Cicero Judenfeind Luther (Vorschau)
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Nº04<br />
APRIL<br />
2014<br />
€ 8.50<br />
CHF 13<br />
Krim-Krise<br />
Und morgen die ganze Welt<br />
Putins neokonservativer<br />
Masterplan<br />
Geht es ohne Russengas ?<br />
Energiekommissar<br />
Günther Oettinger im Interview<br />
Feuertaufe eines Außenministers<br />
Unterwegs mit<br />
Frank-Walter Steinmeier<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Die überfällige Debatte zur 500-Jahr-Feier:<br />
Die Protestantin MARGOT KÄSSMANN bezieht Position,<br />
der Kriminologe CHRISTIAN PFEIFFER führt Beweis<br />
Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />
Spanien: 9.50 € , Finnland: 12.80 €<br />
04<br />
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ATTICUS<br />
N°-4<br />
HÄSSLICHES ERBE<br />
Titelbild: Agentur Bridgeman, Corbis; Titelmontage: <strong>Cicero</strong>; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
Von den Deutschen wird gern behauptet,<br />
sie hätten bis 1989 nie eine Revolution<br />
zustande gebracht. Das stimmt nicht. Vor<br />
fast 500 Jahren hat auf deutschem Boden<br />
die größte Revolution stattgefunden, die<br />
das Abendland je gesehen hat. Sie heißt<br />
nur nicht Revolution, sondern Reformation.<br />
Ein Mönchlein namens Martin <strong>Luther</strong><br />
stand auf gegen die gesamte Kurie, stellte<br />
einen direkten Draht her zwischen den<br />
Gläubigen und dem lieben Gott, brach mit<br />
seiner Volksbibel das Lese- und damit Bildungsmonopol<br />
der Kirche. <strong>Luther</strong>s Name<br />
und die Reformation werden in Heinrich<br />
August Winklers epochaler „Geschichte<br />
des Westens“ zu Recht eine entscheidende<br />
Rolle beigemessen. Die Geschichte des<br />
Westens beginnt mit Martin <strong>Luther</strong>.<br />
Deshalb werden 500 Jahre Reformation<br />
auch nicht einfach in einem Jahr<br />
gefeiert, sondern in einer Dekade, der sogenannten<br />
<strong>Luther</strong>-Dekade, die ins Jubiläumsjahr<br />
2017 mündet. Zeit für ein würdevolles<br />
Gedenken, aber auch Zeit, über<br />
die dunkle Seite des Kirchengründers<br />
offen zu diskutieren. Dass sich <strong>Luther</strong> in<br />
seinen späten Jahren offen judenfeindlich<br />
äußerte, ist aktenkundig. Aber eine<br />
ehrliche Debatte der evangelischen Kirche<br />
über dieses hässliche Erbe steht noch<br />
aus. Margot Käßmann, die offizielle<br />
<strong>Luther</strong>-Botschafterin der EKD, stellt sich<br />
in <strong>Cicero</strong> als erste namhafte Protestantin<br />
dieser Debatte – im Gipfeltreffen mit<br />
dem <strong>Luther</strong>-Biografen Heinz Schilling<br />
und Walter Kardinal Brandmüller, dem<br />
langjährigen Chefhistoriker des Vatikans<br />
( ab Seite 24 ). Der Kriminologe Christian<br />
Pfeiffer weist mit der Akribie eines Ermittlers<br />
nach, dass der Antisemitismus in<br />
Deutschland besonders in protestantisch<br />
geprägten Regionen gedieh ( ab Seite 16 ).<br />
Pfeiffer, selbst Protestant, hat eine Indizienkette<br />
recherchiert, die von <strong>Luther</strong>s<br />
Schriften zum Antisemitismus der Nazizeit<br />
führt.<br />
Die Krimkrise bildet den zweiten<br />
Schwerpunkt dieses Heftes. Man muss<br />
nicht so weit gehen wie Egon Bahr, der<br />
sagte, wir lebten wieder in einer „Vorkriegszeit“.<br />
Aber das erste Mal seit Jahrzehnten<br />
gibt es in Europa wieder einen<br />
regionalen Territorialkonflikt, der weitreichende<br />
Folgen haben könnte. Was treibt<br />
Putin? Gibt es ein Muster seines Handelns,<br />
von der Schwulenfeind lichkeit bis zum<br />
Imperialismus? Der britische Journalist<br />
Owen Matthews, lange Jahre Korrespondent<br />
von Newsweek in Moskau, sieht einen<br />
Masterplan in Putins Aktivitäten von<br />
Sotschi bis zur Krimkrise ( ab Seite 52 ).<br />
Der frühere tschechische Außenminister<br />
Karel Schwarzenberg plädiert für<br />
eine harte Position des Westens: „Appeasement<br />
ist nicht das Gebot der Stunde“<br />
( ab Seite 60 ).<br />
Mit besten Grüßen<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
Chefredakteur<br />
5<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
INHALT<br />
TITELTHEMA<br />
16<br />
DIE DUNKLE SEITE DES REFORMATORS<br />
Martin <strong>Luther</strong>s Hass auf die Juden machten sich die<br />
Nationalsozialisten zunutze. Höchste Zeit, dass die evangelische<br />
Kirche ihre Geschichte selbstkritisch aufarbeitet<br />
Von CHRISTIAN PFEIFFER<br />
Foto: IAM/AKG Images<br />
24<br />
„ER SCHLEUDERTE KILOMETERHOCH LAVA“<br />
Heinz Schilling, Margot Käßmann<br />
und Walter Kardinal Brandmüller im Streitgespräch<br />
über <strong>Luther</strong> und die Folgen der Reformation<br />
Von ALEXANDER KISSLER<br />
7<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />
34 ZAHN UM ZAHN<br />
Bodo Ramelow will Ministerpräsident<br />
werden. Er wäre der erste<br />
Regierungschef aus der Linkspartei<br />
52 PUTINS MASTERPLAN<br />
Der russische Präsident strebt nach<br />
der rechtskonservativen Herrschaft<br />
Von OWEN MATTHEWS<br />
80 PLÜSCHVOGELS HÖHENFLUG<br />
Sky-Manager Brian Sullivan beweist:<br />
Pay-TV in Deutschland funktioniert<br />
Von THOMAS SCHULER<br />
Von MERLE SCHMALENBACH<br />
36 DER POLITIKDARSTELLER<br />
Der Schauspieler Charles M. Huber, der<br />
Bundestag und die CDU: eine Komödie<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
56 DIE STUNDE DER<br />
EUROPÄISCHEN UNION<br />
In der Krimkrise kann sich der<br />
Westen einen und seine Stärke zeigen<br />
Von JUDITH HART<br />
82 FÜR PÄPSTE UND BARBIESAMMLER<br />
Jan Paschens Bücherregale stehen<br />
im Vatikan und bei Altkanzlern<br />
Von FLORIAN FELIX WEYH<br />
38 PAPST HÖRT PUNK<br />
Peter Tauber, Yasmin Fahimi, Andreas<br />
Scheuer – die Generalsekretäre<br />
der Regierungsparteien sind ein<br />
faszinierendes Trio der Gegensätze<br />
Von WULF SCHMIESE, CHRISTOPH SEILS UND<br />
ANDREAS THEYSSEN<br />
45 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… was an Gutmenschen<br />
schlecht sein soll<br />
Von AMELIE FRIED<br />
46 RAUS AUS DEM TUNNEL<br />
Unterwegs mit Außenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier<br />
Von WERNER SONNE<br />
58 SPIELBALL DER MÄCHTIGEN<br />
Die Geschichte der Krim begann nicht<br />
mit der Eroberung durch Russland<br />
Von GWENDOLYN SASSE<br />
60 „ES GIBT IMMER LEUTE, DIE<br />
DIE HOSEN VOLLHABEN“<br />
Der frühere Außenminister Karel<br />
Schwarzenberg will eine starke EU<br />
Von BARBARA TÓTH<br />
64 KINDERSPIEL KRIEG<br />
In Ungarn werden Jungs<br />
in Feriencamps militärisch<br />
gedrillt. Ein Fotoessay<br />
Von ORIOL SEGON TORRA und KENO VERSECK<br />
84 „MAN HÖRT MEIN<br />
SCHWÄBISCH. UND?“<br />
EU-Kommissar Günther Oettinger<br />
über Sprachprobleme, Merkel,<br />
Mappus – und das Gas der Russen<br />
Von GEORG LÖWISCH und<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
92 BÖSE SPENDE, GUTE SPENDE<br />
Ein Plädoyer des Evonik-Chefs für<br />
Obergrenzen bei Parteispenden<br />
Von KLAUS ENGEL<br />
94 ELEKTRIFIZIERT AUF<br />
DER SAHNESPUR<br />
Ein Tag in Oslo, dem Paradies<br />
der Elektroautos<br />
Von LUTZ MEIER<br />
50 UNTER DEN ROBEN DIE POLITIK<br />
Rauchen, reiten, wählen – Karlsruhe<br />
herrscht. Warum sind die Deutschen<br />
den Verfassungsrichtern hörig?<br />
Von FRANK A. MEYER<br />
38<br />
Wie tickt der Vermarkter der<br />
Kanzlerin?<br />
74 „DIE QUEEN BLEIBT UNSER<br />
STAATSOBERHAUPT“<br />
Wie wird man England<br />
los? Ein Gespräch mit Alex<br />
Salmond, Kopf der schottischen<br />
Unabhängigkeitsbewegung<br />
Von ELLEN ALPSTEN<br />
76 AUF HORCHPOSTEN<br />
Wie verändert die Veröffentlichung<br />
vertraulicher Telefonate die Politik?<br />
Von RICHARD HERZINGER<br />
52<br />
Welche Strategie steckt hinter<br />
der Krise?<br />
100 HERRENLOSE SKLAVEREI<br />
Max Weber wäre ein Gegner<br />
des heutigen Kapitalismus<br />
Von MAX A. HÖFER<br />
84<br />
Was denkt er über kaspisches<br />
Gas und Fracking in der Ukraine?<br />
Fotos: Fabrizio Bensch/Reuters/Corbis, Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong>, Bettmann/Corbis; Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein<br />
8<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
STIL<br />
SALON<br />
CICERO<br />
STANDARDS<br />
104 RAUSCH, WOHL DOSIERT<br />
Beate Hindermann ist Barfrau –<br />
und Meisterin im Erzeugen von<br />
Stimmungen<br />
Von ALEXANDER GRAU<br />
106 MR. WUNDERKIND<br />
Im Alter von 26 Jahren hat<br />
der Sohn von Mia Farrow und<br />
Woody Allen unnatürlich<br />
viel erreicht<br />
Von CLAUDIA STEINBERG<br />
108 KLEID DER MACHT<br />
Streng, sexy oder<br />
ungemein beruhigend:<br />
Uniformen wirken stark.<br />
Wie funktioniert das genau?<br />
Von ANNE WAAK<br />
114 VOM DRACHEN,<br />
DER GLÜCK BRACHTE<br />
Was bedeutet eine Erbschaft?<br />
Viel mehr als Geld<br />
Von DANIEL HAAS<br />
116 WARUM ICH TRAGE,<br />
WAS ICH TRAGE<br />
Man sollte es sich<br />
als Kreativer leisten, der ewige<br />
Turnschuhtyp zu sein<br />
Von WERNER AISSLINGER<br />
108<br />
Warum wurde für Stewardessen<br />
die Uniform erfunden?<br />
118 IMMER NUR 100 PROZENT<br />
Die Sängerin Dillon treibt ihre<br />
Kunst der Reduktion weiter voran<br />
Von ALEXANDER KISSLER<br />
120 ER GEHÖRT ZU UNS<br />
Der Tenor Jonas Kaufmann verzückt<br />
die Massen. Warum eigentlich?<br />
VON MICHAEL STALLKNECHT<br />
122 DER GEFÜHLSKOLOSS<br />
Der Schauspieler Ronald Zehrfeld<br />
verkörpert einen deutschen<br />
Soldaten in Afghanistan<br />
Von BJÖRN EENBOOM<br />
124 BÜCHER, ZUM GLÜCK<br />
Im Ersten Weltkrieg gehörte<br />
das Lesen zum Frontalltag<br />
Von CHRISTOPHE FRICKER<br />
130 MAN SIEHT NUR,<br />
WAS MAN SUCHT<br />
James Ensor zeigt Politik<br />
als Mummenschanz der<br />
Satten und Frivolen<br />
Von BEAT WYSS<br />
132 LITERATUREN<br />
Bücher von Emmanuel Carrère,<br />
Julio Cortázar und Carol Dunlop,<br />
Thor Kunkel, Grace Paley<br />
138 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />
Der Politologe Herfried Münkler<br />
macht sich gern den Zufall zunutze<br />
Von SOPHIE DANNENBERG<br />
142 HOPES WELT<br />
Das Schiff des Lebens<br />
Von DANIEL HOPE<br />
144 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />
Mein Texas, mein Scotch,<br />
mein Schaukelstuhl<br />
Von ETHAN HAWKE<br />
5 ATTICUS<br />
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
10 STADTGESPRÄCH<br />
12 FORUM<br />
14 IMPRESSUM<br />
146 POSTSCRIPTUM<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
Der Titelkünstler<br />
Er prägte das Bild seines<br />
Freundes über Jahrhunderte.<br />
Lucas Cranach und Martin<br />
<strong>Luther</strong> – die beiden lernten<br />
sich in Wittenberg kennen.<br />
Dort wirkte Cranach als<br />
Hof maler, aber auch als<br />
Unternehmer und Politiker.<br />
Er wurde <strong>Luther</strong>s Trau zeuge,<br />
illustrierte und verlegte<br />
Schriften seines Freundes<br />
und dessen Übersetzung des<br />
Neuen Testaments. Und er<br />
malte ihn. Kein Porträt des<br />
Reformators hat sich so eingeprägt<br />
wie jenes mit dem<br />
schwarzen Barett von 1528.<br />
Wenig präsent ist da gegen,<br />
dass Martin <strong>Luther</strong> einst<br />
forderte, jüdische Gebäude<br />
in Brand zu setzen. Seine<br />
Juden feindlichkeit wirkte<br />
lange im Protestantismus<br />
nach. Um das zu zei gen,<br />
hat Viola Schmieskors,<br />
Art-Direktorin von <strong>Cicero</strong>,<br />
Cranachs Porträt etwas<br />
hin zugefügt: eine brennende<br />
Synagoge, <strong>Luther</strong>s<br />
dunkle Seite.<br />
Lucas Cranach, der Ältere,<br />
Selbstbildnis, 1550<br />
9<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
CICERO<br />
Stadtgespräch<br />
Ein Linker holt eine Piratin an Bord, ein Badener einen Schwaben, Politiker<br />
treten gern in Spielfilmen auf, und der Alex könnte Berlins Maidan sein<br />
Warum die AfD-Sprecherin zurücktrat:<br />
Metzger bleibt Metzger<br />
Politiker in Spielfilmen:<br />
„Clowns“ am Set<br />
Piratin über Bord:<br />
Koalition am linken Ufer<br />
Manchmal strengt Dagmar Metzger<br />
ihr Name an. Vor ein paar Jahren<br />
wurde sie mit Drohungen und Lobpreis<br />
überschüttet, weil Andrea Ypsilanti<br />
ihret wegen nicht Ministerpräsidentin in<br />
Hessen geworden war. Eine Verwechslung:<br />
Anders als ihre sozialdemokratische<br />
Namensbase lebt sie in München.<br />
Und schwäbelt, weil sie aus Tomerdingen<br />
bei Ulm kommt.<br />
2013 gründete sich die Alternative<br />
für Deutschland, und Dagmar Metzger<br />
– die aus München – wurde deren<br />
Sprecherin. Als nun gemeldet wurde,<br />
dass sie ihr Amt abgibt, ging es wieder<br />
los: Hat sie nicht schon die Ypsilanti erledigt?<br />
Und jetzt den Lucke? Hat sie<br />
Krach mit dem Chef? Oder mit der Frau<br />
von Storch, die aus der AfD eine Art<br />
deutsche „Teaparty“ machen will. Nein.<br />
Sie will sich, sagt sie, nur auf den Euro<br />
konzentrieren. Und nicht mit den AfD-<br />
Rechten identifiziert werden? Sie lacht.<br />
Kein Dementi? Sie sei froh, wieder<br />
ganz Dagmar Metzger zu sein. hp<br />
Politiker treten gelegentlich auch in<br />
Spielfilmen auf. Frank-Walter Steinmeier<br />
spielte vor kurzem sich selbst in<br />
dem Film „Stromberg“ – und dies, obwohl<br />
der Titelheld ein ausgesprochener<br />
Fiesling ist. Der Regisseur lobte, der<br />
Außenminister habe am Set sehr professionell<br />
gearbeitet. Nach vier oder<br />
fünf Klappen war die Szene im Kasten.<br />
Schon Gerhard Schröder wirkte als<br />
Komparse im Mehrteiler „Der große<br />
Bellheim“ mit, nachdem sich Björn<br />
Engholm, damals noch SPD-Chef, in<br />
der Serie „Der Landarzt“ von einem<br />
solchen medizinisch hatte untersuchen<br />
lassen. Helmut Schmidt („Schnauze“)<br />
schalt beide deswegen als „Clowns“.<br />
Christian Wulff trat später trotzdem in<br />
einem „Tatort“ auf. „Wie kann ein Politiker<br />
nur Schauspieler werden?“, wurde<br />
Ronald Reagan, einst Hollywood-Star<br />
und später US-Präsident, einmal gefragt.<br />
Seine Antwort: „Wie kann ein<br />
Politiker kein Schauspieler sein?“ hp<br />
Klaus Ernst fuhr – außer einem alten<br />
Porsche – schon immer einen<br />
besonderen Kurs. Jetzt praktiziert der<br />
ehemalige Vorsitzende der Linkspartei<br />
( bis April 2002 ) eine ungewöhnliche<br />
Koalition: Er engagierte die attraktive<br />
Cornelia Otto, die bei der Bundestagswahl<br />
noch als Spitzenkandidatin der<br />
Berliner Piraten angetreten war, als<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin in seinem<br />
Bundestagsbüro. Die Frage, ob<br />
da vielleicht mehr läuft als ein politisches<br />
Bündnis, beantwortet Ernst ausweichend<br />
politisch: „Die Cornelia passt<br />
genau in mein Team!“ Kennengelernt<br />
haben sich die Ex-Oberpiratin und der<br />
Linksaußen-Obere an passendem Ort:<br />
in der Stefan-Raab-Show „Absolute<br />
Mehrheit“ vor einem Jahr. Nach einigen<br />
Meetings war klar, gesteht Ernst,<br />
„dass wir in Sachen sozialer Gerechtigkeit<br />
denselben Drang haben“. Sonst<br />
nichts? Ernst zu <strong>Cicero</strong>: „Ein bisschen<br />
haben wir auch im Programm ändern<br />
müssen.“ Ach ja?! tz<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
10<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Berlins Maidan:<br />
Wutplatz Alex<br />
Lange Zeit ist gerätselt worden, wieso<br />
Revolutionen in Deutschland so<br />
schwierig und selten sind. Spätestens<br />
seit den Ereignissen in der Ukraine ist<br />
endlich klar, woran dies liegt – es fehlt<br />
an den geeigneten Plätzen, auf denen<br />
sich Wut dauerhaft bündeln lässt. Der<br />
Maidan wurde ebenso zum Schlagzeilen-<br />
und Twitter-geeigneten Codewort<br />
für den Aufstand wie der Tahrir in<br />
Kairo oder der Taksim in Istanbul.<br />
Aber in Berlin? Auf dem Pariser<br />
Platz lässt sich eine Regierung nicht<br />
wirklich stürzen – zumal es schnell Ärger<br />
mit Touristen geben dürfte und den<br />
Hunderten, eng getakteten Demonstrationen<br />
gegen alle möglichen Übel dieser<br />
Welt. Der Willy-Brandt‐Platz vor dem<br />
Kanzleramt wirkt nicht wirklich einladend.<br />
Und auf dem Platz der Republik<br />
vor dem Reichstag ist sogar das Fußballspielen<br />
verboten. Eine Revolution<br />
würde hier wahrscheinlich am Eingreifen<br />
des Bezirksamts Mitte zum Schutz<br />
der Rasenfläche scheitern.<br />
Am besten geeignet ist eindeutig<br />
noch der „Alex“, also der Alexanderplatz<br />
in Ostberlin. Die vier Buchstaben<br />
sind absolut Twitter-freundlich. Die Architektur<br />
lässt keine versöhnlichen Gefühle<br />
aufkommen. Schon am 4. November<br />
1989 fand hier die größte nicht<br />
staatlich gelenkte Demonstration in der<br />
DDR-Geschichte statt – woran allerdings<br />
heute nichts mehr erinnert. Das<br />
Problem ist nur: Mehrfach im Jahr fällt<br />
der Alex als Platz der gesammelten<br />
Umsturzwut einfach aus – weil er dann<br />
mit unpolitischen Würstchen- und Tingel-Tangel-Buden<br />
verbaut ist. ink<br />
Schäubles neuer Sprecher:<br />
Kein Schwabenstreich<br />
Wieso engagiert der überzeugte<br />
Badener Wolfgang Schäuble als<br />
seinen künftigen Sprecher ausgerechnet<br />
einen Schwaben? Zwei Antworten:<br />
Die seriöse lautet: Einen Besseren hätte<br />
er nicht finden können. Die ironische:<br />
„Der Bundesfinanzminister will eben<br />
auch mal Daimler fahren.“<br />
Ein kluger Schachzug ist es allemal.<br />
Martin Jäger, 49 Jahre alt, bis Oktober<br />
noch deutscher Botschafter in<br />
Afghanistan, ist zwar kein Finanzexperte.<br />
Aber ein exzellenter Europapolitiker.<br />
Schrieb schon für den früheren<br />
Außenminister Klaus Kinkel und<br />
auch für Kanzler Gerhard Schröder<br />
die europapolitischen Reden, bevor<br />
Frank-Walter Steinmeier ihn 2005 als<br />
seinen Sprecher ins Auswärtige Amt<br />
holte. Von 2008 bis Herbst 2013 war<br />
er dann bei Daimler in Berlin Chef der<br />
Konzern-Repräsentanz.<br />
Dieser „Kerle“, wie Kinkel über Jäger<br />
zu sagen liebt, hat „Politik in den<br />
Fingerspitzen“. Und auch eine ideale<br />
Ausbildung für die Europapolitik. In<br />
seiner Jugend, ehe er 1994 in den diplomatischen<br />
Dienst ging, arbeitete er<br />
als Fotojournalist in Paris, schrieb von<br />
dort für deutsche Zeitungen und spricht<br />
fließend Französisch.<br />
Jägers Frau Nicole wurde 1965 in<br />
Böhmen geboren, hat einst für die Süddeutsche<br />
Zeitung als Journalistin gearbeitet,<br />
schreibt heute unter dem Namen<br />
Helena Reich Krimis. Ihre Bücherideen<br />
beziehe sie, spottet sie, „aus der heißen<br />
Luft um mich herum“. Kommt also bald<br />
ein Politkrimi? tz<br />
Minipartei auf dem Weg nach Brüssel:<br />
Familienpolitik<br />
Arne Gericke, aufgewachsen als<br />
Sohn eines Missionars in Papua-<br />
Neuguinea und heute Trauerredner in<br />
Tessin in Mecklenburg, hat vier Kinder,<br />
drei Pflegekinder, einen Hund und eine<br />
Katze. Seine Frau leitet den Pflegedienst<br />
einer Rostocker Tagesklinik. Weil er<br />
Freiberufler ist, lässt sich alles gut organisieren<br />
oder besser: spitze. 2012 kürte<br />
ihn die Bundesfamilienministerin zum<br />
„Spitzenvater“. Nun ist er obendrein<br />
Spitzenkandidat der Familien-Partei<br />
Deutschlands, 600 Mitglieder, Kurzbezeichnung:<br />
FAMILIE. 2009 holte sie bei<br />
der Europawahl 1 Prozent. Da das Verfassungsgericht<br />
die Drei-Prozent-Hürde<br />
niedergerissen hat, müsste die FAMI-<br />
LIE ihr Ergebnis nur halten, und Gericke,<br />
49, säße im Parlament. Straßburg,<br />
Brüssel – wie soll er das noch schaffen?<br />
Anders gefragt: Schadet die FAMILIE<br />
dann der Familie?<br />
Am Telefon wirkt Arne Gericke gelassen.<br />
Die Kinder seien sehr selbstständig,<br />
der Jüngste werde zwölf, „wir<br />
wollen was bewegen“. Er kritisiert die<br />
Benachteiligung der Familien, kritisiert<br />
die CDU, aus der er austrat, weil Roland<br />
Koch und Friedrich Merz nichts<br />
mehr zu melden haben. Nach dem Telefonat<br />
kommt per Mail noch eine Pressemitteilung.<br />
Ungewöhnlich daran ist,<br />
dass kein Name unter der Mail steht,<br />
nur: Mit den besten Grüßen, Pressestelle<br />
der Familien-Partei Deutschlands.<br />
Aber halt, da ist eine Handynummer.<br />
Hallo? „Hier ist Jakob Gericke.“ Nanu,<br />
schon wieder Gericke? „Ich mach die<br />
Pressearbeit für meinen Vater.“<br />
FAMILIE? Familie! löw<br />
11<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
FORUM<br />
Es geht um Sarrazin, das vermeintliche Recht<br />
auf Randale, um Müntefering und den Dativ<br />
Zum Beitrag „Sarrazin“ von Alexander Marguier, März 2014, und zu der von <strong>Cicero</strong><br />
geplanten, aber von Demonstranten blockierten Veranstaltung, auf der wir mit Thilo<br />
Sarrazin im Berliner Ensemble über sein neues Buch „Tugendterror“ diskutieren wollten<br />
„Keine Auseinandersetzung, nur Allgemeinplätze“<br />
Sehr geehrte Redaktion, leider wurde erneut versäumt, sich kritisch – selbstkritisch<br />
– mit den Thesen Thilo Sarrazins auseinanderzusetzen. Herr Marguier beließ<br />
es bei wenigen Allgemeinplätzen, anstatt sich argumentativ den Thesen des<br />
Buches zu stellen. Damit bestätigt er jedoch ausgerechnet das Thema des Buches.<br />
Dr. Wolfgang Scheck, Eutin<br />
Meinungsfreiheit bedroht<br />
Die Betroffenheit einiger Störer mit<br />
nichtdeutschem Hintergrund kann<br />
ich verstehen, im Besonderen im Hinblick<br />
auf den NSU-Skandal. Ich halte<br />
diese Vermischung aber für schwierig.<br />
Gleichzeitig stelle ich mir die Frage,<br />
was dazu geführt hat, dass Störer im<br />
Foyer sich im Recht fühlen, ihnen unbekannte<br />
Menschen pauschal als Rassisten<br />
zu bezeichnen?<br />
Ich wollte an einer Diskussion<br />
zur Meinungsfreiheit teilnehmen; was<br />
ich erlebt habe, ist eine praktische<br />
Demonstration, dass Meinungsfreiheit<br />
in Gefahr ist und dass einer Minderheit<br />
das Recht des Meinungsdiktats/<br />
Meinungsterrors zugestanden wurde.<br />
Thomas Kasten, Berlin<br />
Sarrazin bestätigt<br />
Jetzt fragt man sich allerdings, wieso<br />
niemand bei <strong>Cicero</strong> in der Lage ist,<br />
die Meinungsfreiheit zu verteidigen<br />
und sich gegen die lautstarke<br />
Meinungsdiktatur einer Minderheit<br />
zu wehren. Ich kenne Sarrazins neues<br />
Buch nicht, aber die Vorgänge in<br />
Berlin bestätigen doch genau, was der<br />
Titel des Buches aussagt.<br />
G. Wirtz, Bergisch-Gladbach<br />
Allergisch gegen Zensur<br />
Ich war bisher begeistert von <strong>Cicero</strong>:<br />
Endlich ein Heft mit Geist, so etwas<br />
suchte ich vergeblich seit Jahren. Leider<br />
kam heute die große Ernüchterung:<br />
<strong>Cicero</strong> hat zur Störung einer Lesung<br />
von Sarrazin aufgerufen. Nein, danke!<br />
Ich bin kein Fan von Sarrazin. Habe<br />
keines seiner Bücher gelesen. Aber ich<br />
habe Zensur, Schikanen und Verbote<br />
in einem totalitären Staat am eigenen<br />
Leib erfahren: in der Tschechoslowakei.<br />
Hochschulbildung habe ich nicht,<br />
meine Familie war „unzuverlässig“,<br />
ich durfte deshalb nicht studieren.<br />
Gegen Einflussnahmen bin ich deshalb<br />
allergisch.<br />
Margitta Bischoff, Schelklingen<br />
In eigener Sache:<br />
Anders, als einige unserer<br />
Leserinnen und Leser meinten,<br />
hat <strong>Cicero</strong> nicht zur Störung<br />
einer Sarrazin-Lesung<br />
aufgerufen, sondern im<br />
Gegenteil versucht, eine solche<br />
stattfinden zu lassen. Und das<br />
Hausrecht ausüben konnten<br />
wir auch nicht, da wir es im<br />
Berliner Ensemble nicht hatten.<br />
Die Reaktionen auf die<br />
geplatzte Veranstaltung sind<br />
trotzdem ermutigend. Sie<br />
zeigen, dass eine große<br />
Mehrheit sensibel auf Zensur<br />
und Meinungsterror reagiert.<br />
Die Redaktion<br />
Krude Ideen<br />
Ich war überrascht über die Idee, Herrn<br />
Sarrazin ein Podium für seine kruden<br />
Ideen zu geben. Nehmen Sie mir also<br />
ruhig übel, dass ich für Ihre Aktion nur<br />
Satire übrig habe. Mich wundert, dass<br />
Sie anscheinend glaubten, mit Herrn<br />
Sarrazin eine sachliche Veranstaltung<br />
durchführen zu können.<br />
Arne Bustorff, Heide<br />
Vorhersehbarer Aufmarsch<br />
Der Aufmarsch dieser intoleranten,<br />
indoktrinierten, linksverqueren<br />
Politclique als berufsmäßige Störer war<br />
doch vorauszusehen. Warum wählen Sie<br />
dann bewusst so eine „störanfällige“<br />
Location? Dann lässt man diese<br />
gewalt bereite Truppe gewähren, macht<br />
nicht einmal von seinem Hausrecht<br />
Gebrauch, sondern trabt geschlagen<br />
davon.<br />
Günther Kahlich, Unterschleißheim<br />
Karikatur: Hauck & Bauer<br />
12<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Was derzeit in Griechenland,<br />
