir jetzt<br />

sogar mehr in den Speichern als vor einem<br />

Jahr.<br />

Ist Deutschland zu abhängig von Putins<br />

Gas?<br />

Wir haben die Diversifizierung vorangetrieben.<br />

In Gasleitungen haben wir<br />

den Reverse Flow eingebaut, sodass das<br />

Gas in beide Richtungen fließen kann.<br />

Es kann nicht nur von Osten nach Westen<br />

gepumpt werden, sondern auch von<br />

West- nach Zentraleuropa. Wir haben<br />

mehr LNG-Terminals, in denen Gas verflüssigt<br />

und verschifft werden kann. Zudem<br />

ist Norwegen mittlerweile mit Russland<br />

als Gaslieferant auf Augenhöhe.<br />

Die EU deckt immerhin 28 Prozent ihres<br />

Gasbedarfs aus Russland und Deutschland<br />

knapp 40 Prozent.<br />

Es ist richtig, über die strategische<br />

Aufstellung zu sprechen. Aber es ist eine<br />

gegenseitige Abhängigkeit. Die Russen<br />

brauchen für ihren Staatshaushalt die Erträge<br />

von Gazprom dringend.<br />

Wer ist abhängiger von wem?<br />

Ich würde sagen: Im worst case wären<br />

wir kurzfristig abhängiger. Aber mittel-<br />

und langfristig wäre der Rufschaden<br />

für Russland so stark, dass sich Europas<br />

Energiemixstrategie ändern würde.<br />

Dann würden Russland die Verkaufserlöse<br />

wegbrechen.<br />

„Die Russen<br />

brauchen die<br />

Erträge von<br />

Gazprom. Nur<br />

kurzfristig<br />

wären wir<br />

abhängiger“<br />

Geplant ist eine Pipeline, in der Gas aus<br />

Aserbaidschan über die Türkei und Südosteuropa<br />

nach Italien fließt. Wird die<br />

uns unabhängiger machen?<br />

Die größten Gasvorkommen der<br />

Welt liegen in der kaspischen und zentralasiatischen<br />

Region. Turkmenistan,<br />

Nordirak, Iran, Kasachstan und Usbekistan.<br />

Und Aserbaidschan, ein Schlüsselland.<br />

Ein Konsortium investiert 20 Milliarden,<br />

um ab 2019 Gas von dort durch<br />

Georgien, die Türkei, Griechenland,<br />

durch die Adria nach Bari in Italien zu<br />

leiten.<br />

Und? Reduziert das unsere Abhängigkeit?<br />

Im Augenblick ist das Gasfeld in<br />

Aserbaidschan für 16 bis 18 Milliarden<br />

Kubikmeter Produktion gut. Davon werden<br />

etwa sieben Milliarden Kubikmeter<br />

an die Türkei gehen und etwa zehn Milliarden<br />

in die EU. Das ist viel, aber im Vergleich<br />

zur Nordstream-Pipeline aus Russland<br />

noch ein geringes Volumen. Aber es<br />

ist ein Türöffner. Ein Test, ob Europa für<br />

Förderstaaten von kaspischem Gas ein<br />

glaubwürdiger Partner ist.<br />

Setzen Sie eigentlich noch auf Fracking?<br />

Ja. Vergleichen Sie den Gaspreis in<br />

den USA doch einmal mit dem in Europa.<br />

Der in Litauen oder Bulgarien ist viermal,<br />

der in Deutschland dreimal so hoch.<br />

Unsere Industrie hält das nicht durch.<br />

Schiefergas sollte für unsere Gasstrategie<br />

eine Option sein.<br />

Auch viele CDU-Politiker fürchten,<br />

dass das Trinkwasser verunreinigt wird,<br />

wenn man unter hohem Druck und mit<br />

Chemikalien ins Gestein bohrt.<br />

Ich rate zu Demonstrationsprojekten<br />

unter strenger Kontrolle von Fachleuten,<br />

um zu entscheiden, wie man Risiken<br />

für Trinkwasser und Grundwasser<br />

zu 100 Prozent ausschließen kann. Aber<br />

wenn Carl Benz und seine Frau so kritisch<br />

rangegangen wären wie die Deutschen<br />

beim Fracking, hätten sie ihr Auto<br />

nie auf die Straße gekriegt.<br />

Deutschland ist etwas dichter besiedelt<br />

als North Dakota oder Texas.<br />

Mit Verlaub, ich war ja drüben in den<br />

USA. Zwischen Fort Worth und Houston<br />

auf einem Produktionsfeld hat mich ein<br />

breitschultriger Techniker angesprochen:<br />

Wo kommen Sie her? Ich sagte: Germany.<br />

Er: Sie sind der erste Deutsche hier. Das<br />

empört mich. Nicht mal rüberzufliegen<br />

und sich ein Bild zu machen!<br />

Was haben Sie denn mitgebracht an<br />

Erkenntnissen?<br />

Grundwasser und Trinkwasser sind<br />

im Regelfall viel weiter oben, maximal in<br />

100 Meter Tiefe. Fracking findet in 4000<br />

bis 6000 Meter Tiefe statt. Da kommen<br />

Ihnen bald die Chinesen von der anderen<br />

Seite entgegen.<br />

Sie sollten mal wieder hinfliegen: In den<br />

USA brechen die Investitionen ein. Am<br />

Anfang kommt man an einer Bohrstelle<br />

gewöhnlich noch sehr gut ans Schiefergas<br />

ran. Aber schon nach einem Jahr<br />

mindert sich die Produktion um 30 bis<br />

60 Prozent.<br />

Das müssen doch die Investoren entscheiden<br />

und keine deutsche Besserwisserei<br />

aus Politik und Medien. Die Briten<br />

werden es machen, die Rumänen, die Polen<br />

natürlich.<br />

Warum natürlich?<br />

Die Polen haben zu 90 Prozent Kohlestrom.<br />

Der Anteil kann nicht gehalten<br />

werden wegen der Klimaschutzvorgaben.<br />

Aber die wollen kein Gas aus Russland.<br />

Deswegen setzen die auf Kernkraft und<br />

Schiefergas.<br />

Foto: Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong><br />

86<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

Interview<br />

Ist Schiefergas für die Ukraine ein Weg<br />

aus der Abhängigkeit von Russland?<br />

Die Ukraine ist zu Demonstrationsprojekten<br />

bereit. Nach der Wahl im Sommer<br />

können Gespräche mit Unternehmen<br />

wie BP, Exxonmobil, Chevron oder<br />

Texaco über Probebohrungen beginnen.<br />

Was hat die EU damit zu tun?<br />

Wenn die EU ein interessanter Exportmarkt<br />

ist, lohnt sich die Investition.<br />

Zurück zum deutschen Strom: Unterschlagen<br />

Sie bei Ihrer Kritik an der Energiewende<br />

nicht, dass bei Sonnen- und<br />

Windkraft der Rohstoff gratis ist und<br />

weder CO 2<br />

noch Atommüll entsteht?<br />

Das bestreite ich nicht. Deswegen<br />

gehört den erneuerbaren Energien<br />

auch die Zukunft, wenn die Technik es<br />

erlaubt, Strom in größeren Mengen zu<br />

speichern. Aber dort werden wir erst in<br />

15 bis 20 Jahren sein. Auch die Netze<br />

brauchen Zeit. Heute werden Sonnenund<br />

Windkraftanlagen an Orten gebaut,<br />

an denen es keine Leitungsinfrastruktur<br />

gibt und wo die natürlichen Bedingungen<br />

ungünstig sind. An solchen volatilen<br />

Standorten brauchen wir ein Tempolimit<br />

für die Förderung. Die Eckpunkte<br />

von Sigmar Gabriel sind deshalb richtig.<br />

Die EU-Kommission prüft gerade, ob die<br />

Rabatte bei der Ökostromumlage legal<br />

sind, die Deutschland vielen Unternehmen<br />

gewährt. Sind Sie da auf der Seite<br />

der um die Rabatte besorgten Unternehmer<br />

oder auf der des Wettbewerbskommissars<br />

Joaquín Almunia?<br />

Almunia hat im Briefkasten einen<br />

Haufen Beschwerden. Fast alle sind aus<br />

Deutschland. Ein Beispiel: Zwei Textilunternehmer<br />

stellen Hightech-Textilien<br />

her. Der erste hat 16 Prozent Stromkosten<br />

in seiner Kalkulation, der zweite 13.<br />

Der erste ist voll befreit, der zweite zahlt<br />

voll. Er tobt – und das zu Recht.<br />

Und Sie wollen die Rabatte nicht vom<br />

Anteil der Stromkosten abhängig machen,<br />

sondern von der Branche?<br />

Ich will ein zweistufiges Verfahren.<br />

Erstens: Sektoren typisieren. Zweitens:<br />

Einzelfallprüfung, damit wir einem Unternehmen<br />

gerecht werden, das auch<br />

Stahl produziert, aber ansonsten ein Gemischtwarenladen<br />

ist.<br />

„Für Paris und<br />

Prag bin ich der<br />

Undercoveragent,<br />

der deutschem<br />

Ökostrom Vorteile<br />

verschafft“<br />

Während Sie den grünen Strom kritisch<br />

sehen, sorgen Sie sich um Dinosaurierstrom.<br />

Sie kritisieren zum Beispiel, dass<br />

Elektrizität aus tschechischen Atommeilern<br />

und polnischen Braunkohlekraftwerken<br />

wegen des Ökostroms<br />

nicht in das deutsche Netz kommt.<br />

Erneuerbarer Strom hat in Deutschland<br />

Vorrang im Netz. Das ist bei 2 Prozent<br />

Solarstrom und 3 Prozent Windstrom<br />

kein Thema. Aber wenn die beiden<br />

bei 15 Prozent plus x sind und an manchen<br />

Tagen bei weit über 30 Prozent,<br />

dann ist der Binnenmarkt gefährdet. Das<br />

ist, als ob auf der Autobahn an manchen<br />

Tagen nur Lastwagen von Edeka fahren<br />

könnten, und Carrefour darf seinen<br />

Bordeaux und seine Koteletts nicht<br />

transportieren.<br />

Wir können es ja mal umdrehen. Was<br />

sind denn die Vorteile der Atomkraft?<br />

Sie ist einfach ein Faktum. Wir hatten<br />

in Deutschland 23 Prozent Kernkraftstrom.<br />

Und wir haben in der Europäischen<br />

Union 28 Prozent Kernkraftstrom,<br />

wobei 14 Länder Kernkraftwerke betreiben.<br />

Ich habe den Stresstest für alle Reaktoren<br />

durchgesetzt, darauf aufbauend<br />

die Direktive zur nuklearen Sicherheit<br />

entwickelt – mit hohen Sicherheitsstandards<br />

für bestehende Kraftwerke, mit<br />

Nachrüstungspflichten. Und wir beschäftigen<br />

uns mit den Versicherungspflichten.<br />

Warum haben Sie solche Faktoren bisher<br />

nicht in die Kosten der Atomenergie<br />

eingerechnet? Das Deutsche Institut für<br />

Wirtschaftsforschung hat Ihnen vorgeworfen,<br />

Atomkraft schönzurechnen.<br />

Das bezog sich auf unsere Strategie<br />

für 2020, das ist jetzt dreieinhalb Jahre<br />

her. Wir haben heute allein durch das,<br />

was wir als neuen Standard für Kernkraftwerke<br />

vorschreiben, deutlich gestiegene<br />

Kosten: Hochwasserschutz,<br />

externe Notfallsysteme, Erdbebensicherheit.<br />

Dazu kommt die Haftpflicht. Das<br />

verändert die Kalkulation.<br />

Und? Haben Sie schon neu gerechnet?<br />

Im Sommer werde ich eine umfassende<br />

Analyse zum Thema Subventionen<br />

aller Art im Energiesektor vorlegen. Von<br />

der Forschung über Bau, Betrieb, Transport<br />

bis hin zur Endlagerung. Die Zahlen<br />

müssen vergleichbar sein.<br />

Sie inszenieren sich als Brüsseler<br />

Schiedsrichter. Warum stehen Sie nicht<br />

zu Ihrer Sympathie für Kernkraftwerke<br />

und Energiekonzerne?<br />

Ich würde Sie wirklich bitten, die<br />

Presse in London, Paris und Prag zu lesen<br />

und das mal mit Ihrem deutschzentrierten<br />

Bild abzugleichen. Ich gelte in<br />

Deutschland als einer der Letzten, der<br />

über Kernkraft spricht. Aber ich gelte in<br />

London, Paris und Prag als der Undercoveragent<br />

der Kanzlerin, der Deutschland<br />

durch die kalte Küche Vorteile für<br />

den grünen Strom verschafft.<br />

Streben Sie eigentlich eine zweite Amtszeit<br />

als Kommissar an?<br />

Ich bin auf beides vorbereitet. Rauszugehen,<br />

da bin ich gerade noch jung genug,<br />

um was ganz anderes zu machen.<br />

Oder drinzubleiben. Das hätte auch seinen<br />

Reiz.<br />

Warum?<br />

Diesmal werden maximal sechs<br />

oder sieben Kommissare wiederkommen.<br />

Viele meiner Kollegen haben auf<br />

der Wegstrecke die Regierung in ihrem<br />

Land verloren, die sie vorgeschlagen hat.<br />

Tajani war ein Vorschlag von Berlusconi,<br />

Barnier von Sarkozy, Lady Ashton von<br />

Gordon Brown. Wer wiederkommt, gehört<br />

zu einem ganz kleinen Kreis derer,<br />

die Erfahrung haben.<br />

88<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


WELT.DE/NEU<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die Hirn haben<br />

und Stirn bieten.DOROTHEA<br />

SIEMS,<br />

REDAKTEURIN


KAPITAL<br />

Interview<br />

Schauen wir noch einmal nach Deutschland.<br />

Wünschen Sie sich immer noch einen<br />

Megaenergiekonzern? Zum Beispiel<br />

durch eine Fusion von RWE und Eon?<br />

Wir denken in Deutschland, RWE<br />

und Eon wären riesengroß. Im europäischen<br />

Maßstab oder gar im Weltmaßstab<br />

sind die klein, wenn Sie sich mal EdF<br />

oder GdF in Frankreich anschauen, Gazprom,<br />

BP oder Shell, Chevron oder Petrochina.<br />

Für diese Champions League<br />

sind wir in Deutschland nicht gerade gut<br />

aufgestellt.<br />

Wozu soll das gut sein? Alle Welt redet<br />

von Regionalisierung auf dem<br />

Energiesektor.<br />

Alle deutsche Welt redet davon.<br />

Aber es ist doch ein Widerspruch: Wir<br />

sind stolz, wenn wir in der Weltliga spielen.<br />

BASF und Bayer in der Chemie, VW,<br />

BMW, Mercedes. Nur im Energiebereich<br />

sollen die Strukturen kleinteilig sein.<br />

Noch einmal: Was haben wir davon?<br />

Für große Aufgaben brauchen Sie<br />

richtige Player. Auch 1000 Stadtwerke<br />

bauen mir keine Pipeline vom kaspischen<br />

Meer.<br />

Wie bewerten Sie es rückblickend, dass<br />

Stefan Mappus, Ihr Nachfolger in Baden-Württemberg,<br />

für das Land die<br />

EnBW-Anteile vom französischen EdF-<br />

Konzern zurückgekauft hat?<br />

Ich bin mir sicher, dass der Kaufpreis<br />

vertretbar war, den Mappus gezahlt hat.<br />

Das Aktienpaket kostete 4,7 Milliarden<br />

Euro. Die Staatsanwaltschaft ermittelt<br />

sogar wegen Untreue gegen<br />

Herrn Mappus.<br />

Da wird nichts hängen bleiben.<br />

EnBW war ja börsennotiert, aber die<br />

Zahl der Aktien war so gering, dass sie<br />

keinen Markttest hatten. Nach dem, was<br />

ich gelesen habe, und auch nach der Aussage<br />

von Peter Villis, dem früheren CEO<br />

von EnBW, komme ich zum Schluss, dass<br />

der Preis vertretbar war.<br />

Mal Hand aufs Herz: Als SMS von Mappus<br />

auftauchten, in denen er und sein<br />

Banker Dirk Notheis im Zusammenhang<br />

mit der Transaktion von Angela<br />

Merkel als „Mutti“ sprachen, haben Sie<br />

schmunzeln müssen, oder?<br />

Günther Oettinger zögert zu antworten.<br />

Er schmunzelt schweigend einen<br />

Moment.<br />

Na ja, der Dialog war schon sehr<br />

sportlich.<br />

Hätte Ihnen das passieren können?<br />

Ich lese alle SMS und alle E-Mails.<br />

Aber ich rufe lieber zurück oder gebe<br />

das meinen Mitarbeitern. Ich bin eher<br />

ein Telefonist.<br />

Wie oft telefonieren Sie mit Angela<br />

Merkel?<br />

Sie simst mir ab und zu „Erbitte<br />

Rückruf“. Am Wochenende, am Sonntag<br />

vor dem CDU-Präsidium, wenn europäische<br />

Themen eine Rolle spielen. Da haben<br />

wir einen direkten Austausch unserer<br />

Erwartungen. Dann bin ich so vier<br />

Mal im Jahr bei ihr im Büro, um die Themen<br />

zu besprechen, die für sie wichtig<br />

sind. Es läuft gut. Ich glaube nicht, dass<br />

die Kooperation eines deutschen EU-<br />

Kommissars mit der Bundespolitik so<br />

eng war, das gilt auch für mein Verhältnis<br />

zu Sigmar Gabriel.<br />

Im November 2006 gab es einen CDU-<br />

Parteitag in Dresden. Rede Günther<br />

Oettinger für den Wirtschaftsflügel,<br />

Rede Jürgen Rüttgers fürs Soziale<br />

Foto: Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong><br />

90<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


<strong>Cicero</strong>-<br />

Hotel<br />

in der CDU – ein programmatischer<br />

Showdown.<br />

Ja, klar. Ausrichtung der CDU.<br />

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Und Merkel hat sich durchlaviert.<br />

Oettinger lächelt.<br />

Die Balance gewahrt.<br />

Seither hat die CDU eher auf Rüttgers<br />

gemacht, oder?<br />

Ja. Ich bin ja mit ihm mittlerweile befreundet.<br />

Wir treffen uns ab und zu. Aber<br />

damals waren wir Kontrahenten.<br />

Rüttgers hätte Mütterrente und Rente<br />

mit 63 bestimmt unterstützt. Und Sie?<br />

Ich halte die Rente mit 63 für ein völlig<br />

falsches Zeichen. Mein Sohn, 16, dem<br />

sag ich: Junge, du musst kein Streber sein.<br />

Aber so gut lernen, dass der Tank voll ist<br />

und reicht, bis du 70 bist. Der sagt: Papi,<br />

bis 63 reicht doch. Das ist fatal. Wir wenden<br />

da den Zeitgeist. Politiker aus Portugal,<br />

aus Irland, die sagen mir: Wir werden<br />

gezwungen, unseren Arbeitsmarkt zu reformieren,<br />

die Lebensarbeitszeit zu verlängern,<br />

und die Deutschen gehen wieder<br />

in die Vergangenheit.<br />

Aber mit der Mütterrente können Sie<br />

leben?<br />

Die ist auch teuer, nur strukturell<br />

nicht so schädlich wie die Rente mit 63.<br />

Aber sie bringt Deutschland nicht weiter.<br />

Das Land hat dank der Reformen einen<br />

Vorteil – Stichworte: Agenda 2010,<br />

maßvolle Tarifpolitik. Vielen von uns<br />

geht es sehr gut. Zu gut. Die Gefahr ist,<br />

dass man reformfaul wird und in alte Sozialreflexe<br />

fällt.<br />

Sie klingen ja wie früher. Ist das nicht<br />

erstaunlich? All die Männer, die Angela<br />

Merkel auf die Nerven fielen, sind raus<br />

aus der Politik. Koch ist weg, Wulff ist<br />

weg, Rüttgers ist weg. Nur Günther<br />

Oettinger ist immer noch da.<br />

Die Zahl der Ministerpräsidenten<br />

ist überschaubar geworden, wir stellen<br />

in kaum einer Großstadt den Oberbürgermeister.<br />

Unser wirtschaftspolitisches<br />

Profil war schon mal schärfer. Ein paar<br />

unbequeme Köpfe mehr würden da nicht<br />

schaden.<br />

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Fusionhotel einzigartig und wird gerade deswegen<br />

von seiner internationalen Klientel geschätzt. Diese<br />

ist anspruchsvoll, nicht nur in der Wahl ihrer Unterkunft<br />

sondern auch ihrer Lektüre – mit <strong>Cicero</strong> an unserer Seite<br />

stellen wir ein hochwertiges Magazin zur Verfügung, das<br />

zum Lesen und Informieren einlädt und sich seit Jahren<br />

großer (und beständig wachsender) Beliebtheit bei<br />

unseren Gästen erfreut.«<br />

Ken Dittrich, Generaldirektor<br />

Diese ausgewählten Hotels bieten <strong>Cicero</strong> als besonderen Service:<br />

Bad Doberan/Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont: Steigenberger Hotel<br />

Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach · Bergisch Gladbach:<br />

Grandhotel Schloss Bensberg, Schlosshotel Lerbach · Berlin: Brandenburger Hof, Grand Hotel<br />

Esplanade, InterContinental Berlin, Kempinski Hotel Bristol, Hotel Maritim, The Mandala Hotel,<br />

The Mandala Suites, The Regent Berlin, The Ritz-Carlton Hotel, Savoy Berlin, Sofitel Berlin<br />

Kurfürstendamm · Binz/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel Taschenbergpalais Kempinski · Celle:<br />

Fürstenhof Celle · Düsseldorf: InterContinental Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf der<br />

Wartburg · Ettlingen: Hotel-Restaurant Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof,<br />

Kempinski Hotel Gravenbruch · Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten,<br />

Hotel Atlantic Kempinski, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel,<br />

Strandhotel Blankenese · Hannover: Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel Adler ·<br />

Keitum/Sylt: Hotel Benen-Diken-Hof Köln: Excelsior Hotel Ernst · Königstein im Taunus: Falkenstein<br />

Grand Kempinski, Villa Rothschild Kempinski · Königswinter: Steigenberger Grandhotel Petersberg ·<br />

Konstanz: Steigenberger Inselhotel Magdeburg: Herrenkrug Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz:<br />

Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency Mainz · München: King’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel<br />

München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss Neuhardenberg · Nürnberg: Le Méridien ·<br />

Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart:<br />

Hotel am Schlossgarten, Le Méridien · Wiesbaden: Nassauer Hof · ITALIEN Tirol bei Meran:<br />

Hotel Castel · ÖSTERREICH Wien: Das Triest · SCHWEIZ Interlaken: Victoria-Jungfrau Grand Hotel<br />

& Spa · Lugano: Splendide Royale · Luzern: Palace Luzern St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House ·<br />

Weggis: Post Hotel Weggis · Zermatt: Boutique Hotel Alex<br />

Das Gespräch führten GEORG LÖWISCH<br />

und CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Möchten auch Sie zu diesem<br />

exklusiven Kreis gehören?<br />

Bitte sprechen Sie uns an:<br />

E-Mail: hotelservice@cicero.de


KAPITAL<br />

Kommentar<br />

BÖSE SPENDE, GUTE SPENDE<br />

Parteispenden von<br />

Unternehmen fördern<br />

die Demokratie.<br />

Wir brauchen aber eine<br />

gesetzliche Obergrenze,<br />

fordert Evonik-Chef<br />

Klaus Engel<br />

Die Europawahl steht vor der Tür<br />

und der Wahlkampf ist in vollem<br />

Gange. In Wahlkampfzeiten wird<br />

in Deutschland gerne über die Parteienfinanzierung<br />

gestritten. Mein Unternehmen,<br />

der Chemiekonzern Evonik, ist im<br />

vergangenen November heftig dafür kritisiert<br />

worden, dass wir SPD, CDU und<br />

CSU insgesamt 190 000 Euro gespendet<br />

haben. Dass wir auch die Grünen und die<br />

FDP finanziell unterstützen, blieb dabei<br />

unerwähnt.<br />

Die öffentliche Debatte über das<br />

Für und Wider von Parteispenden ist in<br />

Deutschland geprägt von einem eigenwillig<br />

verengten Verständnis von Demokratie<br />

und gesellschaftlichem Engagement.<br />

Interessen sind gut, solange sie altruistisch<br />

sind. Engagement ist gut, solange<br />

man sich für die richtigen Ziele engagiert.<br />

Unternehmen sind gut, soweit sie<br />

Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen.<br />

Und sich im Übrigen aus der Politik<br />

heraushalten. So einfach ist das in<br />

Deutschland. Und so naiv.<br />

Meine Vorstellung von der Rolle<br />

der Unternehmen in unserer Gesellschaft<br />

ist eine andere. Ich wünsche mir<br />

engagierte Unternehmenslenker, die ihre<br />

Ideen, ihre Werte und ihre Interessen offen<br />

und klar vertreten. Und ich wünsche<br />

mir Manager, die über unseren Standort<br />

Deutschland nicht nur klagen, sondern<br />

ihn mitgestalten.<br />

Denn gerade wir in Deutschland haben<br />

schmerzhaft aus dem Scheitern der<br />

Weimarer Republik lernen müssen, wie<br />

anfällig und fragil eine Demokratie werden<br />

kann, wenn die Extreme plötzlich an<br />

Macht gewinnen.<br />

Auch heute noch, bald 70 Jahre nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, drohen wirtschaftliche<br />