Spanien, Portugal und Italien passiert,<br />
steht auch uns noch bevor.<br />
Sparen, sparen, sparen ist die<br />
Devise der meisten europäischen<br />
Politiker, denn nur dadurch sei die<br />
Krise zu bewältigen und der Wohlstand<br />
zu sichern. In Wirklichkeit<br />
geht es aber um etwas ganz<br />
anderes: Unter dem Deckmantel<br />
der Krisenbewältigung findet ein<br />
stiller Putsch gegen die europäischen<br />
Bürger statt. Bestsellerautor<br />
Jürgen Roth zeigt, wer die Putschisten<br />
sind, was sie bezwecken und<br />
wie wir uns dagegen wehren<br />
können – und müssen.<br />
320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag<br />
€ 19,99 [D] · ISBN 978-3-453-20027-2<br />
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Regel am Folgetag erhältlich.<br />
Zum Beitrag „Kein Recht auf Randale“<br />
von Alexander Marguier, März 2014<br />
„Heidschi bumbeidschi“<br />
Endlich haben Sie dem „Schwarzen<br />
Block“ die politische Antifa-Maske<br />
vom Gesicht gerissen. Zum Vorschein<br />
kommt der hemmungslose<br />
Spaß-„Protestler“, der in Wahrheit<br />
ein hemmungsloser Spaß- Zerstörer<br />
ist. Jahrzehntelang wurde diese<br />
halbstarke Jugendkriminalität von<br />
den Medien als irgendwie „politisch<br />
wertvoll“ veredelt. Das hat die<br />
Gewalt eskalieren lassen, und die<br />
Täter mit dem Umhang des politischen<br />
Saubermanns geschützt.<br />
Wie immer, wenn die Grenzen<br />
des Fehlverhaltens nicht deutlich<br />
gezogen werden, wenn stattdessen<br />
Beschwichtigung, Deeskalation,<br />
latentes oder offenes „politisches“<br />
Verständnis den zerstörerischen<br />
Aktionsradius der „Kämpfer für das<br />
Gute“ erweitern, dann immer endet<br />
das Geschehen im sinnleeren Chaos.<br />
Ich bin mir nicht ganz sicher,<br />
ob „Widerstand gegen die Staatsgewalt“<br />
in seiner jetzigen Form noch<br />
ein zeitgemäßer Straftatbestand ist.<br />
Ich bin mir aber ganz sicher, dass<br />
der Staat, der sich statt als Tiger als<br />
Bettvorleger geriert, seine Ordnung,<br />
seine Würde und das Vertrauen<br />
seiner Bürger in sein schützendes<br />
Gewaltmonopol verliert.<br />
Vor vielen Jahren hat es den<br />
Vorschlag gegeben, dem „Schwarzen<br />
Block“ mit einer Schall-Offensive<br />
zu begegnen, nämlich mit<br />
„Heidi, deine Welt sind die Berge“<br />
oder „Heidschi, bumbeidschi, bum,<br />
bum“. Das wäre Deeskalation, das<br />
wäre das angemessene Niveau, und<br />
das hätte den „Schwarzen Block“<br />
auch medial als das bedient, was<br />
er ist: ein aus den Fugen geratener<br />
Kindergarten.<br />
Lutz Bauermeister, Wilhelmshaven<br />
14<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
Zum Beitrag „Der letzte Schrei ist ein Echo“<br />
von Daniel Haas, Februar 2014<br />
Karikatur: Hauck & Bauer<br />
Lieber im alten Ledersessel<br />
Mit großer Begeisterung habe ich den<br />
überaus gelungenen Artikel „Der letzte<br />
Schrei ist ein Echo“ lesen dürfen. Ich<br />
sehe das Geschriebene als rhetorisch<br />
exzellent gleichwohl erschreckend<br />
engstirnig.<br />
Ich sehe Vintage weniger als das<br />
vom „Bürgertum“ gefundene „Vokabular<br />
(…), um seine Orientierungslosigkeit<br />
zu kaschieren“, als vielmehr als den<br />
längst überfälligen Hilfeschrei einer sich<br />
nach Qualität sehnenden Käuferklientel.<br />
Nutzdienliches, das für die Ewigkeit<br />
gemacht und nicht die erbärmliche<br />
Frucht kapitalistischen Kostenminimierungswahns<br />
ist. Minderwertige<br />
Produkte, deren Vorbilder sich ohnehin<br />
in vergangenen Dekaden wiederfinden<br />
lassen. Dann doch bitte lieber das Original.<br />
Es wird auch in Zukunft der Stilfindung<br />
Kreativer und der Wegebnung<br />
prägender Schöpfer dienen.<br />
Es muss ja nicht immer Avantgarde<br />
sein. Solange sich schwedische Großkonzerne<br />
unbedingter Quantität verschreiben<br />
und es vermeiden, Werte zu schaffen,<br />
bleibe ich guten Gewissens meinen<br />
wochenendlichen Gängen über die Flohund<br />
Antikmärkte Deutschlands treu.<br />
In einem durchgesessenen Ledersessel<br />
von 1959 liest sich <strong>Cicero</strong> doch nun<br />
wirklich besser als in einem glanzlosen<br />
Sessel namens Ystad.<br />
Dennis Obanla, Berlin<br />
Zum Beitrag „APPokalypse Now“ von<br />
Lena Bergmann, Februar 2014<br />
Zum Lachen und Nachdenken<br />
Ich sitze gerade in Wien in einem wunderschönen<br />
Hotel namens „Das Triest“,<br />
das glücklicherweise <strong>Cicero</strong> ausliegen<br />
hat, endete eben mit Ihrem grandiosen<br />
Beitrag „APPokalypse Now“ und<br />
griff nun „brav“ zu meiner Maschine,<br />
um Ihnen für diesen Beitrag zu danken<br />
und herzlichst zu gratulieren!<br />
Selten hat mich in den vergangenen<br />
Wochen und Monaten das geschriebene<br />
Wort so sehr unterhalten, zum Lachen,<br />
aber auch zum Nachdenken gebracht!<br />
Großartig!<br />
Stefan Ratzenberger, Wien<br />
Zum Beitrag „Das ist ignorant“ von<br />
Franz Müntefering, März 2014<br />
Arbeitnehmer im Fokus<br />
Schön, dass die SPD inzwischen wieder<br />
mehr den Arbeitnehmer in den Fokus<br />
rückt. Die Jahrgänge, um die es dabei<br />
geht, sind in der Regel nach acht Jahren<br />
Volksschule, mit 14 oder 15 Jahren,<br />
ins Erwerbsleben eingetreten und haben<br />
somit 49 Jahre gearbeitet, wenn sie mit<br />
63 Jahren in Rente gehen. 49 Jahre Vollzeitarbeit<br />
haben ihre Spuren hinterlassen,<br />
denn es handelt sich dabei ja nicht<br />
um Beamte oder Politiker.<br />
Der Rentenabschlag mit 63 wird<br />
deshalb für die fünfziger Jahrgänge zu<br />
einer Rentenkürzung, neben der Absenkung<br />
des Renten niveaus, der Versteuerung<br />
und der Verbeitragung in<br />
Kranken- und Pflegeversicherung. Hilfreich<br />
ist, dass die Jüngeren in der SPD<br />
diese Fakten nicht mehr ignorieren<br />
und den Menschen wieder mehr in den<br />
Mittelpunkt stellen werden. Hilfreich<br />
wäre aber auch eine Reform, die Politiker,<br />
Beamte und Selbstständige mit<br />
einschließt.<br />
Gerhard Oechsler, Waghäusel<br />
Zum Beitrag „Donner über Uchtelfangen“<br />
von Constantin Magnis, Januar 2014<br />
Trotz dieses Dativs<br />
Mit Interesse und Begeisterung lese ich<br />
Ihre Zeitschrift. Doch heute muss ich<br />
mal mein Befremden aussprechen über<br />
eine Stelle in Nr. 13 ( Januar ), Seite 61,<br />
rechte Spalte, Zeile 1 des letzten<br />
Absatzes, die da heißt: „Doch statt dem<br />
Frieden rückt …“, also nach „statt“ der<br />
Dativ. Da bekommt man beim Lesen<br />
Zahnschmerzen! Jedenfalls ich als<br />
ehemalige Lehrerin, Jahrgang 1921! Ich<br />
dachte: „Schon wieder eine Änderung in<br />
der Rechtschreibung“ und schaute im<br />
neuen Duden ( Ausg. 2013 ) nach. Dort<br />
steht aber immer noch: „Präposition<br />
mit Genitiv“ und weiter: „mit Dativ<br />
veraltet oder umgangssprachlich“. Ich<br />
meine, als gute, moderne Zeitschrift –<br />
dann auch noch aus Hamburg – dürfte<br />
das nicht passieren! (sic!) Ich bleibe<br />
Ihnen auch trotz dieses Dativs treu und<br />
sende freundliche Grüße<br />
Ingeborg Köhnecke, Wede<br />
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />
senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />
15<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Von CHRISTIAN PFEIFFER<br />
Martin <strong>Luther</strong>s Hass auf die Juden machten<br />
sich die Nationalsozialisten zunutze.<br />
Es waren mehr Protestanten als Katholiken,<br />
die Adolf Hitler zur Macht verhalfen.<br />
Die evangelische Kirche sollte im Rahmen<br />
des Reformationsjubiläums ihre eigene Geschichte<br />
selbstkritisch aufarbeiten<br />
17<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Im Jahr 1543 veröffentlichte der<br />
60 Jahre alte Martin <strong>Luther</strong> seine<br />
Schrift „Von den Juden und ihren<br />
Lügen“. Darin entwickelte er sieben<br />
Forderungen, die nachfolgend<br />
auf ihre Kernaussagen verkürzt werden:<br />
„Was wollen wir Christen nun tun mit<br />
diesem verworfenen, verdammten Volk<br />
der Juden? [...] Ich will meinen treuen<br />
Rat geben:<br />
Erstlich, daß man ihre Synagoga<br />
oder Schule mit Feuer anstecke und, was<br />
nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe<br />
und beschütte, daß kein Mensch<br />
einen Stein oder Schlacke davon sehe<br />
ewiglich.<br />
Zum anderen, daß man auch ihre<br />
Häuser desgleichen zerbreche und<br />
zerstöre.<br />
Zum Dritten, daß man ihnen nehme<br />
alle ihre Betbüchlein und Talmudisten.<br />
Zum Vierten, daß man ihren Rabbinern<br />
bei Leib und Leben verbiete, hinfort<br />
zu lehren.<br />
Zum Fünften, daß man den Juden<br />
das Geleit und Straße ganz und gar<br />
aufhebe.<br />
Zum Sechsten, daß man ihnen den<br />
Wucher verbiete und ihnen alle Barschaft<br />
und Kleinode an Silber und Gold nehme.<br />
Zum Siebten, daß man den jungen,<br />
starken Juden und Jüdinnen in die Hand<br />
gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken,<br />
Spindel, und lasse sie ihr Brot verdienen<br />
im Schweiß der Nase.“<br />
Im Grunde hatte <strong>Luther</strong> damit das<br />
gefordert, was knapp 400 Jahre später<br />
in der Reichspogromnacht realisiert<br />
wurde. In einem Punkt unterscheidet<br />
sich allerdings sein Appell vom Antisemitismusprogramm<br />
der Nationalsozialisten.<br />
<strong>Luther</strong> hatte nicht zum Holocaust<br />
aufgerufen.<br />
Margot Käßmann hat in einem Artikel<br />
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />
kürzlich darauf hingewiesen, dass dieser<br />
Text <strong>Luther</strong>s nur dann richtig verstanden<br />
werden könne, wenn man sich mit seiner<br />
ersten Judenschrift „Dass Jesus ein<br />
geborener Jude sei“ aus dem Jahr 1523<br />
auseinandersetzt. Darin hatte <strong>Luther</strong> sich<br />
schützend vor die Juden gestellt. Damals<br />
hoffte er wohl noch, sie zu seinem reformierten<br />
Christentum bekehren zu können.<br />
Er übte jedenfalls scharfe Kritik an<br />
den vielen Christen, die die Juden behandelten,<br />
„als wären es Hunde“. Für die<br />
Weigerung der Juden, sich bekehren zu<br />
lassen, zeigte er großes Verständnis und<br />
schrieb, angesichts solcher Erfahrungen<br />
wäre auch er an ihrer Stelle „eher eine<br />
Sau, denn ein Christ geworden“. Aber<br />
20 Jahre später folgten dieser von Judenhass<br />
und Polemik geprägte Aufruf sowie<br />
weitere entsprechende Texte, Tischreden<br />
und Predigten.<br />
Es stellen sich somit drei Fragen.<br />
Erstens: Wie ist dieser Kurswechsel <strong>Luther</strong>s<br />
zu erklären? Zweitens: Welche Bedeutung<br />
hat seine Schrift von 1543 dafür,<br />
dass die Nationalsozialisten knapp<br />
400 Jahre später, in der Nacht vom 9. auf<br />
den 10. November 1938, genau das taten,<br />
wozu er aufgerufen hatte? Drittens:<br />
Wie geht die evangelische Kirche heute<br />
in der <strong>Luther</strong>-Dekade mit dieser schweren<br />
Erblast um?<br />
Zur ersten Frage vermitteln die <strong>Luther</strong>-Biografie<br />
Heinz Schillings und die<br />
2011 erschienene Neuauflage des Buches<br />
Christian Pfeiffer<br />
Der Direktor des Kriminologischen<br />
Forschungsinstituts<br />
Niedersachsen e.V. studierte<br />
Jura, Sozialwissenschaften und<br />
Kriminologie in München und<br />
London. Von Dezember 2000 bis<br />
März 2003 war er niedersächsischer<br />
Justizminister. Am<br />
Fachbereich Rechtswissenschaften<br />
der Leibniz Universität<br />
Hannover hatte er eine Professur<br />
für Kriminologie, Jugendstrafrecht,<br />
Strafvollzug inne. Er ist<br />
evangelisch<br />
„<strong>Luther</strong>s ‚Judenschriften‘“ des Göttinger<br />
Kirchengeschichtlers Thomas Kaufmann<br />
sehr sorgfältig recherchierte Erkenntnisse.<br />
Kurz gesagt: Der späte <strong>Luther</strong> war<br />
geradezu getrieben von der Sorge, dass<br />
sein Lebenswerk noch scheitern könnte.<br />
Er hatte damals die Obrigkeit aufgefordert,<br />
gegen alle, die von seiner Lehre abwichen,<br />
mit aller Macht vorzugehen. Für<br />
ihn gab es nur eine Lesart der heiligen<br />
Texte – seine. Erst im Zeitalter der Aufklärung<br />
wurde die Basis dafür geschaffen,<br />
dass sich der moderne Toleranzbegriff<br />
entfalten konnte und dass auch die<br />
Kirchen schrittweise lernten, die Existenz<br />
anderer Religionen neben der eigenen<br />
hinzunehmen.<br />
BEI LUTHER KAM HINZU, dass sich im<br />
Alter, wie Kaufmann es formuliert, sein<br />
cholerisches Temperament immer stärker<br />
bemerkbar machte. Durchdrungen<br />
von seinem Sendungsbewusstsein<br />
fühlte er sich dazu berufen, die von ihm<br />
als verstockte Feinde Christi angesehenen<br />
Juden mit zu attackieren, nachdem<br />
sie seinem Werben um Bekehrung nicht<br />
entsprochen hatten.<br />
Zu der zweiten Frage nach der späteren<br />
Bedeutung von <strong>Luther</strong>s judenfeindlichen<br />
Spätschriften haben Wolfgang<br />
Thielmann und vorher der Kirchenhistoriker<br />
Johannes Wallmann in Christ<br />
und Welt beziehungsweise der FAZ eine<br />
sehr umstrittene These aufgestellt. Diese<br />
Schriften <strong>Luther</strong>s seien in späteren Jahrhunderten<br />
innerhalb der evangelischen<br />
Kirche anders als seine projüdische<br />
Schrift von 1523 abgelehnt worden und<br />
bald in Vergessenheit geraten. Erst die<br />
braunen Machthaber hätten die Christen<br />
an das vergessene Erbe erinnert. Wallmann<br />
kann die kirchliche Ablehnung<br />
allerdings nur im Hinblick auf die relativ<br />
kleine Gruppe der Pietisten belegen.<br />
Zweifelhaft wird seine Argumentation<br />
zudem dadurch, dass er sich auf nationalsozialistische<br />
Historiker oder völkische<br />
Antisemiten beruft.<br />
Der von ihm zitierte Karl Grunsky<br />
(1933) oder auch Mathilde Ludendorff<br />
(1928) hatten der evangelischen Kirche<br />
in der Tat vorgeworfen, sie habe <strong>Luther</strong>s<br />
antijüdische Schriften unterschlagen,<br />
entsprechende Texte anderer Autoren<br />
bewusst unterdrückt und dadurch systematisch<br />
Verrat an <strong>Luther</strong>s Reformation<br />
Fotos: Agentur Bridgeman (Seite 16), Rainer Unkel/Vario Images [M]<br />
18<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
geübt. Doch Wallmann negiert damit völlig,<br />
dass bereits der Theologe Hermann<br />
Steinlein diese Thesen im Jahr 1932 als<br />
antikirchliche Propaganda entlarvt hatte.<br />
Steinlein konnte aufzeigen, dass<br />
sämtliche bis dahin erschienenen Gesamtausgaben<br />
<strong>Luther</strong>s dessen zweite Judenschrift<br />
enthielten und dass es ferner<br />
vier gesonderte Nachdrucke gab, mit denen<br />
das Werk im 16. bis 19. Jahrhundert<br />
vollständig oder in Auszügen erneut publiziert<br />
worden war. Zudem benannte er<br />
allein zehn evangelische Theologen, die<br />
sich seit dem Tod <strong>Luther</strong>s über die Jahrhunderte<br />
hinweg in ihren Schriften intensiv<br />
mit <strong>Luther</strong>s judenfeindlichen Thesen<br />
auseinandergesetzt hatten – überwiegend<br />
zustimmend, nur wenige kritisch.<br />
Steinlein führte ergänzend eindrucksvolle<br />
Beispiele für volkstümliche<br />
Schriften an, in denen mit scharf antisemitisch<br />
orientierter Grundhaltung<br />
<strong>Luther</strong>s Thesen verbreitet wurden. Er<br />
wies auf Gutachten von theologischen<br />
Fakultäten hin, in denen sich die Autoren<br />
auf <strong>Luther</strong>s Standpunkte bezogen.<br />
Schließlich zitierte er mit Heinrich<br />
Graetz und Reinhold Lewin zwei jüdische<br />
Historiker, die über die negative<br />
Wirkung von <strong>Luther</strong>s antijüdischen Texten<br />
berichtet hatten.<br />
Graetz beklagte 1853 unter Hinweis<br />
auf eine große Zahl antijüdischer Autoren,<br />
die sich auf <strong>Luther</strong> berufen hatten,<br />
dieser habe „mit seinem judenfeindlichen<br />
Testament die protestantische Welt auf<br />
lange Zeit hinaus vergiftet“. Reinhold<br />
Lewin war 1911 zu der Einschätzung<br />
gelangt: „Die Saat des Judenhasses, die<br />
er darin ausstreut, (…) wirkt noch lange<br />
durch die Jahrhunderte fort; wer immer<br />
aus irgendwelchen Motiven gegen<br />
die Juden schreibt, glaubt das Recht zu<br />
besitzen, triumphierend auf <strong>Luther</strong> zu<br />
verweisen.“<br />
In einer in Christ und Welt gedruckten<br />
Replik auf Thielmanns Thesen benennt<br />
der Erziehungswissenschaftler Micha<br />
Brumlik eine Reihe weiterer Autoren<br />
des 19. und 20. Jahrhunderts, die nur zu<br />
gerne <strong>Luther</strong>s judenfeindliche Thesen<br />
aus seinen Schriften übernommen hätten.<br />
Beispiele sind für ihn Hartwig von<br />
Hundt-Radowskys hassverzerrte Polemik<br />
aus dem Jahr 1819 „Der Judenspiegel“<br />
oder das von Theodor Fritsch seit 1887<br />
fast jährlich publizierte „Handbuch der<br />
Judenfrage“. Darüber hinaus gab es aber<br />
auch im 19. Jahrhundert, worauf Graetz<br />
zu Recht hingewiesen hatte, hochgeachtete<br />
Wissenschaftler, wie etwa den Historiker<br />
Friedrich Rühs oder den Naturwissenschaftler<br />
Jakob Friedrich Fries, die<br />
1816 die <strong>Judenfeind</strong>schaft des späten <strong>Luther</strong><br />
zur Begründung ihrer entsprechenden<br />
Thesen herangezogen hatten.<br />
1985 publizierte der Historiker Günther<br />
B. Ginzel eine Analyse zur Bedeutung<br />
von <strong>Luther</strong>s zweiter Judenschrift.<br />
Unter Berufung auf zahlreiche Texte<br />
von Theologen und anderen Autoren<br />
des 19. Jahrhunderts und der zwanziger<br />
Jahre gelangt er zu der Einschätzung,<br />
MARTIN LUTHER<br />
dass Martin <strong>Luther</strong> mit seinen judenfeindlichen<br />
Thesen die Gesinnung und<br />
Haltung der evangelischen Geistlichkeit<br />
nachhaltig beeinflusst habe. Er sei so zum<br />
„Kronzeugen des modernen Antisemitismus“<br />
geworden. Viele der Autoren seien<br />
zudem von einer geradezu „sakralen<br />
Überhöhung des Deutschtums“ geprägt<br />
und bezögen sich auf <strong>Luther</strong>.<br />
Die hier herangezogenen Texte zeigen<br />
klar auf: <strong>Luther</strong>s späte Schriften erfuhren,<br />
gerade weil ihr Autor der große<br />
Reformator war, immer wieder starke<br />
Beachtung. Sie konnten so über Jahrhunderte<br />
hinweg bei der Begründung<br />
und Fortentwicklung judenfeindlicher<br />
19<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Predigerseminars 1926 den Aufsatz „Die<br />
evangelische Gemeinde und die Judenfrage“<br />
veröffentlichte. Darin fordert er<br />
Maßnahmen zur Zurückdrängung des<br />
jüdischen Geistes im öffentlichen Leben<br />
und zur Reinhaltung des deutschen Blutes.<br />
„Gott hat jedem Volk seine völkische<br />
Eigenart und seine rassischen Besonderheiten<br />
doch nicht dazu gegeben,<br />
damit es seine völkische Prägung in rassisch<br />
unterwertige Mischlingsbildungen<br />
auflösen lässt.“<br />
Ob Wittenberger „Judensau“ oder<br />
Holzschnitt mit brennenden Juden: Zu<br />
<strong>Luther</strong>s Zeit war Antijudaismus verbreitet<br />
Einstellungen und Verhaltensweisen<br />
eine wichtige Rolle spielen. Die Nationalsozialisten<br />
erkannten das sehr früh<br />
und nutzten die eigentlich theologisch<br />
begründeten antijudaistischen Schriften<br />
<strong>Luther</strong>s für ihren rassistisch orientierten<br />
Antisemitismus.<br />
Der junge Adolf Hitler hatte Anfang<br />
der zwanziger Jahre mit den aufeinanderfolgenden<br />
Chefredakteuren<br />
des Völkischen Beobachters, Dietrich<br />
Eckart und Alfred Rosenberg, zwei Berater<br />
an seiner Seite, die <strong>Luther</strong> gerade<br />
wegen seines Kurswandels vom Judenfreund<br />
zum <strong>Judenfeind</strong> bewunderten.<br />
Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass<br />
Hitler bereits in seiner Nürnberger Parteitagsrede<br />
von 1923 und ein Jahr später<br />
in „Mein Kampf“ seine Wertschätzung<br />
<strong>Luther</strong>s zum Ausdruck brachte.<br />
Den „großen Reformator“ würdigte er<br />
in einer Reihe mit Friedrich dem Großen<br />
und Richard Wagner als herausragenden<br />
Deutschen.<br />
Innerhalb der evangelischen Kirche<br />
wuchs bereits in den zwanziger<br />
Jahren die Zustimmung zur nationalsozialistischen<br />
und antisemitischen Bewegung.<br />
Ein Beispiel bietet der spätere<br />
bayerische Landesbischof Hans Meiser,<br />
ein Mitglied der „Bekennenden Kirche“,<br />
der als Direktor des evangelischen<br />
AM 12. JUNI 1932 berichtet die Neue Zürcher<br />
Zeitung, viele führende Vertreter<br />
der Evangelischen Kirche Deutschlands,<br />
vor allem aber die jüngeren Pastoren,<br />
sympathisierten mit Hitler und betätigten<br />
sich in der NSDAP. In beinahe allen<br />
Landeskirchen bestünden nationalsozialistische<br />
Pfarrer-Bünde. 1933 bestätigt<br />
sich diese Einschätzung. Die mächtige<br />
Evangelische Kirche der Altpreußischen<br />
Union und ihr folgend bald auch<br />
die Evangelische Rheinische Landeskirche<br />
beschlossen auf ihren Generalsynoden<br />
die Einführung des Arierparagrafen.<br />
Die Folge: Ausschluss aller jüdischstämmigen<br />
Christen aus dem hauptamtlichen<br />
kirchlichen Dienst. Der Protest<br />
des Theologen Dietrich Bonhoeffer gegen<br />
den kirchlichen Arierparagrafen erzielte<br />
keine Wirkung.<br />
Hinzu kommt, dass sich 1932 innerhalb<br />
der evangelischen Kirche mit den<br />
„Deutschen Christen“ eine immer stärker<br />
werdende Strömung entwickelte,<br />
die schon durch das Hakenkreuz in ihrer<br />
Fahne dokumentierte, wo sie stand.<br />
Ein Beispiel für ihre Linientreue bot ihr<br />
Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach.<br />
1938 sorgte er dafür, dass <strong>Luther</strong>s<br />
zweite Judenschrift in einer Auflage von<br />
150 000 Exemplaren erneut veröffentlicht<br />
wurde, nachdem die Nationalsozialisten<br />
den Text bereits mehrfach neu gedruckt<br />
hatten.<br />
Im Vorwort dieser Publikation<br />
„Martin <strong>Luther</strong> und die Juden – weg mit<br />
ihnen!“ äußerte sich Bischof Sasse so:<br />
„Am 10. November 1938, an <strong>Luther</strong>s Geburtstag,<br />
brennen in Deutschland die Synagogen<br />
(…). In dieser Stunde muss die<br />
Stimme des Mannes gehört werden, der<br />
als der Deutsche Prophet im 16. Jahrhundert<br />
aus Unkenntnis einst als Freund der<br />
Juden begann, der getrieben von seinem<br />
Fotos. Action Press/Ullstein Archiv Gerstenberg, Christel Gerstenberg/Corbis<br />
20<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Gewissen, getrieben von den Erfahrungen<br />
und der Wirklichkeit, der größte Antisemit<br />
seiner Zeit geworden ist, der Warner<br />
seines Volkes wider die Juden.“<br />
Die Einführung des Judensterns<br />
1941 wurde von acht norddeutschen<br />
Landeskirchen der „Deutschen Christen“<br />
mit folgender Erklärung begrüßt:<br />
„Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft<br />
stehen die unterzeichneten deutschen<br />
evangelischen Landeskirchen und<br />
Kirchenleiter in der Front dieses historischen<br />
Abwehrkampfes, der unter anderem<br />
die Reichspolizeiverordnung über<br />
die Kennzeichnung der Juden als der geborenen<br />
Welt- und Reichsfeinde notwendig<br />
gemacht hat. Wie schon Dr. Martin<br />
<strong>Luther</strong> nach bitteren Erfahrungen die<br />
Forderungen erhob, schärfste Maßnahmen<br />
gegen die Juden zu ergreifen, und<br />
sie aus deutschen Landen auszuweisen.“<br />
Aber auch führende Mitglieder der<br />
„Bekennenden Kirche“ profilierten sich<br />
mit judenfeindlichen Äußerungen. Ein<br />
Beispiel bietet der evangelisch-lutherische<br />
Oberkirchenrat Otto Bezzel aus<br />
Bayreuth, der dem Führungsstab von<br />
Bischof Meiser in München angehörte. In<br />
einer Predigt in der Erlöserkirche in Bamberg<br />
forderte er 1937, „die Juden sind die<br />
Zerstörer und gehören hinausgepeitscht“.<br />
Selbst der württembergische Landesbischof<br />
Theophil Wurm leitete als<br />
Mitglied der „Bekennenden Kirche“ ein<br />
kritisches Schreiben an den Reichsjustizminister<br />
vom 3. Dezember 1938 mit folgender<br />
antisemitischer Passage ein: „Ich<br />
bestreite mit keinem Wort dem Staat das<br />
Recht, das Judentum als gefährliches Element<br />
zu bekämpfen. Ich habe von Jugend<br />
auf das Urteilen von Männern wie Heinrich<br />
von Treitschke und Adolf Stoecker<br />
über die zersetzende Wirkung des Judentums<br />
auf religiösem, sittlichem, literarischem,<br />
wirtschaftlichem und politischem<br />
Gebiet für zutreffend gehalten und vor<br />
30 Jahren als Leiter der Stadtmission in<br />
Stuttgart gegen das Eindringen des Judentums<br />
in die Wohlfahrtspflege einen<br />
öffentlichen und nicht erfolglosen Kampf<br />
geführt.“<br />
Damit wird erneut deutlich, dass die<br />