Krisen insbesondere noch<br />

junge Demokratien in ihren Grundfesten<br />

zu destabilisieren. Wie schnell das<br />

gehen kann, sehen wir in einigen Staaten<br />

Süd- und Osteuropas. Deutschlands<br />

Stabilität geht maßgeblich auf das Fundament<br />

unserer Gesellschaft zurück: Demokratie,<br />

Rechtsstaatlichkeit und soziale<br />

Marktwirtschaft.<br />

Zu verdanken haben wir das auch<br />

unseren großen und kleinen Parteien,<br />

die Garanten dieser Prinzipien sind. Für<br />

ein Unternehmen wie Evonik sind diese<br />

Prinzipien gleich im doppelten Wortsinn<br />

wertvoll: als unverzichtbare Standortfaktoren<br />

und damit als herausragend<br />

Illustration: Christine Rösch; Foto: privat<br />

92<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


wichtige Grundlage unseres wirtschaftlichen<br />

Erfolgs. Wohlstand und Wachstum<br />

sind auf Dauer nur in einer freien und<br />

pluralistischen Gesellschaft möglich.<br />

In meinen Augen ist jede Spende an<br />

die Parteien im demokratischen Spektrum<br />

zugleich eine Spende für Demokratie.<br />

Das ist völlig unabhängig davon, ob<br />

der Spender eine Privatperson, ein Verein<br />

oder ein Unternehmen ist.<br />

Wirtschaftsunternehmen verfolgen,<br />

neben den skizzierten grundsätzlichen<br />

Zielen, im alltäglichen Geschäft auch andere,<br />

weniger prinzipielle Ziele. Einige<br />

wünschen sich Subventionen, andere<br />

niedrige Steuern oder weniger Regulierung.<br />

Auch diese Wünsche sind legitim,<br />

denn die Artikulierung von Interessen<br />

und der Wettbewerb um deren Durchsetzung<br />

gehören zur Demokratie wie Tore<br />

zum Fußball. Das Spielfeld ist öffentlich.<br />

Diese Öffentlichkeit ist beim Spenden<br />

per Gesetz vorgeschrieben. Jedermann<br />

kann im Rechenschaftsbericht der<br />

Parteien nachlesen, wer wem wie viel gegeben<br />

hat.<br />

Wer Spenden reflexhaft als Versuch<br />

einer ungehörigen Einflussnahme auf politische<br />

Entscheidungen grundsätzlich<br />

diskreditiert, richtet damit gleich doppelt<br />

Schaden an: Unmittelbar schädigt ein solches<br />

Urteil die Politik insgesamt. Mittelbar<br />

führt es dazu, dass andere Spender<br />

von ihrem Engagement lieber Abstand<br />

nehmen, um sich drohender Kritik gar<br />

nicht erst auszusetzen.<br />

Letztere Reaktion halte ich für<br />

falsch. Denn wer nach seinen eigenen<br />

Werten und Überzeugungen handelt, der<br />

sollte auch offen für sie eintreten.<br />

DIES GILT GANZ BESONDERS für die Debatte<br />

um Parteispenden. Und damit für<br />

die Frage: Wann ist eine Spende eine gute<br />

Spende? Und wann nicht?<br />

Diese Unterscheidung hängt von der<br />

Intention des Spenders, vom Kreis der<br />

Empfänger und von der geübten Praxis<br />

ab. Und, vor allem, von der öffentlichen<br />

Wahrnehmung vor dem Hintergrund aktueller<br />

politischer Moden.<br />

Dabei ist umfassende Transparenz<br />

immer das oberste Gebot, nur sie sichert<br />

die öffentliche Kontrolle. Wenn etwa ein<br />

Hotelverband eine hohe Summe gezielt<br />

an eine Regierungspartei spendet, wird<br />

sich diese Partei gut überlegen, ob sie<br />

Interessen zu<br />

artikulieren<br />

und für ihre<br />

Durchsetzung<br />

zu kämpfen,<br />

gehört zur<br />

Demokratie<br />

sich im Anschluss tatsächlich für eine<br />

Absenkung der Steuern für Hotelübernachtungen<br />

einsetzen will. Dem Spender<br />

mag dies gefallen, doch wie würde die<br />

Öffentlichkeit diesen Vorgang bewerten?<br />

Deren Urteil folgt bei der nächsten Wahl.<br />

Als Kriterium ebenso wichtig ist die<br />

Angemessenheit des Betrags. Spenden<br />

aus der Wirtschaft machen in Deutschland<br />

nur einen Bruchteil der Parteienhaushalte<br />

aus. Theoretisch aber könnte<br />

ein Unternehmen mit einer übermäßig<br />

hohen Spende eine Partei so gezielt stärken,<br />

dass der Wettbewerb, etwa im Wahlkampf,<br />

verzerrt würde.<br />

Deshalb plädiere ich für eine Obergrenze<br />

bei Parteispenden. Für große Unternehmen<br />

könnte diese Grenze etwa am<br />

Umsatz oder an der Zahl der Mitarbeiter<br />

bemessen sein.<br />

Selbst bei einer solchen Regelung<br />

erweist sich die Abgrenzung zwischen<br />

guten und bösen Spenden im Alltag allerdings<br />

als schwierig: Spendet etwa<br />

ein Industriearbeiter fünf Euro an eine<br />

Partei, weil diese die guten Rahmenbedingungen<br />

für die Industrie erhalten<br />

und damit seinen Arbeitsplatz sichern<br />

will, würde dies in der Öffentlichkeit<br />

sicher nicht auf Kritik stoßen. Würden<br />

40 000 Kollegen seinem Beispiel folgen,<br />

kämen 200 000 Euro zusammen. Zahlt<br />

aber ein Unternehmen mit 40 000 Mitarbeitern<br />

aus dem gleichen Anlass die gleichen<br />

200 000 Euro, erscheint dies in einem<br />

ganz anderen Licht. Zu Recht?<br />

Für die Matadoren der öffentlichen<br />

Meinung lassen sich gute und böse Spenden<br />

ganz einfach abgrenzen: Wer einen<br />

Zweck verfolgt, der der Allgemeinheit<br />

dient, handelt gut. Wer dagegen eigene,<br />

wirtschaftliche Interessen verfolgt,<br />

dessen Spende ist böse. So einfach ist das<br />

in Deutschland. Und so naiv.<br />

Wer will sich eigentlich anmaßen,<br />

über die wahren Motive eines Spenders<br />

zu urteilen?<br />

Gerade wenn sich Unternehmen gesellschaftlich<br />

engagieren, spielt ein weiterer<br />

Aspekt eine wichtige Rolle: Ein<br />

Unternehmen ist eben nicht nur eine<br />

juristische Person, und es besteht auch<br />

nicht nur aus einem Vorstandschef. Ein<br />

Unternehmen ist eine Ansammlung einzelner<br />

Menschen, verbunden durch das<br />

gemeinsame Interesse an sicheren Arbeitsplätzen<br />

und wirtschaftlichem Erfolg.<br />

Es sind die Mitarbeiter, in deren Namen<br />

ein Unternehmen wie Evonik zahlreiche<br />

Bildungs- und Kulturprojekte<br />

unterstützt. Ebenso förderungswürdig<br />

erscheint uns der politische Pluralismus<br />

– und der wird getragen von starken,<br />

qualifiziert besetzten und staatsfreien<br />

Parteien.<br />

Diese Staatsfreiheit wird den Parteien<br />

dadurch garantiert, dass sie nicht existenziell<br />

von staatlichen Zuwendungen abhängen.<br />

Das aber bedeutet im Umkehrschluss:<br />

Wenn die Parteien in ihrer heutigen Form<br />

weiter existieren und arbeiten wollen,<br />

brauchen Sie neben ihren Mitgliedsbeiträgen<br />

eben auch unsere Spenden.<br />

Wer, wie ich, mehr als 30 Jahre in<br />

Unternehmen verbracht hat, weiß genau,<br />

dass man qualifiziertes Personal nur gewinnen<br />

kann, wenn man gute Arbeit<br />

auch gut bezahlt. Das gilt für die Wirtschaft<br />

ebenso wie für die Politik – und<br />

damit eben auch für die Parteien:<br />

Wo kämen sie hin, wenn sie von der<br />

Führungsspitze bis hinunter an die Basis<br />

nicht mehr die Mittel hätten, um Veranstaltungen<br />

durchzuführen und für ihre<br />

Programme zu werben?<br />

Wer erkennt, dass starke und unabhängige<br />

Parteien in Deutschland einen<br />

wesentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen<br />

Erfolg leisten, der sollte spenden.<br />

Wir jedenfalls werden es weiter tun, um<br />

Regierungsparteien und Opposition gleichermaßen<br />

zu unterstützen. Und um der<br />

Demokratie nicht ihre Basis zu entziehen.<br />

KLAUS ENGEL ist<br />

Vorstandsvorsitzender des<br />

Chemiekonzerns Evonik in Essen<br />

93<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

Reportage<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


ELEKTRIFIZIERT<br />

AUF DER<br />

SAHNESPUR<br />

Von LUTZ MEIER<br />

In Norwegen hat das<br />

Elektroauto geschafft,<br />

woran die deutsche<br />

Regierung zu scheitern<br />

droht. Sogar<br />

der Kronprinz fährt<br />

mit Strom. Ein Tag<br />

in Oslo, Paradies der<br />

E-Mobilität<br />

Harald Kristiansen, den vierjährigen<br />

Sander auf dem Arm, die<br />

achtjährige Emilia neben sich,<br />

muss sich sputen. Um kurz nach sieben<br />

kann in der Gemeinde Frogner noch niemand<br />

wissen, dass dieser Montag ein relativ<br />

guter Tag für die Pendler von Oslo<br />

wird. Kristiansen hastet durch die kühle<br />

Morgenluft zum Auto. Emilia, die Große,<br />

muss noch einmal zurück, sie hat etwas<br />

vergessen. Harald Kristiansen zieht<br />

schon mal den Stecker aus der Frontklappe,<br />

dreht das Autoradio an. Dann<br />

hört er, dass es heute gut gehen könnte.<br />

Die Staus sind kurz.<br />

Er kurvt die Straße runter. 7:17 Uhr,<br />

Sanders Kindergarten. 7:28 Uhr Emilias<br />

Schule. 7:34 Uhr Einbiegen auf die E6.<br />

Die Autobahn ist voll, Harald Kristiansen<br />

schlängelt sich in eine Lücke und gibt<br />

Gas. Beziehungsweise Strom.<br />

Willkommen im Elektroautoparadies<br />

Norwegen. Harald Kristiansen ist nicht<br />

allein mit seinem Stromfahrzeug, auf der<br />

E6 mischen sich überall Nissan Leafs,<br />

i‐Mievs von Mitsubishi und andere Elektroautos<br />

in den zäh fließenden Verkehr.<br />

11 Prozent aller im Land seit Jahresbeginn<br />

zugelassenen Wagen haben das für<br />

Elektrofahrzeuge reservierte EL‐Nummernschild<br />

bekommen. Der Leaf ist 2014<br />

bislang das meistverkaufte Auto, vor<br />

dem VW Golf und allen anderen Benzinern.<br />

Würde in Deutschland im Verhältnis<br />

zum Gesamtabsatz der gleiche Anteil<br />

von E‐Autos verkauft wie in Norwegen,<br />

es wären 23 000 im Monat. Tatsächlich<br />

wurden bei uns im Februar aber nur 481<br />

Stromwagen verkauft.<br />

Geht es in Norwegen so weiter, fahren<br />

dort nächsten Sommer 50 000 Elektroautos<br />

herum. Das entspricht dem Anteil,<br />

den die Bundeskanzlerin für 2020<br />

verspricht, mit ihrem Ziel von einer Million<br />

E‐Fahrzeugen. Nur haben Angela<br />

Merkels eigene Leute ihr Ziel schon für<br />

unerreichbar erklärt, während Norwegen<br />

fünf Jahre früher dran ist. Was läuft im<br />

nordischen E‐Mobil-Paradies anders als<br />

in Deutschland? Es gibt große strukturelle<br />

Unterschiede wie den Energiereichtum,<br />

aber doch eine Reihe Details, die<br />

auch anderswo funktionieren könnten.<br />

Ziemlich genau ein Jahr ist es her,<br />

dass die Kristiansens den ausladenden<br />

Skoda Superb verkauft haben und den<br />

elektrischen Nissan anschafften. Jetzt


KAPITAL<br />

Reportage<br />

stehen schon 32 826 Kilometer im Display.<br />

„Getestet, gekauft“, sagt Kristiansen.<br />

So ein Leaf sei nicht so teuer. Der<br />

Strom kostet ein paar Kronen. Nachteile?<br />

„Kaum.“ Sollte die Tour in die Berge doch<br />

einmal weiter gehen als die Reichweite,<br />

hängen sie den Leaf an einen Hurtiglader<br />

und machen eine halbe Stunde Pause an<br />

einer Raststätte. Kristiansen tippt auf den<br />

Navi-Bildschirm. Grüne Punkte: Ladesäulen,<br />

an denen es Stunden braucht, bis<br />

die Batterie voll ist. Quadrate: Schnelllader,<br />

bei denen 30 Minuten ausreichen.<br />

Um die Stadt herum gibt es sie überall.<br />

Am Anfang waren die Nachbarn<br />

eher skeptisch als neugierig. Ein Auto,<br />

das nach 150 Kilometern stehen bleibt?<br />

Jetzt fahren auch oben in Frogner die<br />

Teslas vor. Es war eine Kopfentscheidung<br />

und eine Bauchentscheidung, sagt Kristiansen.<br />

Einerseits hat die Familie kühl<br />

kalkuliert. Andererseits stehe im Winter<br />

manchmal der Smog in der Ebene.<br />

Feinstaub und Krach passen nicht in ein<br />

Land mit so viel Natur, was macht es<br />

da schon, dass man ein bisschen planen<br />

Beim Fahren im<br />

Winter die<br />

Skihandschuhe<br />

nicht vergessen,<br />

die Heizung saugt<br />

zu viel Strom<br />

muss? Abends einen Blick auf die Smartphone‐App<br />

werfen, ob der Leaf auch<br />

wirklich Strom zieht. Oder im Winter<br />

die Skihandschuhe mit ins Auto nehmen.<br />

„Die Heizung bleibt nach Möglichkeit<br />

aus“, sagt er. Saugt zu viel Strom.<br />

7:59 Uhr, Parkhaus Hasle, perfekt.<br />

Genügend Zeit, bis der Supermarkt<br />

öffnet. Kristiansen ist der Marktleiter.<br />

28,7 Kilometer, sagt das Display. Restreichweite<br />

106 Kilometer. Gegenüber<br />

parkt Kristiansens Chef ein, der Regionalleiter,<br />

seit Januar auch im Leaf. Er ist<br />

noch besser dran. Kommt aus dem Westen<br />

von Oslo, wo es „Sahnespuren“ gibt,<br />

Bus- und Taxirennbahnen auf der Autobahn,<br />

auf denen Autos mit EL‐Kennzeichen<br />

am Stau vorbeirasen dürfen.<br />

In Oslos Innenstadt gibt es noch<br />

weitere Vorteile für Fahrer von E‐Mobilen:<br />

8:20 Uhr, der riesige E‐Auto-Ladeparkplatz<br />

am Eingang des neuen Geschäftsviertels<br />

Aker Brygge ist fast voll,<br />

in die letzte Lücke setzt Per Henning<br />

seinen Tesla, er steigt aus, gelbes Kabel<br />

unterm Arm. „Da habe ich aber mehr<br />

als Schwein gehabt“, sagt er. Normalerweise<br />

ist ab 7:45 Uhr nichts mehr zu machen.<br />

Das Model S ist schon Hennings<br />

fünftes Stromauto. Bisher aber waren es<br />

Drittwagen der Familie, für die Sahnespuren<br />

und die anderen Privilegien. Der<br />

Tesla hat den Porsche Cayenne als Hauptauto<br />

abgelöst, aus Kostengründen: Parken,<br />

Citymaut, Benzin – fährt Henning<br />

mit dem Cayenne die sieben Kilometer<br />

in die Stadt, kostet ihn das schnell mehr<br />

als 60 Euro. Henning hat seinen deutschen<br />

Sportwagen diesen Winter auch bei<br />

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Beste Gründe für das Arbeiten bei Audi:<br />

Raum für kreative Ideen<br />

und große Ideale<br />

Einer von vielen »Besten Gründen bei Audi zu arbeiten« ist unsere Innovationskultur. Sie bietet<br />

jedem unserer Mitarbeiter ein Maximum an Raum, um sich und seine Ideen zu entfalten.<br />

Auf dieser Grundlage können wir automobile Visionen täglich aufs Neue zum Leben erwecken.<br />

Eine von vielen Visionen ist seit Jahren fester Bestandteil unserer Kultur: Die von Thomas Müller,<br />

Leiter in der Entwicklung für Brems-, Lenk- und Fahrerassistenzsysteme, initiierte »Umzugskiste«.<br />

Ein Rückzugsort, an dem Mitarbeiter kreativ arbeiten können.<br />

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Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert 8,2–5,1;<br />

CO 2<br />

-Emissionen in g/km: kombiniert 190–135


den Skiausflügen in der Garage gelassen.<br />

„Minus 17 Grad, drei Kinder, 240 Kilometer,<br />

alles kein Problem“, sagt er. Der<br />

Tesla bietet ihm Reichweite, Power, Status.<br />

Norwegen ist für Tesla nach der kalifornischen<br />

Heimat des Herstellers der<br />

zweitgrößte Markt geworden.<br />

PER HENNING IST schon allerhand gefahren,<br />

was schnell ist und viele Zylinder<br />

hat. Hätte er für den Tesla so viel zahlen<br />

müssen wie für einen Panamera, so wie<br />

in Deutschland, er hätte ihn eher nicht<br />

gekauft. Henning schließt den Tesla an,<br />

die Batterie ist eigentlich noch recht voll,<br />

aber das Kabel an der Station garantiert<br />

ihm den kostenlosen Parkplatz für den<br />

Tag. Er muss weiter in den Versicherungs-<br />

Glasklotz, Telefonkonferenz.<br />

10:30 Uhr im Forschungspark von<br />

Oslo. An der Tür von Erik Figenbaum<br />

im Institut für Verkehrsökonomie hängt<br />

ein wütender Artikel, der unter etwas<br />

abenteuerlichen Annahmen vorrechnet,<br />

der Staat würde reiche Tesla-Fahrer mit<br />

50 Milliarden Kronen subventionieren,<br />

also mehr als sechs Milliarden Euro.<br />

„Der große Verlierer von Teslas Erfolg ist<br />

Norwegen“, schrieb die Wirtschaftszeitung<br />

Finansavisen darüber, im Abendprogramm<br />

des öffentlich-rechtlichen<br />

Fernsehens haben sie sich unlängst fast<br />

eine Stunde lang das Maul zerrissen über<br />

Leute wie Per Henning. Tesla ist ein Symbol<br />

geworden. Letztes Jahr hat sich Kronprinz<br />

Haakon einen zugelegt. Gerade<br />

macht die norwegische Krimigroteske<br />

„Kraftidioten“ auf dem internationalen<br />

Filmmarkt Furore. Der serbische Mafiaboss,<br />

gespielt von Bruno Ganz, fährt Maserati.<br />

Sein norwegischer Gegenspieler<br />

ernährt sich vegan und dirigiert sein Imperium<br />

vom Tesla-Rücksitz.<br />

„Sicher, wir sind ein wohlhabendes<br />

Land“, sagt der Verkehrsforscher Figenbaum.<br />

Aber wenn gut situierte Leute vom<br />

Staat profitieren, finden das einige im<br />

traditionell egalitär gepolten Norwegen<br />

trotzdem falsch. Dabei sei die Sache mit<br />

der Zulassungssteuer wahrscheinlich einer<br />

der wichtigsten Faktoren für den Erfolg<br />

der Elektroautos, erklärt Figenbaum.<br />

Kaum irgendwo auf der Welt ist ein<br />

Neuwagen teurer als in Norwegen. Die<br />

Steuer ist der Grund dafür. Zur egalitären<br />

Logik gehört es, dass sie überproportional<br />

wächst, wenn ein Auto größer<br />

und luxuriöser wird. Elektroautos sind<br />

ausgenommen. Das führt dazu, dass ein<br />

etwa klassengleicher Nissan Leaf in Norwegen<br />

so teuer ist wie ein VW Golf. In<br />

Deutschland kostet der elektrische Leaf<br />

13 000 Euro mehr. Aber ein Tesla S, der<br />

anderswo auf dem Niveau eines Luxuswagens<br />

rangiert, ist in Norwegen günstiger<br />

zu haben als ein VW Passat mit guter<br />

Ausstattung.<br />

Hier in Figenbaums Institut bilanzieren<br />

sie gerade, welche Anreize das<br />

norwegische Elektrowunder befördert<br />

haben. Er zählt auf: Zulassungssteuer,<br />

Mehrwertsteuer, Kfz-Steuer – alles auf<br />

Null bei Stromautos. Freie Fahrt nicht<br />

nur in die mautbelegte Osloer Innenstadt,<br />

auch über Brücken, Fähren und<br />

Tunnel. Während der Liter Benzin fast<br />

zwei Euro kostet, fließt der Strom an<br />

den normalen Ladesäulen gratis, einzig<br />

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KAPITAL<br />

Reportage<br />

an den Schnellladern müssen die Autofahrer<br />

bezahlen. Auch die vorsichtigen<br />

Verkehrsforscher haben Kosten von rund<br />

fünf Milliarden Euro pro Jahr für den<br />

Staat ausgerechnet, allein für die Steuerprivilegien.<br />

Die öffentlichen Investitionen<br />

in die Infrastruktur kommen noch<br />

obendrauf.<br />

Aber am Ende, sagt Figenbaum, sei<br />

für viele in Oslo gar nicht das Geld entscheidend.<br />

Sondern der Zeitgewinn:<br />

freie Fahrt auf Busspuren, Parkplätze<br />

in der Stadt. Die Busfahrer der Hauptstadt<br />

beschweren sich, dass ihre Spuren<br />

mit E‐Autos vollgestopft sind. Das Parlament<br />

hat die Vergünstigungen bis 2017<br />

garantiert. Begründet hat die Regierung<br />

die Ausgaben mit den ehrgeizigen Klimazielen<br />

des Landes. Norwegen produziert<br />

nicht nur Öl, sondern auch klimaneutralen<br />

Strom im Überfluss. Selbst wenn<br />

die gesamte Fahrzeugflotte des Landes<br />

elektrisch wäre, würden die Wasserkraftwerke<br />

genug Elektrizität liefern.<br />

„Vielleicht nehmen sie uns die Busspuren<br />

weg“, überlegt Snorre Sletvoldd,<br />

der Generalsekretär des E-Auto-Verbands.<br />

„Vielleicht müssen wir auch ein<br />

bisschen Steuern akzeptieren.“ Das alles<br />

könne den Siegeszug nicht aufhalten.<br />

Die Sonne hat sich durchgekämpft,<br />

Norwegen<br />

subventioniert die<br />

Elektroautos mit<br />

fünf Milliarden<br />

Euro im Jahr,<br />

allein durch die<br />

Steuerprivilegien<br />

inzwischen ist es Mittag in Oslo. Das<br />

Haus des Verbands unten am Hafen ist<br />

eines der wenigen Überbleibsel des mittelalterlichen<br />

Oslo, über Jahrhunderte<br />

war hier eine Klinik für Geisteskranke.<br />

„Wenn Ihr in Deutschland wirklich eine<br />

Million Elektrofahrzeuge wollt, müsst ihr<br />

versuchen, die normalen Autos teurer zu<br />

machen“, schlägt Snorre Sletvold vor. Er<br />

sorgt sich ein wenig, dass Norwegen eine<br />

Insel der Seligen bleibt. Für die Autofirmen<br />

der Welt würde es sich auf Dauer<br />

nicht lohnen, Autos zu entwickeln, die<br />

überall auf dem Globus Skepsis ernten<br />

und nur in einem kleinen Land im Norden<br />

Begeisterung.<br />

Am Nachmittag ist die Stadtautobahn<br />

im Osten der Hauptstadt dicht.<br />

Die Fahrt im Elektroauto ins Industriegebiet<br />

Økern aber dauert nur eine Viertelstunde<br />

– Sahnespur. Die Produktionshalle<br />

von Buddyelectric liegt versteckt<br />

hinter einem Bürohaus. Man klopft an<br />

einer Glastür, von ganz hinten schlurft<br />

Geschäftsführer Petter Skram heran. Er<br />

macht erst mal einen Kaffee. Über der<br />

Kaffeemaschine verstaubt das Oktoberblatt<br />

eines Sportwagenkalenders von<br />

2013. „Acht Leute sind noch übrig“, sagt<br />

Skram. Das ist alles, was geblieben ist,<br />

von der einst hoffnungsvollen norwegischen<br />

E‐Auto-Industrie. Vor etwa 15 Jahren<br />

wollten sie die Welt erobern, Ford<br />

war groß beim Osloer E‐Autoentwickler<br />

Think eingestiegen, und auch bei Skrams<br />

Firma Buddyelectric fragten Investoren<br />

aus aller Welt an. In Norwegen haben sie<br />

früh auf Stromfahrzeuge gesetzt, kleine,<br />

einfach gebaute Stadtautos mit Plastikkarosse<br />

entwickelt. Skram erinnert sich<br />

noch, wie sie damals die Regierung von<br />

der Mehrwertsteuerbefreiung überzeugt<br />

haben. Wahrscheinlich habe die Politik<br />

gar nicht gewusst, was sie da tut.<br />

SO GING ES AM ANFANG um Industrieförderung,<br />

doch trotzdem ist wie so oft<br />

die Revolution an ihren Initiatoren vorbeigegangen.<br />

Think ist vom Markt verschwunden,<br />

bei Buddy schrauben sie in<br />

Handarbeit ein halbes Dutzend Autos<br />

pro Jahr zusammen. Sie hoffen auf die<br />

Chinesen, die vergangene Woche da waren,<br />

die hätten vielleicht Interesse an den<br />

Plänen, sagt Petter Skram.<br />

Es wird dämmerig. An einer Tankstelle<br />

im Norden Oslos vertritt sich<br />

Shobna vor einer Schnellladesäule die<br />

Beine, die Pharmazeutin hat tagsüber vergessen,<br />

die Batterie zu laden, jetzt holt sie<br />

sich für 44 Kronen 15 Minuten lang eine<br />

Viertelbatteriefüllung. Sie läuft auf und<br />

ab, erkundet das Tankstellenregal. An<br />

der Nachbarsäule füllt ein Mann seinen<br />

Brennstoffzellen-Hyundai mit Wasserstoff.<br />

Norwegen will auch bei Wasserstoffautos<br />

vorn dabei sein. Nur den Benzinern<br />

droht die Vertreibung aus dem Paradies.<br />

Illustrationen: Otto (Seiten 94 bis 98); Foto: Uta Wagner<br />

LUTZ MEIER hat in Oslo an<br />

einem Tag drei Viertel der<br />

Batterie leer gefahren – das<br />

Beschleunigen im E‐Mietwagen<br />

machte einfach zu viel Spaß<br />

98<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Guten Tag, Frau Ministerin. Hallo,<br />

Herr Ministerialrat. Grüß Gott,<br />

liebes Mitglied des Bundestages.<br />

Moin, Herr Hauptgeschäftsführer,<br />

und einen guten Tag, liebe Mitbürger.<br />

Wir haben etwas ganz<br />

Besonderes für Sie: Tagesspiegel<br />

Agenda. Der erste Lokalteil für die<br />

Berliner Republik – nur dienstags<br />

in der Sitzungswoche und nur im<br />

Tagesspiegel.<br />

Ab sofort bekommen Sie im Tagesspiegel noch mehr Hintergründe aus Parlament und Politik. In jeder Sitzungswoche<br />

des Bundestages erscheint am Dienstag Tagesspiegel Agenda. Wenn Sie keine Ausgabe verpassen möchten, raten wir<br />