„Bekennende Kirche“ in dieser Zeit nur<br />
partiell in Distanz zum NS-Regime stand.<br />
Zwar wehrte sie sich dagegen, als kirchliche<br />
Organisation wie die „Deutschen<br />
Christen“ Teil des nationalsozialistischen<br />
Unterdrückungssystems zu werden, und<br />
beharrte in Fragen der kirchlichen Lehre<br />
auf ihrer Eigenständigkeit. Zur Verfolgung<br />
der Juden schwieg sie jedoch meist<br />
oder trat sogar öffentlich mit antisemitischen<br />
Thesen auf. Die von Wolfgang<br />
Gerlach in seiner Dissertation von 1987<br />
belegte Tatsache, dass es in der „Bekennenden<br />
Kirche“ eine beachtliche Zahl<br />
mutiger Christen gab, die bedrohten Juden<br />
zur Seite standen, kann diese Einschätzung<br />
nicht relativieren.<br />
Dass sich die Nationalsozialisten<br />
immer wieder auf <strong>Luther</strong> als „Kronzeugen“<br />
ihres Antisemitismus bezogen<br />
haben, wird schließlich in einer Erklärung<br />
deutlich, die Julius Streicher, Herausgeber<br />
des Hetzblatts Der Stürmer,<br />
am 29. April 1946 bei den Nürnberger<br />
Kriegsverbrecherprozessen abgegeben<br />
hat: „Dr. Martin <strong>Luther</strong> säße heute sicher<br />
an meiner Stelle auf der Anklagebank,<br />
wenn dieses Buch in Betracht gezogen<br />
würde. In dem Buch ‚Die Juden und<br />
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ERHÄLTLICH BEI
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
ihre Lügen‘ schreibt Dr. Martin <strong>Luther</strong>,<br />
die Juden seien ein Schlangengezüchte,<br />
man solle ihre Synagogen niederbrennen,<br />
man solle sie vernichten (…). Genau das<br />
haben wir getan!“<br />
Wenn man anhand der historischen<br />
Quellen das Verhalten der katholischen<br />
Kirche untersucht, zeigt sich ein anderes<br />
Bild. Vor allem hinsichtlich des Antisemitismus<br />
hatte sie größere Distanz zum<br />
Regime gewahrt und sich nicht auf solche<br />
Formen aktiver Kooperation mit ihm eingelassen,<br />
die insbesondere für die „Deutschen<br />
Christen“ typisch waren – auch<br />
deshalb, weil die Nationalsozialisten<br />
<strong>Luther</strong> stets als einen der „großen Deutschen“<br />
priesen und seine judenfeindlichen<br />
Thesen von Beginn an propagandistisch<br />
eingesetzt hatten.<br />
Dadurch konnten sie eine spezifische<br />
Nähe zu der von ihm gegründeten<br />
Kirche herstellen. Es setzte sich etwas<br />
fort, was bereits seit Jahrhunderten bis<br />
1933 zu beobachten war. Dies zeigt beispielhaft<br />
eine Analyse der Religionszugehörigkeit<br />
von 48 deutschen Autoren judenfeindlicher<br />
Texte, die in den Schriften<br />
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von Graetz, Steinlein, Ginzel und Brumlik<br />
zitiert werden. Nur drei gehörten der<br />
katholischen Kirche an. Zu sechs weiteren<br />
ließ sich die Religion nicht ermitteln.<br />
39 waren evangelisch, 18 von ihnen hatten<br />
evangelische Theologie studiert.<br />
Die Verbindung der evangelischen<br />
Kirche zum Antisemitismus dürfte einen<br />
wichtigen Beitrag dazu geleistet haben,<br />
dass die NSDAP bei den Reichstagswahlen<br />
vom Juli 1937 zum ersten Mal mit<br />
37,2 Prozent stärkste Partei wurde. Wie<br />
der Wahlforscher Jürgen Falter ermittelt<br />
hat, verdankte sie ihren Sieg den evangelischen<br />
Wählern. Von ihnen hatte sich<br />
jeder Zweite für Hitler entschieden, von<br />
den Katholiken dagegen nur jeder Fünfte.<br />
Letzteres kann nicht überraschen. Die<br />
katholische Kirche hatte im Jahr 1930<br />
ihren Mitgliedern verboten, der NSDAP<br />
beizutreten, und den Nationalsozialisten<br />
die Sakramente, zum Beispiel Taufe<br />
und Hochzeit, verweigert. Außerdem<br />
hatte sie 1932 in einem Hirtenbrief zur<br />
Reichstagswahl ihre Gläubigen dazu aufgerufen,<br />
nur christlich orientierte Politiker<br />
und Parteien zu wählen.<br />
Europa<br />
Nach dem Kriegsende kam die<br />
schockartige Konfrontation mit dem Holocaust.<br />
Seitdem wird der Antisemitismus<br />
von beiden christlichen Kirchen eindeutig<br />
abgelehnt. Auch im Vergleich der Einstellungen<br />
ihrer Mitglieder ergeben sich<br />
heute keine signifikanten Unterschiede.<br />
In einer repräsentativen Schülerbefragung<br />
des Kriminologischen Forschungsinstituts<br />
Niedersachsen wurden 2013<br />
knapp 10 000 niedersächsische Jugendliche<br />
befragt. Von den katholischen<br />
deutschen Schülern stimmten 7,2 Prozent<br />
antisemitischen Thesen zu, von den<br />
evangelischen waren es 6,7 Prozent.<br />
Doch nun zur dritten Frage. Wie geht<br />
die evangelische Kirche mit ihrer Vergangenheit<br />
um? 1950 hatte sie erklärt,<br />
sie sei durch „Unterlassen und Schweigen<br />
mitschuldig geworden an dem Frevel,<br />
der durch Menschen unseres Volkes<br />
an den Juden begangen wurde“. Aber<br />
das war nur die halbe Wahrheit. Darüber,<br />
dass starke Kräfte der evangelischen<br />
Kirche im Dritten Reich den Antisemitismus<br />
aktiv unterstützt hatten, verlor man<br />
1950 kein Wort.<br />
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Heute sind wir zeitlich weit genug<br />
entfernt von den damaligen Verstrickungen<br />
vieler Akteure der evangelischen<br />
Kirche. Trotzdem nutzte sie den 75. Jahrestag<br />
der Pogromnacht 2013 nicht, um<br />
selbstkritisch Rückschau zu halten.<br />
2017 wird es 500 Jahre her sein, dass<br />
die 95 Thesen des Reformators in Umlauf<br />
gebracht wurden. Dann endet die 2008<br />
begonnene <strong>Luther</strong>-Dekade. Bis dahin<br />
bliebe ausreichend Zeit, das Versäumte<br />
nachzuholen und sich an der programmatischen<br />
Aussage Margot Käßmanns<br />
zu orientieren: „Es kann kein Reformationsjubiläum<br />
geben, das bei aller Freude<br />
über die Errungenschaften der Reformation<br />
ihre Schattenseiten nicht benennt.“<br />
DAS SPEKTRUM DER MÖGLICHKEITEN<br />
reicht von einer Historikerkommission,<br />
wie sie etwa das Auswärtige Amt oder<br />
verschiedene große Firmen eingesetzt<br />
haben, bis hin zu einem sorgfältig vorbereiteten<br />
und gründlich dokumentierten<br />
Symposium.<br />
Ganz gleich, welchen Weg die<br />
EKD und die evangelischen Landeskirchen<br />
einschlagen werden: Die Entscheidung,<br />
eine solche Analyse bei kompetenten<br />
Wissenschaftlern in Auftrag zu<br />
geben, hätte eine positive Konsequenz.<br />
Sie würde den Freiraum dafür schaffen,<br />
<strong>Luther</strong>s große historische Leistung<br />
500 Jahre später angemessen zu würdigen.<br />
Schließlich ist es in hohem Maße seinem<br />
entschlossenen und kraftvoll vorgetragenen<br />
Protest zu verdanken, dass<br />
die Kirche ihren damaligen Irrweg verlassen<br />
konnte.<br />
Einerseits begründete <strong>Luther</strong> die<br />
Reformation. Andererseits förderte er<br />
eine innere Wandlung der katholischen<br />
Kirche. Auch als Übersetzer der Bibel<br />
ins Deutsche bleibt seine Lebensleistung<br />
gewaltig. Wenn sich dagegen manche<br />
Kirchenhistoriker und maßgebliche<br />
Vertreter der Kirche weiterhin wie Denkmalschützer<br />
vor den Reformator stellen,<br />
werden sie in eine unglaubwürdige, die<br />
eigene Position schwächende Abwehrhaltung<br />
geraten.<br />
Eine kritische Rückschau kann allerdings<br />
nur gelingen, wenn hierfür nicht<br />
nur Historiker, sondern auch Sozialwissenschaftler<br />
herangezogen werden. Erst<br />
dadurch könnten – ergänzend zu einer<br />
historischen Aufarbeitung – weitere,<br />
überaus wichtige Fragen geklärt werden:<br />
Woran liegt es, dass sowohl die<br />
große Mehrheit der Pfarrer als auch der<br />
von ihnen betreuten Christen nicht die<br />
Kraft hatten, die zentrale Botschaft ihres<br />
Glaubens umzusetzen und gegenüber<br />
den bedrohten Juden Nächstenliebe zu<br />
praktizieren?<br />
Welche Bedeutung gewinnt die Tatsache,<br />
dass die damals in Deutschland<br />
lebenden Menschen in ihrer Kindheit<br />
ganz überwiegend sehr autoritären Erziehungsmethoden<br />
ausgesetzt waren?<br />
Sind sie gerade auch dadurch zu willfährigen<br />
Untertanen geworden? Zeigt sich<br />
andererseits am Beispiel der wenigen<br />
JULIUS STREICHER<br />
BEI DEN NÜRNBERGER PROZESSEN<br />
Christen, die die Kraft zum Widerstand<br />
und zur tätigen Nächstenliebe hatten,<br />
dass sie von ihren Eltern und Lehrern<br />
sehr liebevoll und gewaltfrei erzogen<br />
worden sind?<br />
Die in den siebziger Jahren vom Ehepaar<br />
Oliner sowie von Eva Fogelman mit<br />
über 400 „Judenrettern“ geführten Interviews<br />
haben die hinter diesen Fragen stehenden<br />
Annahmen eindrucksvoll bestätigt.<br />
Ihre Studien zeigen: Es wäre wichtig,<br />
die hier angeregte Kommission auch damit<br />
zu beauftragen, die Biografie solcher<br />
Menschen zu untersuchen, die ihr Christentum<br />
während der Nazizeit überzeugend<br />
gelebt haben.<br />
23<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
„ER SCHLEUDERTE<br />
KILOMETERHOCH LAVA“<br />
Wer war <strong>Luther</strong>? Historiker Heinz Schilling, <strong>Luther</strong>-Botschafterin<br />
Margot Käßmann und Kardinal Walter Brandmüller über die Folgen<br />
der Reformation. Ein Gipfeltreffen im Hôtel de Rome zu Berlin<br />
Konservative protestantische Kreise<br />
schlagen vor, das Reformationsjubiläum<br />
mit einem Bußakt zu begehen.<br />
Die evangelische Kirche solle sich entschuldigen,<br />
dass sie <strong>Luther</strong>s Erbe an den<br />
Zeitgeist verraten habe. Wird es, Frau<br />
Käßmann, einen solchen Bußakt geben?<br />
Margot Käßmann: Vor jedem Jubiläum<br />
melden sich endlos viele Stimmen.<br />
Es wird 2017 auf jeden Fall kein deutschtümelndes<br />
<strong>Luther</strong>-Gedenken geben, sondern<br />
ein internationales Reformationsjubiläum<br />
mit ökumenischem Horizont.<br />
Unter diesem Dach kann viel passieren.<br />
Herr Schilling, Sie sind Historiker und<br />
Protestant. Wie stark lebt <strong>Luther</strong> in<br />
seiner Kirche?<br />
Heinz Schilling: Meiner Erfahrung<br />
nach gibt es einen großen Unterschied<br />
zwischen der Art und Weise, wie die<br />
EKD <strong>Luther</strong> interpretiert und wie er an<br />
der Basis wahrgenommen wird. Dort begegnet<br />
einem ein sachlich tiefes, Differenzierungen<br />
verlangendes <strong>Luther</strong>-Interesse,<br />
aber auch harsche Kritik bis hin<br />
zu der Forderung, den Reformator wegen<br />
seiner schlimmen Judenschriften aus<br />
dem historischen Gedächtnis zu löschen.<br />
Wie lässt sich vor diesem Hintergrund<br />
sinnvoll gedenken?<br />
Schilling: Es darf sich nicht nur um ein<br />
kirchliches Gedenken handeln. <strong>Luther</strong> ist<br />
zu wichtig, als dass man ihn den Theologen<br />
überlassen könnte. Man müsste beim<br />
Jubiläum auch Menschen wie Gregor Gysi<br />
begreiflich machen: Tua res agitur – deine<br />
Sache wird hier verhandelt. Durch das,<br />
was Anfang des 16. Jahrhunderts geschah,<br />
Moderation ALEXANDER KISSLER<br />
ist auf vermittelte, aber wichtige Weise<br />
auch die heutige Existenz von Nichtchristen<br />
mitgeprägt.<br />
Für Sie, Kardinal Brandmüller, ist die Sache<br />
einfacher. Die römisch-katholische<br />
Kirche kann im Reformationsjubiläum<br />
keinen Grund zum Feiern, sondern nur<br />
zur Trauer erblicken.<br />
Kardinal Brandmüller: Jubiläen sind<br />
für Historiker eine problematische Angelegenheit.<br />
Geht es um Erinnerung, um<br />
Vergegenwärtigung, um den Blick in die<br />
Zukunft? Für viele Zeitgenossen sind<br />
Jubiläen ein vordergründiges Spektakel<br />
oder eine kommerzielle Angelegenheit.<br />
Ich hörte, es gibt jetzt <strong>Luther</strong>-Socken.<br />
Schilling: Meine Assistenten haben<br />
mir welche geschenkt mit der Aufschrift:<br />
„Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“<br />
Käßmann: Es gibt sie auch kleiner<br />
und rosafarben, für meine Enkeltochter.<br />
Den Satz soll <strong>Luther</strong> auf dem Wormser<br />
Reichstag gar nicht gesagt haben.<br />
Schilling: Die Rede wurde von seiner<br />
Wittenberger „PR-Agentur“ genial zugespitzt.<br />
Eigentlich sagte er: „Solange mein<br />
Gewissen durch die Worte Gottes gefangen<br />
ist, kann und will ich nichts widerrufen,<br />
weil es unsicher ist und die Seligkeit<br />
bedroht, etwas gegen das Gewissen<br />
zu tun. Gott helf mir. Amen.“<br />
Brandmüller: Das Ergebnis der Reformation,<br />
die Spaltung der Christenheit,<br />
kann kein Anlass zur Freude sein. Aber<br />
es lohnt sich, einen solchen Anlass zu ergreifen,<br />
um nach Ursachen und Wirkungen<br />
zu fragen und eine gewisse Extrapolation<br />
auf das Heute zu versuchen.<br />
24<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> ( Seiten 24 bis 32)<br />
Margot Käßmann<br />
Die Pastorin ist Botschafterin<br />
des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum<br />
2017. Von<br />
1999 bis 2010 war sie Landesbischöfin<br />
der Evangelischlutherischen<br />
Landeskirche<br />
Hannovers, 2009/2010 auch<br />
EKD-Ratsvorsitzende. Sie<br />
veröffentlichte zuletzt „Mehr<br />
als Ja und Amen. Doch, wir<br />
können die Welt verbessern“
Heinz Schilling<br />
Der Historiker legte mit<br />
„Martin <strong>Luther</strong>. Rebell in einer<br />
Zeit des Umbruchs“ die<br />
maßgebliche Biografie des<br />
Reformators vor. Er lehrte<br />
Europäische Geschichte der<br />
frühen Neuzeit an der<br />
Humboldt-Universität, schrieb<br />
u.a. „Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa<br />
zum Euro pa<br />
der Staaten 1250 bis 1750“
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Käßmann: Natürlich darf ein solches<br />
Jubiläum nicht nur historisierend<br />
sein. Die Frage lautet auch, wie gehen<br />
Christinnen und Christen in einer säkularer<br />
werdenden Welt ins 21. Jahrhundert?<br />
Wir schauen auf 100 Jahre ökumenische<br />
Bewegung zurück. In dieser Zeit<br />
haben wir die kreative Kraft der konfessionellen<br />
Differenz entdeckt. Wir Protestanten<br />
würden nicht so intensiv über<br />
unser Abendmahls-Verständnis diskutieren,<br />
täten wir es nicht auch im Gegenüber<br />
zu den Katholiken. Darin liegt eine positive<br />
Kraft.<br />
Schilling: Sie sagen, das Jubiläum<br />
dürfe „nicht nur historisierend“ begangen<br />
werden. Das ist ein falsches Verständnis<br />
von Geschichte. Geschichte ist<br />
immer dynamisch auf die Gegenwart<br />
ausgerichtet und setzt Zukunftspotenziale<br />
frei. Es ist sehr fraglich, ob sich die<br />
Säkularisierung in jener Weise fortsetzt,<br />
wie wir sie die vergangenen 200 Jahre<br />
erlebt haben. Die Geschichte eröffnet<br />
alternative Welten, die man ernst nehmen<br />
muss.<br />
Worin bestand das alternative Denken<br />
der Reformation?<br />
Käßmann: Ein starker Impuls der<br />
Reformation war der gebildete Glaube,<br />
der immer widerständig ist gegen alle<br />
Formen von Fundamentalismus. Manche<br />
Religiosität, die heute entsteht, tendiert<br />
dazu, das Weltgeschehen nicht kritisch<br />
zu reflektieren. Christen müssen<br />
wie <strong>Luther</strong> die Welt am Maßstab der Bibel<br />
messen.<br />
Waren die Menschen vor <strong>Luther</strong> religiös<br />
ungebildet?<br />
Brandmüller: Aber nein. Es gab seit<br />
der Erfindung des Buchdrucks, vor <strong>Luther</strong>,<br />
17 vollständige Bibelausgaben auf<br />
Deutsch. Rechnet man die Teilausgaben<br />
hinzu mit den Evangelien und Apostelbriefen,<br />
kommt man auf fast 30 verschiedene<br />
Ausgaben. Es ist nicht wahr, dass<br />
das vorreformatorische Glaubensvolk in<br />
einem religiösen Analphabetismus gefangen<br />
gewesen wäre.<br />
Schilling: Dennoch war es ein reformatorisches<br />
Anliegen, die Gläubigen so<br />
gut zu bilden, dass sie die Bibel lesen und<br />
verstehen konnten.<br />
Brandmüller: Andererseits wuchs<br />
die Gefahr einer subjektivistischen, ja<br />
„Das<br />
Glaubensvolk<br />
war vor der<br />
Reformation<br />
keineswegs<br />
religiös<br />
analphabetisch“<br />
Walter Kardinal Brandmüller<br />
individualistischen Bibelauslegung. So<br />
entstand im Raum der Reformation eine<br />
Pluralität, die <strong>Luther</strong> enorm zu schaffen<br />
machte, obwohl er sie provoziert hatte.<br />
Thomas Mann legt in „Doktor Faustus“<br />
dem Erzähler die Worte in den Mund:<br />
Die Reformation sei „der Aufstand subjektiver<br />
Willkür gegen die objektive Bindung“<br />
gewesen. Ähnlich äußerten sich<br />
Hugo Ball, Paul Hacker, Eric Voegelin.<br />
Ist damit die anthropologische Wende<br />
im Protestantismus richtig benannt?<br />
Brandmüller: Von Willkür würde ich<br />
nicht sprechen, von Subjektivität schon.<br />
Selbstverständlich muss der Einzelne<br />
sich die Botschaft des Evangeliums persönlich<br />
zu eigen machen. Aber dass er<br />
diese Botschaft verbindlich anderen gegenüber<br />
formulieren kann, bezweifle ich.<br />
Es dauerte keine Generation, ehe es unzählbar<br />
viele reformatorische Einzelströmungen<br />
gab. Schauen Sie sich die Flut<br />
an Bekenntnisschriften an, die Confessio<br />
Augustana, die Variata, die Schmalkaldischen<br />
Artikel, die Konkordienformel.<br />
Ist das ein Zugewinn an Pluralität oder<br />
ein Verlust an Einheitlichkeit?<br />
Käßmann: Beides. Das ist eine falsche<br />
Alternative. In Nordamerika gibt es<br />
22 lutherische Kirchen. Das Reformationsjubiläum<br />
wäre ein guter Anlass, dass<br />
die <strong>Luther</strong>aner sich fragen, wie es mit<br />
dem lutherischen Einheitsgedanken bei<br />
ihnen aussieht. Andererseits ist eine solche<br />
kreative Vielfalt kennzeichnend für<br />
das protestantische Kirchenverständnis.<br />
Brandmüller: Wie aber steht es mit<br />
der Übereinstimmung in der Wahrheit?<br />
Vielfalt ist nur positiv, wenn diese Vielfalt<br />
sich nicht widerspricht.<br />
Käßmann: Ich bezweifle, dass wir<br />
etwa im Abendmahlsstreit die eine<br />
Wahrheit finden werden. Es bleibt, lutherisch<br />
gesprochen, ein Geheimnis, wie<br />
Christus in, mit und unter den Gestalten<br />
vom Brot und Wein präsent ist.<br />
Brandmüller: Ja, das Mysterium<br />
bleibt bestehen. Visus, tactus, gustus in<br />
te fallitur – Gesicht, Gefühl, Geschmack<br />
betrügen sich in dir. Quia te contemplans<br />
totum deficit – sagt Thomas von<br />
Aquino. Das Dogma bietet einen Rahmen<br />
und grenzt ab zum Irrtum.<br />
Schilling: <strong>Luther</strong> unterschied zwischen<br />
der sichtbaren und der unsichtbaren<br />
Kirche. Die sichtbaren Kirchen sind<br />
differenziert und können doch an der<br />
einen Wahrheit der einen unsichtbaren<br />
Kirche teilhaben. So könnten Protestanten<br />
und Katholiken sich 2017 wechselseitig<br />
ihre Kirchlichkeit anerkennen. Papst<br />
Franziskus wäre es zuzutrauen.<br />
Brandmüller: Die Differenzierung,<br />
von der Professor Schilling spricht,<br />
hat es in der katholischen Kirchengeschichte<br />
immer gegeben. Nehmen Sie<br />
die Vielfalt der Orden. Benediktiner,<br />
Franziskaner, Augustiner, Karmeliter,<br />
Jesuiten haben ihre spezifische Spiritualität,<br />
aber stimmen im Credo überein.<br />
27<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Differenzierungen bestehen in Akzentverschiebungen,<br />
jedoch ohne Widersprüche.<br />
Das ist im Verhältnis zu den<br />
Protestanten anders. Die Unterscheidung<br />
zwischen sichtbarer und unsichtbarer<br />
Kirche scheint mir problematisch.<br />
Natürlich ist das innerste Wesen<br />
der Kirche empirisch nicht zu greifen.<br />
Aber Christus, der sich in der Kirche inkarniert,<br />
ist nicht in Gott und Mensch<br />
aufzuspalten. Er ist, wie das Konzil von<br />
Chalcedon sagt …<br />
Käßmann: … wahrer Mensch und<br />
wahrer Gott …<br />
Brandmüller: … unvermischt und<br />
ungetrennt. Das gilt auch von der Kirche.<br />
Das unteilbare, unsichtbare Mysterium<br />
muss sich in sichtbarer Form präsentieren.<br />
Sie plädieren für die Rückkehr der Protestanten<br />
nach Rom?<br />
Brandmüller: Ich würde eher davon<br />
sprechen, dass Seitenarme wieder<br />
in das ursprüngliche Strombett einmünden<br />
sollten.<br />
Käßmann: Das Strombett wäre für<br />
Sie die römisch-katholische Kirche, von<br />
der es Abspaltungen gab. Protestantische<br />
Einheitsmodelle erkennen die Vielfalt der<br />
Zugänge an.<br />
<strong>Luther</strong> war kein Apostel der Vielfalt. Sie,<br />
Herr Schilling, schreiben von seiner „Unfähigkeit,<br />
mit Andersdenkenden in einen<br />
Dialog zu treten“. Was von seiner<br />
Einsicht abwich, hielt <strong>Luther</strong> für eine<br />
„direkte Einflüsterung des Teufels“.<br />
„<strong>Luther</strong> hat die<br />
Grundlage für<br />
Religion und<br />
Politik als zwei<br />
unterschiedliche<br />
Bereiche<br />
geschaffen“<br />
Heinz Schilling<br />
Schilling: <strong>Luther</strong> konnte sich die<br />
Welt überhaupt nicht anders vorstellen.<br />
Auch diese Unfähigkeit zum Dialog war<br />
damals keine Besonderheit. Aber <strong>Luther</strong><br />
hat eben die Grundlage dafür geschaffen,<br />
Religion und Politik als zwei unterschiedliche<br />
Bereiche zu definieren.<br />
Das wäre die Zwei-Reiche-Lehre.<br />
Schilling: Richtig. Sie geht auf eine<br />
mittelalterliche Tradition zurück, wurde<br />
aber erst nach <strong>Luther</strong> und nach dem Dreißigjährigen<br />
Krieg fruchtbar. Der Staat<br />
war nicht mehr verantwortlich, die religiöse<br />
Wahrheit durchzusetzen, die Kirchen<br />
mussten sich nicht vom Staat in die<br />
Pflicht nehmen lassen.<br />
Dennoch gab es im 19. Jahrhundert eine<br />
protestantische Allianz von Thron und<br />
Altar. Sie, Frau Käßmann, sprachen neulich<br />
davon, der Protestantismus habe<br />
manchmal „sich mit einem Untertanengeist<br />
verbandelt“. Die Kulturbeauftragte<br />
der EKD, Petra Bahr, kritisiert,<br />
dass der Protestantismus immer gefährdet<br />
sei, sich dem Zeitgeist anzupassen.<br />
Sie erinnert an stramm nationalistische<br />
Predigten im Ersten Weltkrieg.<br />
Käßmann: Es gibt eine Lerngeschichte<br />
der Reformation. <strong>Luther</strong> hat die<br />
Freiheit des Menschen in Glaubens- und<br />
Gewissensfragen, die er proklamierte,<br />
selbst nicht respektiert. Aber er hat den<br />
Samen gelegt. Ich habe auch Kriegspredigten<br />
von 1914 gelesen, da wird einem<br />
mulmig, aber wir haben gelernt.<br />
Schilling: Solche Predigten finden<br />
Sie auch auf katholischer Seite.<br />
Brandmüller: Die Motivation war<br />
aber verschieden. Im protestantischen<br />
Raum führte eine für selbstverständlich<br />
gehaltene Staatstreue dazu. Im katholischen<br />
Bereich war es der Versuch<br />
eines: „Ich auch, ich auch!“ Katholiken<br />
wurden im Kaiserreich als unzuverlässig,<br />
undeutsch deklariert. Diesen Argwohn<br />
wollten sie dann mit verbalem Säbelrasseln<br />
aus der Welt schaffen: Wir Katholiken<br />
sind auch gute Deutsche!<br />
Käßmann: Andererseits gab es zur<br />
Zeit des Nationalsozialismus, etwa im<br />
Kreisauer Kreis, Widerstand aus christlichem<br />
Geist, jenseits konfessioneller<br />
Differenzen.<br />
Größer ist die Zahl der Antisemiten, die<br />
sich auf <strong>Luther</strong> beriefen. Führt ein direkter<br />
Weg von <strong>Luther</strong> zu Hitler?<br />
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Schilling: Gewiss nicht.<br />
Käßmann: Natürlich ist <strong>Luther</strong>s<br />
Schrift von 1543 über die „Juden und ihre<br />
Lügen“ furchtbar. 20 Jahre zuvor hatte er<br />
judenfreundlich argumentiert. Wir können<br />
uns von der Schuld nicht freisprechen,<br />
dass im Protestantismus ein starker Antijudaismus<br />
vorhanden war. Insofern gibt<br />
es eine Schuldgeschichte. Gott sei Dank<br />
gehört es aber zur Lerngeschichte, dass<br />
ein solcher Antijudaismus heute in der<br />
evangelischen Kirche undenkbar ist.<br />
Brandmüller: <strong>Luther</strong> war alles andere<br />
als ein kühler Intellektueller, eher<br />
ein Vulkan, der kilometerhoch Lava in<br />
die Luft schleuderte. Nicht nur gegen Juden,<br />
auch gegen den Papst hat er gewütet.<br />
Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde<br />
ich als Kardinal mit einem Mühlstein um<br />
den Hals bei Ostia im Meer ersäuft sein.<br />
Ich nehme diese Ausbrüche nicht ernst.<br />
<strong>Luther</strong> sagte, er sei „dazu geboren, dass<br />
ich mit den Rotten und Teufeln muss<br />
kriegen und zu Felde liegen“. War er ein<br />
Choleriker vor dem Herrn?<br />
Schilling: Ich würde sein Verhalten<br />
vor dem Hintergrund der Zeit interpretieren.<br />
Die Abwehrhaltung gegen die jüdische<br />
Minderheit war damals nahezu Konsens.<br />
Fast tragisch ist es, dass <strong>Luther</strong> aus<br />
Sorge um sein Selbstbild als Prophet des<br />
wahren Wortes die Weigerung der Juden,<br />
sich taufen zu lassen, für ein Zeichen<br />