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KAPITAL<br />

Essay<br />

HERRENLOSE SKLAVEREI<br />

Von MAX A. HÖFER<br />

Zu seinem 150. Geburtstag missbrauchen selbstherrliche<br />

Wirtschaftsführer Max Weber zur Rechtfertigung ihres<br />

Handelns. Dabei wäre Deutschlands Soziologenpapst heute<br />

der schärfste Kritiker dieser Art des Kapitalismus<br />

100<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Foto: AKG Images<br />

Kann harte Arbeit unendlichen<br />

Spaß machen? Heute,<br />

so scheint es, mehr denn je.<br />

Überglücklich hat die 24-jährige<br />

Mae Holland einen der<br />

heiß begehrten Jobs bei Circle ergattert,<br />

einer angesagten kalifornischen Internetfirma.<br />

Doch ihre Euphorie schlägt bald in<br />

Horror um, denn die permanente Überwachung<br />

ihrer Leistung im Büro, aber<br />

auch zu Hause, die der Konzern seinen<br />

Mitarbeitern aufnötigt, verlangt Mae alles<br />

ab, psychisch und körperlich. Es ist<br />

ein auf unendliche Verbesserung angelegter<br />

Optimierungsprozess, der seinen<br />

totalitären Charakter stets mit humanitären<br />

Weltverbesserungsphrasen zu bemänteln<br />

weiß.<br />

Das Beklemmende an Dave Eggers<br />

Roman „The Circle“ ist, dass diese<br />

Utopie ihre Schatten nicht von weiter<br />

Ferne auf uns wirft, sondern ganz nah<br />

erscheint, gegenwärtig. Das von Eggers<br />

entworfene Unternehmen ist dem realen<br />

Internetgiganten Google nachempfunden.<br />

Die Algorithmen, die den Mitarbeiter<br />

auskundschaften und den Rauswurf der<br />

low performer empfehlen, sind bereits im<br />

Einsatz. Wer seinen Lebenslauf nicht penibel<br />

den aktuellen Vorgaben dieser Effizienzlogik<br />

anpasst, hat bald nicht mal<br />

mehr die Chance auf ein Vorstellungsgespräch.<br />

Anfang März hat Googles Verwaltungsratschef<br />

Eric Schmidt auf der Internetkonferenz<br />

South by Southwest in<br />

Austin klargemacht, dass er diese Art der<br />

Sozialdisziplinierung für unausweichlich<br />

und gut hält und dass er am liebsten die<br />

ganze Welt diesem Modernisierungsprozess<br />

unterwerfen will.<br />

Der große Theoretiker dieser Modernisierung<br />

ist Max Weber, der wohl<br />

bedeutendste deutschsprachige Soziologe.<br />

Weber, dessen 150. Geburtstag am<br />

21. April ansteht, beschreibt den Kapitalismus<br />

als Gipfel einer umfassenden<br />

weltgeschichtlichen Entwicklung: des<br />

westlich‐abendländischen Rationalismus,<br />

der mit griechischer Wissenschaft<br />

und römischem Recht zaghaft in der Antike<br />

begann. Besagten Gipfel erreichte<br />

der Rationalismus aber erst im Zuge der<br />

Reformation und schließlich im Siegeszug<br />

des Kapitalismus. Weber versteht<br />

darunter das systematisch auf Effizienz<br />

und Leistungssteigerung gerichtete<br />

Verhalten, ohne das unser Wirtschaftssystem<br />

undenkbar ist.<br />

Wie sich die noch fiktive Circle-Mitarbeiterin<br />

Mae mit jeder Faser ihres Körpers<br />

und ihrer Seele dem „wissenschaftlichen“<br />

Optimierungsprogramm ausliefert,<br />

könnte als ein weiterer Höhepunkt dieser<br />

Entwicklung gesehen werden. Aber<br />

hätte Weber dies noch goutiert? Sein Augenmerk<br />

galt stets dem „Menschentum“,<br />

das der moderne Kapitalismus hervorbringt.<br />

Er wäre weit davon entfernt gewesen,<br />

Maes Bereitschaft, sich ihrem Arbeitgeber<br />

derart zu unterwerfen, noch als<br />

freiwillige Zustimmung zu deuten. Weber<br />

sprach vom Kapitalismus als „Schicksalsmacht“<br />

und sah den modernen Menschen<br />

in einem „stahlharten Gehäuse der<br />

Hörigkeit“ gefangen. Dave Eggers nachdenklicher<br />

Roman, der die umfassende<br />

Sozialkontrolle thematisiert, in die uns<br />

die digitale Revolution hineinkatapultiert,<br />

hätte Weber gefallen.<br />

So nüchtern und empirisch Weber<br />

die Durchdringung aller Lebensbereiche<br />

durch das Nützlichkeitsprinzip beschreibt,<br />

so harsche Worte fand er dafür:<br />

„Herrenlose Sklaverei“ nannte er<br />

die Marktmechanismen, die sowohl dem<br />

Arbeitnehmer wie dem Unternehmer lediglich<br />

die zweifelhafte „Freiheit“ ließen,<br />

sich ihnen widerstandslos anzupassen:<br />

„Wer sich entgegenstellt, wird ökonomisch<br />

ebenso unfehlbar eliminiert“, heißt<br />

es in seiner berühmten Schrift „Die protestantische<br />

Ethik und der Geist des Kapitalismus“.<br />

Darin beschwört er eine<br />

Max Weber<br />

gilt als einer der Gründerväter<br />

der Soziologie. Geboren in Erfurt<br />

1864 als Sohn des nationalliberalen<br />

Politikers Max Weber senior<br />

und seiner Frau Helene, wuchs<br />

Weber in Berlin auf und studierte<br />

später Jura, Ökonomie,<br />

Philosophie und Geschichte. Er<br />

lehrte als Professor an den<br />

Universitäten Freiburg und<br />

Heidelberg. Zu seinen wichtigsten<br />

Veröffentlichungen gehören<br />

die 1904 verfasste Schrift „Die<br />

protestantische Ethik und der<br />

Geist des Kapitalismus“ sowie<br />

sein Hauptwerk „Wirtschaft und<br />

Gesellschaft“, das 1922, zwei<br />

Jahre nach seinem Tod, erschien<br />

Zukunft, die „Fachmenschen ohne Geist<br />

und Genussmenschen ohne Herz“ hervorbringt:<br />

„Dies Nichts bildet sich ein,<br />

eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums<br />

erstiegen zu haben.“ Ein kräftiger<br />

Satz, eine Absage an eine dumpf-optimistische<br />

Fortschrittsromantik, heute<br />

am besten passend auf die selbstgerechten<br />

„Do no evil“‐Internetmanager in<br />

Austin, die sich dort einmal mehr in der<br />

selbstverherrlichenden Verheißung gefielen,<br />

unser Leben und die Welt jeden Tag<br />

besser zu machen.<br />

Von dieser kulturkritischen Sicht ist<br />

allerdings in der Weber-Rezeption so gut<br />

wie nichts geblieben. Weber wird verharmlost,<br />

zuallererst von der Wirtschaft,<br />

die ihn gern als bürgerlichen Paradeintellektuellen<br />

zitiert. In den Festansprachen<br />

unserer Wirtschaftsführer taucht<br />

Weber als Stichwortgeber für Fleiß, Verantwortungsbewusstsein<br />

und Disziplin<br />

auf, gerade so, als habe er seine „Protestantische<br />

Ethik“ geschrieben, um die<br />

Menschen zu harter Arbeit und zur Einhaltung<br />

der Betriebsdisziplin anzuhalten.<br />

Gern wird dabei auf die Rationalität<br />

des Marktes verwiesen, die Weber<br />

herausgearbeitet hat, und ihre moralische<br />

Wirkung. Danach sei die „schrankenlose<br />

Erwerbsgier“ gerade kein Wesensmerkmal<br />

der Marktwirtschaft. Im<br />

Gegenteil habe Weber gezeigt, wie der<br />

Kapitalismus die Gier in einem zweckrationalen<br />

Korsett bändigt und das Streben<br />

nach kontinuierlich steigendem Gewinn<br />

als Aufgabe rationaler Unternehmensführung<br />

begreift. Exzesse wie jene der<br />

Bonusbanker seien demnach nur Ausrutscher.<br />

Solange die Politik die richtigen<br />

Rahmenbedingungen schafft, ist die<br />

marktwirtschaftliche Welt in Ordnung.<br />

Das Irrationale dieser Entwicklung,<br />

das Weber ausführlich beschreibt, unterschlagen<br />

unsere Konzernlenker dabei.<br />

Weber hat es bereits an der Quelle<br />

des „Geistes des Kapitalismus“, der calvinistischen<br />

Ethik der Puritaner, ausgemacht:<br />

Als Zeichen dafür, von Gott<br />

auserwählt zu sein, galt ihnen der wirtschaftliche<br />

Erfolg. Fleiß, Kapitalbildung<br />

und Selbstdisziplin wurden so zu ihren<br />

Tugenden. Während überall auf der Welt<br />

die Menschen arbeiteten, um zu leben,<br />

war es bei den Puritanern anders: Sie<br />

lebten, um zu arbeiten. Arbeitsunlust,<br />

101<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KAPITAL<br />

Essay<br />

Genuss, Zeitverschwendung galten dagegen<br />

als Zeichen der Verdammnis. So<br />

entwickelte sich, als unbeabsichtigte Nebenfolge<br />

einer religiösen Weltablehnung,<br />

eine höchst erfolgreiche diesseitige Arbeits-<br />

und Profitmoral, die am Ende, abgelöst<br />

von ihren religiösen Grundlagen,<br />

den American Way of Life hervorbrachte.<br />

Als „schlechthin irrational“ bezeichnete<br />

Weber aber nicht nur den Arbeitseifer,<br />

den die Leistungsasketen in den<br />

Chefetagen heute radikaler denn je vorleben.<br />

Webers zentrale Fragestellung geht<br />

darüber hinaus: Wie kann das Verlangen<br />

nach einem sinnvollen, gelungenen Leben<br />

überhaupt im stahlharten Gehäuse<br />

der Zweckrationalität verwirklicht werden?<br />

Weder der Markt noch die Technik<br />

oder die Wissenschaft können uns sagen,<br />

wie wir leben sollen. Bei Sinnfragen lassen<br />

sie uns im Stich.<br />

Die Wissenschaft hat die einst von<br />

Geistern bevölkerte Welt entzaubert, sie<br />

hat die heiligen Berge und dämonischen<br />

Meere dem kalten Zugriff der betriebswirtschaftlichen<br />

Nutzung geöffnet. Aber<br />

ob Wirtschaftswachstum und Innovation<br />

um ihrer selbst willen noch einen Sinn haben,<br />

müssen wir selbst beantworten. Zu<br />

Webers Zeiten gab es keine Atombomben<br />

und es schwammen keine Müllstrudel<br />

von der Größe Spaniens im Atlantik.<br />

Von einer Überflussgesellschaft, die allein<br />

20 Prozent ihrer Lebensmittel wegwirft,<br />

war man weit entfernt. Dennoch stand<br />

Weber der irrationale Kern der Modernisierung<br />

klar vor Augen. Je technisch<br />

beherrschbarer die Natur und je produktiver<br />

die Wirtschaft auch zu werden<br />

scheinen, eine rationale Welt schaffen wir<br />

so nicht und schon gar keine heile.<br />

WEBER TAUGT DESHALB NICHT zum Vorzeigeintellektuellen<br />

eines Steigerungskapitalismus,<br />

der für ein bisschen Verantwortungsethik<br />

hier und für mehr<br />

Pflichtgefühl und Bescheidenheit dort<br />

plädiert. Weber als Apologet des „ehrbaren<br />

Kaufmanns“, der den Profitmaximierern<br />

von heute ins Gewissen redet –<br />

so bringt man einen großen Denker um<br />

jede kritische Aktualität.<br />

Auch die deutsche Weber-Forschung<br />

verzettelt sich lieber in biederen, rückwärtsgewandten<br />

Debatten. Bis heute<br />

dauert der Streit, ob die „Protestantische<br />

Der Markt, die<br />

Technik und die<br />

Wissenschaft:<br />

Bei Sinnfragen<br />

lassen sie uns<br />

im Stich<br />

Ethik“ genügend Beispiele für calvinistische<br />

Kaufmannskarrieren enthalte und<br />

ob Weber nicht Benjamin Franklin, seinen<br />

Gewährsmann für die radikalisierte<br />

Zeitökonomie („Zeit ist Geld“), falsch zitiert.<br />

Als ob es je ernsthaft bezweifelbar<br />

war, dass protestantische Länder überproportional<br />

wirtschaftlich erfolgreich<br />

waren und dass die „protestantische Arbeitsethik“<br />

substanziell zum Wohlstand<br />

beiträgt. Zuletzt hat der Chicagoer Ökonom<br />

Jörg Spenkuch gezeigt, dass der Zusammenhang<br />

zwischen dem Anteil der<br />

Protestanten in einem Land und dessen<br />

ökonomischem Erfolg heute statistisch<br />

noch klarer zutage tritt als vor 100 Jahren,<br />

zu Webers Zeiten.<br />

Was über dem Fußnoten-Gezänk der<br />

Gelehrten versäumt wird, ist die Auseinandersetzung<br />

über die Aktualität und<br />

Relevanz von Webers Thesen. Diese findet<br />

dafür im Ausland statt. So hat der<br />

französische Soziologe Luc Boltanski<br />

gezeigt, wie die alte Welt der Berufsmenschen,<br />

die von hoher Arbeitsbereitschaft,<br />

aber auch stark von Bestrafungen<br />

bestimmt war, sich in den sechziger<br />

Jahren allmählich verändert hat. Damals<br />

befürchteten die Unternehmen noch den<br />

Untergang der Arbeitsmoral durch Konsum,<br />

Sex und Rock ’n’ Roll. In Wahrheit<br />

war aber die Gegenkultur ihre Rettung:<br />

Boltanski beschreibt, wie Bedürfnisse,<br />

die „direkt der Ideenwelt der 68er entliehen<br />

sind“, die alten Arbeitstugenden<br />

der Pflicht und Treue mit den Idealen<br />

der Autonomie, Flexibilität, Spontaneität<br />

und Kreativität auffrischten. Heute ist<br />

niemand stärker gefährdet, zum Workaholic<br />

zu werden, als die unkonventionellen,<br />

disponiblen, intrinsisch motivierten<br />

Mitarbeiter, die sich mit ihren Projekten<br />

identifizieren und ihren Selbstwert von<br />

der Anerkennung im Beruf ableiten. Sosehr<br />

sich der asketische Sparkapitalismus<br />

von früher in einen spaßmachenden<br />

Schuldenkapitalismus verwandelt hat, so<br />

hartnäckig bleiben wir doch auf die Bedeutung<br />

von Arbeit und Erfolg fixiert.<br />

EINE WEITERE ERGÄNZUNG erfuhr Weber<br />

durch den Amerikaner Colin Campbell.<br />

Weber habe sich zu sehr auf die<br />

„männliche“, kalte Seite des Berufsmenschen<br />

konzentriert und die „weibliche“,<br />

warme und „empfindsame“ Seite des Pietismus<br />

vernachlässigt. Deshalb habe<br />

seine geniale Erzählung über den kapitalistischen<br />

Geist auch eine blinde Stelle:<br />

Wie konnte aus dem „asketischen Protestantismus“<br />

eine moderne Konsumgesellschaft<br />

werden? Campbells Antwort in<br />

seinem Buch „The Romantic Ethic and<br />

the Spirit of Modern Consumerism“ lautet:<br />

durch Gefühlskontrolle. Gerade bei<br />

sensiblen Romantikern durchwandern<br />

die Gefühle mehr Kontrollen, bevor sie<br />

zugelassen werden. Dadurch wird er aber<br />

auch souveräner im Umgang mit den Versuchungen<br />

des Konsums.<br />

Am Aufstieg der Werbung und des<br />

Filmes zeigt auch die israelische Soziologin<br />

Eva Illouz, wie Waren an romantische<br />

Gefühle gebunden und damit konsumierbar<br />

werden. So hat sich in Webers<br />

stahlhartem Gehäuse eine an Konsum<br />

gekoppelte Emotionalität ausgebreitet.<br />

Umgekehrt ist die romantische Liebe<br />

nicht mehr ein Fluchtpunkt aus einer kalten<br />

Welt, sondern die Liebe selbst wird<br />

zunehmend ökonomisiert – man denke<br />

nur an Partnerbörsen im Internet.<br />

Webers „Fachmenschen ohne Geist“<br />

und „Gefühlsmenschen ohne Herz“ sind<br />

aktueller denn je. Wir sollten daher nicht<br />

weiter den Soziologenpapst verehren,<br />

sondern Weber als unbestechlichen Diagnostiker<br />

des Kapitalismus und der Modernisierung<br />

neu entdecken. Denn wenn<br />

wir nicht aufpassen, enden wir alle wie<br />

Mae Holland in „The Circle“.<br />

MAX A. HÖFER leitete<br />

lange das Politikressort von<br />

Capital und war bis 2009<br />

Geschäftsführer der Initiative<br />

Neue Soziale Marktwirtschaft<br />

Foto: Katja Zimmermann<br />

102<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


STIL<br />

„ Wenn der Vater auf<br />

dem Skateboard<br />

steht, was soll der<br />

Sohn dann eigentlich<br />

noch tun, um sich<br />

abzugrenzen? Vielleicht<br />

Krawatte tragen “<br />

Der Produktdesigner Werner Aisslinger in der Rubrik<br />

„Warum ich trage, was ich trage“, Seite 116<br />

103<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

RAUSCH, WOHL DOSIERT<br />

Beate Hindermann erzeugt Stimmungen. Durch das richtige Licht. Oder durch das richtige<br />

Getränk. Wie funktioniert das? Ein Besuch bei der Chefin der Berliner Victoria Bar<br />

Von ALEXANDER GRAU<br />

Foto: Sebastian Hänel für <strong>Cicero</strong><br />

Bars sind Orte des Rückzugs. Zugleich<br />

dienen sie der Kommunikation.<br />

In einer guten Bar ist daher<br />

das Licht wichtig. Es darf die Gäste<br />

nicht ausleuchten; im Dämmerlicht sollen<br />

sie sich aufgehoben fühlen. Aber es<br />

darf auch nicht so düster sein, dass verführerische<br />

Momente unmöglich werden.<br />

Zu den wenigen Lichtquellen, die<br />

den langen, schlauchartigen Barraum<br />

der Berliner Victoria Bar beleuchten,<br />

gehört eine auffällige Tischlampe. Sie<br />

steht gleich vorne, am Anfang des Tresens.<br />

Unter dem roten Schirm rekelt sich<br />

als Lampenständer eine nackte Schönheit,<br />

die sich mit ihrem Rücken an einen<br />

Baumstamm lehnt.<br />

Das Stück, so wird Beate Hindermann<br />

später erzählen, zierte einst ein<br />

Bordell in Soho. Ein Freund brachte es<br />

von New York nach Berlin. Sechs Jahre<br />

lang schmückte die Dame den Tresen<br />

des Green Door, jener legendären Bar,<br />

die Beate Hindermann und Stefan Weber<br />

1995 am Winterfeldtplatz in Berlin-<br />

Schöneberg gegründet hatten. Seit 2001<br />

aalt sich die Schöne nun in der Victoria<br />

Bar.<br />

Beate Hindermann, 49, Deutschlands<br />

bekannteste Barfrau, hat uns einen<br />

Wasserkrug auf den Tisch gestellt,<br />

zwei Gläser und Haferkekse. Ihre blonden<br />

Haare hat sie nach hinten gebunden.<br />

Die markanten Züge ihres Gesichts verstärkt<br />

die schwarze Brille. Ihre Stimme<br />

ist überraschend tief und rau. Unwillkürlich<br />

fantasiert man unzählige Nächte in<br />

verrauchten Bars in sie hinein.<br />

Ursprünglich, erzählt Beate Hindermann,<br />

wollte sie einen anderen Berufsweg<br />

einschlagen. Als die gebürtige<br />

Rheinländerin 1986 nach Berlin kam,<br />

studierte sie Geschichte und Publizistik<br />

an der Freien Universität. Doch mehr als<br />

das Studium faszinierten sie die Stadt<br />

und das Nachtleben: „Besetzte Häuser,<br />

Musik, Kunst, die Clubs. Ich konnte mir<br />

gar nicht vorstellen, dass eine Stadt so<br />

groß sein kann.“<br />

Nachts jobbte die Studentin in einer<br />

Diskothek und durfte erste Cocktails mixen.<br />

Als ihr Chef dann eine Bar übernahm<br />

– die „Weiße Maus“ in Wilmersdorf<br />

–, machte er ihr das Angebot, dort<br />

Barfrau zu werden. „Das war für mich<br />

ein Glücksfall, weil es eine sehr kleine<br />

und sehr schöne Bar war, ich konnte da<br />

frei aufspielen, learning by doing.“<br />

Dass sie sich bald gegen das Studium<br />

und für den Beruf Barfrau entschied, hat<br />

auch mit ihrer Familie zu tun. Sie erzählt:<br />

von den Großeltern, die in Dortmund die<br />

erste Bahnhofsgaststätte nach dem Krieg<br />

hatten, von dem Landgasthaus im Bergischen<br />

Land, in dem sie als Teenager aufwuchs,<br />

vom Spülen des Kaffeegeschirrs<br />

mit der Großmutter, vom Rollschuhlaufen<br />

im Festsaal und wie sie als Zwölfjährige<br />

auf der Kegelbahn bediente. „Ich<br />

wusste, was Gastronomie heißt.“<br />

SIE BERICHTET SCHNÖRKELLOS. Vermutlich<br />

muss man so sein, um hinter einer<br />

Bar zu bestehen. Und um eine Institution<br />

zu werden. Dazu passt auch, dass sie alle<br />

Fragen abblockt, die auf ihre Sonderstellung<br />

als Frau in der deutschen Barlandschaft<br />

abzielen: „Für mich war das immer<br />

selbstverständlich. Ich habe meine Oma<br />

hinter der Theke gesehen, meine Mutter.<br />

Ich habe nie viel darüber nachgedacht.“<br />

Ihre Gestik wirkt resolut. Schwer<br />

vorzustellen, dass sie sich irgendwo<br />

nicht durchsetzen kann. Nur einmal hat<br />

sie eine „Zurückweisung erlebt“, wie<br />

sie es nennt. Das war 1990, nachdem sie<br />

in der Bar am Lützowplatz angefangen<br />

hatte und zunächst nur als Servicekraft<br />

arbeiten durfte. „Als die Personaldecke<br />

aber mal etwas dünner wurde, entsann<br />

man sich dann doch meiner Talente.“ Es<br />

klingt etwas ironisch, aber nicht bitter.<br />

Am Lützowplatz arbeitete sie mit<br />

Stefan Weber zusammen. Mit ihm verwirklichte<br />

sie 1995 ihren Traum von der<br />

eigenen Bar, ihr „Gesellenstück“, wie<br />

es Hindermann bescheiden nennt, denn<br />

das Green Door war ein Mythos, nur zu<br />

klein war der Laden. Als es zu Verwerfungen<br />

im Team kam, beschlossen Hindermann<br />

und Weber von vorne anzufangen,<br />

und gründeten 2001 die Victoria Bar,<br />

das „Meisterstück“, wie sie sagt.<br />

Zwei Jahre später starteten die beiden<br />

die „Schule der Trunkenheit“ – eine<br />

Vortragsreihe, in der sie, begleitet von<br />

passenden Drinks, der Geschichte und<br />

den Geschichten der wichtigsten Spirituosen<br />

nachgehen. Es geht ihr nicht um<br />

Getränke, sondern um Kultur, um Stimmungen,<br />

um die richtige Dosis Rausch.<br />

Bald kam im Auditorium das Bedürfnis<br />

auf, das Gehörte auch nachlesen zu<br />

können. So beschlossen die Dozenten,<br />

aus ihrem Wissen ein Buch zu machen.<br />

„Rezeptbücher gibt es viele“, sagt Hindermann,<br />

„aber ein Buch, das zeigt, dass<br />

hinter jeder Flasche, hinter jedem Drink<br />

ein Stück Kulturgeschichte steht, das die<br />

Welt der Bars so reich macht, das gab es<br />

bisher in Deutschland so noch nicht.“<br />

Beate Hindermann hat uns zwei Gin<br />

and Tonic eingeschenkt: „Unterschiedliche<br />

Spirituosen erzeugen unterschiedliche<br />

Räusche. Den Ginrausch bezeichnen<br />

wir immer als einen gesellschaftlich visionären<br />

Rausch.“ Vielleicht ist deshalb<br />

Gin auch ihre Lieblingsspirituose. Gin<br />

sei allerdings eher was für den Sommer.<br />

„Dagegen begleitet einen Champagner<br />

gut durchs ganze Jahr.“<br />

ALEXANDER GRAU schätzt gute Bars.<br />

Der freie Journalist schreibt regelmäßig<br />

auf <strong>Cicero</strong> Online über Stilthemen<br />

105<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

MR. WUNDERKIND<br />

Ronan Farrow ist Menschenrechtler, Gelehrter, Diplomat und nun auch TV-Moderator.<br />