des Teufels hielt. Daraus lässt sich<br />
jedoch für Hitlers Antisemitismus nichts<br />
ableiten. Rassist war <strong>Luther</strong> gerade nicht.<br />
„<strong>Luther</strong> hat die<br />
Freiheit des<br />
Menschen in<br />
Glaubens- und<br />
Gewissensfragen<br />
selbst nicht<br />
respektiert“<br />
Margot Käßmann<br />
Sie schreiben aber von seinem „bedingungslosen<br />
Vernichtungswillen gegen<br />
Juden wie Türken“.<br />
Schilling: Er wollte beide aus den<br />
Territorien der christlichen Welt verbannen,<br />
aber nicht töten. <strong>Luther</strong> sah kurz<br />
vor seinem Tod in den Juden so etwas<br />
wie eine ansteckende Krankheit, durch<br />
die die Reinheit des Evangeliums getrübt<br />
und damit seine Reformation zunichte<br />
würde. Um eine Traditionslinie zu<br />
den Nationalsozialisten ziehen zu können,<br />
müsste der Beweis erbracht werden,<br />
dass die antijudaistischen Schriften flächendeckend<br />
in den Bibliotheken protestantischer<br />
Prediger gestanden haben.<br />
Dieser Beweis fehlt. Im Gegenteil: Hitler<br />
beschwerte sich, dass die Kirchen den<br />
Deutschen den wahren, den antisemitischen<br />
<strong>Luther</strong> vorenthalten hätten. Vorwerfen<br />
kann man dem deutschen Protestantismus<br />
hingegen, dass er, neudeutsch<br />
gesprochen, keine Firewall gegen den<br />
Antisemitismus errichtete. Die fatale<br />
Verknüpfung von nationalistisch-deutschem<br />
Bewusstsein und <strong>Luther</strong>tum hat<br />
das verhindert. Beim Katholizismus gab<br />
es das nicht.<br />
Damals gab es also keinen Schutzwall<br />
gegen den Antisemitismus. Heute,<br />
heißt es, sauge der Protestantismus den<br />
Zeitgeist auf. Die „Bibel in gerechter<br />
Sprache“ und die „Orientierungshilfe“<br />
zur Familie seien solche Sündenfälle.<br />
Käßmann: <strong>Luther</strong> nannte es den Beruf<br />
des Christen, das Wort mitten in der<br />
Welt zu ergreifen. Ich erkenne da keine<br />
Anpassung an den Zeitgeist.<br />
Günther Beckstein beklagt, es gebe<br />
kaum konservative Stimmen in der EKD.<br />
Käßmann: Das sehe ich nicht so.<br />
Herr Beckstein ist anderer Meinung, aber<br />
das hält der Protestantismus aus.<br />
Wenn, Frau Käßmann, das Wort der Bibel<br />
der Maßstab bleiben soll: Warum<br />
wird an diesem Wort herumgedoktert?<br />
Käßmann: Die evangelische Kirche<br />
doktert nicht. Es entsteht gerade eine behutsame<br />
Revision der <strong>Luther</strong>bibel, die bis<br />
2017 abgeschlossen sein wird. Die „Bibel<br />
in gerechter Sprache“ ist durch eine<br />
freie Gruppe aus Übersetzern und Exegeten<br />
entstanden. Sie wurde nie von der<br />
EKD autorisiert.<br />
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TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Käßmann: Für mich bleibt die<br />
<strong>Luther</strong>bibel der Maßstab. Aber ich finde<br />
auch in der „Bibel in gerechter Sprache“<br />
manche Anregung.<br />
Schilling: Die „Bibel in gerechter<br />
Sprache“ ist an vielen Stellen eine<br />
sprachliche Zumutung. Menschen, die an<br />
der <strong>Luther</strong>bibel hängen, stößt man vor<br />
den Kopf. Zudem sind in der Übersetzung<br />
massive ideologische Aussagen enthalten,<br />
unter anderem feministischer Art.<br />
Es ist die Rede von Apostelinnen.<br />
Käßmann: Die Apostelin Junia ist biblisch<br />
belegt.<br />
Brandmüller: Aber ich bitte Sie! Mit<br />
welcher Begründung denn?<br />
Schilling: Beim biblischen Abendmahl<br />
waren nur Männer dabei. Es widerspricht<br />
der historischen Situation, wenn<br />
eine Pastorin die Einsetzungsworte verändert<br />
und heute von „Jüngern und Jüngerinnen“<br />
spricht. Warum traut sie den<br />
Frauen und Männern ihrer Gemeinde<br />
nicht zu, dass sie zwischen der damaligen<br />
Realität eines Männerclubs und der<br />
universellen, Frauen einschließenden<br />
theologischen Verheißung des Abendmahls<br />
zu unterscheiden wissen? Dahinter<br />
steht ein grundsätzliches Problem:<br />
Geht der Protestantismus zurück zu seinen<br />
Wurzeln oder passt er sich der Gegenwart<br />
an?<br />
Käßmann: Wie gesagt, die <strong>Luther</strong>bibel<br />
bleibt der Maßstab, die Übersetzung<br />
„in gerechter Sprache“ finde ich<br />
interessant, anregend. Das Buch Hiob<br />
etwa wurde großartig übertragen. Was<br />
den Zeitgeist anbelangt: Bei der Frauenordination<br />
wurde der EKD auch vorgeworfen,<br />
sie beuge sich dem Zeitgeist.<br />
Dabei ergibt sich ein solcher Schritt konsequent<br />
aus der Lehre Martin <strong>Luther</strong>s.<br />
Schilling: Das stimmt. Obwohl <strong>Luther</strong><br />
sich einen solchen Schritt nicht vorstellen<br />
konnte.<br />
Brandmüller: In der Tat meint <strong>Luther</strong><br />
mit Ordination etwas ganz anderes<br />
als die katholische Priesterweihe.<br />
Der gegenwärtige Papst gilt als Reformpapst.<br />
Zu Recht?<br />
Brandmüller: Was bedeutet Reform?<br />
Reform kann nicht einfach Veränderung<br />
sein, sondern der Versuch, das Wesen<br />
einer Sache präziser zum Ausdruck zu<br />
bringen. Reform kann nie zum Ergebnis<br />
„Ich bestreite<br />
aber, dass Martin<br />
<strong>Luther</strong> die<br />
kirchliche Reform<br />
angestoßen hat“<br />
Walter Kardinal Brandmüller<br />
haben, dass das Reformierte nicht mehr<br />
mit dem vorher zu Reformierenden identisch<br />
ist. <strong>Luther</strong> reformierte nicht die Kirche,<br />
sondern lieferte mit eigener Lehre,<br />
eigener Liturgie, eigenen pastoralen<br />
Strukturen und eigenem Recht alle Elemente<br />
einer alternativen Kirchengründung<br />
im Widerspruch zur bestehenden.<br />
Schilling: Gleichwohl hat er Reformen<br />
angestoßen. Er war Stachel im<br />
Fleisch des Papsttums, das sich dann bemühen<br />
musste, sich seinerseits zu reformieren.<br />
Die katholische Kirche ist<br />
genauso herausgefordert, wie die protestantische<br />
Kirche zu sagen, was sie<br />
an diesem Mann gehabt hat und wie sie<br />
heute zu ihm steht.<br />
Brandmüller: Keine Frage, aber dass<br />
<strong>Luther</strong> die kirchliche Reform angestoßen<br />
hat, bestreite ich. Es gab, wie Sie selbst<br />
schreiben, im 15. Jahrhundert energische<br />
Reformbewegungen, in Spanien und Italien,<br />
lange vor <strong>Luther</strong>.<br />
Schilling: Aber alle verliefen im<br />
Sand. Ohne diese Alternative, die sich<br />
mit <strong>Luther</strong> auftat, hätte die katholische<br />
Kirche den Weg der Reform mit dem<br />
Tridentinischen Konzil nicht so rasch<br />
beschritten.<br />
Käßmann: <strong>Luther</strong> war, wie wir heute<br />
sagen würden, Reformkatholik, als er<br />
1517 mit seinen Thesen wider den Ablasshandel<br />
an die Öffentlichkeit trat.<br />
Hämmerte er sie eigentlich an die Kirchenpforte<br />
in Wittenberg?<br />
Schilling: Nein, er ließ die 95 Thesen<br />
als Plakat drucken, das vermutlich an der<br />
Tür der Schloss-, die gleichzeitig Universitätskirche<br />
war, ausgehängt wurde. Wir<br />
dürfen uns aber keinen hammerschwingenden<br />
Mönch vorstellen. Es war ein an<br />
den europäischen Universitäten üblicher<br />
Akt der Information. Damit sollte<br />
zur akademischen Disputation eingeladen<br />
werden – zu der es dann nicht kam.<br />
Brandmüller: Mit der Kritik am Ablass<br />
hatte <strong>Luther</strong> vollen Erfolg. Es wäre<br />
gut gewesen, hätte er sich damit begnügt.<br />
Käßmann: Hätte seine Kirche früher<br />
darauf reagiert, hätte es damit vielleicht<br />
sein Bewenden gehabt. An eine Spaltung<br />
oder Kirchengründung dachte <strong>Luther</strong> im<br />
Oktober 1517 nicht.<br />
Sehr wichtig war ihm die Frage nach<br />
dem gnädigen Gott. <strong>Luther</strong> hatte große<br />
Angst, im Endgericht dereinst nicht zu<br />
bestehen. Treibt diese Sorge Sie auch<br />
um?<br />
Käßmann: Ich sehe in dieser Frage<br />
die Frage nach der richtigen Lebenshaltung.<br />
Gott schaut nicht auf das, was ich<br />
tue oder leiste. Er sagt mir Lebenssinn zu,<br />
von sich aus. Darin liegt die große Freiheit,<br />
gerade in einer Gesellschaft wie der<br />
heutigen, in der Menschen nur etwas zählen,<br />
wenn sie schön sind, reich sind, Erfolg<br />
haben. Vor Gott ist es anders.<br />
Der Mensch muss sich demnach gar<br />
nicht bemühen?<br />
30<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Walter Kardinal Brandmüller<br />
Der Kirchenhistoriker leitete<br />
von 1998 bis 2009 das Päpstliche<br />
Komitee für Geschichtswissenschaft.<br />
Benedikt XVI.<br />
ernannte ihn 2010 zum Kardinal.<br />
Er schrieb „Das Konzil von<br />
Konstanz“, „Der Fall Galilei<br />
und andere Irrtümer“, „Licht<br />
und Schatten: Kirchengeschichte<br />
zwischen Glaube,<br />
Fakten und Legenden“
TITEL<br />
<strong>Judenfeind</strong> <strong>Luther</strong><br />
Käßmann: Wenn ich erfahre, dass<br />
Gott mir Lebenssinn zusagt, werde ich<br />
alles tun, so zu leben, dass Gott an mir<br />
seine Freude hat.<br />
Brandmüller: Das ist gut katholisch<br />
gedacht.<br />
Käßmann: <strong>Luther</strong> war ja zunächst<br />
Katholik und Mönch. Der Bruch kam<br />
1520 mit dem päpstlichen Bann.<br />
Brandmüller: Die von <strong>Luther</strong> kritisierte<br />
Leistungsfrömmigkeit war jedoch<br />
in der spätmittelalterlichen Kirche allenfalls<br />
ein pathologisches Randphänomen.<br />
Die „Nachfolge Christi“ hingegen<br />
des Thomas von Kempen war mit rund<br />
3000 Ausgaben denkbar weit verbreitet.<br />
Darin finden Sie von Leistungsfrömmigkeit<br />
und Werkgerechtigkeit keine Silbe,<br />
die persönliche Gottesbeziehung steht<br />
ganz im Zentrum.<br />
Schilling: Zumindest in Deutschland<br />
sahen sich gegen Ende des Mittelalters<br />
die Leute durch diese Leistungsfrömmigkeit<br />
aber unter Druck gesetzt.<br />
Auch ein Mann wie Albrecht Dürer<br />
sagte, durch <strong>Luther</strong>s Gnadenlehre falle<br />
diese tägliche Sorge, wie ich vor Gott<br />
Käßmann, Brandmüller,<br />
Schilling im Gespräch mit<br />
Alexander Kissler<br />
„Das Jubiläum der<br />
Reformation<br />
könnte gerade die<br />
Menschen in<br />
Ostdeutschland<br />
neugierig machen“<br />
Margot Käßmann<br />
bestehen kann, in sich zusammen. <strong>Luther</strong><br />
hat den Wert des einzelnen Menschen<br />
theologisch neu verankert und<br />
dessen Grenzen akzeptiert.<br />
Brandmüller: Dennoch finden<br />
Glaube, Liebe, Hoffnung nicht nur im<br />
Kopf statt, sondern verlangen den ganzen<br />
Menschen. Eine Wallfahrt, ein Werk<br />
der Buße oder eine Tat der Nächstenliebe<br />
sind ganz menschlicher Ausdruck dieser<br />
Beziehung des Menschen zu Gott.<br />
Käßmann: Wenn die tiefe und tägliche<br />
Angst um das Seelenheil, die<br />
Furcht vor dem Fegefeuer pathologische<br />
Randphänomene waren – warum<br />
stieß dann der Bußprediger Tetzel mit<br />
seinen Ablassgeschäften auf so großen<br />
Widerhall?<br />
Schilling: Und warum schrieb der<br />
damalige päpstliche Nuntius, „ganz<br />
Deutschland“ sei in Aufruhr, „neun Zehntel<br />
erheben das Feldgeschrei ‚<strong>Luther</strong>‘“?<br />
Brandmüller: Man sollte, denke ich,<br />
da auch sozialpsychologische Faktoren<br />
bemühen. <strong>Luther</strong> war, wie Sie selbst<br />
schrei ben, Herr Schilling, „Rebell in einer<br />
Zeit des Umbruchs“. Die ganze soziale<br />
Wirklichkeit war damals von Umbrüchen<br />
geprägt.<br />
Käßmann: Seine Kritik an der Kirche<br />
zeigte existierende Missstände auf.<br />
Ich denke da etwa an die Gewissensnot<br />
vieler Priester, die Frau und Kinder hatten.<br />
Sonst wäre die Bewegung nicht in<br />
Gang gekommen.<br />
Brandmüller: Warum aber blieben<br />
zum Beispiel Erasmus von Rotterdam,<br />
Thomas Morus, John Fisher und viele<br />
andere katholisch? Niemand bezweifelte,<br />
dass die konkret existierende Kirche reformbedürftig<br />
war, doch an Reformation<br />
im Sinne <strong>Luther</strong>s dachten sie und viele<br />
andere nicht.<br />
Die Bundeskanzlerin erhofft sich vom<br />
Reformationsjubiläum eine „missionarische<br />
Komponente“. Wird dafür Platz<br />
sein?<br />
Käßmann: Sicher. Wenn Mission bedeutet:<br />
Lebe so, dass andere dich fragen,<br />
warum du so lebst. Das Reformationsjubiläum<br />
könnte gerade auch die<br />
Menschen in Ostdeutschland neugierig<br />
machen auf die Glaubenserfahrung der<br />
Reformatoren und auf den Glauben in<br />
heutiger Zeit. In diesem Sinne bin ich<br />
gerne missionarisch.<br />
32<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
„ Wir haben zu wenig<br />
Frauen, zu wenig<br />
Junge und zu wenig<br />
Zuwanderer “<br />
Peter Tauber, CDU-Generalsekretär, zur Mitgliederstruktur seiner Partei – zitiert in<br />
der Reportage über die drei neuen Parteimanager der Regierungskoalition, Seite 38<br />
33<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
ZAHN UM ZAHN<br />
Als Kind biss er zu. Als Lehrling biss er sich durch. Bei der Thüringen-Wahl im Herbst<br />
hat Bodo Ramelow Chancen, erster Ministerpräsident der Linkspartei zu werden<br />
Von MERLE SCHMALENBACH<br />
Foto: Roger Hagmann für <strong>Cicero</strong><br />
Einmal schnappte sich Bodo Ramelow<br />
im Dunkeln eine Hand und<br />
biss zu. Er war etwa acht Jahre alt.<br />
Es passierte in der Jugendherberge, andere<br />
Kinder wollten seinen Bruder mit<br />
Schuhcreme einschmieren. Bodo hörte<br />
ihn schreien, sprang vom Bett herunter<br />
und schlug die Zähne in das Erste, was er<br />
zu fassen kriegte. Der Betroffene zeigte<br />
ihm Jahre später den Handrücken. Der<br />
Abdruck der Zähne war noch zu sehen.<br />
Bodo Ramelow, 58 Jahre alt, ist ein<br />
bissiger Typ geblieben. Aber er agiert keinesfalls<br />
blindwütig, eher wie ein Fuchs.<br />
Im Volksglauben gelten die Tiere als<br />
schlau, listig und etwas arrogant. All das<br />
sagt man auch dem Linken-Fraktions chef<br />
im Thüringer Landtag nach.<br />
Zurzeit ist Ramelow in Lauerstellung.<br />
In diesem Herbst will er der erste<br />
Ministerpräsident seiner Partei werden.<br />
Es läuft gut für ihn: Die Thüringer Regierungsparteien<br />
CDU und SPD haben sich<br />
zuletzt mit Pannen und Blamagen überboten.<br />
In Karlsruhe hat Ramelow gegen<br />
den Verfassungsschutz gewonnen, der<br />
ihn nicht mehr bespitzeln darf. In Umfragen<br />
zur Landtagswahl am 14. September<br />
schwanken die Werte stark. Alles<br />
scheint möglich. Nur etwas ändert sich<br />
nicht: Ramelows Partei liegt vor der SPD.<br />
Schon 2009 wäre eine rot-rot-grüne<br />
Mehrheit drin gewesen. Von den drei Parteien<br />
war Ramelows die stärkste. Doch<br />
die SPD wollte keinen Linken zum Regierungschef<br />
wählen, sondern lieber Christine<br />
Lieberknecht von der CDU.<br />
Seitdem ist viel passiert. Die SPD<br />
braucht neue Bündnisoptionen, wenn<br />
sie sich 2017 aus der Großen Koalition<br />
im Bund befreien und endlich den Kanzler<br />
stellen will. Schritt für Schritt öffnet<br />
Sigmar Gabriel seine Partei nach links.<br />
Eine rot-rote Regierung in Thüringen<br />
wäre eine weitere Lockerungsübung.<br />
Christoph Matschie, der Thüringer SPD-<br />
Chef, schließt neuerdings nichts mehr<br />
aus. Heike Taubert, Sozialministerin<br />
und SPD-Spitzenkandidatin, auch nicht.<br />
In Ramelow hätte die SPD einen<br />
pragmatischen Partner. Einen, der den<br />
DDR-Staatsapparat kritisiert. Ramelow<br />
geht in die Kirche, politische Positionen<br />
leitet er aus der christlichen Ethik ab. In<br />
der Linkspartei irritiert das viele. Aber<br />
Ramelow zieht sein Ding trotzdem durch.<br />
Das ist seine Mentalität. „Ich neige zum<br />
Querdenken, was mir schon mal als Querulantentum<br />
ausgelegt wird“, sagt er.<br />
DAS MINISTERPRÄSIDENTENAMT wäre<br />
ein Aufstieg für die Partei – und ein<br />
noch größerer für Ramelow. Geboren<br />
wird er 1956 in Niedersachsen. Seine<br />
Mutter stammt aus einer alten, protestantischen<br />
Familie, ein Vorfahr hat Goethe<br />
getauft. Schon, dass er das erwähnt,<br />
erzählt etwas. Das Geld ist knapp in der<br />
Familie. Ramelows Vater fällt als Ernährer<br />
aus. Aus dem Krieg hat er Gelbsucht<br />
mitgebracht, sein Lebensmittelladen ist<br />
bankrott. Um die Familie durchzubringen,<br />
arbeitet die Mutter nachts in einer<br />
Spülküche. Kuchenränder vom Bäcker<br />
sind etwas Besonderes.<br />
Als Bodo acht Jahre alt ist, stirbt sein<br />
Vater in seinen Armen, kein Erwachsener<br />
ist anwesend, die Mutter muss arbeiten.<br />
Lange verdrängt er das.<br />
In der Schule scheitert er. Seine<br />
Rechtschreibung ist eine Katastrophe.<br />
Weil die Lehrer nicht wissen, was Legasthenie<br />
ist, unterstellen sie ihm Faulheit.<br />
„Das hat mich verletzt“, sagt er. Die<br />
Mutter schlägt ihn aus Verzweiflung. Ramelow<br />
lernt, dass er ausdauernder sein<br />
muss als alle anderen. Mit 14 geht er in<br />
die Lehre, er soll Einzelhandelskaufmann<br />
werden, auch Feinkost ist Teil der<br />
Ausbildung in einem Kaufhaus in Gießen.<br />
Gummistiefel und Kittel sind ihm viel zu<br />
groß, er sieht albern aus. Aber er hält<br />
durch. Ein Kaninchen nimmt er in weniger<br />
als zehn Minuten aus. Ratsch, das<br />
Fell ab, zack, die Vorderbeine ab.<br />
Zäh und unbequem ist er. Weil er die<br />
Arbeitsbedingungen der Lehrlinge verbessern<br />
will, riskiert er den Rausschmiss.<br />
Am Ende rettet ihn wohl nur, dass er der<br />
beste Lehrling Gießens ist.<br />
Er ist ein Verkäufer geworden, der<br />
sich mit Etiketten auskennt. Das ist immer<br />
noch so: Ramelow vermarktet das<br />
Produkt Ramelow. Er führt Tagebuch im<br />
Internet, lädt Fotos seines Jack-Russell-<br />
Terriers Attila hoch. Ob er auch ein Bundesland<br />
repräsentieren kann?<br />
An einem trüben Donnerstag eilt er<br />
durch den Erfurter Landtag. Medienfunktionäre<br />
der chinesischen Provinz<br />
Jilin erwarten ihn, sie haben wichtige<br />
Mienen aufgesetzt. Sie sind nach Thüringen<br />
gekommen, um sich mit den Vertretern<br />
lokaler Fernsehsender zu treffen.<br />
Ramelow empfängt sie im Landtag. Für<br />
den Termin hat er extra seinen Linkspartei-Pin<br />
vom Jackett genommen und durch<br />
einen Thüringen-Stecker ersetzt. Auch<br />
chinesische Visitenkarten hat er dabei.<br />
Er steht jetzt am Mikrofon im Foyer,<br />
neben ihm kichert der chinesische Dolmetscher<br />
etwas hilflos. Er soll den Gästen<br />
Ramelows Funktion übersetzen. Aber<br />
wie erklärt man Chinesen, was ein linker<br />
Oppositionschef ist? Hihihi. Hinterher erzählt<br />
man sich amüsiert, als Ramelow als<br />
„Chairman of the left group“ vorgestellt<br />
wurde, hätten die Chinesen nach links<br />
geguckt. „Ministerpräsident“, so viel ist<br />
sicher, ließe sich leichter übersetzen.<br />
MERLE SCHMALENBACH, Reporterin in<br />
Berlin, fasziniert die thüringische Politik,<br />
in der auf die Unberechenbarkeit von<br />
Wählern und Parteichefs Verlass ist<br />
35<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
DER POLITIKDARSTELLER<br />
Mit dem ehemaligen Schauspieler Charles M. Huber hat die CDU einen Quereinsteiger in<br />
den Bundestag geschickt – inzwischen muss das Experiment als gescheitert gelten<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
Über das politische Talent von<br />
Charles M. Huber gehen die Meinungen<br />
zwar auseinander. Aber<br />
eine Fußnote in der Geschichte des deutschen<br />
Parlamentarismus dürfte dem<br />
57‐Jährigen schon heute sicher sein: als<br />
erstem Bundestagsabgeordneten, dem<br />
der eigene Kreisverband noch während<br />
der laufenden Legislaturperiode das Vertrauen<br />
entzog.<br />
„Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen<br />
über die Wahlkreisarbeit und<br />
eine nach wie vor nicht tragfähige Basis<br />
für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit<br />
sieht sich der CDU-Kreisvorstand<br />
Darmstadt veranlasst, eine Zusammenarbeit<br />
mit dem Bundestagsabgeordneten<br />
Charles M. Huber nicht weiter zu<br />
verfolgen.“ So stand es kurz und bündig<br />
in einer am 1. März von den örtlichen<br />
Christdemokraten verbreiteten<br />
Pressemitteilung. Weitere Nachfragen<br />
unerwünscht. Zur Vorgeschichte dieser<br />
Peinlichkeit lässt sich nur so viel mit Sicherheit<br />
sagen: Die Versuchsanordnung<br />
war von Anfang an riskant.<br />
Die Darmstädter CDU hielt es vor<br />
der zurückliegenden Bundestagswahl jedenfalls<br />
für eine gute Idee, die sozialdemokratische<br />
Direktkandidatin Brigitte<br />
Zypries mit einem prominenten Gegenkandidaten<br />
herauszufordern – schließlich<br />
ist Zypries als ehemalige Bundesjustizministerin<br />
selbst eine Art Promi. Über<br />
etwas verschlungene Wege verfiel die mit<br />
dem Kandidatencasting betraute Darmstädter<br />
CDU-Landtagsabgeordnete Karin<br />
Wolff auf ihren damaligen Facebook-<br />
Freund Charles M. Huber. Der gelernte<br />
Zahntechniker, Sohn eines senegalesischen<br />
Diplomaten und einer bayerischen<br />
Hausangestellten, ist einem älteren Fernsehpublikum<br />
noch durch seine Auftritte<br />
in der Krimiserie „Der Alte“ bekannt;<br />
diese Schauspielkarriere endete freilich<br />
im Jahr 1997, danach versuchte sich<br />
Karl-Heinz Huber, so sein bürgerlicher<br />
Name, unter anderem als Gastronom in<br />
München, wurde SPD-Mitglied und trat<br />
später zur CSU über. Seine politische<br />
Expertise beschränkte sich im Wesentlichen<br />
auf eine unterstützende Teilnahme<br />
an Angela Merkels Wahlkampf-Zugfahrt<br />
im „Rheingold-Express“ anno 2009. Karin<br />
Wolff, der einstigen hessischen Kultusministerin,<br />
schien das ausreichend.<br />
HUBER LIESS SICH von ihr nicht lange<br />
bitten, übersiedelte von München nach<br />
Südhessen sowie von der CSU zur CDU –<br />
und wurde im Oktober 2012 tatsächlich<br />
von 94 Prozent der Darmstädter Delegierten<br />
als Bundestagskandidat für den<br />
Wahlkreis 186 nominiert. Ein hessischer<br />
CDU-Insider, der Huber zuvor auf dessen<br />
Politiktauglichkeit testen sollte, berichtet<br />
allerdings, ihm seien schon damals<br />
Zweifel gekommen. Der Wunschkandidat<br />
habe in Gesprächen nämlich keinerlei<br />
inhaltliches Profil erkennen lassen, sondern<br />
nur Allgemeinplätze von sich gegeben.<br />
Bis heute heißt es auf Hubers Homepage<br />
übrigens wörtlich: „Ich habe mir<br />
als Quereinsteiger mit eine Partei ausgesucht,<br />
welche in der Lage ist, über einen<br />
soliden Haushalt und gesunden Perspektiven<br />
für die Wirtschaft und nicht<br />
über Steuererhöhungen, eine Basis für<br />
unsere gesamte Gesellschaft schaffen.<br />
Eine Kandidat sollte sich der Partei verpflichtet<br />
fühlen, mit deren Arbeit und<br />
deren Werte er sich identifizieren kann.<br />
Meine Partei ist daher die CDU.“<br />
Dann kam der Wahlkampf, und der<br />
Ärger begann. Er wurde über die Wochen<br />
sogar so groß, dass Huber am Abend<br />
des 22. September nicht einmal zur Wahlparty<br />
seiner Partei erschien – offenbar<br />
aus Frust über das verpasste Direktmandat.<br />
Erst als am nächsten Morgen klar<br />
wurde, dass er es über die Landesliste<br />
doch in den Bundestag geschafft hatte,<br />
ließ Huber wieder von sich hören. Doch<br />
da war das Verhältnis zwischen dem<br />
Kandidaten und der Darmstädter CDU<br />
offenbar längst zerrüttet.<br />
Alsbald wetterte Charles M. Huber<br />
öffentlich, die Partei habe ihn im Wahlkampf<br />
nicht ausreichend unterstützt,<br />
70 Prozent der Plakate habe er selbst kleben<br />
müssen – ohnehin sei der Darmstädter<br />
Kreisvorsitzende „ungeeignet“ und<br />
sollte am besten zurücktreten. Die so Gescholtenen<br />
werfen dem Quereinsteiger<br />
Arroganz und maßlose Selbstüberschätzung<br />
vor. Angeblich hat er sogar Geld<br />
dafür verlangt, dass sein Konterfei auf<br />
den Wahlplakaten zu sehen war. Auch<br />
die Tatsache, dass Huber noch während<br />
des Wahlkampfs bekundete, Darmstadt<br />
erinnere ihn „an viele Städte im Osten<br />
direkt nach der Wende“, sorgte für atmosphärische<br />
Störungen. Nach dem Einzug<br />
in den Bundestag, heißt es bei der Darmstädter<br />
CDU, sei der Abgeordnete kaum<br />
zu sprechen gewesen – weil er nach eigenen<br />
Angaben mit der Regierungsbildung<br />
beschäftigt gewesen sei.<br />
Charles M. Huber selbst will sich zu<br />
dem grotesken Schauspiel inzwischen<br />
nicht mehr äußern. Eine Gesprächsanfrage,<br />
die ihn offenbar während einer<br />
Dienstreise erreichte, beantwortete er<br />
via E-Mail mit folgenden Worten: „Bin<br />
als Entwicklungs und Außenpolitiker in<br />
Afrika unterwegs. Ich werde mich an dieser<br />
Provinzposse nicht weiter beteiligen.“<br />
In einem Zeitungsinterview hatte<br />
Huber wenige Wochen nach seiner Wahl<br />
verkündet, Politik sei „kein Lehrberuf“.<br />