Seine Mutter ist Mia Farrow, sein Vater Woody Allen. Oder doch Sinatra?<br />

Von CLAUDIA STEINBERG<br />

Bei kaum einem ist 26 ein so auffallend<br />

junges Alter wie bei Ronan<br />

Farrow: Der Sohn von Mia Farrow<br />

und Woody Allen hat längst so viel erlebt<br />

und erreicht, dass sein Lebenslauf<br />

nicht auf eine und auch nicht auf zwei<br />

Seiten passt.<br />

Seine Hollywood-Herkunft, sein<br />

Filmstarflair und seine Zeitrafferbiografie<br />

– zwei abgeschlossene Studien, zwei<br />

Jahre im diplomatischen Dienst, das renommierte<br />

Rhodes-Stipendium – machten<br />

ihn in den Augen des liberalen Kabelsenders<br />

MSNBC zum idealen Kandidaten<br />

für eine eigene Show.<br />

Denn die intensiv umworbene Zielgruppe<br />

der 18- bis 24-Jährigen zieht dem<br />

Fernsehen längst das Internet vor, mit<br />

seinen Bürgerreportern und Blogs. Das<br />

alternde Medium braucht dringend eine<br />

Injektion jugendlicher Energie, die sich<br />

mit den Konventionen der Berichterstattung<br />

allerdings einigermaßen vertragen<br />

muss. Und wer aus der Generation Y hat<br />

schon den Arabischen Frühling mit eigenen<br />

Augen verfolgt, wer war mit dem<br />

US-Sondergesandten Richard Holbrooke<br />

in Afghanistan und Pakistan?<br />

So steht das politische Wunderkind<br />

nun jeden Mittag um eins im Studio und<br />

unterhält sich souverän mit Politikern<br />

und Kommentatoren über die Machenschaften<br />

der CIA, über das „Bridgegate“-<br />

Debakel des Gouverneurs von New Jersey,<br />

über die jüngsten Flüchtlinge des<br />

Assad-Regimes in Lagern im Bekaa-Tal.<br />

Die Reportagen der „Ronan Farrow<br />

Daily“ Show sind locker aus der<br />

Hand gedreht und schnell geschnitten.<br />

Der blonde Prinz der New Yorker Upper<br />

East Side wandelt wie selbstverständlich<br />

durch einen Slum in Nairobi, ganz<br />

offenbar in seinem Element: Schon mit<br />

zehn begleitete er seine Mutter Mia nach<br />

Südafrika, wo ihnen Nelson Mandela in<br />

einer Privataudienz seine Position zum<br />

friedlichen Widerstand darlegte. Im selben<br />

Jahr nahm der Filmstar Mia, damals<br />

bereits Unicef-Botschafterin und Menschenrechtlerin,<br />

Ronan mit nach Darfur.<br />

Seine Leidenschaft für die Diplomatie<br />

entwickelte Ronan Farrow zu Hause,<br />

wo er mit drei leiblichen und acht adoptierten<br />

Geschwistern aus aller Welt sowie<br />

einer Menagerie von Katzen, Vögeln<br />

und Chinchillas aufwuchs. Ronans<br />

Schwester Quincy kam als Tochter einer<br />

drogenabhängigen Mutter zur Welt, sein<br />

Bruder Moses leidet unter einer Zerebralparese,<br />

Minh aus Vietnam ist blind. Sein<br />

Vater Woody Allen, der im Manhattan<br />

von Ronans Kindheit wie ein Gott verehrt<br />

wurde, wohnte allein auf der anderen<br />

Seite des Central Park.<br />

IHREM ÜBERFLIEGER RONAN, der im<br />

Grundschulalter Kafkas „Verwandlung“<br />

verschlang, sich mit elf am Bard College<br />

in Massachusetts immatrikulierte und<br />

mit 16 sein Jurastudium an der Yale University<br />

begann, legte Mia immer wieder<br />

ans Herz, ein normales Leben zu führen.<br />

Normalität fand Ronan jedoch nur in der<br />

Ferne, unter Jugendlichen in Jordanien,<br />

Algerien oder Israel zum Beispiel.<br />

Dort wusste niemand von seiner<br />

berühmten Großmutter Maureen<br />

O’Sullivan, die sich als hilfsbedürftige<br />

Jane in die Arme von Tarzan geflüchtet<br />

hatte, von seiner Tante Prudence Farrow,<br />

der die Beatles einen Song widmeten,<br />

oder gar von seiner Mutter, die<br />

13 Filme mit ihrem Gefährten Woody<br />

drehte, ehe sie Nacktfotos ihrer Adoptivtochter<br />

Soon-Yi auf seinem Kaminsims<br />

entdeckte, woraufhin ein bitterer<br />

und vom Boulevard lustvoll begleiteter<br />

Trennungskrieg begann.<br />

Anfang der neunziger Jahre gab es<br />

wohl keine glamourösere und zugleich<br />

skandalösere Familie als die von Ronan<br />

Farrow. Am selben Tag, als die „Ronan<br />

Farrow Daily“-Show angekündigt wird,<br />

erscheint ein Porträt seiner Mutter in Vanity<br />

Fair. Ein wenig kokett lässt sie darin<br />

durchblicken, dass ihr kurzfristiger<br />

Ehemann und langjähriger guter Freund<br />

Frank Sinatra „möglicherweise“ Ronans<br />

leiblicher Vater sein könnte – und in der<br />

Tat, seine Ähnlichkeit zu „Old Blue Eyes“<br />

ist unverkennbar. „Wir sind ‚möglicherweise‘<br />

alle Kinder von Frank Sinatra“,<br />

verkündet Farrow mit typischer Gelassenheit<br />

auf Twitter, die Botschaft wird<br />

zehntausendmal weitergeleitet.<br />

Kurz darauf beschuldigt seine<br />

Schwester Dylan ihren Adoptivvater<br />

Woody Allen, der gerade für sein Lebenswerk<br />

mit dem Golden Globe ausgezeichnet<br />

wurde, in einem offenen Brief an die<br />

New York Times öffentlich des sexuellen<br />

Missbrauchs, wogegen sich dieser mit einer<br />

Gegendarstellung wehrt.<br />

Das Familiendrama flackert wieder<br />

auf, Ronan Farrow ist omnipräsent,<br />

in Talkshows, in den Klatschkolumnen.<br />

Drei Tage nach seinem Debüt als TV-Moderator<br />

erhält er den Walter-Cronkite-<br />

Preis für herausragende Berichterstattung.<br />

Die LA Times hat ihm noch einen<br />

weiteren Ehrentitel zugedacht – jenen des<br />

„Public Intellectual“. Seit Susan Sontags<br />

Tod ist die Rolle in der amerikanischen<br />

Öffentlichkeit vakant. Doch vielleicht<br />

verschafft sein in Kürze erscheinendes<br />

Buch „Die Büchse der Pandora“ über die<br />

Anstachelung islamistischer Terrorgruppen<br />

durch fehlgeleitete amerikanische<br />

Strategien Farrow endgültig das Recht<br />

auf den Thron. Er wäre mal wieder mit<br />

Abstand der Jüngste.<br />

CLAUDIA STEINBERG berichtet aus New<br />

York für deutsche Magazine. Sie lebt dort<br />

schon länger, als Ronan Farrow alt ist<br />

Foto: Mark Mann /AUGUST<br />

106<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


STIL<br />

Phänomenologie<br />

108<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


KLEID<br />

DER<br />

MACHT<br />

Soldaten, Stewardessen und<br />

Karrieristen: Uniformen<br />

prägen unseren Alltag, mal<br />

mehr, mal weniger subtil. Was<br />

drücken die Uniformierten<br />

durch ihre Kluft aus?<br />

Von ANNE WAAK<br />

Mitte der Sechziger wurde es<br />

bunt in der Luft: Diese Uniform<br />

entwarf der italienische Designer<br />

Emilio Pucci für die Stewardessen<br />

der texanischen Fluggesellschaft<br />

Braniff International. Es war die<br />

große Zeit der Raumfahrt, daher<br />

die merkwürdigen Helme<br />

Sie hat nicht den besten Ruf. In einer pluralistischen<br />

Postmoderne gilt die Uniform<br />

als Merkmal von Vereinheitlichung, Vermassung<br />

und Identitätslosigkeit. Soldaten<br />

tragen sie, Häftlinge, Sektenmitglieder:<br />

alle, die – freiwillig oder nicht – Freiheiten abgegeben<br />

haben.<br />

Die Uniform, deren Zweck es ist, nach außen Zugehörigkeit<br />

zu vermitteln und nach innen Korpsgeist,<br />

scheint unvereinbar mit der Mode, die Individualität<br />

und Selbstausdruck verheißt.<br />

Und doch fasziniert sie die Designer: So zeigte das<br />

Modelabel Hugo Boss im Februar während der New<br />

York Fashion Week schwarze und beige Mäntel mit Ledergürteln<br />

und Schulterklappen. Der neue Boss-Chefdesigner<br />

Jason Wu hatte damit sicher nicht vor, an die<br />

dreißiger Jahre zu erinnern, als Boss die Uniformen<br />

für die Angehörigen der Wehrmacht, der SS und sogar<br />

der Hitler-Jugend produzierte. Vielmehr steht die<br />

Militäruniform für Strenge, Disziplin und durch ihren<br />

speziellen Minimalismus auch für Eleganz – Attribute,<br />

die Wu als typisch für die deutsche Marke erachtet.<br />

Auf den ersten Blick ist der sogenannte Military-<br />

Stil ein Unisex-Look – einer, der Geschlechtsunterschiede<br />

einebnet. Doch wenn Victoria Beckham ein<br />

tarngrünes Kleid mit Gürtel und Brustplatten über den<br />

Laufsteg schickt, überträgt sie diese männlich-militärischen<br />

Elemente auf die Frauenmode, die trotz Hochgeschlossenheit<br />

und Überknielänge sexy wird.


STIL<br />

Phänomenologie<br />

Wie die Modetheoretikerin Barbara Vinken unlängst<br />

darlegte, leisten es sich Frauen, die ihren Mann<br />

stehen, inzwischen, sich ganz als Frau anzuziehen.<br />

Und tragen im Beruf eben keinen Hosenanzug und<br />

kein Kostüm mehr, sondern das Allerweiblichste überhaupt:<br />

ein Kleid. Damit reklamieren sie für sich das<br />

Recht, weiblich aussehen zu dürfen, ohne ihre Autorität<br />

zu gefährden. Um als Businesskleidung geeignet zu<br />

sein, muss ein Kleid aber mit Macht aufgeladen werden.<br />

Das leisten die der Uniform entliehenen Versatzstücke.<br />

Reverenz an die Uniform:<br />

ein Kleid aus der Kollektion<br />

von Victoria Beckham ( 2012 )<br />

Ugandas Diktator Idi Amin<br />

( 1925-2003 ) ließ seine<br />

Uniformen angeblich extra<br />

verlängern, damit alle Orden<br />

Platz haben<br />

So sah 1930 die Kluft der<br />

ersten Stewardessen auf der<br />

Strecke San Francisco –<br />

Chicago aus<br />

FRÜHFORMEN DER UNIFORM gab es bereits in der römischen<br />

Legion. Um Tausende Soldaten auszustatten,<br />

war es günstiger, auf einheitliche Kleidung zurückzugreifen.<br />

Mit dem Untergang des Römischen Reiches<br />

geriet die Uniform zunächst in Vergessenheit. Später<br />

sollte das Militär sogar entscheidenden Einfluss auf die<br />

serielle Produktion von Konfektionskleidung haben.<br />

So war es Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der Anfang<br />

des 18. Jahrhunderts die Soldaten seines stehenden<br />

Berufsheers vermessen und einkleiden ließ und<br />

so den Weg für standardisierte Kleidergrößen ebnete.<br />

Vor 200 Jahren wurde in Preußen sogar der aus<br />

heutiger Sicht amüsante bis beängstigende Versuch unternommen,<br />

ein einheitliches Nationalkostüm durchzusetzen.<br />

In der Bevölkerung herrschten aufgrund<br />

der Vormachtstellung des napoleonischen Frankreichs<br />

eine diffuse Unzufriedenheit und das Gefühl, identitätslos<br />

zu sein. Nachdem sich Napoleon in der Völkerschlacht<br />

bei Leipzig geschlagen geben musste, erwachte<br />

1813 ein neues deutsches Nationalbewusstsein.<br />

In der Folge sollte nicht nur die Sprache von fremdländischen,<br />

sprich französischen Einflüssen gesäubert,<br />

auch die Erscheinung sollte „deutsch“ werden.<br />

Sogar Modezeitschriften wurden gemahnt, zur Popularisierung<br />

der Einheitskleidung beizutragen. Dabei<br />

war beiden Seiten bewusst, dass Publikationen wie das<br />

Journal des Luxus und der Moden oder die Allgemeine<br />

Moden-Zeitung damit an ihrer eigenen Abschaffung<br />

arbeiteten. Denn wo eine Volksuniform, da keine Modeindustrie<br />

und keine Magazine. Aber die Gazetten erwiesen<br />

sich als langlebiger als die Idee von der Volkstracht.<br />

Denn die war mit den Ergebnissen des Wiener<br />

Kongresses schon ein Jahr später wieder gestorben.<br />

Eine militärische Uniform signalisiert Macht. Wer<br />

sie trägt, vermittelt Autorität, Professionalität und Sicherheit.<br />

Als sich in den neunziger Jahren die Zahl<br />

der Zwischenfälle mit gewalttätigen Passagieren im<br />

internationalen Flugverkehr mehr als verdreifachte,<br />

statteten viele Fluggesellschaften die Uniformen ihrer<br />

Stewardessen mit goldenen Ärmelstreifen aus. Denn<br />

militärisch-uniformierende Elemente haben sich als<br />

hilfreich erwiesen, um gegenüber potenziellen Gegnern,<br />

von betrunkenen Geschäftsfrauen bis hin zu Fanatikern,<br />

Macht zu demonstrieren. Aus dem gleichen<br />

Grund sind Piloten bis heute zum Tragen einer Mütze<br />

verpflichtet. Wer den Hut aufhat, sagt, wo es langgeht.<br />

Fotos: Bettmann/Corbis (Seiten 108 bis 109), Karl Prouse/Catwalking/Getty Images, DDP Images/Camera Press, IMAGO<br />

110<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Doch wie kam der Hut überhaupt in die Luftfahrt?<br />

Um den Leuten am Anfang des 20. Jahrhunderts die<br />

Angst vor dem Fliegen zu nehmen, griff man auf das<br />

zurück, was sich in der Schifffahrt bewährt hatte: Das<br />

Flugzeug nannte man Luftschiff, der diensthabende Pilot<br />

hieß Kapitän, und wie dieser trug er mit einer marineblauen<br />

Uniform militärische Dienstkleidung. Als die<br />

Lufthansa 1928 zwei Jahre nach ihrer Gründung den<br />

Bordservice einführte, war dafür zunächst ein Schiffssteward<br />

zuständig, dessen Bodenuniform ebenfalls aus<br />

einem dunkelblauen Dienstanzug mit einreihigem Jackett<br />

bestand, das an Bord durch eine weiße Servierjacke<br />

ersetzt wurde.<br />

Als man in den USA damit begann, Frauen mit<br />

dem Dienst im Flugzeug zu betrauen, engagierte man<br />

ausgebildete Krankenschwestern, die während des<br />

Dienstes ihre weiße Schwesterntracht trugen. Schnell<br />

merkten die Verantwortlichen der Fluggesellschaften,<br />

dass die Kittel den Fokus zu sehr auf die Risiken des<br />

Fliegens lenkten.<br />

Die erste genuine Stewardessen-Uniform, die Boeing<br />

Air Transport 1930 einführte, bestand aus einem<br />

dunkelgrünen Kostüm mit zweireihiger Jacke und zwei<br />

Fliegernadeln am Revers, knielangem Faltenrock und<br />

weicher Kappe. Mit freundlichem Lächeln und ansprechendem<br />

Äußeren sollten die Damen die überwiegend<br />

männlichen Fluggäste die Gefahren des Fliegens vergessen<br />

lassen.<br />

Richtig modisch wurde die Stewardess erst Mitte<br />

der Sechziger, als die texanische Fluggesellschaft Braniff<br />

International den italienischen Modedesigner Emilio<br />

Pucci engagierte, auf dass er die Uniformen zeitgemäß<br />

machte. Das hieß: pinke Kostüme mit Miniröcken,<br />

grüne Stiefeletten und durchsichtige Plastikhelme – es<br />

war die große Zeit der Raumfahrt. Das Ganze war<br />

so erfolgreich, dass andere nachzogen: TWA beauftragte<br />

Pierre Balmain, Scandinavian Airlines den jungen<br />

Christian Dior.<br />

Mit der Hinwendung zu jugendlich-modischen<br />

Outfits erlitten die Stewardessen allerdings einen Autoritätsverlust,<br />

der sie anfälliger für männliche Übergriffe<br />

machte. Erst Ralph Lauren kehrte 1978 unter<br />

dem Eindruck der Emanzipation, aber auch der Ölkrise<br />

Mit der Hinwendung zu<br />

jugendlich-modischen<br />

Outfits erlitten die<br />

Stewardessen einen<br />

Autoritätsverlust<br />

und erster Terroranschläge zurück zu einem Stil, der<br />

„der Uniform wieder einen Hauch von ‚Uniform‘“ verlieh,<br />

wie es in einer Presseerklärung von TWA hieß.<br />

Laut dem britisch-schweizerischen Philosophen<br />

Alain de Botton liegt der erotische Appeal der Uniform<br />

in der Diskrepanz zwischen der rationalen Kontrolle<br />

begründet, die Uniformen symbolisieren, und<br />

der ungezügelten sexuellen Leidenschaft, die dabei<br />

zeitweise die Oberhand gewinnen kann. Und sei es in<br />

der Fantasie. Denn im täglichen Leben begegnen uns<br />

Uniformträger meist mit geschäftsmäßiger Indifferenz.<br />

„In unseren Sex-Spielchen aber können wir das Drehbuch<br />

umschreiben“, schreibt de Botton in seinem Essay<br />

„How To Think More About Sex“. „Die Krankenschwester<br />

will so dringend mit uns schlafen, dass sie<br />

vergisst, die Blutprobe zu nehmen; der Kapitalist lässt<br />

einmal alle Erwägungen in Sachen Geld beiseite und<br />

fegt seinen Computer vom Schreibtisch, um uns leidenschaftlich<br />

zu küssen. Intimität gewinnt, zumindest<br />

symbolisch, über Status und Verantwortung.“<br />

DER BEANTWORTUNG DER FRAGE, warum sich die<br />

Militärkluft bei Diktatoren so großer Beliebtheit erfreut,<br />

widmet sich der britische Autor Pete York in seinem<br />

Buch „Dictator Style: Lifestyles of the World’s<br />

Most Colorful Despots“. Indem Männer wie Idi Amin,<br />

Muammar al‐Gaddafi und Robert Mugabe fast schon<br />

flamboyant überdekorierte Uniformen tragen, zeigen<br />

sie, wie wenig sie sich um gängige Regeln kümmern<br />

– weder die der Mode noch die des internationalen<br />

Rechts. Amin ließ angeblich sogar seine Uniform<br />

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STIL<br />

Phänomenologie<br />

Der Business-Anzug ist<br />

heute selbst eine Uniform<br />

geworden, nur durch die<br />

Wahl der Krawattenfarbe<br />

individualisiert<br />

Michael Jackson 1993<br />

während seiner<br />

„Dangerous“-Tour. Viele<br />

Kostüme des „King of Pop“<br />

spielten mit Elementen der<br />

Uniform<br />

Sie genießt höchstes<br />

Ansehen unter Modefachleuten:<br />

die Jacke von<br />

Balmain aus der Sommerkollektion<br />

2009<br />

verlängern, um genug Platz für all seine selbst verliehenen<br />

Orden zu haben.<br />

Demokratische Politiker hingegen signalisieren<br />

mit ihrer möglichst unauffälligen Kleidung, dass ihnen<br />

weniger an der eigenen Eitelkeit gelegen ist als an<br />

den Interessen derer, die sie repräsentieren. Womit wir<br />

bei denen wären, denen wir unser Geld anvertrauen<br />

sollen: den Bankern. Als ungeschriebene Regel gilt hier<br />

bei Männern allein der dunkle Anzug als angemessene<br />

Arbeitskleidung, die Garderobe der Frauen orientiert<br />

sich weitgehend daran. Als eine Erfindung des ausgehenden<br />

18. Jahrhunderts beruht die Seriosität des Anzugs<br />

auf den bürgerlichen Idealen der Zurückhaltung<br />

und Mäßigung, des Puritanismus und Protestantismus.<br />

Denn bis zur Französischen Revolution demonstrierten<br />

beide Geschlechter ihren Reichtum in prächtigen<br />

und farbenfrohen Kleidern. Ausnahme war lediglich<br />

die Sportbekleidung des englischen Landadels, die aus<br />

einem wollenen Reitanzug bestand.<br />

NACHDEM DER ADEL mit all seinem nutzlosen Luxus<br />

in Verruf geraten war, teilte sich die Welt. Und zwar<br />

in den unvernünftigen Teil, den allein die Frau weiter<br />

bewohnen durfte, und den vernünftigen, den der<br />

Mann beherrschte. Und der trug mattes Tuch, einfarbig,<br />

schlicht geschnitten. Der Begriff „Anzug“ hatte bis dahin<br />

die als Einheit getragene Kleidung wie die beim<br />

Militär bezeichnet. Nun stand sie für die Kombination<br />

von langer Hose, Jackett und Weste. Der Business-Anzug<br />

ist heute selbst eine Uniform geworden, die nur<br />

durch die Wahl der Krawattenfarbe individualisiert<br />

und höchstens am Casual Friday abgelegt werden darf.<br />

1996 führte die Deutsche Bank versuchsweise sogenannte<br />

Bankingshops ein. Dabei handelte es sich<br />

um räumlich sehr offene Filialen, aus denen die Bankangestellten<br />

auch heraustreten mussten, um auf der<br />

Straße Neukunden zu werben. Das machte die Einführung<br />

noch einheitlicherer Kleidung notwendig – dunkelblaue<br />

Anzüge und Kostüme mit blau-weiß gestreiften<br />

Hemden oder Blusen.<br />

Man spielte sogar mit dem Gedanken, die Uniform<br />

deutschlandweit in allen Filialen durchzusetzen. Der<br />

Betriebsrat jedoch wehrte sich gegen die „Corporate<br />

Fashion“. In dem gleichnamigen Buch der Kulturanthropologin<br />

Regina Henkel, das sich der Erforschung<br />

von Unternehmensuniformen widmet, wird ein Banker<br />

zitiert. Noch in der Rückschau zeigt er sich fassungslos<br />

angesichts der Idee einer einheitlichen Bekleidung:<br />

„Grauenhaft. Was hat man denn noch für Freiheiten<br />

hier im Job?“ Es scheint, als habe die Uniform selbst<br />

unter Uniformierten ein echtes Imageproblem.<br />

ANNE WAAK schreibt am liebsten über Mode<br />

und Pop. Sie lebt in Berlin und braucht als<br />

freie Autorin keine Uniform<br />

Fotos: Havakuk Levison/Reuters/Corbis, DDP Images/Camera Press, Privat (Autorin)<br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


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114<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