Wenn er sich da mal nicht getäuscht hat.<br />
ALEXANDER MARGUIER ist<br />
stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
Foto: Dominik Beckmann/Brauer Photos<br />
36<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
PAPST HÖRT PUNK<br />
Von WULF SCHMIESE, CHRISTOPH SEILS und ANDREAS THEYSSEN<br />
Trio der Gegensätze: Yasmin Fahimi, Peter Tauber und Andreas<br />
Scheuer sind die neuen Generalsekretäre von SPD, CDU und CSU.<br />
Drei Parteien, drei Temperamente – und alle wollen für sich das<br />
Maximum aus dem Regierungsbündnis rausholen<br />
38<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
„Es ist auch nicht zwingend<br />
unsere Aufgabe, dass wir uns<br />
lieb haben“, sagt Peter Tauber.<br />
Der CDU-Generalsekretär (vorn),<br />
seine SPD-Kollegin Yasmin<br />
Fahimi und ihr CSU-Pendant<br />
Andreas Scheuer
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Andi und Peter<br />
gegen Frau Fahimi.<br />
Im Restaurant am<br />
Gendarmenmarkt<br />
bleibt die Stimmung<br />
gegnerisch<br />
Gabriels Generalin<br />
Yasmin Fahimi, 46, war<br />
bisher Abteilungsleiterin bei<br />
der Gewerkschaft IG BCE.<br />
Damit ist die Chemikerin<br />
eine Quereinsteigerin auf<br />
der Berliner Bühne und erst<br />
recht in der SPD-Zentrale.<br />
Dem unter chronischer<br />
Betriebsblindheit leidenden<br />
Willy-Brandt-Haus könnte<br />
ein Blick von außen allerdings<br />
helfen<br />
Das erste Treffen ist ein Reinfall.<br />
Es soll eigentlich ein lockeres<br />
Kennenlernen werden,<br />
ein später Lunch im<br />
Refugium am Berliner Gendarmenmarkt.<br />
Als die drei in dem Restaurant<br />
zum ersten Mal zusammen speisen,<br />
ist es höchste Zeit. Ihre drei Parteien<br />
regieren schon seit über zwei Monaten<br />
gemeinsam. Sie sind die Generalsekretäre,<br />
alle neu im Amt: Peter Tauber von<br />
der CDU, Yasmin Fahimi von der SPD<br />
und Andreas Scheuer von der CSU.<br />
Mit den drei kann es zäh werden,<br />
das geht aus den Berichten der Anwesenden<br />
über das Treffen eindeutig hervor.<br />
Die Stimmung bleibt gegnerisch,<br />
trotz aller Vorsätze. Scheuer will sich<br />
leutselig geben, redet und redet. Fahimi<br />
reagiert einsilbig, wundert sich offensichtlich,<br />
dass sie bekehrt werden soll.<br />
Die Männer sehen in ihr wiederum eine<br />
verkniffene Linke ohne Prokura; unsicher,<br />
wie weit sie auf die Kollegen zugehen<br />
darf. SPD-Kader, humorfern<br />
und misstrauisch – so wirkt sie auf die<br />
anderen.<br />
Tauber und Scheuer sind beide<br />
39 Jahre alt, Fahimi ist 46. Die Männer<br />
kennen sich aus der Jungen Union<br />
und arbeiten schon lange in der Bundestagsfraktion<br />
zusammen. Seit sie Generalsekretäre<br />
sind, telefonieren sie jeden<br />
Sonntag miteinander, um die beginnende<br />
Woche abzustimmen. „Der Andi“ und<br />
„der Peter“ duzen einander. Fahimi, die<br />
nicht Mitglied im Parlament ist, bleibt<br />
beim „Sie“. Sie muss sich als Außenseiterin<br />
fühlen.<br />
Auch wenn sie sich selbst nicht als<br />
Traumformation sehen: Tauber, Fahimi,<br />
Scheuer – sie bilden eine faszinierende<br />
Versuchsanordnung und eine wichtige<br />
für diese Regierung. Die Konstellation<br />
bietet Hinweise darauf, wo die drei Parteien<br />
hinwollen.<br />
Generalsekretäre von Regierungsparteien<br />
haben eine Doppelrolle. Sie<br />
müssen die Koalition stabilisieren. Aber<br />
sie müssen zugleich die Partei profilieren.<br />
Der Job verlangt es, auf die nächste<br />
Wahl hinzuarbeiten. Die Koalition muss<br />
vorzeigbar sein, sie darf nicht untergehen.<br />
Aber erst recht darf die eigene Partei<br />
nicht in der Regierung untergehen, so<br />
wie es SPD und FDP in ihren Bündnissen<br />
mit Angela Merkel widerfuhr. Die CSU<br />
wiederum muss Obacht geben, dass sie<br />
neben der großen Unionsschwester nicht<br />
übersehen wird.<br />
ASCHERMITTWOCH, Passau, Dreiländerhalle.<br />
Andreas Scheuer schreit, schmettert,<br />
knarzt. Alljährlich trifft sich hier<br />
die CSU, um in der Bundespolitik einen<br />
krachledernen Akzent zu setzen. Traditionsgemäß<br />
hält der Generalsekretär die<br />
letzte Rede. Für Scheuer ist es eine Premiere,<br />
aber im wahrsten Sinne ein Heimspiel:<br />
Aus Passau stammt er, hier lebt er<br />
mit Frau und Tochter.<br />
„Wer schmarotzt, braucht gar nicht<br />
erst zu kommen“, ruft er in den Saal,<br />
er meint die zuwandernden Bulgaren<br />
und Rumänen. „Der deutsche Pass<br />
ist kein Ramschartikel“, bellt er angesichts<br />
der Doppelpass-Initiative einiger<br />
SPD-Ministerpräsidenten.<br />
Auch später, als er übers Land zieht<br />
und in Dorfgasthöfen bei den traditionellen<br />
CSU-Fischessen vorbeischaut, schont<br />
er die Sozialdemokraten nicht. Die Doppelpass-Initiative:<br />
„versuchter Vertragsbruch“.<br />
Der Fall Edathy: „absoluter<br />
Fotos: Steffi Loos/CommonLens [M], Michael Gottschalk/Photothek via Getty Images [M], Alicja Gola Matt/Glänzend GbR [M] (Seiten 38 bis 39), Axel Schmidt/CommonLens/DDP Images [M]<br />
40<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Vertrauensbruch“. Auch mit Ratschlägen<br />
an den Koalitionspartner spart er<br />
nicht. „Der Sigmar Gabriel ist ein ganz<br />
Netter. Aber er muss seine Truppen zusammenhalten“,<br />
sagt er im Bräustüberl<br />
zu Passau-Hacklberg.<br />
Scheuer betreibt ein riskantes Spiel.<br />
Denn der Koalitionsvertrag gibt nur die<br />
Richtung vor. Viele Details müssen noch<br />
ausgehandelt werden. Wie werden Zeiten<br />
der Arbeitslosigkeit bei der Rente berücksichtigt?<br />
Welche Ausnahmen wird<br />
es beim Mindestlohn geben? Angesichts<br />
der exzessiven Orientierungshilfe, die<br />
Scheuer ihnen gibt, könnten die Sozialdemokraten<br />
sich hartleibig zeigen.<br />
Denn er teilt gegen jeden aus, der<br />
ein SPD-Parteibuch hat. Gegen Gabriel,<br />
gegen Sozialministerin Andrea Nahles.<br />
„Ich würde mir wünschen, dass die SPD-<br />
Minister ihre Arbeit machen und den<br />
Koalitionsvertrag abarbeiten.“ Die beiden<br />
kämen bei der Rente mit 63 und der<br />
Energiewende ständig mit neuen Wasserstandsmeldungen<br />
um die Ecke anstatt<br />
endlich Gesetzesentwürfe vorzulegen.<br />
Er geht auch Fahimi an. Dass sie<br />
den SPD-Landesverbänden im Osten<br />
freistellen wolle, mit der Linkspartei<br />
zusammenzuarbeiten, „war nicht vertrauensbildend“,<br />
wettert er. „Wir haben<br />
Fairplay vereinbart. Da kann es nicht<br />
sein, dass manche am linken Rand Spielchen<br />
machen.“<br />
500 Kilometer entfernt steht Yasmin<br />
Fahimi auf der Bühne. Aschermittwoch,<br />
Baunatal bei Kassel, Kulturhalle.<br />
Fahimi referiert, doziert, verschluckt<br />
Regierung<br />
stabilisieren,<br />
Partei<br />
profilieren – die<br />
Generalsekretäre<br />
haben eine<br />
Doppelrolle<br />
ihre Pointen. Vor den 300 Genossen<br />
kämpft sie sich durch ihr Manuskript.<br />
Das Redepult ist zu hoch für sie. Zwischen<br />
Karnevalsgarde und Kommunalpolitikern<br />
wirkt sie wie ein Fremdkörper.<br />
„Farbe bekennen statt abtauchen“ kürt<br />
sie zum Motto ihres Vortrags, „den klaren<br />
Standpunkt in der Regierung haben<br />
Sigmar Gabriel und Merkel eben nicht“.<br />
Das „Nichtstun“ sei ein Politikstil, den<br />
Merkel jetzt perfektionieren wolle. Neu<br />
ist das nicht.<br />
Aufmunternden Beifall erhält die<br />
Rednerin aus der Hauptstadt nur vorne,<br />
wo die örtliche Parteiprominenz sitzt.<br />
Dabei ist Baunatal sozialdemokratisches<br />
Kernland, hier ist die SPD noch Volkspartei,<br />
fest in den örtlichen Vereinen<br />
und in der Kommunalpolitik verankert.<br />
Im VW-Werk bilden Partei und Gewerkschaft<br />
noch eine Einheit. Doch Fahimi<br />
weiß das nicht zu nutzen. Sie hat nach<br />
der Rede keine Zeit für einen Plausch mit<br />
den Genossen, für eine Beratung mit den<br />
örtlichen Funktionären. Sie eilt weiter.<br />
DIE BÜHNE IM GRÜNEN Salon der Volksbühne<br />
in Berlin liegt ihr mehr. Zwei Tage<br />
vorher tritt sie hier auf. „Sprache. Macht.<br />
Denken“, so heißt ein Buch, das sie mit<br />
anderen Politikern von SPD und Grünen<br />
herausgebracht hat, und das an diesem<br />
Abend beim „Denkwerk Demokratie“<br />
vorgestellt wird. Es fallen Begriffe<br />
wie „Frames“ oder „Narrative“. Natürlich<br />
geht es auch um die ewig linke Frage,<br />
wie sich im politischen Diskurs eine Hegemonie<br />
erringen lässt.<br />
Anders als beim politischen Aschermittwoch<br />
spricht Yasmin Fahimi frei. Sie<br />
trägt einen schwarzen Hosenanzug und<br />
eine pinkfarbene Bluse und sitzt entspannt<br />
im tiefen grünen Sessel. Sie hakt<br />
nach, nimmt Gedanken auf, in Debattensalons<br />
ist sie zu Hause. Mit dem Ex-Juso-<br />
Chef, der neben ihr sitzt, hat sie schon<br />
die eine oder andere Schlacht geschlagen.<br />
Mit der grünen Bundestagsabgeordneten<br />
in der ersten Reihe ist sie per Du.<br />
Im Raum sind Aktivisten und Theoretiker,<br />
die von einer rot-rot-grünen Regierung<br />
träumen. Sie schätzen es, wenn<br />
eine Politikerin mehr Fragezeichen als<br />
Ausrufezeichen setzt. „Wie schaffen wir<br />
Diskurse, die mit den Lebensräumen der<br />
Menschen verbunden sind?“, fragt Fahimi.<br />
„Wie lautet die sozialdemokratische<br />
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BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Seehofers General<br />
Andreas Scheuer, 39, ist seit<br />
2002 Bundestagsabgeordneter,<br />
ab 2009 Staatssekretär<br />
im Bundesverkehrsministerium.<br />
2013 machte ihn<br />
Horst Seehofer zum CSU-<br />
Generalsekretär. Kurz nach<br />
Amtsantritt musste er einen<br />
in Tschechien erworbenen<br />
Doktortitel wegen Ungereimtheiten<br />
ruhen lassen<br />
Scheuer beherrscht<br />
das Feine nicht,<br />
Fahimi misslingt<br />
das Grobe. Ihre<br />
Schwächen setzen<br />
beide unter Druck<br />
Erzählung für das 21. Jahrhundert?“ Dies<br />
hier ist ihr Heimspiel. Nicht auszudenken,<br />
was passieren würde, wenn Andreas<br />
Scheuer vor so einem Publikum aufträte.<br />
Narrative? Frames? Zum Auftakt seiner<br />
Generalsekretärszeit erwies sich seine<br />
Doktorarbeit als so dünn, dass er den<br />
Titel rasch von seiner Homepage löschte.<br />
Scheuer beherrscht das Feine nicht,<br />
Fahimi misslingt das Grobe. Das wird sie<br />
beide unter Druck setzen. Und die Kooperation<br />
der Regierungsparteien?<br />
Alle vier Wochen wollen sich die drei<br />
Generalsekretäre nun treffen – eine mühsame<br />
Pflicht, auf die sich niemand von ihnen<br />
zu freuen scheint. „Es ist auch nicht<br />
zwingend unsere Aufgabe, dass wir uns<br />
lieb haben“, sagt Peter Tauber in seinem<br />
Büro hoch oben im Adenauer-Haus.<br />
Diese Koalition werde auf drei Ebenen<br />
zusammengehalten: Die wichtigste sei<br />
das Kabinett, dann komme die Fraktion,<br />
zum Schluss erst wirkten die Generalsekretäre,<br />
bei denen könnten „die Fliehkräfte<br />
am stärksten“ sein.<br />
Wie Generalsekretäre agieren, hängt<br />
davon ab, was ihre Vorsitzenden erwarten.<br />
Sie entwickeln ihre Rolle aber auch immer<br />
anhand ihrer persönlichen Stärken und<br />
Schwächen. Es gibt in der Welt der Parteimanager<br />
die klassischen Phänotypen,<br />
die legendären Parteistrategen, die großen<br />
Vorbilder. In der Hochzeit der Parteiendemokratie<br />
in den siebziger und achtziger<br />
Jahren glänzten der Christdemokrat<br />
Kurt Biedenkopf und der Sozialdemokrat<br />
Peter Glotz als intellektuelle Vordenker<br />
ihrer Parteien. Heiner Geißler galt<br />
noch dazu als begnadeter Populist. Peter<br />
Hintze zählte eher zum Typ nimmermüdes<br />
Schlitzohr, er legte in den neunziger<br />
Jahren mit einem einzigen Rote-Socken-<br />
Plakat für fast zwei Jahrzehnte die strategische<br />
Handlungsfähigkeit der SPD lahm.<br />
Alexander Dobrindt manövrierte mit kalkulierter<br />
Aggressivität die Grünen aus.<br />
Auf der anderen Seite gab es jene traurigen<br />
Gestalten, die zur falschen Zeit am<br />
falschen Ort waren, die als „Scholzomat“<br />
oder „Party-Meyer“ verspottet wurden.<br />
Andrea Nahles, Hermann Gröhe und<br />
Alexander Dobrindt hingegen nutzten ihren<br />
Posten als Parteigeneral als Sprungbrett<br />
für höhere politische Aufgaben und<br />
sind nun Minister in der Bundesregierung.<br />
Das war die Chance für die drei Neulinge.<br />
„Die Rolle des CSU-Generalsekretärs<br />
ist einzigartig“, sagt Andreas Scheuer,<br />
„wegen der Tradition und den herausragenden<br />
Personen, die dieses Amt bisher<br />
ausübten. Deshalb ist das Amt ein wuchtiges<br />
Amt.“<br />
Edmund Stoiber, Erwin Huber und<br />
Markus Söder waren einige seiner Vorgänger,<br />
sie haben das Amt geprägt.<br />
Durch Schneid, Biss und Hitzigkeit. Da<br />
muss Scheuer mithalten. Er wird es in<br />
den Talkshows tun, in die sein Chef Seehofer<br />
aus Prinzip nicht mehr geht.<br />
VOR ALLEM ABER ist es das bayerische<br />
Ambiente, das CSU-Generalsekretäre<br />
prägt. Scheuer erfährt dies in Windorf<br />
bei Vilshofen. Eigentlich soll er nur kurz<br />
reden beim Fischessen im Landgasthof<br />
Moser. Doch der Bürgermeister bittet ihn<br />
spontan, sich ins Goldene Buch des Ortes<br />
einzutragen. So zieht Scheuer umgeben<br />
von örtlichen Honoratioren zum Rathaus,<br />
das extra für ihn aufgeschlossen<br />
wird. „Ein CSU-Generalsekretär, das ist<br />
schon was“, sagt der Bürgermeister.<br />
Scheuer arbeitete vorher als Staatssekretär<br />
im Verkehrsministerium. Sein<br />
Foto: Andreas Gebert/ Picture Alliance/DPA [M], Dominik Butzmann/Laif [M]<br />
42<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Mentor war Peter Ramsauer, der Mann,<br />
den Horst Seehofer von der Kabinettsliste<br />
tilgte. Aber der CSU-Chef hat dem<br />
Schützling seines Erzfeinds eine neue<br />
Heimat angeboten. Als Seehofer Scheuer<br />
anrief, sagte er zu, ohne sich auch nur<br />
eine Stunde Bedenkzeit zu erbitten.<br />
Hat Scheuer Erfolg, winken ihm höhere<br />
Ämter. Im Misserfolgsfall kann er<br />
mit Ramsauer Bier trinken gehen.<br />
Auch Fahimis Fallhöhe ist beachtlich.<br />
Es war eine Überraschung, als Gabriel<br />
im Dezember die Berufung der Diplom-Chemikerin<br />
verkündete. „Mutig“<br />
sei diese Entscheidung, hieß es bei jenen,<br />
die sich frischen Wind im Willy-<br />
Brandt-Haus wünschten. Sie verwiesen<br />
auf Fahimis Erfahrung bei der Gewerkschaft<br />
Bergbau, Chemie, Energie. Dort<br />
leitete sie die Abteilung Grundsatz und<br />
Organisationsentwicklung; ihr Lebensgefährte<br />
ist der Gewerkschaftsvorsitzende<br />
Michael Vassiliadis.<br />
„Risikoreich“, wandten dagegen jene<br />
ein, denen Stallgeruch wichtiger ist als<br />
Außenblick und Intellektualität. Unerfahren<br />
sei sie, sie habe kein Bundestagsmandat,<br />
sei nicht in die Fraktion eingebunden<br />
und besitze keine Hausmacht,<br />
um ihre Ideen in der SPD durchsetzen<br />
zu können.<br />
Immerhin ist Fahimi durch und<br />
durch Sozialdemokratin. Sie hat die Kaderschmiede,<br />
die „Führungsakademie<br />
der sozialen Demokratie“ durchlaufen.<br />
Sie ist in einer Hochhaussiedlung<br />
am Rande von Hannover aufgewachsen.<br />
Ihre sozialdemokratische Mutter arbeitete<br />
sich auf dem zweiten Bildungsweg<br />
von der Kauffrau zur Sozialpädagogin<br />
hoch. Anders als ihr Name vermuten<br />
lässt, wuchs Yasmin Fahimi nicht in einer<br />
Einwandererfamilie auf. Ihr Vater, ein<br />
Die SPD braucht<br />
neue Themen,<br />
Fahimi muss sie<br />
vorbereiten. Für<br />
2017, wenn<br />
Gabriel Kanzler<br />
werden will<br />
iranischer Student, starb 1967 vor ihrer<br />
Geburt bei einem Unfall in der Heimat.<br />
Zu einer Zeit, als Sozialdemokraten<br />
nicht als besonders sexy galten und die<br />
Jugend auf Grün stand, nahm sie Mitte<br />
der achtziger Jahre Tuchfühlung mit den<br />
Jusos auf, sie ging auf Friedensdemos, engagierte<br />
sich für Nicaragua. Mit 18 trat<br />
sie in die SPD ein, 1986, im Jahr von<br />
Tschernobyl. Bereits damals habe sie die<br />
Gerechtigkeitsfrage bewegt, sagt sie.<br />
Fahimi will das Profil der Partei erweitern,<br />
die Verengung auf die Themen<br />
Rente und Arbeit aufbrechen. Sie spricht<br />
von „neuen Bürgerthemen“, denen sich<br />
die Partei zuwenden müsse. Sie zielt auf<br />
das Lebensgefühl von Wählern, um die<br />
zuletzt eher Unionsparteien und Grüne<br />
konkurrierten. „Gute Arbeit, gutes Leben“,<br />
könnte das Motto lauten, das alte<br />
und neue Themen der Sozialdemokraten<br />
verbindet. Sie hinterfragt die klassische<br />
linke Umverteilungsrhetorik. Es<br />
gehe nicht nur um die Verteilung von<br />
Geld, sondern auch um Zeit, Bildung und<br />
Aufstiegschancen. „Wir müssen zukünftig<br />
viel genauer sagen, was wir umverteilen<br />
wollen und für wen.“ Familien etwa<br />
seien oft mehr Zeit miteinander und eine<br />
bessere Bildung der Kinder wichtiger als<br />
mehr Kindergeld.<br />
Fahimi sagt, es gehe zunächst darum,<br />
die sozialdemokratische Regierungsarbeit<br />
herauszustellen. „Wir werden nur<br />
überzeugen, wenn wir gut regieren und<br />
sich für die Menschen etwas zum Positiven<br />
verändert.“ Es gehe aber auch darum,<br />
über die Regierungsarbeit hinauszudenken,<br />
das Profil der SPD zu erweitern.<br />
Sie klingt vorsichtig, aber im Grunde<br />
ist klar, was sie meint: 2017, das Jahr, in<br />
dem Sigmar Gabriel Kanzler werden will.<br />
Scheuer und Fahimi – Peter Taubers<br />
Interesse muss es sein, dass die beiden<br />
nicht zu starke Fliehkräfte erzeugen.<br />
Denn er ist der General der Kanzlerin.<br />
Sie braucht vor allem Erfolge. Was vorzeigbar<br />
ist, wird ihr gutgeschrieben – jedenfalls<br />
war das in den ersten beiden<br />
Amtszeiten so. Die Profilierung der CDU<br />
ist für Tauber so lange leicht, wie die Koalition<br />
stabil ist.<br />
BEIM AUSBALANCIEREN könnte ihm helfen,<br />
dass er Gegensätze liebt. In seinem<br />
Büro im Adenauer-Haus lehnt an der<br />
Wand seine Yamaha-E-Gitarre, die er als<br />
langhaariger Abiturient spielte. „Papst<br />
hört Punk“ hieß seine Band, und Tauber<br />
übt zuweilen wieder Punkrock und Pogo-<br />
Powerchords. Auf dem Schreibtisch von<br />
Merkels Generalsekretär parkt der Millennium-Falke,<br />
das rasende Raumschiff<br />
des Star-Wars-Helden Han Solo. Tauber<br />
trägt Slim-Anzüge mit schmalen Revers,<br />
er knotet seine Krawatten dazu allerdings<br />
unpassend breit mit dem traditionellen<br />
doppelten Windsor.<br />
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Widerstand darf niemals aufhören!<br />
Sein Lebensthema: Radikalität. Sein Lebens werk: Hilfsorganisationen<br />
für Menschen in Not. Seine Helden: Menschen, die im<br />
Widerstand gegen Missstände ihr Leben riskieren. Seine Botschaft:<br />
Die Tugend des Widerstands darf nie verschwinden.<br />
Rupert Neudeck macht deutlich, wie aktuell und überlebensnotwendig<br />
gelebter Widerstand, radikales Umdenken und mutiges<br />
Eingreifen sind – für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen.<br />
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BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Ein Rieslinggeruch<br />
steht in der Halle,<br />
die Waschbrett<br />
Wuzzys trompeten.<br />
Dann redet Tauber<br />
derart ernst, dass<br />
es völlig still wird<br />
Merkels General<br />
Peter Tauber zählt sich zur<br />
„Generation Golf“. Dieses<br />
Buch liebt er, und wie das<br />
VW-Modell kam er 1974 zur<br />
Welt. Der Hesse machte als<br />
Jungpolitiker steile Karriere<br />
bis zum JU-Landeschef. Wurde<br />
über Sport im Kaiserreich<br />
promoviert, joggt oft ins<br />
Büro und fährt viel Rad. Seit<br />
2009 ist er im Bundestag<br />
Jedes Mal, wenn sein – in Schweinsleder<br />
gebundenes – Smartphone Pling<br />
macht, wird die neue SMS sofort inhaliert.<br />
Er twittert morgens um sieben auf<br />
dem Weg ins Büro, seinen Blog schreibt<br />
er selbst. Mit niemandem müsse er seine<br />
Kommentare absprechen, „ich bin zu<br />
99 Prozent schwarz und muss als Generalsekretär<br />
meine Partei sichtbar machen“.<br />
Bei pluragraph.de misst er seine<br />
Reichweite. „20 000 Leute erreiche ich direkt,<br />
damit bin ich unter den Top Ten der<br />
Union“, sagt er zufrieden. Über die CDU-<br />
Website kämen noch mal 70 000 hinzu.<br />
Er möchte auf neuen Wegen neue<br />
Leute für die CDU gewinnen. Ein Blick<br />
in die Mitgliedskartei zeigt dem jüngsten<br />
Generalsekretär der Parteigeschichte,<br />
woran es mangelt. „Wir haben zu wenig<br />
Frauen, zu wenig Junge und zu wenig Zuwanderer“,<br />
sagt er. Nach ihnen soll Tauber<br />
in der weiten Netzwelt fischen, dafür<br />
hat Merkel ihn sich ausgesucht.<br />
Als 2012 die Piraten erfolgreich<br />
sind, gründet Tauber mit ein paar Dutzend<br />
Gleichgesinnten C-Netz. Mit diesem<br />
Verein möchte er christdemokratische<br />
Positionen ins Internet weben. Merkel ist<br />
angetan. Sie bittet ihn auf einen Kaffee<br />
ins Adenauer-Haus. Als er nach der Bundestagswahl<br />
Generalsekretär wird, vereinbart<br />
sie mit ihm eine „Agenda“, wie<br />
die Partei modernisiert werden soll. Verglichen<br />
mit Fahimi und Scheuer sei seine<br />
Aufgabe die leichteste, sagt Tauber. Von<br />
den anderen beiden werde vor allem erwartet,<br />
dass ihre Partei überhaupt vorkommt.<br />
Er könne sich hingegen auf den<br />
strukturellen Umbau konzentrieren.<br />
Um Merkels Wirken an viele Netzaffine<br />
zu verkaufen, muss Tauber passende<br />
Schlagwörter und Symbolbilder platzieren.<br />
Noch sei es stets gelungen, die Anhänger<br />
konventionell zu motivieren,<br />
sagt Tauber. „Unsere Kampagne-Fähigkeit<br />
war voll gegeben. Dieses Road-Modell<br />
funktioniert aber nicht mehr lange.“<br />
Er will die CDU so reformieren, dass sie<br />
nicht zur Funktionärspartei verkommt.<br />
ASCHERMITTWOCH, Boppard am Rhein,<br />
Stadthalle. Fast unbemerkt von den<br />
überwiegend grauhaarigen Mitgliedern<br />
betritt Tauber den Raum. Erstmals will<br />
die CDU Rheinland-Pfalz einen Politischen<br />
Aschermittwoch zünden – mit dem<br />
neuen Generalsekretär als Hauptattraktion.<br />
Hier wird Angriff erwartet.<br />
Im Saal riecht es süßlich wie der<br />
halbtrockene Riesling auf den Tischen.<br />
Hunderte CDU-Mitglieder klatschen im<br />
Takt zu den „Waschbrett Wuzzys“, einer<br />
Combo alter Männer, die „When the<br />
Saints Go Marching In“ trompeten. Die<br />
Landesvorsitzende Julia Klöckner wiegt<br />
sich zur Musik durch die Menge, lacht,<br />
umarmt und verteilt Küsschen. Peter<br />
Tauber läuft neben ihr, hin und wieder<br />
hebt er scheu die rechte Hand.<br />
Klöckner schlägt alle Saiten an, die<br />
ihr Parteivolk jubeln lassen: Rot-Grün<br />
sei schlimm; Koma-Saufen schade der<br />
Jugend, und hier im Hunsrück brauche<br />
es endlich die Mittelrheinbrücke.<br />
Tauber klingt leise, ernst. „Wir müssen<br />
uns gewahr werden, dass viele Antworten<br />
von 1980 nicht mehr im Jahr<br />
2014 richtig sind“, sagt er dem fröhlichen<br />
Aschermittwochspublikum. Wehrpflicht,<br />
Kernenergie, Familienbild sind<br />
Felder, die er schon neu bestellt sieht.<br />
Aber auch das C sei heute mehr als nur<br />
das Christliche in der Union, es stehe allgemein<br />
für „die Würde des Menschen“,<br />
Foto: Fabrizio Bensch/Reuters/Corbis [M]; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
44<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
womit die CDU auch Nichtchristen erreiche.<br />
Kaum jemand im Saal wagt zu husten,<br />
so still ist es.<br />
Wenigstens die AfD geht er brachial<br />
an. „Das ist eine Partei von alten Männern,<br />
die nicht Sorge um unser Land<br />
umtreibt, sondern nur die Angst um den<br />
persönlichen materiellen Verlust.“ Da<br />
klatschen alle wie befreit. Endlich zeigt<br />
der Neue, dass er auch den Hau-Drauf-<br />
Generalsekretär kann.<br />
Der Berliner Betrieb rätselt noch,<br />
versucht Tauber einzusortieren. Seit er<br />
sich der Öffentlichkeit als „ledig“ vorgestellt<br />
hat, wird in der Partei und besonders<br />
klug tuend unter Hauptstadtjournalisten<br />
geraunt: Der ist doch schwul.<br />
Tauber kratzt das nicht. Seine Freundin<br />
ist Onkologin, sie hat in Medizin promoviert<br />
wie er in Geschichte. Mit ihr teilt er<br />
sich eine Hinterhauswohnung in Berlins<br />
Ur-Arbeiterbezirk. „Mit dem schwarzen<br />
Peter im roten Wedding“ – wieder so ein<br />
Gegensatz, der ihm Spaß macht.<br />
Tauber ist in einem sozialliberalen<br />
Elternhaus aufgewachsen. Der Vater, ein<br />
gut verdienender Anwalt, war einst „wegen<br />
Willy“ in die SPD ein- und wegen<br />
des Umgangs mit Schmidt wieder ausgetreten.<br />
Die Mutter wählte FDP. Teenie<br />
Peter aber gründete im hessischen Heimatstädtchen<br />
Wächtersbach die Junge<br />
Union, weil der SPD-Bürgermeister seinen<br />
Wunsch nach einem Bolzplatz nicht<br />
ernst nahm.<br />
Als Chef der hessischen Jungen<br />
Union tat er 2005 kund, dass er die SPD<br />
seit jeher für den Hauptgegner der CDU<br />
hält und noch dazu Seehofer für sozialdemokratisch.<br />
Nun muss er das Bündnis mit<br />
SPD und der Seehofer-CSU rechtfertigen.<br />
Und er muss verhindern, dass<br />
Scheuer und Fahimi verrückt spielen.<br />
Aber alle Gegensätze bekommt man<br />
nicht zusammen. Han Solo hätte nie<br />
einen doppelten Windsor geknotet im<br />
Krieg der Sterne. Und welcher Papst hört<br />
schon Punk?<br />
CHRISTOPH SEILS leitet <strong>Cicero</strong> Online.<br />
Yasmin Fahimi hätte er 1986 in Hannover auf<br />
Demos begegnen können. WULF SCHMIESE<br />
ist ZDF-Moderator. Tauber fiel ihm 2005 bei<br />
einer Veranstaltung der Jungen Union auf,<br />
wo er sogar Merkel kritisierte. ANDREAS<br />
THEYSSEN, Autor in Berlin, kannte Andreas<br />
Scheuer schon als feurigen Redner von<br />
Veran staltungen in Berlin. Als CSU-General<br />
legt er noch drei Schippen drauf<br />
FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… was an Gutmenschen schlecht sein soll<br />
Endlich habe ich es schriftlich: Ich bin ein Gutmensch. Soll heißen,<br />
jemand, der naiv genug ist, sich nicht mit der Realität abzufinden.<br />
Damit zum Beispiel, dass der Gemeinderat meines Heimatdorfs<br />
beschlossen hatte, sich nicht von der Ehrenbürgerwürde für<br />
Hindenburg und Hitler zu distanzieren. Vom skrupellosen Kriegstreiber<br />
und Totengräber der Demokratie sowie vom schlimmsten Massenmörder<br />
der Menschheitsgeschichte. Offenbar wird erwartet, dass<br />
man eine solche Meldung liest, die Zeitung zusammenfaltet und zur<br />
Tagesordnung übergeht. Weil mein Mann und ich es wagten, auf die<br />
Ungeheuerlichkeit dieses Vorgangs öffentlich hinzuweisen, werden<br />
wir in Schmähbriefen aller Art als Wichtigtuer, unerwünschte<br />
Fremde und ( nicht zum ersten Mal ) als Gutmenschen beschimpft –<br />
ein zynischer Begriff, der aber weiter Karriere macht.<br />
In perfider Verdrehung werden damit diejenigen diffamiert, die<br />
sich auch mal für etwas anderes einsetzen als ihr persönliches Wohl,<br />
seien es die Grundwerte unserer Demokratie, eine menschenwürdige<br />
Behandlung von Flüchtlingen oder mehr soziale Gerechtigkeit.<br />
Sie werden gern als hoffnungslose Romantiker hingestellt, die leider<br />
nicht begriffen haben, dass der Markt sowieso alles regelt, dass gesellschaftliches<br />
Engagement Wichtigtuerei ist und Menschenrechte<br />
sowieso ein Luxus, der nur das Wirtschaftswachstum bremst.<br />
Obwohl wahrscheinlich einst die Nazis den Begriff erfunden haben,<br />
um die Gegner der Euthanasie um Graf von Galen verächtlich<br />
zu machen, wird der Gutmensch bis heute hemmungslos als Waffe<br />
im politischen Kampf eingesetzt, und zwar meist von den Bequemen,<br />
die vom Fernsehsessel aus stänkern und sich in satter Selbstgerechtigkeit<br />
über jene erheben, die sich fürs Gemeinwohl starkmachen. Cool<br />
ist, wem Ungerechtigkeit wurst ist, wer ungerührt zusehen kann, wie<br />
Menschen leiden und unsere Werte den Bach runtergehen. Noch<br />
cooler ist es, auf diejenigen einzuschlagen, die sich dagegen wehren.<br />
Ich habe beschlossen, den Titel Gutmensch als Auszeichnung<br />
zu betrachten. Nicht, weil ich mich für einen guten Menschen halte,<br />
weiß Gott nicht. Aber lieber lasse ich mich als naive, bescheuerte<br />
Sozialromantikerin belächeln, als zur Zynikerin zu werden.<br />
AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />
Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />
sonst noch an Fragen aufwirft<br />
45<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
46<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
RAUS AUS<br />
DEM TUNNEL<br />
„Ich wollte mich nicht damit<br />
abfinden, dass Außenpolitik keinen<br />
Stellenwert hat“ – Außenminister<br />
Steinmeier und der Lichttunnel des<br />
Auswärtigen Amtes in Berlin<br />
Von WERNER SONNE<br />
Zuletzt galt das<br />
Auswärtige Amt als<br />
Verein weltpolitischer<br />
Weicheier. Frank-<br />
Walter Steinmeier<br />
versucht, ihm wieder<br />
Selbstvertrauen einzuflößen.<br />
Ob er gegen<br />
Politiker wie Putin<br />
etwas ausrichten kann,<br />
ist eine andere Frage<br />
Die Luft ist noch kühl, aber die Märzsonne<br />
taucht Tallinn in ein helles,<br />
freundliches Licht. „Ein wunderbarer<br />
Sonnenaufgang über der Ostsee“,<br />
schwärmt Frank-Walter Steinmeier.<br />
Es ist kurz nach neun, der Bundesaußenminister<br />
hat mit seinem estländischen<br />
Kollegen gefrühstückt, gleich geht es zum<br />
Präsidenten. Dann wird Steinmeier nach<br />
Riga aufbrechen und von dort nach Vilnius,<br />
bevor ihn der A390 der Flugbereitschaft<br />
abends wieder nach Berlin bringt.<br />
Aber es wird kein Tag für Frühlingsgefühle<br />
werden, es herrscht Eiszeit.<br />
Mit der Tour will der deutsche Außenminister<br />
ein Signal setzen, den verängstigten<br />
Menschen in den baltischen<br />
Staaten Solidarität zeigen. Er droht Moskau,<br />
er kündigt Sanktionen an für den<br />
Fall, dass Wladimir Putin die Krim annektiert.<br />
Ein „Weiter so!“ in den Beziehungen<br />
mit Russland könne es dann nicht<br />
mehr geben, sagt er wieder und wieder.<br />
Aber während Steinmeier noch in Tallinn<br />
ist, schaffen auf der Krim Putins Vasallen<br />
Fakten, sie erklären noch vor dem<br />
Referendum die Unabhängigkeit von der<br />
Ukraine.<br />
Der Sozialdemokrat tritt kraftvoll<br />
auf, er will der deutschen Diplomatie<br />
Geltung verschaffen. Das Auswärtige<br />
Amt, das er in der ersten Großen Koalition<br />
von Angela Merkel schon einmal geführt<br />
hat, soll wieder im Zentrum der Politik<br />
stehen. Der Minister hat sich in die<br />
Ukraine-Tragödie eingemischt, hat nach<br />
Lösungen gesucht, hat versucht, Brücken<br />
zu bauen. Aber an diesem hellen Tag in<br />
Tallinn wirkt er, als laufe er den Ereignissen<br />
hinterher. Putin geht seinen Weg.<br />
Ist es deshalb ein Fehlstart geworden für<br />
Steinmeier, ein verpatzter Neuanfang für<br />
sein Ministerium, dieses traditionsreiche<br />
Auswärtige Amt, dem die Bedeutung zuletzt<br />
abhandenkam?<br />
Rückblende. Im November 2013 passt<br />
das Wetter in Berlin zur Stimmung im<br />
Auswärtigen Amt. Guido Westerwelle ist<br />
zwar noch der Chef, aber eine Zukunft hat<br />
er nicht mehr. Mit dem einstigen FDP-Superstar<br />
und seinem Absturz war auch der<br />
Glanz des Ministeriums erloschen. Westerwelle<br />
hatte die „Kultur der Zurückhaltung“<br />
zum Markenzeichen seiner Amtszeit<br />
gemacht. Die Diplomatie: verengt auf<br />
eine deutsche Perspektive des Raushaltens,<br />
auf einen Tunnelblick.<br />
Bei ihren Verbündeten wurden die<br />
Deutschen in dieser Zeit zu Weicheiern<br />
der Weltpolitik. Der Ruf lähmte das Amt,<br />
das weltweit 10 000 Mitarbeiter hat.<br />
47<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Das AA liegt in Berlin-Mitte am<br />
Werderschen Markt 1. Der Altbau wurde<br />
in der Nazizeit als Reichsbank errichtet,<br />
später nutzte ihn die SED als Sitz des Zentralkomitees.<br />
Als nach der Wende Berlin<br />
Hauptstadt wurde, baute man das Haus<br />
um und erweiterte es. Alt- und Neubau<br />
verbindet ein Lichttunnel, Glasfassaden<br />
und Lichthöfe signalisieren Offenheit. Es<br />
ist aber auch kein kleines Gebäude, und<br />
diese Mischung aus Weltläufigkeit und<br />
Stolz tragen die Menschen im AA in sich,<br />
vom Hausmeister bis zur Vortragenden<br />
Legationsrätin Erster Klasse.<br />
WIE EINEN PHANTOMSCHMERZ empfanden<br />
da viele den Bedeutungsverlust,<br />
ihren eigenen im Besonderen. Libyen,<br />
jammerten sie, Libyen! „Libyen war der<br />
Tiefpunkt“, sagt ein Diplomat, der das<br />
auf Posten in Asien erlebte. Westerwelle<br />
hatte Deutschland aus der militärischen<br />
Intervention gegen Gaddafi herausgehalten<br />
und in der Uno die Zustimmung verweigert<br />
– der ultimative Sündenfall, den<br />
sie ihm im AA niemals verziehen haben.<br />
Eine Mischung aus Stolz und<br />
Weltläufigkeit. Das Auswärtige<br />
Amt am Werderschen Markt in<br />
Berlin-Mitte<br />
Unprofessionell, stöhnten sie immer wieder,<br />
u-n-p-r-o-f-e-s-s-i-o-n-e-l-l!<br />
Am Rande einer Tagung der Stiftung<br />
Wissenschaft und Politik, wo sich Berlins<br />
außenpolitischer Sachverstand zusammenballt,<br />
sinnieren die Teilnehmer<br />
in jenen Novembertagen in einer Kaffeepause<br />
darüber, wer in der Großen Koalition<br />
eigentlich noch das Auswärtige<br />
Amt haben will. Die Analyse: Eigentlich<br />
niemand so richtig. Während früher<br />
künftige Vizekanzler ins prestigeträchtige<br />
AA drängten, wurde beim Ressortpoker<br />
von Union und SPD dieses Ministerium<br />
nicht als Ass gehandelt.<br />
Nur einer wusste schon damals, dass<br />
ihn das nicht stören würde. Im Gegenteil.<br />
Der Außenminister in der ersten Großen<br />
Koalition von Angela Merkel wollte unbedingt<br />
dorthin – wieder. Frank-Walter<br />
Steinmeier, so schilderte ein Vertrauter,<br />
war begierig darauf, erneut der deutsche<br />
Chefdiplomat zu werden.<br />
Schon bei seinem Amtsantritt im AA<br />
sagt er, noch neben Westerwelle stehend,<br />
den Diplomaten, sie müssten sich neuen<br />
Herausforderungen stellen. „Mit der bloßen<br />
Beschwörung des Altbekannten und<br />
Bewährten kommen wir in Zukunft nicht<br />
mehr ganz durch.“<br />
Ein paar Wochen später steht er vor<br />
der Münchner Sicherheitskonferenz. Vor<br />
der außenpolitischen Weltelite fegt er das<br />
Westerwelle-Erbe vom Tisch. Der Einsatz<br />
des Militärs bleibe das letzte Mittel, sagt<br />
er, allerdings „darf eine Kultur der Zurückhaltung<br />
nicht zu einer Kultur des Heraushaltens<br />
werden“. Wer es noch nicht<br />
verstanden hatte, dem sagt es Steinmeier<br />
in München noch deutlicher: „Deutschland<br />
ist zu groß, um Weltpolitik nur von<br />
der Außenlinie zu kommentieren.“ Er<br />
nennt Mali als Beispiel und verabschiedet<br />
sich mit dem Satz: „Der Außen- und<br />
Sicherheitspolitik wird die Arbeit nicht<br />
ausgehen.“<br />
Seither ist Frank-Walter Steinmeier<br />
in den Krisengebieten unterwegs, als<br />
wäre er der neue Hans-Dietrich Genscher,<br />
von dem man sagte, er fliege so viel herum,<br />
dass er sich manchmal selber in der<br />
Luft begegne.<br />
Im Februar brennen auf dem Maidan<br />
in Kiew die Barrikaden, Menschen sterben.<br />
Steinmeier reagiert. Er macht ein<br />
Europaprojekt daraus. Mit den Außenministern<br />
Polens und Frankreichs, Sikorski<br />
und Fabius, fliegt er in die Ukraine<br />
und handelt ein Abkommen aus, das einen<br />
geordneten Übergang vom noch amtierenden<br />
Präsidenten Janukowitsch hin<br />
zu Neuwahlen ermöglichen sollte – und<br />
scheitert. Der Kraftakt kommt zu spät.<br />
Kaum ist er mit seinen Begleitern wieder<br />
weg, wischen die neuen Machthaber<br />
in Kiew das Abkommen beiseite. Janukowitsch<br />
flieht, bittet Putin um Hilfe –<br />
und liefert den Vorwand für das, was<br />
„Das Haus<br />
atmet durch, als<br />
ob ein Fenster<br />
aufgemacht<br />
worden wäre“<br />
Michael Schaefer, früher politischer<br />
Direktor im Auswärtigen Amt<br />
Steinmeier als „größte Krise seit dem<br />
Ende des Kalten Krieges“ beschreibt.<br />
Seine Leistung ist nur noch Makulatur.<br />
Dennoch hat er etwas erreicht. Dass<br />
er die Kollegen aus den beiden großen<br />
Nachbarländern in die heikle Mission<br />
eingebunden hatte, wertet man in der<br />
Szene als lobenswerten neuen Ansatz.<br />
„Das wäre Westerwelle nie eingefallen“,<br />
sagt ein früherer Wegbegleiter. Und Volker<br />
Perthes, der als Chef der Stiftung<br />
Wissenschaft und Politik die Regierung<br />
berät, lobt: „Da haben die Profis wieder<br />
übernommen.“<br />
Selbst Wladimir Putin signalisierte,<br />
dass er offenbar den Deutschen ernst zu<br />
nehmen bereit ist. Vor Kreml-Journalisten<br />
sagte er, der deutsche Außenminister,<br />
und nur ihn erwähnte er, solle doch<br />
über die Ukraine mit seinem Außenminister<br />
Lawrow verhandeln. Ein Lob von<br />
der falschen Seite, gegen das Steinmeier<br />
sich nicht wehren konnte, und das dann<br />
auch nichts brachte. Im Gegenteil. Als<br />
Steinmeier genau das tat, und es in Paris<br />
schon nach einer Lösung mit Lawrow<br />
aussah, machte Putin nicht mit. Steinmeier,<br />
und mit ihm der US-Kollege John<br />
Kerry, standen düpiert da.<br />
DENNOCH IST ES im geschwätzigen<br />
und im Hintergrund oft boshaften Berlin<br />
schwierig, über Steinmeier kritische<br />
Stimmen einzusammeln. Selbst wenn<br />
man Anonymität zusichert, reden sie<br />
über ihn positiv.<br />
„Das Haus atmet durch, als ob die<br />
Fenster aufgemacht worden wären“,<br />
bringt Michael Schaefer die Stimmung<br />
bei seinen Ex-Kollegen im AA auf den<br />
Punkt. Er war in Steinmeiers erster Amtszeit<br />
politischer Direktor im Auswärtigen<br />
Fotos: Volker Kreidler, Steffi Loos/CommonLens [M] (Seiten 46 bis 47), Mauritius Images/Alamy, Meike Böschemeyer/Action Press [M], Herby Sachs/WDR (Autor)<br />
48<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Amt, dann Botschafter in Peking. Vielen<br />
Kritikern ist klar, dass ihre Westerwelle-Schelte<br />
nicht immer fair ist, in der<br />
zweiten Hälfte seiner Amtszeit habe<br />
sich manches gebessert, räumen sie beinahe<br />
widerwillig ein. Aber dennoch: Mit<br />
Steinmeier, so sagen sie fast trotzig, sei es<br />
eben professioneller, der Mann sei pragmatisch,<br />
unideologisch, bringe Sachverstand<br />
aus seiner ersten Amtszeit mit.<br />
„Das brummt richtig“, urteilt Volker Perthes<br />
über das neue Klima.<br />
Angela Merkel hat mit Maria Böhmer<br />
eine enge Vertraute in Steinmeiers Nähe<br />
installiert. Sie, früher im Kanzleramt, politisch<br />
als Vorsitzende der CDU-Frauenunion<br />
mit solider Hausmacht ausgestattet,<br />
ist jetzt Staatsministerin im Auswärtigen<br />
Amt. Aber auch sie sagt über den Sozialdemokraten<br />
Steinmeier, er habe seine<br />
Erfahrungen sofort aktiviert und klare<br />
Ziele formuliert. „Ich sehe, dass das Haus<br />
das sehr positiv aufnimmt.“ Der Stellenwert<br />
des Ministeriums sei sehr viel höher<br />
geworden.<br />
Die Spitze des AA hat Steinmeier<br />
schnell und entschlossen umgebaut. Er<br />
installierte Vertraute in allen Schlüsselstellungen,<br />
allen voran seinen politischen<br />
Dauerbegleiter Stephan Steinlein,<br />
der zum Staatssekretär aufstieg. Neben<br />
ihm wurde mit Markus Ederer ein Mann<br />
Staatssekretär, der breite Erfahrung auf<br />
dem so wichtigen Europafeld mitbringt,<br />
er war zuletzt EU-Botschafter in Peking,<br />
ebenso wie Martin Kotthaus, der<br />
nach einer Zeit als Sprecher von Wolfgang<br />
Schäuble ins AA zurückgekehrt ist<br />
und dort die wichtige Europaabteilung<br />
übernommen hat. Mit Ralf Beste holte<br />
sich Steinmeier einen Ex-Spiegel-Redakteur<br />
ins Team, und mit Sawsan Chebli<br />
eine praktizierende Muslimin mit palästinensischen<br />
Wurzeln als seine stellvertretende<br />
Sprecherin.<br />
Um Platz zu machen für den radikalen<br />
Umbau, schob er Staatssekretärin<br />
Emily Haber, eine hochgeachtete Karrierediplomatin,<br />
ab. Sie ist nun Staatssekretärin<br />
im Innenministerium. Die Haber-Personalie<br />
hat ihm nicht nur Freunde<br />
im AA beschert. „Das war kein Geniestreich“,<br />
sagt einer, der ansonsten große<br />
Stücke auf Steinmeier hält.<br />
Was macht diesen Steinmeier, 58 Jahre<br />
alt, in seiner zweiten Amtszeit als Außenminister<br />
aus? „Ein Teamplayer“, meint<br />
Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz<br />
und unter Steinmeier I<br />
AA-Staatssekretär und Botschafter. „Er ist<br />
der beste Zuhörer, den ich je erlebt habe“,<br />
fügt er an und sieht bei ihm den Anspruch,<br />
dass „Diplomatie etwas wert ist, dass Außenpolitik<br />
etwas bewirken kann“.<br />
Auch im diplomatischen Korps<br />
kommt der Chef des AA an. „Der Mann<br />
versteht und kennt, worüber er spricht“,<br />
urteilt ein israelischer Spitzendiplomat.<br />
Und fügt, eben diplomatisch, hinzu: „Wir<br />
waren happy mit Westerwelle, aber wir<br />
sind sehr happy mit Steinmeier.“<br />
EINEN TAG NACH der Reise ins Baltikum<br />
sitzt Steinmeier in seinem Amtszimmer<br />
am Werderschen Markt. Die Sonne<br />
scheint ins Zimmer. Der Raum klassischmodern<br />
eingerichtet, er wirkt nüchtern.<br />
Die Willy-Brandt-Plastik, die vier Jahre<br />
in seinem Fraktionschefbüro im Bundestag<br />
stand, ist wieder an ihrem Platz.<br />
Steinmeier kann vielleicht gut zuhören,<br />
aber über die Rolle seines Amtes<br />
kann er auch ziemlich lange reden.<br />
Die Kurzfassung geht so: Die klassische<br />
Außenpolitik funktioniert in einer sich<br />
wandelnden Welt nicht mehr, in der es<br />
so viele Player gibt. Er nennt die unübersichtlichen<br />
Oppositionsgruppen in Syrien<br />
als Beispiel. Eine „Neuvermessung der<br />
Welt“ müsse her, sagt er, ohne konkrete<br />
Antworten anbieten zu können.<br />
Vor diesem Hintergrund will er der<br />
deutschen Diplomatie Relevanz geben.<br />
Da wird er nachdrücklich. „Ich wollte<br />
mich nicht damit abfinden, dass Außenpolitik<br />
keinen Stellenwert hat.“ Dem<br />
AA will er einen „Selbstüberprüfungsprozess“<br />
verordnen. „Der diplomatische<br />
Werkzeugkasten muss erweitert werden“,<br />
sagt er.<br />
Eine etwas weniger diplomatische<br />
Übersetzung könnte lauten: Raus aus<br />
dem Tunnel.<br />
Steinmeier kann sich auch aufregen.<br />
In der Darstellung von Außenpolitik<br />
ärgert ihn das Gerede über das<br />
Versagen der Diplomatie. Er jedenfalls<br />
will nicht „täglich mit aufgeregtem Ton<br />
daherkommen“.<br />
Und das Kanzleramt? Der Bedeutungsverlust<br />
des Auswärtigen Amtes<br />
lag ja nicht nur an Westerwelle, sondern<br />
auch daran, dass die Diplomatie immer<br />
mehr Chefsache geworden ist, dass sich<br />
die Regierungschefs in Europa ohnehin<br />
ständig sehen.<br />
Beide haben ein Interesse, in diesen<br />
Krisenzeiten die Dinge gemeinsam zu<br />
machen. „Mit Angela Merkel verbindet<br />
mich ein sehr professionelles Arbeitsverhältnis,<br />
in dem man sich vertraut“, sagt<br />
Steinmeier. Merkel geht noch weiter. In<br />
ihrer Regierungserklärung zur Ukraine<br />
dankt sie im Bundestag Steinmeier „in<br />
Ihrer aller Namen“ für seinen „unermüdlichen<br />
Einsatz“. Es ist fast eine Eloge.<br />
Steinmeiers Vorgänger Guido<br />
Westerwelle: „Libyen war der<br />
Tiefpunkt“, sagt ein Diplomat<br />
über dessen Amtszeit<br />
Früher schwebten deutsche Außenminister<br />
im Ansehen immer hoch<br />
über den garstigen Untiefen des politischen<br />
Tagesgeschäfts. Selbst der rüpelige<br />
Joschka Fischer schaffte das. Guido<br />
Westerwelle blieb die Ausnahme. Jetzt<br />
nähert sich auch Steinmeier dem Umfrage-Olymp.<br />
In der Beliebtheit liegt er<br />
neuerdings vor der Kanzlerin. Der ARD-<br />
Deutschlandtrend sah ihn im März bei<br />
74, sie bei 71 Prozent. Ob er sich damit<br />
in eine Gefahrenzone begibt, in der die<br />
Kanzlerin nicht mehr einfach nur zuschaut,<br />
muss sich zeigen. Bisher bekam<br />
es niemandem gut, an Angela Merkel<br />
vorbeizuziehen.<br />
WERNER SONNE<br />
war lange ARD-Korrespondent<br />
in Osteuropa und den<br />
USA. Außenpolitik ist seine<br />
Leidenschaft<br />
49<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Kommentar<br />
UNTER DEN ROBEN<br />
DIE POLITIK<br />
Von FRANK A. MEYER<br />
Das Bundesverfassungsgericht, am provokativsten mit<br />
dem Entscheid über die Drei-Prozent-Hürde, macht<br />
Politik im Gewand der Rechtsprechung<br />
Andreas Voßkuhle wollte nicht Bundespräsident werden.<br />
Ein Angebot Angela Merkels Anfang 2012, seine Kandidatur<br />
zu lancieren, lehnte er ab: im Bewusstsein, als<br />
Präsident des Bundesverfassungsgerichts weitaus mehr Macht<br />
zu haben.<br />
Wie ist diese Absage zu werten? Als Entscheidung für die<br />
Justiz, gegen die Politik?<br />
Nein, Andreas Voßkuhle hat sich nicht für das Recht entschieden.<br />
Wer das Verfassungsgericht aus Gründen der Macht<br />
wählt, der entscheidet sich aus politischen Motiven: für Politik –<br />
ich entscheide mich für Karlsruhe, weil dort die Macht hockt.<br />
Dort thront er nun, der machtgetriebene Richter Voßkuhle:<br />
auf dem höchsten Stuhl von Deutschlands höchster Instanz.<br />
Was immer draußen im Lande geschieht, die Karlsruher<br />
Richter sprechen darüber Recht: vom Reiten im Walde über<br />
das Rauchen im Restaurant bis zur „Vorbereitung eines geeigneten<br />
sozialen Empfangsraums“ im Strafvollzug.<br />
Die roten Roben wissen, was den Deutschen frommt. Am<br />
allerbesten aber wissen sie, was der deutschen Politik frommt.<br />
Darf der Bundespräsident in einer Rede etwas gegen rechte<br />
„Spinner“ sagen? Den Verfassungshütern obliegt es, über Joachim<br />
Gauck zu rechten.<br />
Darf die Europäische Zentralbank unbeschränkt Staatsanleihen<br />
kaufen, um den Euroraum gegen Spekulation abzusichern?<br />
Nein, findet Karlsruhe, das geht zu weit. Und<br />
überweist den Fall gnädig an den Europäischen Gerichtshof.<br />
Der möge nun entscheiden, selbstverständlich im Sinne des<br />
Bundesverfassungsgerichts.<br />
Darf die Bundesrepublik für die Europawahl eine Drei-<br />
Prozent-Hürde errichten? Darf sie nicht. Die Karlsruher haben<br />
die Schranke gegen Kleinstparteien niedergerissen, mit der Begründung:<br />
Die Parlamentarier in Straßburg wählten ja eh keine<br />
Regierung, weshalb die Abwehr von Extremisten nicht vonnöten<br />
sei. Will heißen: Das Europaparlament ist eine Schwatzbude.<br />
All diese Beschlüsse, am aktuellsten und deutlichsten der<br />
Sperrklausel-Entscheid, machen erkennbar, worauf Karlsruhes<br />
Zuständigkeit für alles und jedes hinausläuft: auf politische<br />
Entscheidungen im Gewand höchstrichterlicher Urteile,<br />
auf Karlsruhe als Regierungssitz.<br />
Andreas Voßkuhle dementiert diese Sichtweise indigniert.<br />
Dazu bedient er sich eines Kant-Zitats: „Das Recht muss nie<br />
der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst<br />
werden.“<br />
Der Königsberger Aufklärer kann nichts dafür, in welchen<br />
Zusammenhang seine Thesen heute gestellt werden. Zu Voßkuhles<br />
Kant-Verständnis ist aber sehr wohl etwas zu sagen –<br />
auf die nicht geringe Gefahr hin, beim König von Karlsruhe in<br />
den Verdacht der Majestätsbeleidigung zu geraten.<br />
Kant formulierte sein Diktum: „Alle Politik muss ihre Knie<br />
vor dem Recht beugen“ zu Zeiten des preußischen Absolutismus<br />
und der europäischen Fürstenherrlichkeit. Da war das Recht<br />
noch Mittel des Widerstands gegen feudale Willkür.<br />
Der aufgeklärte Absolutismus hat es Voßkuhle angetan.<br />
Doch mittlerweile herrscht in Europa die Demokratie: vom<br />
Volk legitimierte Politik, die das Recht setzt.<br />
Sogar die unveräußerlichen Artikel eins bis neunzehn des<br />
deutschen Grundgesetzes sind Früchte demokratischer und politischer<br />
Entscheidungen, Resultat historischer Erfahrung und<br />
später Besinnung auf westliche Werte.<br />
Es ist nicht der Himmel, der uns das Recht gibt. Auch die<br />
Richter sind nicht von Gott gesandt. Nicht einmal Andreas<br />
Voßkuhle ist zu uns herabgestiegen. Er wurde von einem politischen<br />
Gremium gewählt.<br />
Warum aber sind die Deutschen ihren höchsten Richtern<br />
hörig?<br />
Ist ihnen auf den verschlungenen Wegen vom Feudalstaat<br />
zur Demokratie die bürgerliche Freude an der Politik abhanden<br />
gekommen? Wirkt die lange Gewöhnung an die wilhelminische<br />
Militär- und Bürokratie-Monarchie nach? Das klägliche Scheitern<br />
der Weimarer Republik? Die verheerenden Nazijahre?<br />
Fehlt es auch 2014 noch an stolzem Staatsbewusstsein?<br />
Braucht das deutsche Bürgertum die Voßkuhles als Ersatzautoritäten<br />
für seine nie gänzlich überwundene Obrigkeitsgläubigkeit?<br />
Die oberste Obrigkeit in roten Roben? Die Politik darunter?<br />
Kein schöner Gedanke, ein böser Verdacht.<br />
FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />
Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />
50<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
„ Russland könnte ein<br />
großer Verbündeter<br />
für Konservative sein “<br />
Larry Jacobs, Chef des in Illinois beheimateten reaktionären World Congress<br />
of Families, sieht in Wladimir Putin einen neuen Hoffnungsträger, Seite 52<br />
51<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Debatte<br />