STIL<br />

Betrachtung<br />

VOM DRACHEN, DER<br />

GLÜCK BRACHTE<br />

Von DANIEL HAAS<br />

Illustration MARTIN HAAKE<br />

Unser Autor dachte, dass<br />

ihn eine Erbschaft zum<br />

Millionär macht. Daraus<br />

wurde nichts. Reicher<br />

wurde er trotzdem<br />

Mein Stiefvater ging, wie fast jeden<br />

Morgen, in den örtlichen<br />

Supermarkt, Abteilung Obst<br />

und Gemüse. Dort griff er sich eine Kiwi,<br />

sagte, die ist perfekt, und krachte der<br />

Länge nach auf den Boden. Herzinfarkt.<br />

Der Arzt meinte, er hat nichts gespürt.<br />

Genauso schnell, wie es dauert, einen<br />

Notarzt zu rufen, haben die Hinterbliebenen<br />

ans Erben gedacht: Jetzt gibt’s<br />

Geld. Schließlich war mein Stiefvater selber<br />

einst ein reicher Erbe. Seine Familie<br />

besaß lange ein Chemieunternehmen,<br />

das Klebstoffe herstellte und Mitte der<br />

achtziger Jahre verkauft wurde. Seitdem<br />

war er Privatier und Sammler chinesischer<br />

Kunst. Und hatte er nicht immer<br />

diese Mao-Anzüge getragen? Joppe und<br />

passende Hose, als wollte er sagen: Wer’s<br />

so dicke hat wie ich, darf sich der besitzbürgerlichen<br />

Welt ruhig in der Montur<br />

kommunistischer Kader zumuten.<br />

So habe auch ich mich finanzpornografischen<br />

Fantasien hingegeben: Es<br />

machte Klick und ich residierte in Townhouses<br />

in London und Berlin, mit Interieurs,<br />

edler als im Architectural Digest.<br />

Meine Tochter würde Lacrosse spielen<br />

und später im englischen Internat Kontakte<br />

für eine politische Karriere knüpfen,<br />

während wir, die Eltern, unsere<br />

kleine, aber feine Kollektion zeitgenössischer<br />

Fotokunst aufbauen.<br />

254 Milliarden Euro wurden 2013<br />

vererbt, laut Studien des Deutschen Instituts<br />

für Altersvorsorge werden in den<br />

nächsten sechs Jahren weitere 2,6 Billionen<br />

den Besitzer wechseln. Ich wiegte<br />

mich in Sicherheit: Ein paar Milliönchen<br />

davon würden auf mich entfallen. Dann<br />

kam die Testamentsvollstreckung. Und<br />

die Überraschung.<br />

Die angeblich Geldberge verwaltende<br />

Stiftung war pleite. Zahlreiche Immobilien<br />

hatte mein Stiefvater unter der<br />

Hand und heimlich verkauft. Die Kunstsammlung<br />

hatte sich zerstreut.<br />

Es gab nur: eine Villa mit monströs<br />

hoher Hypothek, die über keinen Seeblick<br />

verfügte, an einem Ort, an dem der<br />

Seeblick das einzig Aufregende und Abwechslungsreiche<br />

ist. In den Worten des<br />

Maklers: „Das ist ein Problem.“ Des Weiteren:<br />

eine Kollektion antiker Spazierstöcke,<br />

deren Sinn sich mir vermutlich<br />

niemals erschließen wird, denn mein<br />

Stiefvater ging nicht spazieren, sondern<br />

fuhr ausschließlich Fahrrad. Fünf Hermès-Krawatten,<br />

die leider zu breit sind,<br />

um sie zu einem Anzug zu tragen, es<br />

sei denn, man wäre Schlagersänger und<br />

träte in Siebziger-Jahre-Revival-Shows<br />

auf. Einen kleinen Drachen aus Porzellan<br />

und zwei Keramik-Pferde, die im<br />

19. Jahrhundert mal den First eines Tempels<br />

in Peking bewacht haben sollen und<br />

die nun auf dem Fensterbrett einer Wohnung<br />

im Berliner Prenzlauer Berg stehen<br />

und den Rest der Ikea-Einrichtung noch<br />

dürftiger aussehen lassen.<br />

254 MILLIARDEN EURO? Mein Geld war<br />

nicht dabei. Im Märchen sind die Stiefkinder<br />

immer die Guten, die am Ende<br />

den ganz großen Reibach machen. Ich<br />

nun kam mir vor wie der mieseste Typ<br />

der Welt, der zu seiner moralischen Verkommenheit<br />

– Gier, Neid, Groll – auch<br />

noch leer ausgehen wird.<br />

Das Gute an der Lage: Sie war schnell<br />

geklärt. Meine Ansprüche waren rechtlich<br />

gesehen bescheiden bis nichtig. Um<br />

ein überschuldetes Haus wollte ich mich<br />

nicht balgen, und natürlich standen die<br />

Antiquitäten und der Familienschmuck<br />

den leiblichen Kindern zu. Die Sache war<br />

klar: Es würde keine Ressourcen geben,<br />

sondern nur ein paar Talismane.<br />

Genau das hatte eine Bekannte über<br />

den Keramikdrachen gesagt, der auf dem<br />

Küchenregal gelandet war: „Das ist aber<br />

ein schöner Talisman!“<br />

Es machte noch einmal Klick, nur<br />

dass ich diesmal nicht dachte, Mensch,<br />

du wirst vermögend sein, sondern: Mann,<br />

du hast vielleicht Glück gehabt.<br />

Du hast diesen wunderbaren Mann<br />

kennengelernt, mit dem du über Kunst,<br />

Politik und die Qualitäten eines guten<br />

Obstsalats spekulieren konntest (Kiwis<br />

sind unverzichtbar). Du hattest einen<br />

väterlichen Freund, der deinen Blick geschärft<br />

hat für die Ironie und Eleganz<br />

der chinesischen Aquarellmalerei, für<br />

die handwerkliche Genialität der asiatischen<br />

Keramik, ihr herrliches Design.<br />

Und wenn du jetzt morgens aufwachst,<br />

tauchen die beiden Pferde auf wie dienstfertige<br />

Geister, die schon in den Tag vorauseilen,<br />

um nach dem Rechten zu sehen.<br />

Talisman. Genau das war dieses Erbe. Ein<br />

einziger kostbarer Talisman.<br />

Die Dinge, die wir an unsere Kinder<br />

weitergeben, sollten Glücksbringer sein.<br />

Immaterielle, und wenn es sich machen<br />

lässt, dürfen auch ein paar materielle darunter<br />

sein. Der Keramikdrache vertritt<br />

mich in Berlin, weil ich aufgrund eines<br />

neuen Jobs viel in Hamburg bin. Seine<br />

Schnauze ist abgeplatzt, man könnte ihn<br />

nicht zu Geld machen. Nicht nur deshalb<br />

wird er bei uns bleiben. Unsere Tochter<br />

ist zwar noch zu klein, um seine Bedeutung<br />

zu begreifen. Aber als wir den Drachen<br />

ins Schlafzimmer verpflanzen wollten,<br />

hat sie protestiert. Er ist Teil ihres<br />

Alltags geworden. Ein Erbe zu Lebzeiten.<br />

DANIEL HAAS ist Redakteur im neuen<br />

Hamburg-Ressort der Zeit. Einmal pro<br />

Woche stellt er sein Erbe zur Schau und<br />

legt eine alte Hermès-Krawatte an<br />

115<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


STIL<br />

Kleiderordnung<br />

Foto: Thomas Kierok für <strong>Cicero</strong><br />

WERNER AISSLINGER<br />

Wenn ich ehrlich bin, habe ich<br />

gar keine große Lust mehr auf<br />

Mode. Nicht, weil sie mir nicht<br />

wichtig wäre, aber mittlerweile bin ich<br />

einfach angekommen bei meinem persönlichen<br />

Wohlfühlstandard. That’s it.<br />

Ich kleide mich unaufgeregt. Praktisch,<br />

aber bewusst. Meistens trage ich Jeans<br />

und ein schlichtes Hemd dazu, das dann<br />

in 20-facher Ausführung in meinem Kleiderschrank<br />

hängt.<br />

In meiner Welt muss ich nicht repräsentieren.<br />

Aber man muss natürlich aufpassen,<br />

nicht in die Sparte des Berufsjugendlichen<br />

abzurutschen. Ich möchte<br />

unbedingt vermeiden, dass ich mit meinen<br />

Kindern irgendwann die Schuhe<br />

tausche. Klar, man kann es sich als Kreativer<br />

natürlich leisten, der ewige Turnschuhtyp<br />

zu sein. Das kann aber auch<br />

sehr schnell peinlich werden. Vielleicht<br />

ist das auch das Problem unserer jetzigen<br />

Generation: Wenn der Vater auf dem<br />

Skateboard steht, was soll der Sohn dann<br />

eigentlich noch tun, um sich abzugrenzen?<br />

Vielleicht Krawatte tragen.<br />

Als ich aufwuchs, kleideten sich Erwachsene<br />

sehr erwachsen. Mein Vater<br />

sah immer so formell aus, mit Anzug,<br />

wie alle anderen Väter auch. Im Kreativbereich<br />

gibt es aber keine Etikette, der<br />

man folgen muss. Und ich will mich auch<br />

nicht unterordnen. Ich will mich wohlfühlen.<br />

Darum geht es. Schuhe bedeuten<br />

für mich in diesem Zusammenhang<br />

Lebensgefühl. Irgendwie fühlt man sich<br />

vom Körper aufwärts. Zumindest ist das<br />

bei mir so. Der Schuh macht den Tag.<br />

Als Designer suche ich in Objekten<br />

nach dem Wesentlichen, dem Archetypischen.<br />

Schließlich will man nicht irgendeinen<br />

Stuhl machen. Man will den Stuhl<br />

machen. Einen Klassiker. Wie die Jeans.<br />

Werner Aisslinger, 50, ist<br />

Deutschlands innovativster<br />

Produktdesigner. Seine Arbeiten<br />

finden sich unter anderem im<br />

Museum of Modern Art in New<br />

York; zuletzt gestaltete er das<br />

Hotel im Berliner Bikini-Haus<br />

Es gibt nicht viele Objekte, die auf dem<br />

heutigen Markt eine lange Lebensdauer<br />

haben. Das meiste wird schnell wieder<br />

ersetzt. Design ist nicht so schnelllebig<br />

wie Mode, aber der Trend geht in dieselbe<br />

Richtung. Der Druck, neue Produkte<br />

auf den Markt zu bringen, wird<br />

zunehmend größer. Die Erwartungshaltung<br />

von außen steigt. Man muss ständig<br />

etwas Neues bringen.<br />

Dabei kommt dann der Stil abhanden.<br />

Früher war das anders. Da gab es<br />

eine Idee vom Lebensraum. Diese Lebensräume<br />

gestalteten sich monochromer<br />

als heute. Man lebte in richtigen<br />

Stilwelten, im Bauhaus- oder im Landhausstil,<br />

ganz gleich. Aber alles war aus<br />

einem Guss. Heute gibt es nur noch Collagen.<br />

Wir umgeben uns mit Objekten,<br />

die von überall her kommen, mit Erbstücken,<br />

Vintage oder Flohmarktartikeln.<br />

Das Prinzip Patchwork dominiert uns.<br />

Das Leben ist Collage. Und auch ich mache<br />

Dinge, die sich einfügen in diese Collage.<br />

Einfügen, aber nicht unterordnen.<br />

Aufgezeichnet von SARAH-MARIA DECKERT<br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

„ Mich hat alles,<br />

was zu viel war,<br />

vom Wesentlichen<br />

abgelenkt “<br />

Die Sängerin Dillon über ihre Kunst der musikalischen Reduktion, Seite 118<br />

117<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

IMMER NUR 100 PROZENT<br />

Die deutsch-brasilianische Sängerin Dillon treibt mit ihrem zweiten Album die Kunst der<br />

Reduktion voran. Sie sucht das Glück und das Gleichgewicht jenseits aller Melancholie<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

Wäre das Universum anders<br />

geordnet, wenn sein Soundtrack<br />

von Dillon stammte?<br />

Die Frage steht unter dem Video zu Dillons<br />

Lied „Thirteen – Thirtyfive“, das bei<br />

Youtube bisher rund neun Millionen Mal<br />

angeklickt worden ist und das man einen<br />

Hit nennen darf: „Wie“, will eine Hörerin<br />

wissen, „würde die Welt wohl aussehen,<br />

wenn diese Art Musik von jedermann gehört<br />

werden würde?“ Eine Begegnung<br />

mit Dillon schafft keine letzte Klarheit:<br />

Würden wir alle so traurig blicken wie<br />

sie auf ihren Fotos und Covern? Oder<br />

würden wir uns verstanden und getröstet<br />

fühlen durch eine zaubrische Stimme,<br />

durch rätselhafte Worte und einen nach<br />

innen zielenden, sehr reduzierten Klang?<br />

Die Kunst der Dominique Dillon de<br />

Byington, genannt Dillon, geboren vor<br />

25 Jahren im brasilianischen São Paulo,<br />

ist eine Raumordnungskunst. Es gibt eine<br />

innere und eine äußere Geografie. Thermische<br />

Gesetze walten, wenn diese Musik<br />

um sich greift. „Platz“ ist das Hauptwort.<br />

Dillon verwendet es oft, wenn sie<br />

von dem spricht, was schwer zu trennen<br />

scheint, ihrem Ausdrucks- und ihrem<br />

Verschweigungsbedürfnis.<br />

Das neue Album „The Unknown“,<br />

mit dem sie durch Europa tourt, ist karg<br />

instrumentiert, „weil ich Platz brauche,<br />

um das zu singen, was ich singen will“,<br />

„mehr Platz!“ Ihre Stimme, die im Konzert<br />

an das isländische Pop-Wunder Björk<br />

erinnert, wird entschieden, springt eine<br />

Terz nach oben: „Mich hat alles, was zu<br />

viel war, vom Wesentlichen abgelenkt.“<br />

Es ist die Frage jeder großen Kunst: Was<br />

kann, was muss weggelassen werden, damit<br />

das Wahre, Schöne, Gute erscheint?<br />

Entschieden weist sie auch die naheliegende<br />

Deutung ihres mitsummtauglichen<br />

Hits vom Album „This Silence<br />

Kills“ (2012) zurück. Dass da eine<br />

unmögliche, skandalöse Liebe zwischen<br />

zwei Menschen mit einem Altersunterschied<br />

von 22 Jahren verhandelt werde,<br />

die böse endet. „You’d be thirteen, I’d<br />

been thirtyfive, gone to find a place for us<br />

to hide.“ Aber nein, wieso, „es kann auch<br />

eine Uhrzeit sein“. Sie schreibe Gedichte<br />

und vertone diese, keine Artikel. „In ihrer<br />

Irrationalität ist sie auch sehr rational.“<br />

Pause. „Ich also.“ Sagt das jemand<br />

von ihr? „Nein. Nein.“ Ein Lächeln will<br />

sich auf ihrem Gesicht niederlassen und<br />

überlegt es sich anders.<br />

WARUM LIESS DIE FAMILIE Brasilien hinter<br />

sich, wanderte nach Deutschland<br />

aus über Österreich, ehe die Mutter die<br />

fünfjährige Dillon auf den Arm nahm,<br />

ihr Köln zeigte, das sei nun die Heimat?<br />

Wegen Wim Wenders. „Der Himmel über<br />

Berlin“ habe die Mutter beeindruckt.<br />

Oder es war der Wunsch, den Kindern –<br />

fünf Geschwistern schließlich – echten<br />

Schnee zu zeigen. Auf jeden Fall sei sie<br />

mit 18 Jahren, nach dem Abschluss einer<br />

englischsprachigen Schule in Köln, allein<br />

nach Berlin gezogen, ihrer großen Liebe<br />

unter den Städten. „Doch mittlerweile<br />

habe ich eine Affäre mit Paris.“ Da gebe<br />

es ganz andere Platz- und Raumverhältnisse.<br />

Sie schaut zur Decke. Das Lächeln<br />

schwirrt herbei, landet, bleibt.<br />

Es sei ja gar nicht wahr, dass sie melancholisch<br />

ist, ein schreckliches Wort,<br />

„das pure Dazwischen, ein Schwebezustand,<br />

in dem man sich leidtut“. Melancholie<br />

müsse sich verwandeln in Verzweiflung<br />

oder Hoffnung, Wut oder<br />

Glück, dann werde es interessant. Sie<br />

sei an guten Tagen „ziemlich ausgeglichen.<br />

Ich habe es bis jetzt nur nicht geschafft,<br />

in meiner Musik ausgeglichen zu<br />

sein.“ Das Lächeln breitet sich aus. Bald<br />

muss es weichen. Natürlich, mit 16 Jahren<br />

habe sie sich ohne Notenkenntnisse<br />

an das elterliche Klavier gesetzt, aus Langeweile,<br />

Verzweiflung, Angst, und nach<br />

Tasten gesucht, „die mit mir zusammen<br />

singen konnten“. Im Schreiben und Lesen<br />

und Singen kam sie dann zu sich.<br />

„Ich musste mich mit mir selbst auffüllen.<br />

Jahrelang.“<br />

Dillon singt in weiten Bögen, langsam,<br />

repetitiv, sie haucht und gurrt und<br />

zieht das Tempo an, ehe die Kreise wieder<br />

kleiner werden, singt auf einem zart<br />

gewebten Teppich aus elektronischen<br />

Beats, singt vom Weg ins Unbekannte,<br />

einem Wir, das auseinanderbricht, dem<br />

Zug der Gedanken, der entgleist, aber<br />

auch von Knoten, die sich lösen, einem<br />

immergrünen Wald tief drinnen, dem<br />

Wandel, dem Verlangen. Pop sei das nicht,<br />

dazu fehle es am „plakativen Sex“.<br />

Ein Klavier sendet einzelne Töne,<br />

die über sich selbst erschrecken, Schläge<br />

wie auf Bambus treten dazu. Undenkbar,<br />

dass Trompeten erklängen wie noch beim<br />

Debüt, ein Kinderchor oder dieses muntere<br />

Fingerschnippen. Reduktion ist hier<br />

alles, die Stimme nimmt sich den Raum.<br />

Man vergisst das nicht. Sie fräst sich hinein,<br />

diese Stimme, in das fremde Ohr,<br />

die andere Seele. Schlägt Haken und verharrt<br />

an Stellen, die es vorher nicht gab.<br />

Auch im Leben, sagt Dillon, brauche<br />

es ein Umfeld, das Raum gibt. In<br />

der Kunst habe sie sich den Platz geschaffen,<br />

schaffen müssen, „man hat ja<br />

nur 100 Prozent“. Das heißt: Jedes Zuviel<br />

wird ein Zuwenig, wenn die innere<br />

Stimme versagt. Oder das Ich zu stumpf<br />

ist, um auf sie zu hören. Das Universum<br />

nach Dillon wäre ein weites Land mit<br />

sehr aufmerksamen Menschen.<br />

ALEXANDER KISSLER leitet bei <strong>Cicero</strong><br />

den Salon. Dillons schwebende Musik<br />

erinnert ihn manchmal an Haikus und<br />

manchmal an die Stunden vor Dämmerung<br />

119<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

ER GEHÖRT ZU UNS<br />

Der Tenor Jonas Kaufmann verzückt auch mit Schuberts „Winterreise“ die Massen,<br />

obwohl seine Stimme eintönig ist, zuweilen angestrengt und unsauber. Wie macht er das?<br />

Von MICHAEL STALLKNECHT<br />

Die Szene ist vorhersehbar: ausverkaufte<br />

Häuser, handgeschriebene<br />

Schilder mit Kartengesuchen und<br />

jeden Abend stehende Ovationen. Von<br />

Berlin bis London, von Moskau bis Mailand.<br />

Jonas Kaufmann ist in den kommenden<br />

Wochen auf Tournee mit Franz<br />

Schuberts „Winterreise“, dem traurigen<br />

Gang eines Wanderers in den ewigen<br />

Schnee. Doch Stimmfetischisten sollten<br />

vorab vielleicht besser in die bereits<br />

erschienene CD hineinhören. Dort sind<br />

einige unschöne Töne zu hören: kehlige<br />

und gaumige, angeschliffene, matte und<br />

solche mit unsauberen Vokalen.<br />

Jonas Kaufmann ist ein Phänomen:<br />

der berühmteste Tenor, ja im Grunde<br />

der einzige einem breiten Publikum bekannte<br />

Tenor der Welt. Kein Intendant<br />

zwischen New York, London und Paris<br />

kommt an ihm vorbei. Dass ihn die Bayreuther<br />

Festspiele nach seinen Auftritten<br />

als Lohengrin im Jahr 2010 nicht noch<br />

einmal gewinnen konnten, ist peinlich<br />

für die Festspiele, nicht für ihn.<br />

Doch hört man sich im Musikbetrieb<br />

um, findet Kaufmann nur wenige uneingeschränkte<br />

Bewunderer. Unüberhörbar<br />

sind die technischen Probleme dieser<br />

Stimme, die eigentümlich tief – manche<br />

sagen: „baritonal“ – im Hals sitzt, von wo<br />

sie Kaufmann immer erst hinaufwuchten,<br />

an schwächeren Abenden auch pressen<br />

muss in tenorale Höhen. Ihm fehlt das<br />

Legato, das die Stimme frei fließen lässt.<br />

Tenöre sollten kraftvoll und zärtlich zugleich<br />

klingen, das ist ihr Jobprofil.<br />

Kaufmann muss aber machohaft<br />

powern, oder er beginnt zu säuseln. Dann<br />

entstehen die fahlen und brüchigen Farben,<br />

die er, auch in der neuen „Winterreise“,<br />

mit freilich großer gestalterischer<br />

Intelligenz einsetzt. Wer mit den Hörkonventionen<br />

wenig vertraut ist, empfindet<br />

das wohl als expressiv. Doch Gesang<br />

sollte selbstverständlich klingen, nicht<br />

angestrengt. So klang die „Winterreise“<br />

jedenfalls bei Peter Anders oder Peter<br />

Pears, so klingt sie nun bei Daniel Behle.<br />

Die Opernwelt ist mit Tenören nicht<br />

gesegnet. Und braucht sie umso dringlicher,<br />

da sie auch medial bestehen muss.<br />

Nur wer es ins Fernsehen schafft, gilt als<br />

Star. Nicht zufällig erreichte Kaufmanns<br />

Debütalbum „Romantic Arias“ im Jahr<br />

2008 die volle Aufmerksamkeit. Sein<br />

Kollege Rolando Villazón war kurz zuvor<br />

in die erste Stimmkrise gerutscht. Mit<br />

dem quirligen Mexikaner hatte die Plattenindustrie<br />

einen Tenor aufgebaut, bei<br />

dem die technischen Fähigkeiten dem<br />

Image nicht dauerhaft standhielten.<br />

NACH DEM WECHSEL von Plácido Domingo<br />

ins Baritonfach gibt es kaum bekannte<br />

Tenöre. Stars sind eine aussterbende<br />

Spezies. Im Klassikbetrieb haben<br />

Intendanten, Regisseure, Dirigenten die<br />

Herrschaft über die Bühnen übernommen.<br />

Kaufmann funktioniert in diesem<br />

System. Er begann zwischen 1994 und<br />

1996 am Staatstheater Saarbrücken im<br />

grundsoliden festen Engagement. Die<br />

großen Rollen eignete er sich am Opernhaus<br />

Zürich an. Deshalb kann er heute<br />

wild zwischen den bekanntesten Rollen<br />

des französischen, italienischen und<br />

deutschen Faches wechseln. Die Natur<br />

hat ihn mit einem äußerst robusten<br />

stimmlichen Material ausgestattet, das<br />

Schicksal Villazóns dürfte er nicht teilen.<br />

Dazu erobert er sich immer wieder<br />

neue Partien wie kürzlich jene des Alvaro<br />

in Verdis „Macht des Schicksals“ in<br />

München oder die des Dick Johnson aus<br />

Puccinis „La fanciulla del West“ an der<br />

Wiener Staatsoper. Freilich klingt das alles<br />

bei ihm ziemlich gleich. Kaufmann<br />

mag ein wendiger Gestalter sein, die rein<br />

stimmlichen Mittel bleiben begrenzt.<br />

Dass die „Winterreise“ die Popcharts<br />

erklimmt, hat andere Gründe.<br />

Kaufmann funktioniert perfekt als mediales<br />

Image. Er sieht, was kaum ein Kritiker<br />

verschweigt, gut aus. Kann Wagners<br />

Helden ohne Helm und Brustpanzer<br />

geben, auf die die Regisseure der Gegenwart<br />

eh verzichten. Gern zeigt er sich im<br />

T-Shirt. Das macht ihn authentisch. Die<br />

alten, halb normativen Ideale der Klassik<br />

greifen nicht mehr. Eher die des Pop,<br />

bei dem die Stimme sowieso charakteristischer<br />

bleiben darf. Wie rief das New<br />

York Magazine schon vor Jahren verzückt<br />

aus? „Brangelina sings!“<br />

Kaufmann verfügt über die entscheidende<br />

Mischung aus Durchschnittlichkeit<br />

und Überdurchschnittlichkeit, die eine<br />

massenmediale Gesellschaft liebt. Er hat<br />

etwas vom Mathestudenten, als der er tatsächlich<br />

angefangen hat. Ist lässig, aber<br />

ehrgeizig. Erotisch, aber skandalfrei. Im<br />

Opernhaus seiner Heimatstadt München –<br />

wo er geboren wurde, studierte und heute<br />

lebt – springt er spontan für unbekanntere<br />

Kollegen ein. Die Salzburger Festspiele<br />

haben ihn schon vom Badesee direkt<br />

auf die Bühne befördert. Kaufmann<br />

ist der Tenor wie du und ich.<br />

Dass er vom angeblich konservativen<br />

Opernpublikum bedingungslos gefeiert<br />

wird, zeigt nur, dass auch das Opernpublikum<br />

längst ein Eventpublikum<br />

geworden ist. Es orientiert sich nicht an<br />

Hörtraditionen, sondern an Images. Da<br />

mögen die Stimmfetischisten traurig auf<br />

ihre Plattenschränke starren und leise<br />

„Niedergang“ murmeln. Jonas Kaufmann<br />

wird dennoch der einzige wirklich berühmte<br />

Tenor der Welt bleiben.<br />

MICHAEL STALLKNECHT ist Musikkritiker<br />

und Publizist. Er lebt wie Kaufmann in<br />

München, dessen Opernpublikum dem<br />

Tenor zu Füßen liegt<br />

Foto: Ernst Kainerstorfer/Picturedes/Action Press<br />

120<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

DER GEFÜHLSKOLOSS<br />

Mit dem Soldaten-Drama „Zwischen Welten“ setzt Ronald Zehrfeld seine Porträts<br />

starker und verletzlicher Helden fort. Für den Schauspieler ist der Körper sein Ruhepol<br />