PUTINS<br />
MASTERPLAN<br />
Von OWEN MATTHEWS<br />
Illustrationen MIRIAM MIGLIAZZI & MART KLEIN<br />
Nach Sotschi und der Krim die ganze Welt?<br />
Was auf den ersten Blick an den Haaren<br />
herbeigezogen scheinen mag, folgt einer eigenen<br />
Logik. Der russische Präsident strebt nach der<br />
globalen rechtskonservativen Herrschaft<br />
52<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Debatte<br />
Nach zwei Jahrzehnten als<br />
wirtschaftlicher Entwicklungsfall<br />
feiert Russland<br />
ein Comeback als ideologische<br />
Macht – dieses Mal<br />
als Sachwalter konservativer Werte. In<br />
seiner Rede an die Nation im vergangenen<br />
Dezember im russischen Parlament<br />
versicherte Wladimir Putin Konservativen<br />
auf der ganzen Welt, dass Russland<br />
bereit und willens sei, für „Familienwerte“<br />
einzustehen und gegen die<br />
Flut liberaler, Homosexuellen-freundlicher<br />
Propaganda, „die von uns verlangt,<br />
das zu akzeptieren, ohne die Gleichwertigkeit<br />
von Gut und Böse hinterfragen<br />
zu dürfen“. Der russische Präsident versprach,<br />
er werde „traditionelle Werte<br />
verteidigen, die seit Tausenden von Jahren<br />
die geistige und moralische Grundlage<br />
der Zivilisation jeder Nation sind“.<br />
Entscheidend ist, dass Putin unmissverständlich<br />
klarmachte, dass seine<br />
Botschaft sich nicht nur an Russen richtet<br />
– die bereits durch die jüngste Gesetzgebung<br />
vor „der Förderung nichttraditioneller<br />
Beziehungen“ geschützt werden –,<br />
sondern auch „an immer mehr Menschen<br />
überall auf der Welt, die unsere Haltung<br />
unterstützen“.<br />
Putin hat Großes vor. Natürlich hat<br />
die Revolution in der Ukraine etwas mit<br />
den Unterschieden im Osten und Westen<br />
des Landes zu tun. Aber sie ist auch<br />
ein Kulturkampf zwischen Konservativen<br />
und Liberalen. Die Demonstranten,<br />
die gegen die Janukowitsch-Regierung<br />
kämpften, neigen der Europäischen<br />
Union und modernen „demokratischen<br />
Werten“ zu, dazu zählen auch Rechte<br />
für Homosexuelle. Die Janukowitsch-<br />
Befürworter hingegen sind tendenziell<br />
russlandfreundlich, und auf manchen ihrer<br />
Plakate war „Euro=Homo“ zu lesen.<br />
Dies ist genau die Kampflinie, entlang derer<br />
Putin seinen konservativen ideologischen<br />
Maßstab errichtet hat.<br />
Der Bericht „Putin: der neue Führer<br />
des internationalen Konservatismus“ des<br />
kremlnahen Thinktanks Centre for Strategic<br />
Communications fasst Putins Absichten<br />
geschickt zusammen. So heißt es<br />
in dem Papier, eine schweigende Mehrheit<br />
in der Welt ziehe traditionelle Familienwerte<br />
dem Feminismus sowie den<br />
Rechten für Homosexuelle vor, und Putin<br />
sei ihr natürlicher Anführer. „Allem<br />
Anschein nach glaubt der Kreml das ultimative<br />
Trennungsmerkmal identifiziert<br />
zu haben, um seine Unterstützer –<br />
in Russland wie im Westen – zu einen,<br />
seine Gegner zu spalten und Unterstützung<br />
gerade in den Entwicklungsländern<br />
zu gewinnen“, sagt Brian Whitmore,<br />
Korrespondent von Radio Free Europe.<br />
„Sie scheinen zu glauben, sie hätten die<br />
Ideologie gefunden, die Russland an ihren<br />
rechtmäßigen Platz zurückbringt<br />
als Macht des Guten mit einem messianischen<br />
Auftrag und der Fähigkeit, die<br />
Herzen und Köpfe überall auf der Welt<br />
zu gewinnen.“<br />
PUTINS SIRENENGESANG hat Unterstützer<br />
aus einer unerwarteten Richtung<br />
gefunden, etwa Pat Buchanan. Der<br />
konservative amerikanische Politiker,<br />
Kommentator – und einstiger Antikommunist<br />
– war während der Reagan-Ära<br />
einer der Architekten der Bewegung<br />
„Moralische Mehrheit“. Jetzt ist er voll<br />
des Lobes für Putins „paläokonservative<br />
Bewegung“. Kürzlich schrieb Buchanan,<br />
die großen ideologischen Kämpfe des<br />
21. Jahrhunderts würden „zwischen einem<br />
Aufgebot von Konservativen und<br />
Traditionalisten aller Länder gegen den<br />
militanten Säkularismus einer multikulturellen<br />
und länderübergreifenden Elite“<br />
ausgefochten. „Während viele amerikanische<br />
und westliche Medien ihn als autoritär,<br />
reaktionär und rückwärtsgewandt<br />
abqualifizieren, könnte Putin die Zukunft<br />
klarer sehen als die Amerikaner.“<br />
Mit dieser Ansicht ist Buchanan nicht<br />
allein. Der in Illinois beheimatete World<br />
Congress of Families, eine Organisation<br />
zur Förderung von Familienwerten, ist<br />
der Einladung gefolgt, ihre 8. Internationale<br />
Jahreskonferenz in Moskau abzuhalten.<br />
„Russland könnte ein großer Verbündeter<br />
für Konservative sein, wenn es um<br />
die Verteidigung der Familie geht, um das<br />
Verbot von Abtreibung, die Stärkung der<br />
Ehe und die Propagierung von mehr Kindern“,<br />
begründet der Chef des Verbands,<br />
Larry Jacobs, die Entscheidung.<br />
Die wahre Zielgruppe des Kremls<br />
ist aber nicht der rechte Rand westlicher<br />
Gesellschaften, sondern es sind die Länder,<br />
die einst unter sowjetischem Einfluss<br />
standen. Dazu gehört der sogenannte<br />
„postsowjetische Raum“, aber auch einige<br />
Staaten des Nahen Ostens und Afrikas.<br />
„Putin könnte<br />
die Zukunft<br />
klarer sehen als<br />
die Amerikaner“<br />
Pat Buchanan,<br />
konservativer<br />
amerikanischer Politiker<br />
54<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Es waren russische Diplomaten und Wissenschaftler,<br />
die führend daran beteiligt<br />
waren, eine Koalition konservativer<br />
Staaten zu formieren und eine Resolution<br />
für den UN-Menschenrechtsrat in Genf<br />
zu formulieren, die sich gegen die Rechte<br />
von Homosexuellen richtete. Menschenrechte,<br />
das war das Ziel, sollten „traditionellen<br />
Werten und kultureller Herrschaft“<br />
untergeordnet werden.<br />
„Russland hat dieses Thema für sich<br />
genutzt, um in muslimischen und afrikanischen<br />
Staaten eine Anhängerschaft zu<br />
gewinnen“, sagt Mark Gevisser, Fellow<br />
der Stiftung Open Society. „Das Markenzeichen<br />
,ideologisch-moralischer Konservatismus‘<br />
wurde ursprünglich in den<br />
USA geprägt. Es ist besonders ironisch,<br />
wenn sich diese Länder nun an einem<br />
antiwestlichen Kreuzzug beteiligen und<br />
sich dabei eines westlichen Werkzeugs<br />
bedienen.“<br />
AM WIRKUNGSVOLLSTEN verfängt Moskaus<br />
Ablehnung der Rechte von Homosexuellen<br />
aber in Russlands unmittelbarer<br />
Nachbarschaft. Als es im vergangenen<br />
November noch so aussah, als würde<br />
Viktor Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen<br />
mit der Europäischen Union<br />
unterzeichnen, waren überall im Land<br />
auf riesigen Werbeflächen Warnungen<br />
zu lesen wie: „Die EU bedeutet Legalisierung<br />
gleichgeschlechtlicher Ehen.“<br />
Die Kampagne wurde von der Bewegung<br />
„Ukrainische Wahl“ bezahlt, einer<br />
Gruppe, die sich gegen eine Integration<br />
der Ukraine in die EU und für eine Allianz<br />
mit Russland engagiert und die dem<br />
kremlnahen Politiker und Geschäftsmann<br />
Viktor Medwedtschuk nahesteht.<br />
Putins neue Mission ist aber viel<br />
mehr als politischer Opportunismus. Wie<br />
in den Zeiten der Kommunistischen Internationale<br />
oder der Komintern knüpft<br />
Moskau eine internationale ideologische<br />
Allianz. Während die Komintern sich<br />
aber einst bemühten, Linke jeder Schattierung<br />
unter Moskaus großes ideologisches<br />
Zelt zu bringen, preist Putin sich<br />
als moralische Leitfigur für alle Konservativen<br />
an, die liberale Werte ablehnen.<br />
Wie damals die Komintern scheint<br />
auch Putin überzeugt, auf einer weltweiten<br />
historischen Mission zu sein. Zweifellos<br />
hat eine solche moralische Mission<br />
tiefe Wurzeln in der russischen<br />
Geschichte. Zahlreiche Kreml-Herrscher<br />
– wie die Zaren Nikolaus I, der „Polizist<br />
Europas“ und der erzkonservative<br />
Alexander III – schwangen sich einst zu<br />
Verteidigern der Orthodoxie und Autokratie<br />
auf. Nicht von ungefähr zitierte<br />
Putin in seiner Duma-Rede den konservativen<br />
Denker aus dem 19. Jahrhundert,<br />
Nikolai Berdjajew. „Der Sinn des Konservatismus<br />
besteht nicht darin, dass er<br />
Fort- oder Rückschritte behindert“, sagte<br />
er, „sondern darin, dass er ein Abrutschen<br />
ins finstere Chaos verhindert – den<br />
Rückfall in alte Zeiten.“<br />
Es wäre ein Leichtes, Putins konservative<br />
Komintern als eine andere<br />
Form eines Sotschi-haften Eitelkeitsprojekts<br />
abzutun. Würde nicht gleichzeitig<br />
Russlands Hard- wie Softpower wachsen.<br />
Erstmals seit einer Generation hatte<br />
Moskau im vergangenen Jahr in einer internationalen<br />
Angelegenheit das Sagen:<br />
Russlands Außenminister Sergei Lawrow<br />
bremste mit seinem Vorschlag für<br />
die Vernichtung der chemischen Waffen<br />
in Syrien US-Pläne für einen Militärschlag<br />
gegen Damaskus aus.<br />
Jahrelang hatte Moskau Gewaltherrscher<br />
in Ägypten, im Jemen, in Tunesien<br />
und Libyen erfolglos unterstützt – und<br />
sie sind gestürzt worden, genau wie die<br />
alte sowjetische Klientel von Afghanistan<br />
bis Jugoslawien. Mit Syrien ging die<br />
Pechsträhne zu Ende. Moskaus diplomatischer<br />
Schutz in den Vereinten Nationen,<br />
abgesichert durch russische Waffen<br />
sowie geheimdienstliche und militärische<br />
Hilfe, bedeutet wieder etwas. Wenn<br />
Harry S. Truman die USA zum Leuchtturm<br />
der Demokratie machen wollte, so<br />
sieht Putin Russland als Leuchtturm der<br />
reaktionären Bewegung.<br />
Schließlich gibt es noch einen dritten<br />
Pfeiler des ambitionierten russischen<br />
Programms, die Welt nach dem eigenen<br />
Bild zu gestalten: die kontinuierliche<br />
Kampagne zur Neugestaltung der globalen<br />
Architektur des Internets, sodass<br />
einzelne Staaten eine größere Kontrolle<br />
ausüben können.<br />
Seit der Geburt des World Wide<br />
Webs befindet sich das Kontrollzentrum<br />
bei der Internet Corporation for Assigned<br />
Names and Numbers, kurz ICANN,<br />
in den USA. Die Non-Profit-Organisation<br />
in Los Angeles vergibt Namen und<br />
Adressen im Internet. Seit langem schon<br />
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55<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Debatte<br />
DIE STUNDE DER<br />
EUROPÄISCHEN UNION<br />
Ist Putin wirklich nicht zu stoppen und die EU ein zahnloser<br />
Debattierklub? In der Krise kann Brüssel seine wahre Macht zeigen<br />
Wie genau konnte es zu dem Konflikt<br />
kommen, den der deutsche Außenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier die „größte<br />
Krise seit Ende des Kalten Krieges“<br />
genannt hat? Aufarbeitung lohnt. Eines<br />
ist schon klar: Die Europäische Union hat<br />
es kalt erwischt. Sie war nicht darauf<br />
vorbereitet, dass das Assoziierungsabkommen,<br />
das seit über einem Jahr schon<br />
fertig ausgehandelt war, am Ende nicht<br />
unterzeichnet werden könnte. Erst recht<br />
war sie nicht darauf eingestellt, dass<br />
Hunderttausende Ukrainer monatelang<br />
bei bitterer Kälte auf dem Maidan<br />
ausharren würden, weil sie ihre korrupte<br />
Oligarchenwirtschaft satthaben und ihre<br />
Zukunft näher an der EU denn an<br />
Russlands ebenfalls autoritärer<br />
Oligarchenwirtschaft sehen. Schon gar<br />
nicht hat sie erwartet, dass der russische<br />
Präsident seine Soldaten auf der Krim<br />
aufmarschieren lassen würde.<br />
Dass die EU von den Ereignissen überrumpelt<br />
wurde, verwundert nicht. Sie hat es<br />
versäumt, bei den Verhandlungen mit der<br />
Ukraine russische Interessen zumindest<br />
mitzudenken. Außerdem verhandelten<br />
Unterhändler aus Brüssel und die<br />
Vertreter der nationalen europäischen<br />
Regierungen zwar mit den politischen<br />
Eliten der Ukraine. Sie hätten aber auch<br />
den Dialog mit der ukrainischen<br />
Zivilgesellschaft suchen müssen. Einer<br />
Zivilgesellschaft, die eine „europäische<br />
Passion“ entwickelt hat, die gerade in<br />
den westlichen Ländern der EU schon<br />
lange nicht mehr zu existieren scheint.<br />
Die Ukrainer, die auf dem Maidan<br />
ausharrten, haben die EU daran erinnert,<br />
wofür sie steht: für Rechtsstaatlichkeit,<br />
Demokratie sowie die Wahrung der<br />
Menschenrechte – und eben nicht in<br />
erster Linie für enervierende Brüsseler<br />
Bürokratie. Deshalb steckt in der Krise<br />
auch eine Chance für die EU. Russlands<br />
Krim-Politik könnte der EU einen<br />
außenpolitischen Einigungsschub geben.<br />
Hier geht es nicht nur darum, die – berechtigten<br />
– Ängste der baltischen<br />
Staaten oder Polens vor Russlands<br />
Begehrlichkeiten zu zerstreuen. Es geht<br />
um ganz Europa. Die EU kann Russland<br />
nur dann begegnen, wenn sie einig ist –<br />
und zwar von „Lissabon bis Riga“, wie es<br />
Kanzlerin Merkel jüngst ausdrückte.<br />
Wenn die südlichen Länder, die noch<br />
unter der Rezession der Eurokrise leiden,<br />
auch bereit sind, zu Sanktionen zu stehen,<br />
die vielleicht eine Erholung ihrer Länder<br />
gefährden oder verlangsamen können.<br />
Und wenn deutlich wird: Sichere Grenzen<br />
und friedliche Nachbarn sollten nicht nur<br />
Deutschland, Frankreich oder Spanien<br />
gegönnt sein, sondern eben auch Polen,<br />
Litauen und Lettland.<br />
Dafür stehen der EU Gestaltungsmöglichkeiten<br />
zur Verfügung. Auf der<br />
„Europapassion“ der Ukrainer lässt sich<br />
aufbauen – es liegt im Interesse der EU,<br />
einer solchen Gesellschaft bei dringend<br />
notwendigen Reformen zu helfen, um am<br />
Ende eine demokratische Marktwirtschaft<br />
und nicht eine Kleptokratie näher<br />
an die EU zu binden.<br />
Noch wichtiger ist: Wladimir Putin mag<br />
sich als starker Mann gerieren, aber die<br />
Wirtschaft seines Landes ist schwach. Sie<br />
ist abhängig vom Gas- und Ölexport – vor<br />
allem aber bereiten ihr demografische<br />
Entwicklung, fehlende Innovationskraft<br />
und zurückgebliebene Infrastruktur<br />
Probleme. Sie ist, jenseits des Gasgeschäfts,<br />
nicht wettbewerbsfähig und auf<br />
die Unterstützung des Westens<br />
angewiesen. Auch wenn der Westen<br />
selbst einen Preis für die Sanktionen<br />
zahlen muss, werden sie Russland<br />
langfristig mehr zusetzen als der<br />
Europäischen Union. Die EU sitzt am<br />
längeren Hebel. Sie sollte ihre Stärke<br />
nutzen. JUDITH HART<br />
Wladimir Putin<br />
mag sich als<br />
starker Mann<br />
geben, seine<br />
Wirtschaft aber<br />
ist schwach<br />
fordert Russland, dass der Sitz der Organisation<br />
verlegt wird – und zwar außerhalb<br />
der USA. Unerwarteten Auftrieb<br />
erhielt diese Forderung durch den Whistleblower<br />
Edward Snowden und dessen<br />
Enthüllungen – dessen Berichte waren<br />
für Moskau ein willkommener Anlass,<br />
um Washington zu desavouieren und<br />
die USA als alles andere denn eine Insel<br />
der Freiheit für Internetuser an den<br />
Pranger zu stellen.<br />
VERGANGENEN NOVEMBER beklagte<br />
sich eine Delegation russischer Gouverneure<br />
und Beamter des Außenministeriums<br />
während eines offiziellen Besuchs<br />
in den USA bei amerikanischen Serviceprovidern,<br />
dass diese den Datenschutz<br />
der User nicht ausreichend garantierten.<br />
Und forderten erneut eine Reform des<br />
ICANN. Das mag im Licht der Enthüllungen<br />
Edward Snowdens eine legitime Forderung<br />
sein, schließlich lässt sich mit Fug<br />
und Recht behaupten, dass die Kontrolle<br />
über die US-Geheimdienste versagt hat.<br />
Doch das Problem mit dieser Forderung<br />
ist: Sie könnte zu einer verschärften<br />
Überwachung des Webs nicht nur in<br />
einzelnen Staaten führen und nicht nur<br />
in derem „eigenen“ Internetbereich –<br />
was heute schon möglich ist –, sondern<br />
des gesamten World Wide Webs. Konkret<br />
hieße das: Russland könnte jemanden<br />
in Deutschland, der ihm nicht genehm<br />
ist, blockieren, indem es sich auf<br />
eine Anti-Terror-Klausel beruft, und die<br />
Domain des Gegners oder die DNS, das<br />
Basis-Adressbuch des Internets, außer<br />
Betrieb setzen. Ohne DNS sind Internetseiten<br />
unauffindbar. Sie verschwinden<br />
einfach.<br />
Über die Frage, wer das Internet<br />
kontrolliert, wird im kommenden Jahr<br />
auf einer großen internationalen Konferenz<br />
– der größten confab seit 2005 – diskutiert<br />
werden. Strategisch hat Russland<br />
sein Augenmerk offensichtlich auf zwei<br />
Ziele gelegt: den USA die Kontrolle über<br />
das Internet zu entreißen und eine neue<br />
Definition von „Cyber-Terrorismus“ zu<br />
schaffen, die genauso vage ist wie Moskaus<br />
eigene „Rechtsextremismus“-Gesetzgebung.<br />
Die hatte zuletzt dazu gedient,<br />
Umweltaktivisten, friedliche<br />
Demonstranten, unabhängige Medien<br />
und homosexuelle Aktivisten strafrechtlich<br />
zu verfolgen.<br />
56<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Anzeige<br />
Eine elegante<br />
Sammlung<br />
Russland ist<br />
zurück als ein<br />
großer globaler<br />
Akteur und<br />
schert sich nicht<br />
darum, wie viel<br />
das kostet<br />
Nach dem Vorschlag Russlands soll<br />
die Kontrolle des Internets die International<br />
Telecommunication Union übernehmen,<br />
jene UN-Behörde, die für die<br />
Koordination des weltweiten Hörfunkspektrums<br />
und der Satellitenbahnen<br />
zuständig ist. Was auf den ersten Blick<br />
harmlos erscheinen mag, erweist sich als<br />
trojanisches Pferd.<br />
Die Charta der Telecommunication<br />
Union garantiert den freien Zugang zum<br />
Internet – außer in Fällen von Cyber-Terrorismus.<br />
In den vergangenen zehn Jahren<br />
hat Russland in der Uno dreimal und<br />
in der Organisation für Sicherheit und<br />
Zusammenarbeit in Europa einmal versucht,<br />
Resolutionen zu Cyber-Terror im<br />
Internet durchzuboxen. Die USA und Europa<br />
widersetzten sich einer solchen Gesetzgebung<br />
stets. „Die einzige praktische<br />
Folge eines solchen Schrittes wäre, Staaten<br />
die Unterdrückung Andersdenkender<br />
zu erlauben“, sagt Alexander Klimburg,<br />
Berater für Internetsicherheit bei der Organisation<br />
für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />
in Europa.<br />
KONSERVATIVE WERTE, internationale<br />
Diplomatie, die Architektur des Internets<br />
– oberflächlich betrachtet sind dies<br />
unterschiedliche Gebiete, auf denen<br />
Russland internationalen Einfluss ausübt.<br />
Aber sie sind verknüpft durch ein<br />
Leitmotiv, das spätestens mit den Olympischen<br />
Winterspielen in Sotschi deutlich<br />
wurde: Russland ist zurück als ein großer<br />
globaler Akteur und schert sich nicht<br />
darum, wie viel es kostet, um dies auch<br />
zu zeigen. Der Plan steht freilich auf tönernen<br />
Füßen –, wie auch Putins Herrschaft,<br />
die auf nichts anderem als hohen<br />
Energiepreisen beruht. Mit der Schiefergasrevolution<br />
und der Entwicklung alternativer<br />
Energien beginnen diese Preise<br />
zwar schon zu fallen. Einstweilen aber<br />
hat Putin die Mittel und den Plan, russische<br />
Macht erstmals seit der sowjetischen<br />
Invasion Afghanistans über Russlands<br />
Grenzen hinaus auszuüben.<br />
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Datum<br />
Unterschrift<br />
Foto: Philippe Matsas<br />
OWEN MATTHEWS war Russlandkorrespondent<br />
für The Times<br />
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57<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Hintergrund<br />
SPIELBALL<br />
DER<br />
MÄCHTIGEN<br />
Von GWENDOLYN SASSE<br />
Die wechselvolle Geschichte der<br />
Krim begann nicht erst mit der<br />
Eroberung durch Katharina die<br />
Große. Das Referendum wird<br />
auch nicht ihr Ende bedeuten.<br />
Ein Rück- und Ausblick<br />
Die Krim ist eine geschichtsträchtige Region. Fakten und<br />
Mythen lassen sich oft nur schwer voneinander trennen.<br />
Nun ist die Halbinsel zur größten Herausforderung für<br />
den ukrainischen Staat, das Verhältnis zwischen Russland und<br />
der Ukraine und die Beziehungen zwischen Russland und dem<br />
Westen geworden. Umso wichtiger ist der historische und politische<br />
Kontext der Ereignisse.<br />
Die Krim ist die einzige Region in der Ukraine mit einer<br />
russischen Mehrheit und einem in der ukrainischen Verfassung<br />
verankerten, politisch jedoch schwachen Autonomiestatus.<br />
Ihre Spezifika machen die Region zu einem brauchbaren<br />
Werkzeug in der Innen- und Außenpolitik Russlands. Nationalismus<br />
basiert in der Regel auf einer Kombination von strategischen,<br />
wirtschaftlichen und kulturellen Interessen und Identitäten.<br />
So ist es auch in diesem Fall.<br />
Zu den wichtigsten Zäsuren in der Geschichte der Krim<br />
gehören:<br />
• die 300-jährige Herrschaft des Krim-Khanats ab 1441,<br />
• die Eingliederung der Krim ins Russische Reich unter Katharina<br />
der Großen im Jahr 1783 – im aktuellen Diskurs scheint die<br />
Geschichte auf der Krim erst mit diesem Datum zu beginnen,<br />
• der Krimkrieg 1853 bis 1856 zwischen dem Osmanischen Reich<br />
und Russland, in dem Sewastopol ein Jahr lang belagert war,<br />
• eine zweite Belagerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg,<br />
• die Deportation der Krimtataren 1944 durch die Sowjetunion,<br />
• Nikita Chruschtschows Transfer der Krim an die Ukrainische<br />
Sowjetrepublik 1954<br />
• und ab 1991 die politische Realität einer unabhängigen Ukraine.<br />
Historische Ungenauigkeiten und Umdeutungen sind integrale<br />
Bestandteile der im (post-)sowjetischen Bewusstsein der<br />
58<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein; Foto: Privat<br />
Krimbewohner und Russen verankerten Geschichte der Region.<br />
So etwa die als Heldentaten interpretierten Verluste in<br />
Sewastopol und eine stark verkürzte Interpretation von Chruschtschows<br />
„Geschenk“. Aus Archivdokumenten geht hervor,<br />
dass der Anlass des 300. Jubiläums des Perejaslaw-Vertrags als<br />
Symbol slawischer Freundschaft die im letzten Moment eingebaute<br />
offizielle Begründung, nicht aber das Motiv für den Transfer<br />
war. Chruschtschow hatte die Idee bereits in den vierziger<br />
Jahren vergeblich mit Stalin diskutiert. 1953/1954 gewann<br />
das Projekt durch administrative Argumente für eine Anbindung<br />
der wirtschaftlich vernachlässigten Region an Kiew sowie<br />
Chruschtschows eigenes machtpolitisches Kalkül an Konturen.<br />
Die Legitimität dieser Entscheidung ist von russischen<br />
Politikern und prorussischen Kräften auf der Krim immer wieder<br />
bestritten worden.<br />
Doch die Krim verbindet sich auch mit anderen Identitäten.<br />
Für die Krimtataren ist die Halbinsel ihre nationale Heimat.<br />
Darüber hinaus weisen Meinungsumfragen immer wieder<br />
auf die Existenz einer regionalen Krimidentität hin, die über<br />
ethnische, linguistische und politische Kategorien hinausgeht.<br />
Der jüngsten Volksumfrage von 2001 zufolge definierten sich<br />
58 Prozent der Krimbevölkerung als Russen, 24 Prozent als<br />
Ukrainer, und 12 Prozent als Krimtataren. Eine Mehrheit der<br />
Ukrainer gab Russisch als ihre Muttersprache an.<br />
Diese Zahlen und das offizielle Referendumergebnis sagen<br />
aber wenig über die tatsächliche Stimmung aus. Die jüngere<br />
Generation der slawischen Bevölkerung ist sich der Besonderheiten<br />
der Krim bewusst, aber im ukrainischen Staat aufgewachsen.<br />
Darüber hinaus ist eine kulturelle Affinität zu Russland<br />
nicht unbedingt mit einer Zustimmung für das politische<br />
System Russlands gleichzusetzen. Die Krimtataren, deren Zahl<br />
inzwischen auf etwa 13 Prozent gestiegen ist, waren bisher eine<br />
geeinte politische Kraft. Nach dem Referendum werden diese<br />
Einheit, ihre traditionell skeptische Haltung gegenüber Moskau<br />
und die Mittel, mit denen sie für ihre Rechte kämpfen, getestet.<br />
Sie werden damit zum wichtigsten regionalen Akteur mit<br />
Einfluss auf die regionale Stabilität und Putins nächste Schritte.<br />
Moskau kann sich eine Destabilisierung der Region nicht leisten<br />
und wird im Falle einer Mobilisierung der Krimtataren eher zu<br />
Verhandlungen über den Krimstatus bereit sein.<br />
Der ukrainische Staat sieht schwächer aus, als er eigentlich<br />
ist. Bedenkt man, dass die Ukraine in den heutigen Grenzen<br />
erst seit 1991 als unabhängiger Staat besteht, der die gewaltsamen<br />
und autoritären Exzesse Russlands vermieden und<br />
einen ersten Konflikt auf der Krim Mitte der neunziger Jahre<br />
entschärft hat, dann ist das ein Erfolg. Krisensituationen bieten<br />
auch Möglichkeiten für Reform. In der Ukraine gibt es nun<br />