Von BJÖRN EENBOOM<br />

Foto: Jens Gyarmaty für <strong>Cicero</strong><br />

Es könnte der Händedruck eines Actionstars<br />

sein. Fest, prankenhaft<br />

umschlossen. Die dazugehörige<br />

Körperwelt: sportlich, muskulös, breitschultrig.<br />

Ein Hüne. Doch Ronald Zehrfeld,<br />

der diesem Körper innewohnt, ballert<br />

sich durch keine Männerfantasien. Er<br />

gehört zu den profiliertesten deutschen<br />

Schauspielern seiner Generation. Nun<br />

spielt er seine bisher wichtigste Rolle.<br />

Als wir uns vor dem Deutschen Theater<br />

in Berlin treffen, entfährt es ihm:<br />

„Anfangs dachte ich: Vielleicht kann ich<br />

am Ende meiner Karriere vor so einem<br />

großen Haus spielen, das wär’s! Aber<br />

dank Peter Zadek spielte ich schon während<br />

meines Schauspielstudiums hier.“<br />

So wurde aus dem ersehnten Abschluss<br />

ein früher Anfang. Bereits 2002 durfte<br />

er sich in Hans Neuenfels’ Inszenierung<br />

von „König Ödipus“, bald darauf in Zadeks<br />

„Mutter Courage“ beweisen. Der<br />

Sprung in die erste Liga der Kino- und<br />

Fernsehschauspieler folgte sogleich.<br />

Jetzt ist Zehrfeld in dem Soldaten-<br />

Drama „Zwischen Welten“ der Hauptdarsteller.<br />

Die österreichische Regisseurin<br />

Feo Aladag, prämiert für ihr Debüt<br />

„Die Fremde“, zeigt mit diesem realistischen<br />

wie subtilen Film die Dilemmata<br />

des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan:<br />

Aporien, wohin man schaut. Nicht<br />

jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.<br />

Zehrfeld verkörpert den Bundeswehrhauptmann<br />

Jesper, der ein Dorf vor<br />

den Taliban beschützen soll. Er freundet<br />

sich mit dem Dolmetscher Tarik und dessen<br />

Schwester an und blickt immer tiefer<br />

in die eigene Zerrissenheit, die sich in<br />

dem fremden Land spiegelt. Bis zum tragischen<br />

Finale ist der Konflikt zwischen<br />

Moral und Gehorsam nicht zu schlichten.<br />

Der Film wurde in Kunduz und Mazar<br />

e Sharif realisiert. „Dass Ronald die<br />

Hauptrolle spielen sollte“, sagt Aladag,<br />

„stand von vornherein fest. Ebenso, dass<br />

wir an Originalschauplätzen drehten –<br />

trotz aller filmischen wie politischen<br />

Schwierigkeiten. Die Zusammenarbeit<br />

mit der afghanischen Regierung und<br />

mit dem Verteidigungsministerium und<br />

dem Einsatzführungskommando waren<br />

durchaus anspruchsvoll.“ Zehrfeld büßte<br />

während der Dreharbeiten zwölf Kilo ein.<br />

Sein Repertoire reicht weit. In Dominik<br />

Grafs Serie „Im Angesicht des Verbrechens“<br />

stritt er als Polizist gegen die<br />

Russenmafia und erhielt den Deutschen<br />

Fernsehpreis und den Grimme-Preis. Für<br />

sein feinsinniges Porträt eines Kinderarztes<br />

im DDR-Drama „Barbara“ neben<br />

Nina Hoss gab es eine Nominierung zum<br />

Deutschen Filmpreis. In der Erfolgsserie<br />

„Weißensee“ spielt er einen unkonventionellen<br />

Pfarrer, in Christian Krachts Kinodebüt<br />

„Finsterworld“ einen Polizisten<br />

mit abseitigen Fantasien. Fast immer sind<br />

es Männer, die ihr Leben in einer Ordnung<br />

eingerichtet haben, deren Gitterstäbe<br />

Risse bekommen.<br />

AUFGEWACHSEN IST der 36-Jährige in<br />

Ostberlin, zwei Straßen von der Hochschule<br />

für Schauspielkunst Ernst Busch<br />

entfernt, an der er mit Mitte 20 sein Studium<br />

aufnehmen sollte. „In meiner Kindheit<br />

lagen Welten dazwischen. Es war ein<br />

Arbeiterviertel. Wir nannten die Schüler,<br />

die auf der Straße ihre Texte rezitierten,<br />

die Schauspieletten. Die passten<br />

einfach nicht in den Kiez.“ Zehrfeld<br />

strebte eine Sportlerkarriere an. Mit elf<br />

Jahren wurde er Jugendmeister der DDR<br />

im Judo. Der Traum von Olympia schien<br />

nah, doch dann kam die Wende. Mit ihr<br />

drehte sich auch sein Leben.<br />

Neue Räume taten sich auf. Aus der<br />

Teilnahme an freien Theatergruppen erwuchs<br />

die Vorstellung, das Schauspielen<br />

zum Beruf machen zu können: „Erst spät<br />

entwickelte sich bei mir das Bewusstsein,<br />

dass man auch als einfacher, nicht so belesener<br />

Mensch diesen Beruf ergreifen<br />

kann. Ich weiß nicht viel über Medea<br />

und die großen Weltthemen, aber ich<br />

fühle etwas.“<br />

Gefühlswelten sind Zehrfelds darstellerische<br />

Stärke. Er beherrscht den<br />

spektakulären Ausbruch ebenso wie den<br />

lakonischen Blick, der den Kerl mit einem<br />

Augenaufschlag in einen Teddy verwandelt.<br />

„Mittlerweile akzeptiere ich,<br />

dass ich Schauspieler bin. Ich habe jahrelang<br />

gebraucht, um mir klarzumachen,<br />

dass ich mein Brot damit verdiene.“ Vielleicht<br />

sind es solche Skrupel, die seinen<br />

Helden stets einen Hauch von Verzagtheit<br />

und Anlehnungsbedürfnis verleihen.<br />

Dem Judo hat Zehrfeld entsagt. Er<br />

wechselte zur japanischen Kampfkunst<br />

Aikido: „Es ist auch gut für meinen Beruf,<br />

über den Körper eine gewisse Ruhe<br />

zu erlangen. Ich muss in der Lage sein,<br />

ruhig zu bleiben. Manchmal merke ich,<br />

dass ich zu schnell und zu viel rede, da<br />

wünsche ich mir eine andere Ruhe, um<br />

mein Zentrum nicht zu verlieren.“ Das<br />

Gespräch ist die Probe aufs Exempel.<br />

Silbe um Silbe steigert sich das Tempo.<br />

Berlinert er? Doch da stoppt eine neue<br />

Nachdenklichkeit den Strudel der Worte.<br />

Welche Aspekte des Menschseins gilt<br />

es noch auszuleuchten, nach dieser Armada<br />

der Ordnungshüter und Gefühlskolosse,<br />

der Raubeine mit dünnem Nervenkostüm?<br />

Alles wolle er spielen, alles.<br />

„Dieser Beruf“, sagt Ronald Zehrfeld, als<br />

er die Stätte seines Beginnens mit einem<br />

Sprung von der Treppe verlässt, „soll für<br />

mich ein Marathon sein.“<br />

BJÖRN EENBOOM ist Filmkritiker und<br />

langweilt sich bei Actionhelden sehr. Bei<br />

Ronald Zehrfeld hingegen nicht<br />

123<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

1914<br />

BÜCHER, ZUM GLÜCK<br />

Von CHRISTOPHE FRICKER<br />

Bildungskanonen, gefährliche Klassiker und stille Erneuerung:<br />

Im Ersten Weltkrieg gehörte das Lesen zum Frontalltag


Foto: AKG Images [M]<br />

Bitte keine Kriegsbücher an die Front schicken!“<br />

So steht es im Dezember 1915 im Champagne-Kameraden,<br />

der Feldzeitung der 3. deutschen<br />

Armee. Die Soldaten „erleben selbst“.<br />

Man müsse ihnen vom Krieg nicht erzählen.<br />

Außerdem seien die meisten Bücher über den Krieg ohnehin<br />

„nicht geeignet, den Ruhm des deutschen Schrifttums<br />

zu erhöhen“. Kriegstreiberische Werke bezeugten gerade<br />

nicht die geistige Überlegenheit des Deutschen, auf die<br />

diese sich so gern berufen.<br />

Auch die Truppenzeitung Der Landsturm wehrt sich:<br />

„Um Gottes willen keinen Schund. Man bedenke, dass für<br />

den Soldaten im Felde das Beste gerade gut genug ist.“ Der<br />

Geist reagiere „nur auf wirklich Wertvolles“. Willkommen<br />

seien „sachlich orientierende Flugschriften“ zu Landeskunde,<br />

Technik und Wirtschaft sowie Unterhaltungsbücher<br />

zur „Ablenkung und Erfrischung“. Auch „Witzblätter“<br />

hätten ihre Berechtigung, wenn sie „in künstlerischer wie<br />

auch inhaltlicher Beziehung auf der Höhe“ seien und der<br />

Soldat ihre Wirkung „an sich verspürt“.<br />

Der Erste Weltkrieg war ein<br />

Kampf der Leser. Die deutsche Feldpost<br />

transportierte insgesamt 28,7 Milliarden<br />

Sendungen: Briefe und Karten<br />

sowie Pakete, denen meist wenigstens<br />

ein kleiner schriftlicher Gruß beilag.<br />

Viele enthielten Bücher, die begierig<br />

gelesen wurden. Nicht immer war es<br />

„das Beste“. Besonders großen Anklang<br />

fanden Unterhaltungsautoren<br />

wie Kurt Aram und Walter Bloem.<br />

Zum ersten Mal wurde im Ersten Weltkrieg die Mobilmachung<br />

total. Alles sollte dem Krieg dienen. Das heißt<br />

allerdings nicht, dass immer geschossen wurde. Im Stellungskrieg<br />

waren viele Nächte ereignislos. Was dann gelesen<br />

wurde, sollte die Kampfkraft stärken. Denn, wie ein<br />

verbreitetes Schlagwort lautete, „Volksbildung ist Volkskraft“.<br />

Deshalb gab es Feldausgaben beliebter Titel und<br />

Reihen wie die Bücherei für Schützengraben und Lazarett<br />

oder Lamms jüdische Feldbücherei für deutsche Soldaten<br />

jüdischen Glaubens. Schützengraben-Bücherei nannte<br />

man genormte Kisten mit rund 100 Büchern, die bis an<br />

die vorderste Front getragen wurden. Fahrbare Kriegsbüchereien<br />

mit jeweils acht Kisten versorgten eine Division.<br />

Der Bibliothekar Wilhelm Sandmann machte diese Praxis<br />

mobiler Ausleihstellen nach dem Krieg fruchtbar und<br />

nahm 1929 den ersten Bibliotheksbus in Betrieb.<br />

Das Rote Kreuz sammelte ab 1916 Bücherspenden.<br />

In sogenannten Bildungskanonen standen sie für ruhende<br />

Truppen hinter der Front bereit, getrennt nach Offiziersund<br />

Mannschaftsbüchereien. Mitgelieferte Verleihungstabellen<br />

hielten Dienstgrad, Name und Truppenteil des<br />

Der Krieg neigt sich dem Ende zu,<br />

als im Juli 1917 im Elsass diese<br />

Feldbücherei für Ablenkung sorgt<br />

Lesers fest, damit jedes Exemplar nachzuverfolgen war.<br />

Das Rote Kreuz wusste: „Bücher sind Freunde und bedeuten<br />

für unser Heer und unsere Flotte eine geistige Macht.“<br />

Diese Meinung spiegelt sich in vielen Feldpostbriefen.<br />

Von der Westfront schreibt Christian Tramsen im November<br />

1916: „Man hat ja zum Glück seine Bücher, sonst<br />

wäre es schrecklich so alleine.“ Einige schickt seine Familie,<br />

andere leiht er sich: „Ich habe noch immer ein Buch<br />

von Lt. Souchai, der seit der Somme-Schlacht vermisst und<br />

scheinbar tot ist. Ich werde an die Eltern schreiben, ob ich<br />

es behalten darf. ‚Mitteleuropa‘ von Friedrich Naumann;<br />

gutes polit. Buch.“ Den Erfolgsroman „Der Wetterwart“<br />

des Schweizer Heimatautors Jakob Christoph Heer habe<br />

er „in 2 Tagen ausgelesen. Sonst lese ich kaum Romane.<br />

Gut geschrieben. Ich war nur nicht gerade in der Stimmung,<br />

nun [eine] solch furchtbar unglückliche Lebens- und<br />

Liebesgeschichte zu lesen. Es packte mich teilweise sehr.“<br />

In den ersten vier Kriegsmonaten erreichten 3,2 Millionen<br />

Bücher die Soldaten über zivilgesellschaftliche<br />

Kanäle. Der Verleger Eugen Diederichs<br />

nannte die Buchsendungen an die<br />

Front „geistige Kriegsfürsorge“. Beim<br />

Reclam-Verlag gab es für 20 Mark die<br />

„geistige Futterkiste“ mit 100 Bänden<br />

aus der Universalbibliothek. Der Deutsche<br />

Fußball-Bund setzte 1915 große<br />

Mengen eines in Feldgrau gebundenen<br />

Kriegsjahrbuchs in den Frontbuchhandlungen<br />

ab. Diese wurden<br />

vom deutschen Verkehrs- und Bahnhofsbuchhandel<br />

in Frontnähe betrieben<br />

und über die eigens gegründete Buch- und Zeitschriftenvertriebsgesellschaft<br />

bestückt. Reclam stellte entlang<br />

der Front seine schon vor dem Krieg eingesetzten Buchautomaten<br />

auf. Die Innere Mission der evangelischen<br />

Kirche und der katholische Borromäusverein gründeten<br />

Vertriebsorganisationen.<br />

THEODORE WESLEY KOCH, Chefeinkäufer der US-Kongressbibliothek,<br />

berichtet in seinen Memoiren von einem<br />

Lazarett an der Ostfront. Einem deutschen Soldaten und<br />

dessen Sohn habe der CVJM Charles Dickens’ „Oliver<br />

Twist“ und eine russische Grammatik übergeben. Die beiden<br />

Verwundeten studierten die Bücher, wodurch sich ihre<br />

Stimmung aufhelle. Die Gedankengänge eines auf derselben<br />

Station behandelten Berliner Professors seien angesichts<br />

von Dickens’ Weihnachtsgeschichte ebenfalls heiterer<br />

geworden.<br />

Die Oberste Heeresleitung sah all das gern. Lesende<br />

Soldaten galten als motivierter – weniger geneigt zu desertieren<br />

oder zu revoltieren. Der Ausschuss für fahrbare<br />

Kriegsbüchereien an der Front empfahl ihnen neben Raabe,<br />

Keller und Hesse auch Wilhelm Busch und den fünfbändigen<br />

„Humoristischen Hausschatz des deutschen Volkes“.<br />

Auf der Anschaffungsliste stand – undenkbar später<br />

im Zweiten Weltkrieg – selbst Literatur aus Feindstaaten:<br />

Robinson Crusoe und Sherlock Holmes, ja sogar das<br />

125<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

1914<br />

Fotos: Marbach Institut [M], Reclam Verlag<br />

erzählerische Werk von Edgar Allen Poe. Eine Zensur gab<br />

es zwar grundsätzlich, sie wurde aber je nach Truppenteil<br />

sehr unterschiedlich gehandhabt. Sozialistische Schriftsteller<br />

und Avantgarde-Autoren blieben freilich außen vor.<br />

Bücher waren im Heer nahezu allgegenwärtig. Paul<br />

Diekmann schreibt im Juni 1915 aus einem Schützengraben<br />

in der Nähe von Lille, dort sei „alles Sumpf und Moor“,<br />

und „Stuhl und Tisch und Kiste“ habe er nicht – nur ein<br />

Buch. Stoßtruppführer Ernst Bischoff meldet sich aus dem<br />

weißrussischen Smorgon bei dem Jenaer Historiker Alexander<br />

Cartellieri. In der „fahrbaren Bücherei“ seines Truppenteils<br />

befinde sich „eine reichliche Auswahl von Büchern<br />

bester und bekanntester Schriftsteller bis herunter<br />

zur seichtesten Unterhaltungslektüre“.<br />

Der Gefreite Friedrich Uhlig berichtet, die Universität<br />

Jena habe ihren Kriegsteilnehmern die „Deutsche Politik“<br />

des Historikers Heinrich von Treitschke gesandt. Er gebe<br />

die Broschüre, um seiner „Pflicht als Akademiker“ zu genügen,<br />

den Kameraden als Alternative zu ihren „seichten<br />

Novellenheftchen“. Hans Müller schreibt aus Boureuilles,<br />

die „reiche politische Literatur, die der Krieg erzeugt oder<br />

wieder an die Oberfläche bringt, hat mein politisches Verständnis<br />

schon wesentlich gefördert“. Nach dem Dienst<br />

habe er „reichlich Zeit zum Lesen und Schreiben“.<br />

Die Postkarte eines Soldaten<br />

vom September 1916 zeigt die<br />

Ankunft der Bücherkisten<br />

Zahlreiche Truppenteile gaben eine Zeitung heraus,<br />

in der Verlautbarungen und Huldigungen zum Geburtstag<br />

des Kaisers und der Fürsten zu lesen waren, kriegswirtschaftliche<br />

Analysen, Betrachtungen über die Befreiungskriege<br />

oder Lokalgeschichtliches über den aktuellen Truppenstandort.<br />

Und natürlich viel Gebrauchsliteratur: die<br />

humoristische Erzählung „Mutter Schanettchen, die Konsequente“<br />

der Journalistin Leonore Niessen-Deiters etwa.<br />

Oder „Sonderbare Geschichten“ von Herbert Eulenberg.<br />

Preisausschreiben regten Soldaten und Offiziere zum<br />

Verfassen von Artikeln an. Die meisten schrieben Gedichte.<br />

„Jeder, der mit der Leitung einer Kriegszeitung<br />

betraut worden ist, wird die Beobachtung gemacht haben,<br />

dass die Zahl der poetischen Beiträge aus dem Felde die<br />

der Prosabeiträge weit übersteigt“, schreibt der Chefredakteur<br />

der Somme-Wacht 1917. Diese Kriegszeitung der<br />

1. Armee enthielt Tiefgründiges über das Reich und den<br />

Feind, Knittelverse über Läuse und Matsch, sentimentale<br />

126<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Lieder über den Wald und die Fluren der Heimat. Und die<br />

Soldaten lasen es, wenn er es druckte.<br />

Die teils in sechsstelliger Auflage erscheinenden Feldzeitungen<br />

boten auch Klassisches: Schillers „Lied von der<br />

Glocke“ und Ausschnitte aus Goethes „Hermann und Dorothea“,<br />

Texte von Eichendorff, Stifter und Freiligrath.<br />

Gedichte der antinapoleonischen Lyriker Theodor Körner<br />

(„Frisch auf, mein Volk! Die Flammenzeichen rauchen“)<br />

und Ludwig Uhland („Dir möcht’ ich diese Lieder<br />

weihen, / Geliebtes deutsches Vaterland!“)<br />

oder Rudolf Alexander Schröders<br />

Reiterlied mit dem energischen<br />

Anfang: „Wir reiten von Wäldern und<br />

Schluchten verborgen, / Wir traben<br />

hinein in den dämmernden Morgen, /<br />

Deutschland, Deutschland!“ Selbst<br />

Ausschnitte aus einem Hauptwerk<br />

christlicher Theologie, Thomas von<br />

Kempens „Nachfolge Christi“, wurde<br />

den Lesern im Feld dargeboten.<br />

Die Zeitungen dienten übrigens<br />

nicht nur der Lektüre. Eine Broschüre über die „Herstellung<br />

von Bettdecken mit alten Zeitungen als Einlage“ empfiehlt<br />

ihre Weiterverwendung zum Schutz gegen die Kälte.<br />

Der Landsturm wird, eingeschoben „zwischen Hemd und<br />

Hosenträger“, zum dämmenden Polster.<br />

Da das Deutsche Reich laut dem Historiker Thomas<br />

Nipperdey eine bildungsorientierte „Schulgesellschaft“<br />

war, wurden Texte selbst im Krieg nicht nur gelesen, sondern<br />

auch auswendig gelernt und zitiert oder auf improvisierten<br />

Bühnen aufgeführt. Sie sollten den Krieg erträglich<br />

und vor allem begreiflich machen. Der kämpfende Student<br />

Sophus Lange bittet seine Angehörigen um Schillers<br />

„Wallenstein“, „denn darin ist Hindenburg, darin sind Marketender<br />

und sorglose Soldatengelage, darin sind große<br />

Haupt- und Staatsaktionen“. Es verwundert nicht, dass der<br />

Notration aus 100 Büchern:<br />

Auch der Reclam-Verlag<br />

stillte den geistigen Hunger<br />

britische Offizier Arthur Conway Young an einem ganz<br />

anderen Frontabschnitt ein „Wallenstein“-Exemplar fand,<br />

als er einen Graben eroberte.<br />

Ernst Jünger, Deutschlands bedeutendster Kriegstagebuch-Autor,<br />

mehrfach verwundet und hoch ausgezeichnet,<br />

war ein belesener Deuter des Weltkriegs. Grimmelshausen,<br />

Schopenhauer und Nietzsche, aber auch Karl May,<br />

Casanova und Otto Julius Bierbaum standen auf seiner<br />

Leseliste, außerdem Leonhard Franks Abenteuer „Die<br />

Räuberbande“ und der „französische<br />

Schundroman“ namens „Le vautour de<br />

la Sierra“. Jüngers wichtigste Lektüreerfahrung<br />

war der „Rasende Roland“<br />

des italienischen Renaissance-Dichters<br />

Ariost. Dessen Rückblick auf das Rittertum<br />

schärfte Jüngers Blick für die neue<br />

Art der Kriegsführung in seiner eigenen<br />

Zeit. Noch in den neunziger Jahren<br />

dachte Jünger regelmäßig daran, wie er<br />

„den Ariost in der Kartentasche“ mitführte.<br />

Er zitiert in seinem Kriegstagebuch:<br />

„Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen, /<br />

Wann er auch kommt, wenn er nur rühmlich ist.“<br />

Im August 1918 stößt Ernst Jünger im nordfranzösischen<br />

Artois auf englische Flugblätter. „Es war sogar ein<br />

Gedicht Schillers vom freien Britannien dabei.“ Jünger<br />

überlegt: „Ein Krieg, in dem man sich durch Verse bekämpft,<br />

wäre eine recht segensreiche Erfindung.“ Dass<br />

die deutsche Heeresleitung 30 Pfennig pro abgegebenem<br />

Flugblatt bezahlt, unterstreiche die Gefährlichkeit auch<br />

klassischer Texte.<br />

Die Lesegewohnheiten gerade der Gebildeten änderten<br />

sich im Feld kaum. Der mit dem Dichter Stefan George<br />

befreundete junge Altphilologe Norbert von Hellingrath,<br />

der noch vor Kriegsausbruch Hölderlins Spätwerk in der<br />

Württembergischen Landesbibliothek entdeckt hatte, las<br />

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Müde und<br />

ausgebrannt?<br />

Anstrengende<br />

und aggressive<br />

Kinder?<br />

Zerstreut und<br />

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Lassen Sie sich nicht irre machen – Gefühle und Wünsche sind keine Krankheiten!<br />

Der Bestsellerautor Jörg Blech enthüllt, wie die Grenze zwischen<br />

psychisch gesund und gestört zunehmend verschoben wird, und zeigt<br />

einen Ausweg aus der Psychofalle. Diagnose: unbedingt lesenswert.


SALON<br />

1914<br />

weiter George. Er schnitt sich dessen Gedichtband „Der<br />

Stern des Bundes“ auf Taschenformat zurecht. Das Buch<br />

spricht von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Erneuerung<br />

in Zeiten von Gier, Neid, Raubbau und Apathie und<br />

hält auch einen „heiligen krieg“ für möglich. Dieser findet<br />

im Buch aber nicht statt, weil sich enge, stille Freundschaftsbünde<br />

bilden, die auf friedlichem Weg für neues Leben<br />

sorgen. Hellingrath mag das getröstet haben. Georges<br />

andere Freunde schrieben einander vom Feld aus.<br />

Der Germanist Friedrich Gundolf schickte dem Historiker<br />

Friedrich Wolters die ersten Korrekturbögen seiner<br />

Goethe-Biografie in die Karpaten. Wolters las dort bei<br />

klirrender Kälte und brütender Hitze auch Leopold von<br />

Rankes „Serbien und die Türkei im neunzehnten Jahrhundert“.<br />

Beide erhielten Briefe von George.<br />

Auf der anderen Seite der mazedonischen Front saß<br />

der Oxforder Gelehrte R. W. Chapman und edierte in einer<br />

Hütte aus Sandsäcken unter einem Wellblechdach James<br />

Boswells Tagebuch einer Hebridenreise von 1785. Boswell<br />

wurde vor allem durch seine Biografie Samuel Johnsons<br />

bekannt, des bedeutendsten englischen Wörterbuch-Autors.<br />

Auch dessen Tagebuch einer Schottlandreise gehörte<br />

zu den Editionsprojekten, die Chapman während seines<br />

Einsatzes auf dem Balkan unbeirrt weiterverfolgte.<br />

In Großbritannien hatte die Schulpflicht ebenfalls<br />

breitere Bevölkerungsschichten zu Lesern gemacht. Neben<br />

Joseph Conrad war Thomas Hardy besonders populär.<br />

Der Lyriker Siegfried Sassoon war bei der Lektüre so<br />

bewegt, dass er gestand: „Ich wollte nicht sterben, ohne<br />

Hardys ‚Die Heimkehr‘ fertig gelesen zu haben.“<br />

Insgesamt ist das Lesen im Krieg viel weniger erforscht<br />

als das Schreiben aus dem Krieg oder über den<br />

Krieg. Wichtige Anstöße gaben jüngst die Ausstellung<br />

„August 1914: Literatur und Krieg“ im Deutschen Literaturarchiv<br />

Marbach oder die „Reading Experience Database“<br />

der britischen Open University.<br />

Ein Klassiker ist „The Great War and Modern Memory“,<br />

das leider nicht ins Deutsche übersetzte Buch des<br />

Historikers Paul Fussell von 1975. Fussell schreibt, dass der<br />

Literatur in Großbritannien nie zuvor und nie wieder von<br />

einer breiten Öffentlichkeit so viel Respekt entgegengebracht<br />

worden sei wie im Ersten Weltkrieg. Der Grund: In<br />

den zehner Jahren sei der klassisch-humanistische Glaube<br />

Für die Ostfront: Die erste<br />

fahrbare Kriegsbücherei wird in<br />

Berlin zusammengestellt<br />

Fotos: Marbach Institut [M], privat (Autor)<br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


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an die Kraft der Literatur noch intakt gewesen, und dieser<br />

habe sich über das neue demokratische Ideal der Massenbildung<br />

verbreitet. Daher seien die schriftlichen Kriegszeugnisse<br />

voller literarischer Zitate. Kämpfende Dichter,<br />

Journalisten und einfache, kaum gebildete Soldaten flochten<br />

Anspielungen auf bekannte und unbekannte Texte in<br />

ihre Berichte ein. Fussell zufolge „beherrschte“ das „Oxford<br />

Book of English Verse“ gar den Ersten Weltkrieg. Die<br />

darin versammelten Gedichte hätten die Kriegswahrnehmung<br />

britischer Soldaten und Offiziere geprägt. Selbst neue<br />

Soldatenlieder bezeugten die freimütige, produktive Auseinandersetzung<br />

mit literarischen Werken.<br />

EINE ANDERE WICHTIGE ANTHOLOGIE las der Sanitäter<br />

Vero Garratt: „Wenn es Abend wurde, suchte ich in der<br />

Abgeschiedenheit einer leerstehenden Hütte bei Kerzenlicht<br />

die poetischen Werke, die mir Trost boten, im ‚Treasury<br />

of English Poetry‘ des Palgrave-Verlags auf.“ Je zerlesener<br />

sie wurde, umso mehr erwies sie sich als Segen.<br />

Kanonische Werke sollten die eigene Situation erhellen.<br />

Nur manchmal hatte es nicht den gewünschten Effekt.<br />

In den Anthologien stand auch Düsteres. Der junge Offizier<br />

Edwin Campion Vaughan berichtet, er habe sein Buch<br />

ausgerechnet bei dem schmerzvollen Abschiedsgedicht<br />

„Barbara“ von Alexander Smith aufgeschlagen: „Lass ab,<br />

lass ab, lass ab / Du kehrst nie mehr zurück.“<br />

Der Bildungshunger der Soldaten hatte natürlich<br />

Grenzen. Fussell erkennt das kaum an, deshalb ist sein<br />

Buch umstritten. Er bezieht fast jede soldatische Äußerung<br />

auf die klassische Literatur und berücksichtigt zu<br />

selten, dass viele Kriegsheimkehrer kulturelle Traditionen<br />

und deren oft rosiges Bild des Kampfes kritisierten.<br />

Auch aus praktischen Gründen durfte die Lesefreude<br />

der Truppen nicht zu groß werden. Sonst würde ein Soldat<br />

so nutzlos wie der fiktive Privatdozent Dr. phil. T. A. Meyer<br />

in einer Satire der Somme-Wacht. Meyer war „ein außerordentlich<br />

gewissenhafter und gründlicher Mensch, wie<br />

sich das auch für einen Philologen gehört, der noch aus der<br />

Stellung des I-Punktes tiefsinnige Schlüsse ziehen kann.<br />

Sonst war Herr Meyer aber ganz manierlich, harmlos und<br />

gesund.“ 1914 wollte er sich freiwillig melden, sich aber<br />

zuvor „erst geistig für den neuen Beruf eines Feldgrauen<br />

vorbereiten“.<br />

Er bestellte sich, so geht die Fabel, alle Bücher, auf denen<br />

„Unentbehrlich für jeden Soldaten“ oder „Geistiges<br />

Gewaffen für unsere Krieger“ stand und las lange und viel.<br />

Als er sich bereit fühlte und zum Bezirkskommando ging,<br />

hörte er: Der Krieg ist schon seit einem halben Jahr vorbei.<br />

Tatsächlich gekämpft haben ihn die Soldaten und Offiziere<br />

im Feld. Nur böse Zungen würden behaupten: in<br />

ihren Lesepausen.<br />

CHRISTOPHE FRICKER ist Kulturwissenschaftler,<br />

Autor und derzeit Marie Curie Research Fellow an<br />

der University of Bristol. Sein Buch „Stefan George:<br />

Gedichte für Dich“ ( 2011 ) stand auf Platz 2 der<br />

Sachbuchbestenliste von NDR und SZ<br />

»Gier und Maßlosigkeit gab es immer. Sie galten als<br />

Laster. Heute gelten sie als Tugend. In dieser Hybris<br />

Unbenannt-1 1 11.03.14 20:5<br />

liegt der Kern der Krise unserer westlichen Kultur.«<br />

meinhard miegel<br />

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SALON<br />

Man sieht nur, was man sucht<br />

Echt sind hier nur die MASKEN<br />

und dies bittere GEFÜHL Von BEAT WYSS<br />

James Ensor zeigte den „Einzug Christi in Brüssel 1889“ als Mummenschanz<br />

der Satten und Frivolen. So kritisierte er die Große Koalition seiner Heimat<br />

James Ensor war 28 Jahre alt, als<br />

er den „Einzug Christi in Brüssel<br />

1889“ malte. Er wohnte bei<br />

seiner Mutter, die im belgischen<br />

Badeort Ostende einen Souvenirladen<br />

betrieb. Die Leinwand fand<br />

kaum Platz im Atelier, das zuvor sein<br />

Im J. Paul Getty Museum in<br />

Los Angeles ist Ensors schrilles<br />

Sittenpanorama zu besichtigen<br />

Kinderzimmer gewesen war. Ein sehr<br />

persönliches Manifest wurde es, das drei<br />

Jahrzehnte lang eingerollt herumlag. Die<br />

Mutter war inzwischen gestorben, als<br />

Ensor auszog, um sich ein paar Straßen<br />

weiter, im Haus seines Onkels, neu<br />

einzurichten. Hier fand sich Platz, das<br />

Foto: The J. Paul Getty Museum, Los Angeles/© Artists Rights<br />

Society (ARS), New York/SABAM, Brussels<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Foto: Gaetan Bally/Keystone Schweiz /Laif<br />

Riesengemälde aufzuhängen. Zu Ensors<br />

Lebzeiten ist es selten öffentlich ausgestellt<br />

worden. Heute gilt es als Hauptwerk,<br />

worin der Künstler seine Rolle in<br />

der Gesellschaft schildert und zugleich<br />

kundgibt, was ihn an der Politik in der<br />

Hauptstadt Brüssel störte.<br />

Die damals regierende Große Koalition,<br />

den macchiavellistischen Versuch,<br />

Bürgertum und Arbeiterschaft in der<br />

belgischen Willensnation zu verschmelzen,<br />

mochte er nicht. Er greift zu plakativen<br />

Mitteln. Ensor ist der Jonathan<br />

Meese des 19. Jahrhunderts. Katholische<br />

Kirche und Militär, Säulen der belgischen<br />

Krone, zelebrieren ihre heilige<br />

Allianz im frenetischen Korso. Angeführt<br />

wird der Zug von Nikolaus, dem spendierfreudigen<br />

Heiligen. Als Tambourmajor<br />

schwingt der korpulente Bischof den<br />

Taktstock vor einer Blaskapelle maskierter<br />

Soldaten.<br />

Von der beflaggten Tribüne nehmen<br />

die Honoratioren den Maskenzug ab, Zeremonienmeister<br />

einer Stunksitzung. Politik,<br />

Religion, Karneval: Friede, Freude,<br />

Eierkuchen fürs Volk. „Es lebe die Soziale“<br />

prangt auf dem Transparent, das<br />

die Szene als bombastisch absurde Parole<br />

überspannt. Auch die Sozialisten<br />

waren mit im Boot. Vier Jahre vor der<br />

Aufhebung der Sozialistengesetze im<br />

Deutschen Reich, am 15. August 1886,<br />

Mariä Himmelfahrt, durfte die belgische<br />

Arbeiterbewegung bereits erstmals<br />

im Rahmen der Festumzüge in der Stadt<br />

mitmarschieren. Die Burgfriedenspolitik<br />

war besiegelt. GroKo, Alaaf!<br />

Worum geht es bei diesem ohrenbetäubenden<br />

Klamauk? Jesus auf dem Esel<br />

geht unter im Gewühl. Ist es der echte?<br />

Sein bärtiges Gesicht wirkt gepudert.<br />

Dem wahren Jesus hatten die Menschen<br />

mit Palmwedeln zugewinkt, seinem Einzug<br />

in Jerusalem mit Kleidern einen Teppich<br />

ausgebreitet. Hier in Brüssel sind die<br />

Narren mit ihrer eigenen Fröhlichkeit<br />

beschäftigt. Der Geschmacksverstärker<br />

uniformierter Ausgelassenheit lässt die<br />

frohe Botschaft zum Spektakel geraten.<br />

Saturnalien dienten schon den Römern,<br />

die herrschende Ordnung zu bestätigen.<br />

Pessimistische Gedanken malt Ensor<br />

im Jahr 1889, zur Hundertjahrfeier der<br />

Französischen Revolution. In einer Gesellschaft<br />

triumphierender Allianzen ist<br />

es der Opposition buchstäblich zum Kotzen<br />

zumute. Links oben im Bild übergibt<br />

sich ein mit Turban kostümierter Narr.<br />

Ensor legt in derb altflämischer Redensart<br />

nach, wenn er neben dem Spuckenden<br />

einen Hintern malt, der über die Brüstung<br />

– pardon – scheißt. Die grün bespannte<br />

Empore ist mit rotem „XX“ bezeichnet,<br />

dem Emblem der „Société des<br />

Vingt“, einer Vereinigung belgischer<br />

Künstler, die Ensor mitbegründet hat.<br />

Ihre Mitglieder waren überwiegend anarcho-sozialistisch<br />

gesinnt.<br />

Zum Autor<br />

BEAT WYSS<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt Kunstwissenschaft<br />

und Medienphilosophie an der<br />

Staatlichen Hochschule für<br />

Gestaltung in Karlsruhe. Er<br />

schreibt jeden Monat in <strong>Cicero</strong><br />

über ein Bild und dessen<br />

Geschichte<br />

Immer wieder erstaunt die Simultaneität,<br />

mit der wirkmächtige Themen in<br />

der Ideengeschichte auftreten. Ensor malt<br />

den „Einzug Christi“ zur gleichen Zeit, da<br />

Friedrich Nietzsche seine autobiografische<br />

Schrift „Ecce Homo“ schreibt. Das bärtige<br />

Gesicht Jesu hat Züge eines Selbstporträts.<br />

Seit Baudelaire hat sich die symbolistische<br />

Generation mit dem verhöhnten<br />

Christus identifiziert. Der Intellektuelle<br />

erkennt sich als Spottfigur vor dem Tribunal<br />

der Banausen.<br />

Ganz verlassen sieht sich Ensor nicht.<br />

Als symbolische Allianzfigur im Karneval<br />

der Selbstvergessenheit setzt er das<br />

Profil eines lächelnden Voltaire rechts<br />

unten ins Bild. Der Kritiker von absolutistischer<br />

Macht und Kirche ist neben<br />

Christus der einzig Unmaskierte.<br />

Der Maler versteckt sein politisches<br />

Profil hinter einem Schwarm bunter Masken.<br />

Das allegorische Selbstporträt des<br />

jungen Mannes als soziale Randfigur war<br />

nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Es<br />

sollte ihn durch die Enge des Ostender<br />

Alltags begleiten. Heute hängt „Der Einzug<br />

Christi“ in Los Angeles. Was an klassischer<br />

Moderne den Atlantik überquert,<br />

empfängt kanonische Weihe.<br />

131<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

Literaturen<br />

Neue Bücher, Texte, Themen<br />

Tatsachenroman<br />

Das Leiden der anderen<br />

„Alles ist wahr“ erzählt ohne Larmoyanz vom größtmöglichen<br />

Unglück und gibt darin ein Zeugnis tiefer Menschlichkeit<br />

Es gibt nicht viele Bücher, die einen<br />

erfassen wie eine große Welle<br />

und mit sich fortreißen, mitten hinein<br />

in das Leben der anderen. Emmanuel<br />

Carrères „Alles ist wahr“ übt diesen<br />

Sog aus. Nach der Lektüre spült es einen<br />

wieder an Land, wo man leicht benebelt<br />

zu sich kommt und sich fragt: Was war<br />

das eigentlich?<br />

Dieses Buch ist weder Roman noch<br />

Autobiografie, ein schlichter Tatsachenbericht,<br />

aber keine Reportage, ein Buch<br />

übers Leben und Überleben, über Leiden<br />

und Sterben, derart angefüllt mit Dramen,<br />

dass man dem Autor, wäre all dies<br />

Fiktion, die Anhäufung von so viel Unglück<br />

schwerlich abnehmen würde. Aber<br />

alles ist wahr: Innerhalb weniger Monate<br />

wird der französische Schriftsteller<br />

Zeuge zweier großer Dramen, dem<br />

größtmöglichen Unglück, das er sich vorstellen<br />

kann: „der Tod eines Kindes für<br />

seine Eltern und der Tod einer jungen<br />

Frau für ihre Kinder und ihren Mann“.<br />

Jahre später verkettet er beide Ereignisse<br />

und macht daraus eine einzige Erzählung,<br />

aufregend, spannend, oft erschütternd<br />

und sehr schwer einzuordnen.<br />

Die Geschichte beginnt ganz leise,<br />

aber man spürt sofort, dass dies nur die<br />

melancholische Ruhe vor dem großen<br />

Sturm ist: Der Ich-Erzähler macht Urlaub<br />

auf Sri Lanka. Seine Freundin ist<br />

dabei, zwei Söhne aus vorherigen Beziehungen,<br />

der eine von ihr, der andere von<br />

ihm. Im Pool dreht jeden Morgen eine betagte,<br />

athletische Deutsche ihre Runden,<br />

die an Leni Riefenstahl erinnert. Ein paar<br />

Deutschschweizer Ayurveden üben sich<br />

Foto: Igor Zhuravlov/Colourbox.com<br />

132<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


in Yoga, während Emmanuel, der Ich-<br />

Erzähler und Schriftsteller, und Hélène,<br />

die Fernsehjournalistin aus Paris, das unspektakuläre<br />

Ende ihrer Beziehung beschließen.<br />

Es wird ihr letzter gemeinsamer<br />

Urlaub sein. Sie machen Schluss<br />

ohne Feindseligkeit und schauen sich nur<br />

traurig dabei zu, wie sie für alle Zeiten<br />

auseinanderdriften.<br />

Dann, am nächsten Morgen, geschieht<br />

das Ungeheuerliche: Eine Welle<br />

verschlingt das ganze Dorf unterhalb ihres<br />

Hotels. Menschen werden ins Meer<br />

gerissen, ihre Leichen später wieder angespült.<br />

Andere überleben, weil sie sich<br />

an eine Palme geklammert haben oder irgendwo<br />

zwischen Brettern und Bruchstücken<br />

eingeklemmt wurden. „Von da an<br />

spricht man von einem Tsunami, als hätte<br />

jeder dieses Wort immer schon gekannt.“<br />

Es ist nicht das erste Mal, dass sich<br />

Carrère auf das Feld des Faktischen begibt.<br />

Aber er tut dies nicht, um die Wirklichkeit<br />

literarisch zu verdichten, sondern,<br />

im Gegenteil, um sie von allem<br />

Überflüssigen zu befreien und sich zu<br />

ihr in Beziehung zu setzen. Begonnen<br />

hat alles im Jahr 2000 mit „Amok“, einem<br />

Buch, in dem er den Fall von Jean-<br />

Claude Romand rekonstruierte, der<br />

18 Jahre lang behauptete, Arzt zu sein,<br />

und dann, als seine Lüge aufflog, seine<br />

Frau, seine Kinder und auch seine Eltern<br />

tötete. Jahre hat Carrère mit diesem Projekt<br />

verbracht und ist daran fast verzweifelt.<br />

Als er am Ende beschloss, seine Erfahrung<br />

tagebuchartig für sich selbst zu<br />

notieren, löste sich plötzlich der Knoten.<br />

Er erzählte in Ich-Form, subjektiv, ohne<br />

Wahrheitsanspruch. Das Buch wurde ein<br />

solcher Erfolg, dass es mit Truman Capotes<br />

Meisterwerk „Kaltblütig“ verglichen<br />

wurde. Und Carrère hatte seinen<br />

Stil gefunden, wenn nicht sogar ein neues<br />

Genre begründet.<br />

In „Ein russischer Roman“ hat er<br />

sich dann an die Tabus der eigenen Familie<br />

gemacht, die Geschichte des exekutierten<br />

Großvaters erzählt und damit<br />

„Psychoanalyse unter freiem Himmel betrieben“,<br />

wie er es formuliert, mit allem,<br />

was das an Schamlosigkeit und Kollateralschäden<br />

mit sich brachte. Auch „Limonow“<br />

gehört dazu, eine Romanbiografie<br />

über einen irrlichternden russischen Helden.<br />

Sie erschien nach Carrères Bestseller<br />

„Alles ist wahr“, der bereits 2009 im<br />

Am Abend zuvor<br />

waren sie noch wie<br />

wir und wir wie sie.<br />

Aber ihnen<br />

geschah etwas,<br />

das uns nicht<br />

geschah, und jetzt<br />

gehören wir zu<br />

zwei verschiedenen<br />

Sorten Mensch<br />

Original herauskam und nun endlich in<br />

deutscher Übersetzung vorliegt. Es ist<br />

fraglos das erschütternste Buch in dieser<br />

Reihe.<br />

„Alles ist wahr“ beginnt mit dem<br />

Protokoll größter Verwirrung. Carrère<br />

erzählt vom Gestank der Leichen, von<br />

Ruth, der Engländerin, die vor dem Krankenhaus<br />

ausharrt, in einer Art Schockstarre,<br />

wartend auf ihren Verlobten. Er<br />

beschreibt, wie sich sein luxuriöses Hotel,<br />

das er wenige Tage zuvor noch liebend<br />

gern gegen ein studentisches Guesthouse<br />

am Strand getauscht hätte, in das Floß<br />

der Medusa verwandelt und Touristen<br />

aufnimmt, die alles verloren haben. Unter<br />

ihnen Delphine und Jerôme, ein Paar,<br />

mit dem sie sich wenige Tage zuvor angefreundet<br />

hatten und deren vierjährige<br />

Tochter Juliette ertrunken ist.<br />

Die Welt, die so paradiesisch wirkte,<br />

erscheint plötzlich als Horrorfilm. Die einen<br />

sind ein Teil von ihm, die anderen<br />

bleiben Zuschauer: „Da sind wir, sauber,<br />

adrett und verschont, und um uns herum<br />

diese Schar von Aussätzigen, Strahlenopfern,<br />

von verwilderten Schiffbrüchigen.<br />

Am Abend zuvor waren sie noch wie wir<br />

und wir wie sie, aber ihnen geschah etwas,<br />

das uns nicht geschah, und jetzt gehören<br />

wir zu zwei verschiedenen Sorten<br />

Mensch.“ Nüchtern, ganz ohne Pathos<br />

beschreibt Carrère, was er sieht, wem er<br />

begegnet, behält sich dabei aber selbst<br />

mit überraschender Unbestechlichkeit<br />

im Blick und notiert, wie er sich anfangs<br />

noch an der dramatischen Wende eines<br />

sich zuvor dahinschleppenden Urlaubs<br />

erfreute. Schamhaft beginnt der nach seinen<br />

eigenen Worten liebesunfähige Ich-<br />

Erzähler, sich und seine Neurose im Leid<br />

der anderen zu spiegeln. Der Tsunami<br />

wird für ihn zu einer Art wake-up call:<br />

Das Unglück der anderen wird ihn und<br />

auch seine Beziehung retten. „D’autres<br />

vies que la mienne“, andere Leben als das<br />

meine, lautet der Titel im französischen<br />

Original, und er lässt ahnen, wie nah das<br />

Leben der anderen an das eigene heranrücken<br />

kann, ohne dass beide je ganz ineinanderfallen<br />

könnten.<br />

Kaum zurück in Frankreich, in Sicherheit,<br />

nimmt ein neues Drama seinen<br />

Lauf: Juliette, die Schwester seiner Lebensgefährtin,<br />

Richterin in der Nähe von<br />

Lyon, hat Krebs. Sie ist Anfang 33, sie<br />

hat einen sie liebenden Mann, drei sehr<br />

kleine Kinder, das jüngste ist gerade mal<br />

anderthalb. Carrère lernt sie kennen, als<br />

sie schon im Sterben liegt. Eine Begegnung<br />

mit einem ihrer engen Freunde und<br />

Kollegen lässt ihn begreifen: Es muss alles<br />

aufgeschrieben werden. Der Tsunami,<br />

der Krebs, das Sterben, die Geschichte<br />

der Freundschaft zweier hinkender Richter,<br />

die beide in ihrer Jugend einen ersten<br />

Krebs bekämpft hatten, und die sich<br />

verbinden im Engagement für die kleinen<br />

Leute, die sich verbünden im juristischen<br />

Kampf gegen die Verschuldung, gegen<br />

eine ungerechte soziale Ordnung und<br />

sich an der „Speerspitze eines kühnen,<br />

aufregenden Kampfes“ um Gerechtigkeit<br />

wiederfinden, bis einer von ihnen stirbt.<br />

„Alles ist wahr“ ist ein Buch voller<br />

Leid, ohne Larmoyanz, ein Zeugnis von<br />

Menschlichkeit. Seit dessen enormem Erfolg<br />

erhält Carrère Post von Menschen,<br />

die ihn bitten, ihr Leben aufzuschreiben.<br />

Er ist in ihren Augen ein écrivain<br />

public geworden, eine Art „Mutter Teresa<br />

der Literatur“, wie er selbst sagt. Er<br />

aber kann ihnen nur antworten, dass er<br />

es doch eigentlich schon erzählt habe.<br />

Als sei nun alles gesagt. Martina Meister<br />

Emmanuel Carrère<br />

„Alles ist wahr“<br />

Aus dem Französischen von Claudia Hamm.<br />

Matthes & Seitz, Berlin 2014. 248 S., 19,90 €<br />

133<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

Literaturen<br />

Roman<br />

„F“ wie der<br />

Drache Fafnir<br />

Gelehrt, schwer verdaulich<br />

und ungeheuer heiter: Julio<br />

Cortázars „Autonauten“<br />

Von der spanischen Übersetzung eines<br />

Reisebuchs von Werner Herzog<br />

noch ziemlich deprimiert, erkundete<br />

Julio Cortázar, der mit Jorge<br />

Luis Borges die Doppelspitze der fantastischen<br />

argentinischen Literatur des<br />

20. Jahrhunderts besetzt, am 24. Mai<br />

1982 den nördlichen Teil des Autobahnrastplatzes<br />

Achères-la-Forêt. Der verheißungsvolle<br />

Duft von wilden Blumen<br />

führte den Schriftsteller über einen asphaltierten<br />

Weg zu einem Pavillon hinauf,<br />

der wohl dem Verwalter der ebenfalls<br />

hier gelegenen Autowerkstatt<br />

gehören musste. Da hörte Cortázar, wie<br />

die Stimme des mit weißen Blüten übersäten<br />

Busches zu ihm sprach: „Siehst du,<br />

das ist nicht mehr der Geruch der Autobahn,<br />

hier betritt man eine andere Welt.“<br />

Diese andere Welt aber – also alles,<br />

was sich hinter Drahtzäunen, Erdwällen,<br />

Schutzwänden und wehrhaften Hecken<br />

verbergen mochte – blieb Cortázar auf<br />

jenen 800 Kilometern, die zwischen Paris<br />

und Marseille liegen, schon aus Prinzip<br />

verborgen. Die Expedition, auf der er<br />

sich befand, folgte einem strengen Reglement.<br />

Zusammen mit seiner Frau, der<br />

kanadischen Schriftstellerin Carol Dunlop,<br />

war er in einem mit allem Lebensnotwendigen<br />

ausgestatteten VW-Bus aufgebrochen,<br />

um die Strecke von Paris nach<br />

Marseille auf der Autobahn zurückzulegen.<br />

Auf allen 65 Rastplätzen, die auf<br />

diesem Weg lagen, wollte er für mindestens<br />

einige Stunden haltmachen und auf<br />

jedem zweiten von ihnen übernachten,<br />

ganz gleich, wie einladend es dort auch<br />

immer aussehen mochte.<br />

Auf diese Weise sollten die beiden<br />

mehr als einen Monat unterwegs sein,<br />

ohne die Autobahn ein einziges Mal zu<br />

verlassen. Zu Fuß, das lässt sich errechnen,<br />

wäre dieselbe Distanz in demselben<br />

Zeitraum leicht zu überwinden gewesen,<br />

wenn nicht sogar schneller.<br />

„Die Autonauten auf der Kosmobahn“<br />

lautet der Titel jenes schwer verdaulichen,<br />

hochgelehrten, unwahrscheinlich<br />

heiteren und verstörend privaten<br />

Buches, das aus dieser Versuchsanordnung<br />

entstanden und nun, zum Glück,<br />

auf Deutsch neu wiederaufgelegt worden<br />

ist. Julio Cortázar und Carol Dunlop<br />

– er: Mitte sechzig, sie: Mitte dreißig<br />

– schreiben diesen Band, der eine<br />

unklassifizierbare Melange aus klassischem<br />

Logbuch, teilnehmender Beobachtung,<br />

Satire, Brief- und Schelmenroman,<br />

literaturgeschichtlich hyperinformierter<br />

Reisejournal-Kolportage, promenadologischem<br />

Manifest und bodenlos rührender<br />

Lovestory ist, gemeinsam.<br />

Kein Ort, kein Gegenstand, der in<br />

diesem Text nicht sprachmagisch aufgeladen<br />

würde. So ist das Gefährt der beiden<br />

nicht einfach nur ein gewöhnlicher<br />

VW-Bus vom Gebrauchtwagenmarkt.<br />

Das große F, das der Mechaniker dem<br />

Fahrzeug vor Reisebeginn aufs Hinterteil<br />

geklebt hatte, bedeutet auch nicht einfach<br />

Frankreich: Es steht für den Drachen<br />

Fafnir, auf dessen Namen Cortázar<br />

und Dunlop ihr Auto getauft haben. Fafnir<br />

bewacht, der Sage nach, den Schatz<br />

der Nibelungen, und war, wie die beiden<br />

Reisenden voller Bewunderung festhalten,<br />

sowohl dumm als auch pervers. Dass<br />

er durch Siegfrieds Hand sterben musste,<br />

können sie ebenso wenig verzeihen wie<br />

den Mord des Minotaurus durch Theseus.<br />

Dieses Buch ist neben all diesem<br />

auch ein Buch übers Sterben, es ist das<br />

Testament einer Liebe, die in dieser Autofahrt<br />

ihren letzten Transit gefunden<br />

hat. Julio Cortázar litt, wohl infolge einer<br />

Bluttransfusion, an einer damals noch<br />

namenlosen Immunschwächekrankheit<br />

und hatte seine Ehefrau damit längst infiziert.<br />

Beide starben – sie: Mitte dreißig,<br />

er: Mitte sechzig – kurze Zeit, nachdem<br />

die Überfahrt nach Marseille vollendet<br />

war. Wie es im Jenseits einer Autobahn<br />

namens „Leben“ aussehen mochte, darüber<br />

konnten sie dann leider nicht mehr<br />

schreiben.<br />

Ronald Düker<br />

Julio Cortázar, Carol Dunlop<br />

„Die Autonauten<br />

auf der Kosmobahn“<br />

Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer.<br />

Suhrkamp, Berlin 2014. 359 S., 22,95 €<br />

Sachbuch<br />

Die EU kam nicht<br />

zum Bettmerhorn<br />

Thor Kunkel entdeckt das<br />

wahre Leben in den Alpen<br />

und verflucht Berlin<br />

Im Juni 2011 nahm der Schriftsteller<br />

Thor Kunkel Abschied von Berlin und<br />

zog in die Berge. Ein Haus aus Holz<br />

ließ er sich und seiner Frau bauen in der<br />

Schweiz, im Wallis, auf einer Alm knapp<br />

unterhalb der Baumgrenze, am Rande<br />

des Aletschgletschers. Von dort teilt er<br />

uns in „Wanderful“, dem Protokoll einer<br />

inneren wie äußeren Emigration, mit:<br />

Ihr lebt falsch, ihr Städter. In den Bergen<br />

liegt die Wahrheit, blüht die Schönheit,<br />

gedeiht das Wesentliche.<br />

Thor Kunkel weiß: Was er tut, ist<br />

nicht originell. Legion ist die Liste der<br />

Autoren, die vor ihm gipfelwärts schritten.<br />

Nietzsche und Rilke, Zuckmayer und<br />

Hesse, Adorno selbst und viele, viele andere<br />

richteten es sich für eine längere oder<br />

kürzere Weile in der Nachbarschaft von<br />

Gams und Edelweiß ein. Kunkel wählt<br />

das große argumentative Rüstzeug, um<br />

uns seinen Abschied geschichtsnotwendig<br />

erscheinen zu lassen. Berlin wird<br />

zur Chiffre für fast alles, was er ablehnt.<br />

Und daran herrscht kein Mangel. Er floh<br />

vor Fäkalsprache und Lichtsmog, vor<br />

der „kommerziellen Liederlichkeit“ und<br />

dem „urbanen Tumult“, einem nihilistischen<br />

Mainstream, der „Adapter-Kultur“<br />

im Zeitalter der Smartphones, das er ein<br />

„Cyberzooikum“ nennt, ja vor dem „Getriebe<br />

des allgemeinen Weltunrechts“.<br />

Weltflucht, beharrt er, sei diese Generalabsage<br />

nicht, „eher die Entdeckung<br />

der wirklichen Welt“. Wie schaut sie aus,<br />

diese Welt, deren oberster Gesetzgeber<br />

der Berg ist? Am Anfang steht die Anstrengung,<br />

denn weder die Schweizer<br />

noch der Berg haben auf Kunkel gewartet.<br />

Die Mühen um die Baugenehmigung<br />

veranlassen ihn zu dem Bonmot, „unter<br />

den Anlässen, die Selbstmord rechtfertigen<br />

können“, seien „Drangsale der Behörden<br />

und Amtsschikanen an vorderer<br />

Stelle zu nennen“. Teuer wird es, eine<br />

eigene Wasserleitung legen zu lassen,<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


gleich der erste Winter entpuppt sich als<br />

fast halbjähriges „Schnee-Inferno“. Die<br />

Erfüllung eines Traumes, lernt er, bleibt<br />

immer „hinter der Erwartung zurück,<br />

vielleicht besteht das ganze Leben nur<br />

darin, sich immer wieder zu ernüchtern“.<br />

Dennoch wird der gebürtige Frankfurter,<br />

der lange in Amsterdam in der<br />

PR-Branche arbeitete, innerer Schweizer,<br />

noch ehe er recht angekommen ist. Das<br />

Gastland imponiert ihm als Residuum<br />

alteuropäischer Freiheiten inmitten einer<br />

Europäischen Union, die den Einheitsmenschen<br />

anstrebe. Die „EU-Cowboys“<br />

kamen nicht bis zum Bettmerhorn.<br />

Kunkel mit seinen jeder Tendenz im<br />

gegenwärtigen Literaturbetrieb widersprechenden,<br />

ins Fantastische wie ins<br />

Tollkühne ausgreifenden Romanen „Endstufe“,<br />

„Subs“ und „Schaumschwester“<br />

fühlt sich schon lange wie ein Bergler, ein<br />

Montagnard: „Der geborene Berggänger<br />

(…) kann im Grunde nur ein Mann<br />

des Widerstandes werden. (…) Hier, abseits<br />

der Zivilisation genannten Ver-Unordnung,<br />

findet der Berggänger Mittel<br />

und Wege, seine menschliche Seite zu<br />

retten.“ Sein neues Lebensmotto lautet<br />

„Solvitur ambulando – im Gehen lösen<br />

sich die Probleme, nicht auf der Straße.“<br />

Ja, hier stilisiert sich einer mit großer<br />

Klappe zum letzten Outlaw der Literatur,<br />

zum Thoreau des 21. Jahrhunderts<br />

auf der Suche nach seinem „Herzensbild“.<br />

Manch Unausgegorenes findet<br />

sich auch, eine buddhistisch zugespitzte,<br />

neopagane Naturreligiosität etwa, vor<br />

der selbst die harmlosen Gipfelkreuze<br />

keinen Bestand haben; sie seien „Gaunerzinken<br />

an den Toren des Himmels“.<br />

Dafür entschädigen die Schonungslosigkeit,<br />

mit der Thor Kunkel sich und die<br />

Gegenwart, an der er unrettbar Anteil<br />

hat, seziert, und sein Mut zur hochfahrenden<br />

wie demütigen Geste, von keiner<br />

Rücksichtnahme gemildert: „Man<br />

sollte sich selbst gegenüber stets anmaßend<br />

sein. Der Schuh ist selten eine<br />

Nummer zu groß.“ Solche Sätze schreibt<br />

sonst niemand. Alexander Kissler<br />

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Storys<br />

Draußen in der<br />

Lower East Side<br />

Grace Paleys Storys<br />

erzählen vom New York<br />

der Siebziger<br />

Sie hängen nachmittags auf der<br />

Straße ab, die jungen Mädchen und<br />

Frauen in diesen Geschichten, auf<br />

einer Treppe vor einem Mietshaus in der<br />

New Yorker Bronx sitzend oder in Greenwich<br />

Village. Großmäulig und schlagfertig<br />

sind sie als Teenager – mit drei quengelnden<br />

Kindern findet man sie auf dem<br />

Spielplatz ein paar Jahre später. Das ist<br />

kein Stoff für große Literatur, dachte<br />

Grace Paley, die gern las und Gedichte<br />

schrieb, wenn sie auf die schnellen, anzüglichen<br />

Wortwechsel lauschte, in den<br />

Jahren, als sie selbst noch eine von ihnen<br />

war: mit einem Halbtagsjob im Büro, die<br />

erste Ehe mit 19 und mit Ende 20 dann<br />

mit zwei kleinen Kindern.<br />

Die spätere Autorin, Bürgerrechtlerin<br />

und Feministin Paley bezeichnete<br />

sich selbst einmal als „kooperative Anarchistin“.<br />

Als drittes Kind russisch-jüdischer<br />

Einwanderer 1922 in der Bronx geboren,<br />

wuchs sie mit Jiddisch, Russisch<br />

und Englisch auf. Für formale Bildung<br />

fehlten der politisch interessierten Arzttochter<br />

schlichtweg Geduld und Disziplin<br />

– die spätere Universitätsdozentin ist<br />

selbst eine Schulabbrecherin. Es zieht sie<br />

auf Demos und Straßenfeste, nicht an<br />

den Schreibtisch. Über die jungen welfare<br />

mothers im Park nebenan, die von<br />

der Fürsorge leben, weil ihre Männer sie<br />

sitzen ließen, schreibt in den fünfziger<br />

und sechziger Jahren niemand: Frauen<br />

sind adrett und anstellig, nicht frech und<br />

eigenwillig wie in Paleys Kurzgeschichten,<br />

die sie zum ersten Mal im Jahr 1959<br />

in einer Sammlung veröffentlicht.<br />

In „Spielplatz, Nordostseite“ hat die<br />

Prostituierte Leni einen hübschen kleinen,<br />

farbigen Sohn. „So’n dämlicher Typ<br />

schuldete mir was und konnte nicht zahlen.<br />

Also gab er mir das erste Balg, das<br />

er kriegte. Ja, das ist Hilfe für bedürftige<br />

Kinder. Jetzt, meine Süße, bleibe ich wie<br />

eine Bärenmutter einfach zu Hause und<br />

glotze fern. Freier mach ich kaum noch<br />

einen in der Woche.“ Der schnoddrigwitzige<br />

Ton und der schnelle Rhythmus<br />

sicherten Grace Paley ihren Ruf als Großstadtautorin.<br />

Ihre New Yorker Protagonisten<br />

sind street smart und abgebrüht,<br />

aber den Provinzküken bricht die Stadt<br />

grausam das Genick.<br />

Die wahre Geschichte „Das kleine<br />

Mädchen“ wollte lange niemand drucken.<br />

Paley erzählt sie aus der Perspektive eines<br />

älteren Afroamerikaners und ermöglicht<br />

damit eine Distanz zur Hauptfigur.<br />

„Morgens kam Carter im Café vorbei“ –<br />

so lautet die unspektakuläre Hinführung<br />

zu einem Gewaltexzess wie in einem<br />

Blaxploitation-Film. Carter, ein<br />

lässiger, selbstbewusster Afroamerikaner<br />

– „Seine Hosen spannen. Sein Kopf<br />

macht Bilder“ – ist auf Beutetour im Park.<br />

Und schon schnappt die Falle zu für die<br />

weiße Schülerin aus dem Mittleren Westen,<br />

die so gierig ist aufs Großstadtleben.<br />

Grace Paley und ihre Übersetzerin Sigrid<br />

Rusch meier treffen den Ton der Lower-<br />

East-Side-Absteigen in den drogenvernebelten<br />

siebziger Jahren, als New York<br />

noch eine gefährliche Verheißung war.<br />

Ihre authentische Sprache und die<br />

kluge Dramaturgie machen diese Geschichten<br />

fast zu kleinen Hörstücken,<br />

was sicherlich auch daran liegt, dass Paley<br />

ihre Storys immer vor Zuhörern ausprobierte.<br />

Die Vietnamkriegsgegnerin<br />

engagierte sich auch nach ihrem Umzug<br />

ins ländliche Vermont gemeinsam mit ihrem<br />

zweiten Ehemann in der Friedensbewegung<br />

und für Frauenrechte, sie blieb<br />

eine umtriebige Aktivistin, die, ausgezeichnet<br />

mit mehreren Literaturpreisen,<br />

2007 starb. Neben Gedichtsammlungen<br />

und Essays veröffentlichte sie nach diesem<br />

zweiten Erzählband 1985 nur noch<br />

einen weiteren. Das Interview mit ihr,<br />

das sich im Anhang des Buches findet,<br />

erklärt neben den Daten zu Leben und<br />

Werk unter anderem auch, warum es<br />

nicht mehr brauchte, um sich unweigerlich<br />

in den Kanon moderner US-Literatur<br />

einzuschreiben. Claudia Fuchs<br />

Grace Paley<br />

„Ungeheure Veränderungen in<br />

letzter Minute. Storys“<br />

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.<br />

Schöffling, Frankfurt 2014. 256 S., 19,95 €<br />

136<br />

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SALON<br />

Bibliotheksporträt<br />

DIE VIELEN GELIEBTEN<br />

DES HERRN M.<br />

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler macht in der<br />

Bibliothek wie im Leben sich den Zufall zunutze. Auch sein Buch<br />

über den Ersten Weltkrieg verdankt sich dieser lässigen Kunst<br />

Von SOPHIE DANNENBERG<br />

In diesem Randbezirk Berlins gehen die Kids mit Pudelmützen zur Dorfdisko.<br />

Die Gehwege sind aus Gras, die Häuser schmiegen sich in die Vorgärten.<br />

Das Haus der Münklers erkennt man von außen an den Büchern. Sie<br />

scheinen hinter den Fenstern auf, als wäre das Haus aus Büchern gemauert,<br />

die weiß verputzt wurden. Die Bücher nehmen drei Etagen ein. Herfried<br />

Münkler sitzt hinter einem schlanken Wasserglas am Tisch, spricht höflich<br />

und leise. Seine Frau, die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, grüßt<br />

und verschwindet lautlos zu ihrem Schreibtisch unter dem Dach.<br />

„Unsere Bibliothek“, sagt Herfried Münkler, „ist ein gewachsener Organismus,<br />

in dem die Ringe unserer beider Interessen mal auseinanderlaufen<br />

und sich mal überschneiden.“ Mehrfach wurden die Bücher umorganisiert,<br />

hintereinander, aufeinander gestellt, dann wieder aussortiert. Zwar gibt es<br />

Kategorien: Ideengeschichte, Realgeschichte, Kultur- und Sozialgeschichte,<br />

Kunst, Literatur. Aber der Zufall bringt alles durcheinander. Denn die Bücher<br />

neigen zum Wandern: aus den Kategorien in die Handapparate mit den<br />

aktuellen Themenfeldern und von dort wieder zurück in andere Kategorien,<br />

neue Themenfelder. Die Bücher, die Münkler für den „Großen Krieg“<br />

verwendete, füllen ein halbes Zimmer. „Was mache ich mit ihnen? Ich kann<br />

mich nicht von ihnen trennen, aber sie passen auch nicht mehr in die Regale.<br />

In welche Kategorie sollen sie, Kriegsliteratur oder Ideengeschichte?“<br />

Aber Herfried Münkler lässt sich nicht vom Zufall aus dem Konzept<br />

bringen. Er macht ihn sich zunutze. Das gilt auch für seine Laufbahn. Was<br />

im Rückblick aussieht wie ein Karriereplan, sind in Wahrheit überlegte Reaktionen<br />

auf Unerwartetes. „Das Leben hängt von so vielen Zufällen ab“,<br />

sagt er. „Wir versuchen nachträglich, eine Stringenz zu erzählen. Aber das<br />

Erzählen der eigenen Identität ist immer auch ein Konstruieren der Identität.“<br />

Die Idee, über Machiavelli zu forschen, damals im Frankfurt der siebziger<br />

Jahre, am Institut für Sozialforschung, war auch so ein Zufall. Man<br />

las Marx und Mitscherlich, nicht „Il Principe“. Ein Außenseiterthema, bei<br />

einem Außenseiterlehrer zudem. Münklers Doktorvater war Iring Fetscher,<br />

ein im Kontext der Frankfurter Schule eigenständiger Denker, Kenner von<br />

139<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Hegel und Rousseau, kein Zeitgeistvertreter wie Habermas. „Habermas<br />

betrieb zu viel Gemeindebildung. Das lag mir nicht, immer an den Lippen<br />

des Meisters zu hängen. Bei meinem Doktorvater Iring Fetscher war das<br />

viel unproblematischer.“<br />

Die Dissertation über Machiavelli wurde ein Erfolg. Nach seiner Habilitation<br />

über Staatsraison konnte er sich den Lehrstuhl aussuchen und entschied<br />

sich für Berlin. Studenten rät er, so vorzugehen wie er: sich nicht in<br />

überbevölkerten Themen anzusiedeln, stattdessen Entdeckerqualitäten zu<br />

entwickeln. „Doktoranden auf Themensuche fordere ich zu intellektueller<br />

Promiskuität auf. Sie sollen sich mehrere Geliebte mit nach Hause nehmen<br />

und dann entscheiden, welche Liebesbeziehung für sie am meisten hergibt.“<br />

Das Prinzip des aufmerksamen Sich-treiben-Lassens hat ihn so produktiv<br />

gemacht, dass seine Publikationsliste fast unübersichtlich erscheint. Mal<br />

ist es Politische Theorie, mal die Antike, mal die Renaissance, die ihn beschäftigt.<br />

Seine Bücher und ihre Übersetzungen füllen zwei hohe Regale in<br />

der oberen Etage der Bibliothek. Er hat sie alle mit der Hand geschrieben,<br />

mit einem Füllfederhalter. Zuweilen leidet Münkler unter der Kopfarbeit<br />

und empfindet es als Glück, physisch etwas zu leisten. „Das ist auch etwas<br />

Taktiles, eine Erotik des Schreibens. Der Tintenfluss zwingt zur Flüssigkeit<br />

der Gedanken. Es passiert mir dann nicht, dass ich schneller schreibe,<br />

als ich denken kann. Texte, die ich am Computer tippe, werden nicht gut.“<br />

Berühmt machte ihn 2002 sein Buch über „Die neuen Kriege“. Darin<br />

vertritt er die These, dass die klassischen zwischenstaatlichen Kriege mehr<br />

und mehr verschwinden. An ihre Stelle treten schwelende Kriege, die Söldner,<br />

Terroristen, Warlords führen. Seither berät Münkler Politiker, etwa zur<br />

Frage der Terrorabwehr oder Internetsperren. Journalisten sprechen ihn als<br />

Experten an: „Ich bin ein ambivalenter Mensch, gelegentlich gehen mir Interviews<br />

auf die Nerven. Alles ist jetzt so bedeutsam, das ist schrecklich.<br />

Es ist doch auch gut, mal was dahinzusagen, auch mal leichtsinnige Äußerungen<br />

machen zu können. Das beflügelt das Denken.“<br />

Auch dass er jetzt ein Buch über den Ersten Weltkrieg veröffentlichte,<br />

sei nicht geplant gewesen. Es gab in Deutschland keine neueren umfassenden<br />

Darstellungen, da schrieb er eben eine. Herausgekommen ist ein detailreiches<br />

Werk, das den Begriff der Schuld hinter sich lässt und nach Verantwortung<br />

fragt, das klug oszilliert zwischen Analyse und Anschauung. Und –<br />

natürlich – die Zufälle schildert, die diesem Krieg seine Wendungen gaben.<br />

Herfried Münklers Bibliothek ist ein Ort der Übergänge. Die Ideen<br />

wandern aus den Büchern in seinen Kopf und aus dem Kopf in die Bücher.<br />

Mit kleiner, gestochen scharfer Handschrift schreibt er Anmerkungen aufs<br />

letzte Vorsatzblatt. So auch bei einem Lieblingsbuch, der „Legitimität der<br />

Neuzeit“ von Hans Blumenberg. Er las es zum ersten Mal mit 22 Jahren.<br />

„Blumenberg hat mich mit seinem Wissen kolossal beeindruckt. Mensch,<br />

Herfried, dachte ich damals, so viel willst du auch mal wissen!“<br />

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> (Seiten 138 bis 141)<br />

SOPHIE DANNENBERG ist Schriftstellerin ( „Teufelsberg“ )<br />

140<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


SALON<br />

Hopes Welt<br />

DAS SCHIFF DES LEBENS UND SEINE VIELEN HÄFEN<br />

Wie ich in Kapstadt einmal daran erinnert wurde, dass die<br />

Wahrheit über einen Menschen nicht im Reisepass steht<br />

Von DANIEL HOPE<br />

Die Dame bei der Einreise am Flughafen<br />

Kapstadt schaute skeptisch. „Sie haben<br />

keinen südafrikanischen Pass?“ Ich verneinte.<br />

„Aber Sie sind in Südafrika geboren.“ Ich<br />

nickte, sie lächelte doch: „Welcome home, Sir.“<br />

Du wunderbares Wort „Zuhause“! Die Frage<br />

von Nationalität und Zugehörigkeit stelle ich<br />

mir, seit ich weiß, dass meine jüdischen Urgroßeltern<br />

mütterlicherseits in Berlin lebten und sich<br />

als Deutsche fühlten. Eigentlich müsste ich sagen,<br />

ich bin Südafrikaner. Ich könnte auch überzeugend<br />

argumentieren, ich bin Engländer, denn<br />

in England verbrachte ich Kindheit und Jugend.<br />

Englisch ist meine Muttersprache. Wie wäre es<br />

mit Österreicher, in Wien lebe ich seit Jahren.<br />

Oder Ire, meine Familie väterlicherseits stammte<br />

aus Irland. Ich habe einen irischen Reisepass.<br />

Den Iren habe ich es zu verdanken, dass wir<br />

damals in England bleiben konnten. Als unsere<br />

Aufenthaltsgenehmigung auszulaufen drohte,<br />

hätte dies eine Rückkehr nach Südafrika bedeutet.<br />

Für meine Eltern aber war das Leben im Südafrika<br />

der siebziger Jahre mit der abscheulichen<br />

Rassentrennung unerträglich geworden. Mein<br />

Vater hatte das kritische Literaturmagazin Bolt<br />

gegründet und erregte die Aufmerksamkeit der<br />

Behörden, indem er die Gedichte eines Schwarzen,<br />

des damaligen Präsidenten von Senegal,<br />

Léopold Senghor, darin veröffentlichte.<br />

Eines Sonntags läuteten zwei Telefontechniker.<br />

„Wir haben keine Probleme, und außerdem<br />

ist Sonntag“, sagte meine Mutter. Dennoch installierte<br />

der Monteur vor den Augen meiner Eltern<br />

im Telefonhörer eine Wanze. Von diesem<br />

Zeitpunkt an wurden alle Telefonate überwacht.<br />

Wenn meine Eltern das Haus verließen, wurden<br />

sie beschattet. Die Beamten der Sicherheitspolizei<br />

verheimlichten ihre Anwesenheit nicht,<br />

sondern winkten zynisch. Kuverts wurden aufgerissen,<br />

Briefe gelesen und wieder in die Umschläge<br />

gesteckt. Mein Vater hatte zu dieser Zeit<br />

eine Reihe von schwarzen Freunden, aber unter<br />

der Apartheidsregierung war es fast unmöglich,<br />

Kontakt zu halten. Wenn Gäste zum Abendessen<br />

in die Wohnung kamen, mussten sie heimlich<br />

den Dienstbotenlift nehmen. Die Benutzung<br />

des „Weißenlifts“ und der Aufenthalt im Gebäude<br />

nach Einbruch der Dunkelheit waren ihnen<br />

verboten.<br />

Wir flüchteten nach England, wo uns schnell<br />

das Geld ausging. Eines Tages erfuhr meine Mutter,<br />

dass man mit einem irischen Pass in England<br />

dauerhaft leben und arbeiten konnte. Sie wühlte<br />

sich durch das Taufregister im irischen Waterford,<br />

bis sie einen Taufschein meines Urgroßvaters<br />

ausfindig machte. Wir alle wurden Iren.<br />

Wenn ich sehe, wie viel Blut vergossen<br />

wurde im Namen unzähliger Nationalitäten, bin<br />

ich froh, in so vielen Ländern friedlich aufgenommen<br />

worden zu sein. Die eigene Nationalität<br />

scheint mir keine Frage des Reisepasses zu sein,<br />

sondern dieses Gefühl, Anker schlagen zu dürfen.<br />

„Was bist du zum Teufel?“, fragte mich neulich<br />

jemand. Ich bin überzeugter Europäer. Fragen<br />

Sie mich nur nicht nach meinem Pass …<br />

DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang und<br />

schreibt jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt<br />

erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und<br />

Katastrophen in der Musik“ ( Rowohlt ) und<br />

die CD „Spheres“. Er lebt in Wien<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

142<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


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Wolfgang Bauer, Reutlingen<br />

Ich schreibe für<br />

DIE ZEIT<br />

Die Luftangriffe auf Aleppo zählen für Wolfgang Bauer zu den schlimmsten Verbrechen gegen eine Zivilbevölkerung seit denen<br />

des Vietnamkriegs. Er weiß, wovon er spricht. Sechsmal schon war er seit dem Ausbruch der ersten Aufstände in Syrien. Was er dort<br />

gesehen und erlebt hat, was er davon berichtet, übersteigt unsere Vorstellungskraft, macht uns fassungslos. Die behütete Friedlichkeit<br />

seiner schwäbischen Heimatstadt, in der wir ihn besuchen, erscheint plötzlich surreal. Wolfgang Bauer kennt diesen Gegensatz und<br />

braucht ihn zum Schreiben. Warum er den Glauben an die Menschlichkeit nie verliert, obwohl er oft dem Schrecklichsten begegnet,<br />

zu dem Menschen fähig sind, erzählt er im Film.<br />

Autoren der ZEIT im Filmporträt<br />

www.fuer-die-zeit.de


SALON<br />

Foto: Dan Martensen/Trunk Archive<br />

144<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Die letzten 24 Stunden<br />

Mein Texas,<br />

mein Scotch<br />

und mein<br />

Schaukelstuhl<br />

ETHAN<br />

HAWKE<br />

Ethan Hawke<br />

Kritik und Publikum jubeln oft,<br />

wenn der Schauspieler seinen<br />

Studien der Männlichkeit neue<br />

Facetten abgewinnt, zuletzt in<br />

„Before Midnight“ und „Boyhood“,<br />

beides von Richard Linklater<br />

In den vergangenen drei Jahren<br />

wurde ich viermal für tot erklärt.<br />

Einmal saß ich am Steuer meines<br />

Autos, trank eine Cola und fuhr mit<br />

meinen Töchtern in den Urlaub, als<br />

im Radio ein kalifornischer Sender das<br />

Gerücht in die Welt setzte, ich hätte mir<br />

das Leben genommen. Ein anderes Mal<br />

berichtete eine kanadische Zeitung von<br />

einem tödlichen Sturz am Filmset. Angeblich<br />

hätte ich Kokain genommen und<br />

wäre derart im Rausch gewesen, dass ich<br />

mir beim Dreh einer Actionszene das<br />

Genick brach. Zuletzt sorgten zweimal<br />

wildgestreute Nachrichten bei Twitter<br />

dafür, dass sich mehrere Tausend Leute<br />

bemüßigt fühlten, meinen Namen mit<br />

den gut gemeinten Abschiedsworten<br />

Rest In Peace zu verlinken.<br />

Ich weiß nicht, was mir all dies sagen<br />

soll. Eigentlich musste ich darüber lachen.<br />

Dennoch war es jedes Mal ein seltsames<br />

Gefühl, die Nachricht des eigenen Todes<br />

zu lesen. Die Falschmeldungen sahen aus<br />

der Distanz betrachtet kaum anders aus<br />

als die einiger Freunde und Kollegen, die<br />

mich in meiner Karriere begleitet und irgendwann<br />

verlassen haben. Der erste, River<br />

Phoenix, war gerade 23 Jahre alt, als<br />

er eines Nachts auf dem Sunset Boulevard<br />

an einer Überdosis starb. Der letzte,<br />

Heath Ledger, war auch noch keine 30,<br />

als er völlig überraschend von uns ging.<br />

Ich bin jetzt mittlerweile über<br />

40 Jahre alt, und vielleicht ist es so, dass<br />

ich im Gegensatz zu den beiden die<br />

schwierigste und gefährlichste Phase in<br />

meinem Leben überstanden habe. Dies<br />

bedeutet jedoch nicht, dass es für mich<br />

keine Angst mehr vor dem Tod gibt –<br />

diese Angst ist nicht verschwunden. Es<br />

geht nun aber nicht mehr um mich selbst,<br />

sondern um meine vier Kinder, für die<br />

ich da sein will, solange es geht.<br />

Wenn ich also wüsste, mir blieben<br />

nur noch 24 Stunden auf dieser Welt,<br />

dann würde ich die Zeit mit ihnen verbringen<br />

und versuchen, ihnen so viel<br />

wie möglich mit auf den Weg zu geben.<br />

Damit meine ich keine elterlichen Ratschläge,<br />

die sie sowieso nicht hören wollen<br />

würden, sondern vielmehr Erinnerungen,<br />

an denen sie sich eines Tages<br />

festhalten können.<br />

Ich würde meine Kinder in ein Auto<br />

stecken und mit ihnen nach Texas fahren,<br />

wo ich geboren bin. Sie waren noch<br />

nie dort, und sie sollen wenigstens einmal<br />

in ihrem Leben die Farm sehen, auf<br />

der ich früher in den Schulferien immer<br />

meinen Onkel besucht habe. Es ist ein<br />

malerischer Ort, unweit von Austin, und<br />

doch mitten im Nirgendwo. Die Sonne<br />

würde uns ins Gesicht brennen, doch<br />

ich wäre der Einzige, der keine Schutzcreme<br />

tragen muss, denn bei mir käme<br />

es darauf nicht mehr an. Wir würden gemeinsam<br />

über die endlosen Felder laufen,<br />

ich würde mit meinen kleinen Töchtern<br />

in den mannshohen Maisplantagen<br />

Fangen spielen und würde meinen Sohn,<br />

der jetzt schon elf geworden ist, fragen,<br />

was er sich vom Leben erträumt.<br />

Erst am Abend, wenn meine letzten<br />

Stunden anbrechen, würden wir zurück<br />

zur Farm gehen. Ich würde mich in den<br />

quietschenden, alten Schaukelstuhl auf<br />

der Veranda setzen, meine Kinder im<br />

Arm. Weil ich nicht den Schmerz, sondern<br />

das Glück dieses Augenblicks schwer ertragen<br />

könnte, würde eine Flasche voll<br />

teurem irischen Scotch nicht schaden, um<br />

mich von sentimentalen Reden abzuhalten.<br />

Einfach nur die Kleinen um mich herum<br />

haben und leicht betäubt wegdämmern:<br />

Das wäre das schönste Ende, das<br />

ich mir vorstellen kann.<br />

Aufgezeichnet von CLAAS RELOTIUS<br />

145<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


POSTSCRIPTUM<br />

N°-4<br />

DEBATTE<br />

Früher gab es einmal Debatten, Streitgespräche,<br />

Kontroversen. Die Älteren<br />

unter uns werden sich vielleicht noch daran<br />

erinnern, wie so etwas ablief. Nämlich<br />

im Wesentlichen über den Austausch von<br />

Argumenten. Da stellte also jemand eine<br />

wohlüberlegte These in den Raum, und<br />

wer sich kompetent genug und dazu berufen<br />

fühlte, formulierte eine entsprechende<br />

Gegenthese. Nicht selten führte dieser<br />

öffentliche Meinungsaustausch dazu, dass<br />

hinterher alle ein bisschen schlauer waren.<br />

Insgesamt also eine feine Sache.<br />

Diese Form der mehr oder weniger anspruchsvollen<br />

Auseinandersetzung scheint<br />

mittlerweile jedoch abgelöst worden zu<br />

sein durch ein Aufmerksamkeitsgeheische,<br />

dessen rabaukenhafter Kern meist nur<br />

notdürftig hinter intellektuellen Pappkulissen<br />

versteckt wird. Der jüngste – und<br />

nach kurzem Getöse schnell wieder zu<br />

den Akten gelegte – Fall hat gezeigt, dass<br />

selbst hochdekorierte Schriftstellerinnen<br />

nicht davor gefeit sind, sich auf dieses<br />

Spiel einzulassen.<br />

Ob Sibylle Lewitscharoff, die ihre seltsamen<br />

Homunkulus-Thesen inzwischen<br />

widerrufen hat, nun auch zu den Opfern<br />

eines vermeintlichen Tugendterrors gezählt<br />

werden muss, sollen andere entscheiden.<br />

Fest steht jedenfalls, dass weder ihre<br />

Einlassungen noch die wütenden Reaktionen<br />

darauf irgendeinen geistigen Mehrwert<br />

hervorgebracht haben – geschweige<br />

denn einen von Dauer.<br />

Eigentlich komisch, dass heute zwar<br />

jedem Ramschartikel mit irgendwelchen<br />

Nachhaltigkeitszertifikaten ein langes<br />

und nützliches Dasein bescheinigt werden<br />

soll, während gleichzeitig bei öffentlichen<br />

Debatten immer mehr die Mechanismen<br />

der Wegwerfgesellschaft greifen: heute<br />

formuliert, morgen darüber aufgeregt,<br />

übermorgen schon vergessen. Und wenn<br />

doch etwas zurückbleibt, dann allenfalls<br />

beleidigende Kampfbegriffe wie „Kopftuchmädchen“<br />

oder eben „Halbwesen“.<br />

Das ist dann eine Art intellektueller Sondermüll:<br />

schwer zu entsorgende Klimakiller,<br />

die auch sonst niemandem nützen.<br />

Existiert eigentlich schon ein Begriff<br />

für diesen Typ von Kontroversen? In Anlehnung<br />

an Lewitscharoffs Wortwahl aus<br />

Anlass ihrer Dresdner Rede würde ich es<br />

mit der Beschreibung so versuchen: Nicht<br />

ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern<br />

zweifelhafte Geschöpfe, halb Debatte,<br />

halb künstliches Weißnichtwas.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 24. APRIL<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

146<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014


Auf den ersten Blick ein Klassiker.<br />

Auf den zweiten Blick sogar noch mehr.<br />

Der klassische Charakter der 1815 Rattrapante Ewiger Kalender lässt<br />

sich auf den ersten Blick erkennen. Die Eisenbahn-Minuterie und die<br />

arabischen Ziffern sind von den früheren Taschenuhren von A. Lange &<br />

Söhne inspiriert. Bei genauer Betrachtung des Manufakturkalibers L101.1<br />

offenbaren sich die klassisch konstruierten Mechanismen des ewigen<br />

Kalenders und des Chronograph-Rattrapante. Mit ihren anspruchsvollen,<br />

traditionell umgesetzten Komplikationen ist die Uhr eine Hommage<br />

an die Leistungen Ferdinand A. Langes. www.alange-soehne.com

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