die Chance einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen<br />
dem Zentrum und den Regionen – mit oder ohne die Krim.<br />
Der Ausbau föderaler Elemente ist denkbar: Die bislang von<br />
Kiew ernannten regionalen Gouverneure könnten gewählt werden.<br />
Ironischerweise könnte ein dezentralisiertes oder föderales<br />
Staatsmodell die Ukraine intern stärken und sie vor weiteren<br />
russischen Interventionen schützen.<br />
GWENDOLYN SASSE unterrichtet an der Oxford University.<br />
Von der Politologin und Ukraine-Expertin erschien<br />
„The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict“.<br />
Sie weist auf die zentrale Rolle der Krim tataren hin und<br />
sieht in der gegen wärtigen Krise auch eine Chance<br />
59<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Interview<br />
„ES GIBT IMMER<br />
LEUTE, DIE DIE HOSEN<br />
VOLLHABEN“<br />
Die Europäische Union darf in der<br />
Auseinandersetzung mit Putin nicht in Angst<br />
erstarren, warnt der frühere tschechische<br />
Außenminister Karel Schwarzenberg<br />
60<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein; Foto: Dirk Bleicker/Caro Photo Agency [M]<br />
Herr Schwarzenberg, am 16. März wurde<br />
auf der Krim für den Beitritt zu Russland<br />
abgestimmt. Die Urnen waren<br />
durchsichtig, die Stimmzettel nicht einmal<br />
in Kuverts gesteckt.<br />
Karel Schwarzenberg: Diese Abstimmung<br />
ist in etwa so wertvoll wie<br />
jene Volksabstimmung im April 1938 in<br />
Österreich, die den Einmarsch der deutschen<br />
Armee und die Machtübernahme<br />
Adolf Hitlers in Österreich im Nachhinein<br />
für gut und richtig erklären sollte.<br />
Das ist aus demselben historischen Rezeptbuch<br />
genommen. Als hätte Putin ein<br />
Kopiergerät dabeigehabt und mal schnell<br />
bei Hitler nachgeschlagen.<br />
Passt der Vergleich zwischen Hitler und<br />
Putin wirklich?<br />
Nein, die beiden sind natürlich sehr<br />
verschieden. Aber auch unterschiedliche<br />
Persönlichkeiten können die gleichen Instrumente<br />
verwenden. Die gleiche Axt<br />
kann von einem Mönch oder einem<br />
besoffenen Holzhauer benutzt werden.<br />
Hitler führte damals einen aggressiven<br />
Expansionskrieg, Putin hat die Wiederherstellung<br />
seiner Vorstellung eines<br />
Großrusslands vor Augen.<br />
Man muss Putin nur genau zuhören.<br />
Er hat selbst gesagt, dass er den Zerfall<br />
der Sowjetunion für die größte geopolitische<br />
Katastrophe des 20. Jahrhunderts<br />
hält. Welch ein kühner Vergleich. Immerhin<br />
hat es in diesem Jahrhundert zwei<br />
Weltkriege gegeben. Aber so tickt er. Er<br />
hat das Ende seines Reiches nicht verwunden.<br />
Weit schlimmer, auch die Einheit der<br />
osteuropäischen Länder, der sogenannte<br />
„Ostblock“, liegt für ihn in Trümmern. Die<br />
Krim scheint nun einverleibt. Weißrussland<br />
ist selbstständig, wird aber langsam<br />
angekettet. Die Ukraine ist noch selbstständig,<br />
das war für ihn schon immer unausstehlich,<br />
und das wird es auch weiter<br />
bleiben. Sein erstes Ziel war es immer,<br />
dass diese Länder wieder Teil Russlands<br />
sind, dass die ehemaligen Länder der Sowjetunion<br />
die natürliche Hegemonialstellung<br />
Moskaus wieder anerkennen und<br />
dass der Westen am Ende begreift, dass<br />
das seine Interessensphäre ist.<br />
Wie weit geht dieser Anspruch?<br />
Überall dort, wo im Jahr 1945 ein<br />
russischer Soldat stand, ist für Putin<br />
russische Interessensphäre. Ich erinnere<br />
mich gut an ein Erlebnis mit dem russischen<br />
Außenminister Sergei Lawrow aus<br />
der Zeit, als die Tschechische Republik<br />
den EU-Vorsitz hatte. Wir flogen nach<br />
Moskau zu einer dieser rituellen diplomatischen<br />
Begegnungen, haben äußerst<br />
korrekt in einer guten Atmosphäre unsere<br />
Termine absolviert, bis es zur Pressekonferenz<br />
kam. Als erfahrener Politiker<br />
merkt man sofort, wenn bei so einem<br />
Anlass eine Frage bestellt wurde. Siehe<br />
da, ein liebes Mädchen stand auf und<br />
fragte, ob es tatsächlich ernst gemeint<br />
sei, dass Mittelstreckenraketen in Kaliningrad<br />
aufgebaut werden, wenn in der<br />
Tschechischen Republik Radarstationen<br />
für ein US-Raketenschutzschild aufgestellt<br />
werden sollen. Lawrow antwortete,<br />
wenn eine solche Anlage in Osteuropa<br />
aufgestellt würde, sei das tatsächlich eine<br />
Provokation, dann würden Raketen nach<br />
Kaliningrad kommen. Wörtlich, in Osteuropa!<br />
Worauf ich mir erlaubte anzumerken,<br />
dass es von Prag zum Ärmelkanal<br />
wesentlich näher sei als zum Ural,<br />
Karel Schwarzenberg<br />
war zwei Mal Außenminister der<br />
Tschechischen Republik. Der<br />
liberal-konservative Politiker ist<br />
derzeit Chef des außenpolitischen<br />
Ausschusses des<br />
tschechischen Abgeordnetenhauses.<br />
Der 76-Jährige<br />
engagierte sich zeit seines<br />
Lebens gegen den Kommunismus<br />
und unterstützte Dissidenten<br />
im ehemaligen Ostblock<br />
wir also nicht Osteuropa, sondern bestenfalls<br />
Mittel-, aber eigentlich Westeuropa<br />
sind. Lawrow blickte mich siegreich an<br />
und sagte: ,Nein, ihr gehört in den Vereinten<br />
Nationen zur Gruppe der osteuropäischen<br />
Staaten, ihr seid Osteuropa.‘<br />
Das ist die Moskauer Sichtweise. Du gehörst<br />
in mein Tascherl. Punkt.<br />
Aber kann man Putins Aggression auf<br />
der Krim nicht auch als ein Zeichen von<br />
Schwäche interpretieren?<br />
Insofern ja, da sich ein Autokrat immer<br />
beweisen muss. Wenn der Wohlstand<br />
im Land nicht steigt, die Wirtschaft stagniert,<br />
muss er außenpolitische Erfolge<br />
vorzeigen. Die Krim-Sache ist zweifellos<br />
ein solcher. Ohne Aggression funktionieren<br />
solche Herrscher eben nicht.<br />
Stehen wir vor einem neuen kalten<br />
Krieg?<br />
Die Situation kann sich zu einem kalten<br />
Krieg entwickeln, wobei mir ein kalter<br />
Krieg immer lieber ist als ein heißer.<br />
Wir stehen definitiv vor einer Frostperiode.<br />
Die Krim ist ein beträchtliches Stück<br />
Land, Putin hat einen klaren territorialen<br />
Angriff unternommen, im Widerspruch<br />
zu allen völkerrechtlichen Bestimmungen<br />
der Vereinten Nationen und internationaler<br />
Abkommen.<br />
Welche Rolle soll Europa in diesem Konflikt<br />
weiter spielen?<br />
Ich kann nur hoffen, dass wir einig<br />
bleiben, einen festen Standpunkt<br />
einnehmen und uns engstens mit den<br />
Vereinigten Staaten koordinieren, um<br />
die notwendigen Maßnahmen zu treffen.<br />
Wirtschaftliche Sanktionen sind für<br />
mich unausweichlich. Und zwar solche,<br />
die wehtun. Es gibt verschiedene Varianten,<br />
manche sind nicht sehr effektiv.<br />
Aber wie das Beispiel Iran zeigt, gibt es<br />
solche, die wirklich beißen. Wenn Europa<br />
in diesem Punkt hart bleibt, handelt<br />
es richtig. Das ist für mich die entscheidende<br />
Frage. Die EU ist schließlich<br />
immer noch eine der größten Wirtschaftsmächte<br />
der Welt. Natürlich kann<br />
Russland uns wehtun. Öl und Gas werden<br />
teurer werden, die Russlandexporte<br />
zurückgehen. Aber Freiheit kriegt man<br />
nie umsonst, für Freiheit muss man Opfer<br />
bringen. Appeasement ist nicht das<br />
Gebot der Stunde. Auch wenn es immer<br />
61<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Interview<br />
genügend Leute gibt, die die Hosen vollhaben<br />
und irgendwelche Ausreden gegen<br />
noch härtere Sanktionen suchen.<br />
Die osteuropäischen EU-Mitglieder und<br />
die westlichen scheinen sehr unterschiedliche<br />
Ansichten über Russland<br />
zu haben – woher rührt das?<br />
Das ist ganz einfach. Die einen haben<br />
die Erfahrungen mit der Herrschaft<br />
von Moskau, die anderen nicht. Das erzeugt<br />
eine unterschiedliche Sicht auf die<br />
Dinge. So lange ist die Zeit der russischen<br />
Dominanz noch nicht her, und wir haben<br />
das noch nicht vergessen.<br />
Sind die Osteuropäer inzwischen die<br />
überzeugteren Europäer?<br />
Nein, das würde ich nicht behaupten.<br />
Sie wissen nur, dass man Europa verteidigen<br />
muss. Dass Europa keine Selbstverständlichkeit<br />
ist. Wenn man Aggressionen<br />
nachgibt, wird man von diesen abhängig.<br />
Der ehemalige US-Außenminister Henry<br />
Kissinger hat unlängst dafür plädiert,<br />
den Krim-Konflikt nicht auf die Spitze<br />
zu treiben. Für die Ukraine gäbe es kein<br />
Entweder-Oder, Ost oder West, sondern<br />
sie wird immer ein Brückenstaat sein.<br />
Kissinger nennt Finnland als mögliches<br />
Zukunftsmodell für die Ukraine.<br />
Es wird immer eine Sonderbeziehung<br />
zwischen der Ukraine und Russland geben<br />
– allein aufgrund der Ähnlichkeit<br />
der Sprache. Sie ist kein Land, das sich<br />
100-prozentig nach Westeuropa orientieren<br />
wird können. Was wir aber nicht<br />
zulassen dürfen, ist, dass ein Staat von<br />
seinem Nachbarstaat erpresst und tyrannisiert<br />
wird. Diese besondere Beziehung<br />
der Ukraine zu Moskau lässt sich vielleicht<br />
auch mit der „besonderen Beziehung“<br />
vergleichen, die Großbritannien mit den<br />
Vereinigten Staaten hat. Oder eben mit<br />
Finnland. Ich kann mir vorstellen, dass die<br />
Ukraine kein Nato-Mitglied wird. Aber es<br />
ist unbedingt notwendig, dass sie EU-Mitglied<br />
wird, sonst gelingt der wirtschaftliche<br />
Aufbau nicht. Auch wenn es Jahre<br />
dauern kann. Sollte sich Russland aus der<br />
Krim zurückziehen, würde ich diese Perspektive<br />
für die Ukraine befürworten.<br />
Sie gehen aber offensichtlich nicht davon<br />
aus, dass Putin die Krim wieder<br />
hergibt.<br />
„ Es gibt seit dem<br />
18. Jahrhundert<br />
so etwas wie<br />
eine sadomasochistische<br />
Liebe zwischen<br />
Russland und<br />
Deutschland “<br />
Überhaupt nicht. Was ich gefressen<br />
habe, das behalte ich. Die Krim der<br />
Zukunft wird sich vielleicht autonome<br />
Republik nennen dürfen, so wie Südossetien.<br />
Aber wir wissen, was das de facto<br />
heißt. Die Welt ist eben kein Rosengarten.<br />
Gibt es für Deutschland eine eigene<br />
Rolle in dieser, wie Sie es nennen, neuen<br />
Frostperiode gegenüber Moskau?<br />
Deutschland ist in einer schwierigen<br />
Lage. Es ist das europäische Land, das die<br />
intensivsten Beziehungen zu Russland<br />
hat. Es gibt ja seit dem 18. Jahrhundert so<br />
etwas wie eine sadomasochistische Liebe<br />
zwischen Russland und Deutschland. Sie<br />
haben sich beide einige Mal versucht gegenseitig<br />
umzubringen und lieben sich<br />
seitdem heiß. Ein Axiom der deutschen<br />
Außenpolitik war immer, gute Beziehungen<br />
zu Russland zu haben. Das hat es<br />
schon unter Bismarck gegeben, das sollten<br />
wir nicht vergessen. Die Geschäftsinteressen<br />
sind wirklich sehr beträchtlich.<br />
Und bekanntermaßen ist Putins ganzer<br />
Stolz, dass er recht gut Deutsch spricht.<br />
Erfüllt Merkel ihre Rolle?<br />
Weil sie in der DDR aufgewachsen ist,<br />
tut sie sich in manchen Dingen leichter.<br />
Sie hat sicher ein besseres Verständnis<br />
für andere Politiker, die ebenfalls in den<br />
Warschauer-Pakt-Staaten aufgewachsen<br />
sind – und bei den Russen. Sie kann auch<br />
Russisch, wie jeder, der in dieser Generation<br />
in der DDR in die Schule gegangen<br />
ist. Ich glaube, sie ist Russland gegenüber<br />
etwas härter als ihr Außenminister. Aber<br />
auch sie war immer eher dazu geneigt,<br />
das besondere Verhältnis zu pflegen. Sie<br />
sieht aber ein, dass jetzt der Moment gekommen<br />
ist, in dem man hart bleiben<br />
muss. Sie sieht die Sowjetunion realistisch.<br />
Sie unterschätzt sie nicht, aber sie<br />
kennt auch ihre Schwächen. Ich denke,<br />
sie ist da relativ nüchtern.<br />
Kommen wir zur Ukraine zurück. Sehen<br />
Sie eine Art ukrainischen Václav<br />
Havel, also eine Integrationsfigur bei<br />
den oppositionellen Kräften, die das<br />
Land durch die nächsten Jahre führen<br />
könnte?<br />
Es gibt derzeit leider niemanden, der<br />
so integrativ wirkt, wie Havel es konnte.<br />
Am meisten konzentrieren sich die Hoffnungen<br />
jetzt auf Wladimir Klitschko.<br />
Aber ob er das Talent hat, alle anzuziehen,<br />
ist mir noch nicht klar. Die Ukraine<br />
litt leider immer unter den internen Streitigkeiten<br />
ihrer Eliten.<br />
Sie haben sich klar für harte Sanktionen<br />
ausgesprochen, die Europa auch Geld<br />
kosten werden. Wie lange wird die Bevölkerung,<br />
in Zeiten der Wirtschaftskrise,<br />
das mittragen?<br />
Wie ich schon sagte, Freiheit gibt<br />
es nicht umsonst. Europa muss Geld in<br />
die Hand nehmen und die Ukraine jetzt<br />
unterstützen – und zwar mit ordentlichen<br />
Summen. Nicht kleckern, sondern<br />
klotzen! Die Russen haben die Ukraine<br />
wirtschaftlich ja bewusst zugrunde gerichtet.<br />
Erst unlängst haben sie erklärt,<br />
den Gaspreis um 40 Prozent zu erhöhen.<br />
Was bitte ist da schon die Wirtschaftskrise?<br />
Wann immer ich durch Deutschland<br />
oder Österreich fahre, sehe ich unzählige<br />
neue BMWs und andere große<br />
Autos. Wir leben ja nicht wie in den dreißiger<br />
Jahren. Wir haben eine steigende<br />
Arbeitslosigkeit, aber die Hungrigen stehen<br />
nicht am Straßenrand. So arg ist es<br />
noch nicht. Das muss es uns einfach wert<br />
sein. Sonst sind wir international abgeschrieben,<br />
und die Vereinigten Staaten<br />
würden mit Recht sagen: Wir ziehen uns<br />
zurück, macht es selber.<br />
Das Gespräch führte BARBARA TÓTH<br />
62<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
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WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
KINDERSPIEL<br />
KRIEG<br />
Fotos ORIOL SEGON TORRA<br />
Marschieren, strammstehen, schießen. In einem<br />
Feriencamp nahe Budapest werden Jungen gedrillt.<br />
Die Trainingslager sind ausgebucht. Einblicke in die<br />
ungarische Gesellschaft, die sich mehr und mehr<br />
militarisiert<br />
64<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Ist es Entsetzen oder Erschöpfung?<br />
Starr blicken die Jungen nach einer<br />
Übung mit Gasmasken ins Leere
Faszination der Waffen: Neben echten<br />
Pistolen zeigt Feldwebel Balla auch eigens<br />
für das Camp hergestellte Imitationen.<br />
Die Jungen im Militärcamp Mogyoród sind<br />
zwischen 12 und 18 Jahren alt
Wie im echten Manöver wird auch<br />
in den Wäldern im Norden<br />
Budapests in Uniform und mit<br />
Waffe das Heranpirschen an den<br />
„Feind“ geübt
Gewehr im Anschlag. Die Kinder<br />
werden hart gedrillt. Laden, zielen,<br />
schießen. Feldwebel Bass erklärt<br />
ihnen die Fertigkeiten, die ein<br />
Soldat im Krieg braucht
WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
Hinter Sandsäcken verschanzt sich<br />
einer der „Kombattanten“ während<br />
des simulierten Gefechts<br />
Es nennt sich „komplexe taktische Übung“:<br />
Mit echten Waffen, echter Artillerie, echten<br />
Panzern und angezogen wie echte<br />
kämpfende Soldaten greifen die Kinder und<br />
Jugendlichen eine stillgelegte Raketenbasis an.<br />
Nur die Munition besteht aus Platzpatronen<br />
und Pyrotechnik.<br />
Die Übung ist der Höhepunkt des einwöchigen<br />
Trainingslagers in Mogyoród in der<br />
Nähe von Budapest. Da haben die Teilnehmer,<br />
angeleitet von echten Armeeausbildern, bereits<br />
einen „militärischen Grundlehrgang“ abgeschlossen<br />
– mit Exerzieren, Gelände-, Tarnund<br />
Alarmübungen, Nahkampf, Granatwurf,<br />
Gasangriff und Scharfschießen.<br />
„Militärausbildung und Kriegsspiel für 12-<br />
bis 18-Jährige“ – angeboten wird das vom ungarischen<br />
„Veteranenverein für Militärtraditionen“,<br />
dem VKH Egyesület. Den Kindern<br />
verspricht der Verein „unvergessliche Erlebnisse“,<br />
den Eltern die Erziehungsziele „Ehrfurcht,<br />
Demut, Disziplin und gute Ausbildung“.<br />
Vereinsgründer und Leiter der Trainingslager<br />
ist Zsolt Horváth, 50, ein ehemaliger Ingenieur<br />
für Militärtechnik und nach eigenem<br />
Bekunden ein „Waffen- und Militärgerätenarr“.<br />
Seit 2006 finden jährlich vier bis fünf Trainingslager<br />
statt, die ungarische Armee stellt Ausbilder<br />
und Technik zur Verfügung. „Wir verstehen<br />
uns als Berufswegweiser für Kinder<br />
72<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Bevor die Kinder Uniformen und Waffen –<br />
etwa alte Kalaschnikows mit Platz patronen –<br />
erhalten, müssen sie strammstehen<br />
Fotos: Oriol Segon Torra/Echo Agency (Seiten 64 bis 73)<br />
und Jugendliche“, sagt Horváth. „Die Wehrpflicht<br />
wurde 2005 abgeschafft, aber die Armee<br />
braucht ja Nachwuchs. Natürlich ist Krieg<br />
verurteilenswert, aber der Frieden hat zahlreiche<br />
Voraussetzungen. Wir bieten eine Freizeitgestaltung<br />
für Kinder an, die als Erwachsene<br />
etwas für ihre Heimat tun möchten.“<br />
Horváth ist in Ungarn kein Exot. Seine<br />
Trainingslager sind ausgebucht. Auch das Verteidigungsministerium<br />
und die Armee veranstalten<br />
an Ober-, Berufs- und Fachschulen ein<br />
beliebtes militärisches Lehrprogramm. Überhaupt<br />
findet in Ungarn vor dem Hintergrund<br />
eines gescheiterten Transformationsprozesses,<br />
der Millionen Verlierer hervorgebracht hat, eine<br />
Militarisierung der Gesellschaft und des Staates<br />
statt. Zehntausende Ungarn leisten Dienst<br />
in sogenannten „Bürgerwehren“, einer freiwilligen<br />
kommunalen Ersatzpolizei. Paramilitärische<br />
rechtsextreme Gruppierungen wie die „Ungarische<br />
Garde“ haben trotz Verbots Zulauf. Die Orbán-Regierung<br />
verschärfte das Strafgesetzbuch<br />
und erweiterte die Palette staatlicher Sanktionsmöglichkeiten<br />
im Sozial- und Bildungsbereich.<br />
Zsolt Horváth will sich zu solchen Themen<br />
nicht äußern. „Wir unterstützen keinerlei politische<br />
Ideen oder Parteien“, sagt er. „Wir wollen<br />
auch nicht, dass alle Soldaten werden. Wir<br />
wollen nur, dass man in Ungarn wieder lernt,<br />
Ordnung zu halten.“ KENO VERSECK<br />
73<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Interview<br />
„DIE QUEEN BLEIBT UNSER<br />
STAATSOBERHAUPT“<br />
Ohne England würde Schottland viel besser dastehen. Davon ist<br />
Alex Salmond überzeugt und treibt die Unabhängigkeit voran<br />
32 Jahren tragen wir mehr zum britischen<br />
Haushalt bei als jeder andere Teil<br />
des Königreichs. Wenn wir unabhängig<br />
werden, dann unter glücklicheren Vorzeichen<br />
als je eine andere Nation. Unser<br />
Bruttoinlandsprodukt liegt nur knapp<br />
unter dem Neuseelands. Selbst die Ratingagentur<br />
Standard & Poor’s hat zugegeben,<br />
dass trotz aller Sorgen des Finanzsektors<br />
und trotz aller Kritik aus<br />
Westminster unser Alleingang nicht einfach,<br />
aber auch nicht unmöglich ist. Wir<br />
haben eine reiche, diversifizierte Wirtschaft,<br />
transparente Institutionen, einen<br />
flexiblen Arbeitsmarkt und hochwertiges<br />
Bildungskapital. Bei einer Unabhängigkeit<br />
2016 ist unsere finanzielle Lage stabiler<br />
als die des Vereinigten Königreichs.<br />
Am 18. September stehen die Schotten<br />
vor einer historischen Entscheidung.<br />
In einem Referendum können<br />
sie sich lossagen von dem Vereinigten<br />
Königreich Großbritannien – einer Einheit,<br />
die 1603 durch die Thronbesteigung<br />
von James I. Stuart begonnen und<br />
gut 100 Jahre später unter Queen Anne<br />
durch „The Acts of Union“ zementiert<br />
wurde. Alex Salmond, 59, Erster Minister<br />
Schottlands, Vorsitzender der in<br />
Edinburgh regierenden Scottish National<br />
Party und ein sehr witziger, geistvoller<br />
und charismatischer Mann, führt<br />
einen bitteren Kampf gegen die Elite<br />
von Westminster.<br />
Herr Salmond, kann es wirklich ein<br />
unabhängiges Schottland geben? Sie<br />
müssten Schätzungen zufolge Streichungen<br />
und Steuererhöhungen von<br />
bis zu 4,6 Milliarden Pfund im Jahr<br />
vornehmen.<br />
Alex Salmond: Es geht nicht darum,<br />
ob es die Unabhängigkeit geben kann,<br />
sondern ob es sie geben soll. Meine Antwort<br />
ist in jeder Hinsicht: Ja. Die Unabhängigkeit<br />
würde dem demokratischen<br />
Defizit in Schottland ein Ende bereiten.<br />
62 Prozent aller Schotten vertrauen unserer<br />
Politik verglichen mit nur 31 Prozent<br />
aller Briten und Westminster. Seit<br />
Standard & Poor‘s bindet diese Aussage<br />
aber zum großen Teil an eine Währungsunion<br />
mit England und Wales. Diese<br />
Union schlagen auch Sie vor, neben einer<br />
monarchischen und sozialen Union.<br />
Ist das eine Unabhängigkeit à la carte?<br />
Die Queen wird unser Staatsoberhaupt<br />
bleiben. Unsere sozialen Verbindungen<br />
bleiben bestehen. Ja, derzeit<br />
wollen alle drei Parteien in Westminster<br />
uns das Pfund verweigern. Auf welcher<br />
Basis? Es ist auch unsere Währung,<br />
nicht nur die ihre. Die Rede des<br />
britischen Finanzministers George Osborne<br />
– The Sermon on the Pound (Die<br />
Predigt auf das Pfund) – wird sich als<br />
schwerwiegender Fehler für ihn herausstellen.<br />
Er bezeichnet darin Schottland<br />
als „fremdes Land“, sollten wir uns für<br />
die Unabhängigkeit entscheiden. Wir<br />
werden aber nie Fremde sein – wir sind<br />
hundertfach miteinander verbunden:<br />
durch Familie und Freundschaft; Handel<br />
und Wirtschaft; Geschichte und<br />
Kultur. Diese Faktoren nehmen keine<br />
Foto: Murdo MacLeod<br />
74<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Befehle aus Westminster entgegen. In<br />
Wahrheit wird ein starkes, unabhängiges<br />
Schottland dem Vereinigten Königreich<br />
zugutekommen. Die Haltung der<br />
regierenden Elite hier ist so antiquiert<br />
wie unannehmbar. Für sie ist der Schotte<br />
der Geringste unter Gleichen.<br />
Wie sähe es mit der Mitgliedschaft des<br />
unabhängigen Schottlands in der Europäischen<br />
Union und der Eurozone<br />
aus? EU-Präsident José Manuel Barroso<br />
nennt sie „schwierig, wenn nicht<br />
unmöglich“.<br />
Eine Mitgliedschaft in der EU ist in<br />
unserem besten Interesse. Wo bitte steht<br />
es in den Statuten der EU geschrieben,<br />
dass über fünf Millionen Mitglieder von<br />
einem Tag auf den anderen auf die Straße<br />
gesetzt werden können? Auch Barrosos<br />
Worte sind mittlerweile als „inakzeptabel“<br />
kritisiert worden. Ich nenne es<br />
den „Barroso-Backlash“ (Alex Salmond<br />
lacht). Ein unabhängiges Schottland wird<br />
jedoch kein Mitglied der Eurozone sein.<br />
Was genau also bringt eine Unabhängigkeit<br />
den Schotten?<br />
Die Wahl am 18. September ist vor<br />
allen Dingen die Wahl zwischen zwei<br />
möglichen Formen der Zukunft. In der<br />
einen Zukunft geht alles so weiter wie<br />
bisher: Das Vereinigte Königreich gerät<br />
immer mehr aus dem Gleichgewicht.<br />
London ist wie ein schwarzes Loch, das<br />
Ressourcen, Talente, Energie aufsaugt<br />
und alles andere desolat zurücklässt. Die<br />
andere Zukunft erlaubt es uns, ein besseres<br />
Land zu formen. Wir wären ein neuer<br />
Nordstern, gerade auch für unsere Nachbarn<br />
im Norden Europas.<br />
Wie genau müssen wir uns diesen<br />
„Nordstern“ vorstellen?<br />
Schottland würde endlich von all<br />
dem profitieren, was es generiert, und<br />
eine Politik schaffen, die auf das Land<br />
zugeschnitten ist. Schottische Steuern<br />
verschwinden auf Nimmerwiedersehen<br />
in Westminster. Für grundlegende Verbesserungen<br />
der Infrastruktur wurden<br />
zum Beispiel in London 2600 Pfund<br />
pro Einwohner aufgebracht. Im Nordosten<br />
der Insel aber nur 5 Pfund. 5 Pfund!<br />
Die Maßnahmen der Koalition sind nicht<br />
für uns bestimmt, aber wir leiden darunter:<br />
In den achtziger Jahren mit der<br />
„Eine<br />
Mitgliedschaft<br />
in der EU ist in<br />
unserem besten<br />
Interesse“<br />
„Poll Tax“ und heute mit der „Bedroom<br />
Tax“ (ein Gesetz, das das Wohngeld limitiert,<br />
wenn ein Empfangsberechtigter ein<br />
überzähliges Schlafzimmer hat, Anm. d.<br />
Red.). Es ist auch kein Wunder: Im House<br />
of Parliament sitzt gerade mal ein einziger<br />
schottischer konservativer Abgeordneter!<br />
Das war bereits bei den vergangenen<br />
drei Regierungen so, davor gab<br />
es sogar keinen einzigen Abgeordneten.<br />
Wir weisen seit Generationen Westminster<br />
an der Wahlurne zurück. Schottland<br />
braucht grundlegende Reformen.<br />
Haben Sie ein Beispiel für diese<br />
Reformen?<br />
Zum einen möchte ich die Zahl berufstätiger<br />
Frauen durch eine radikale<br />
Reform der Kinderbetreuung steigern –<br />
derzeit zahlen Eltern in Großbritannien<br />
mehr für diese als irgendwo sonst in der<br />
Europäischen Union. Schon heute arbeiten<br />
mehr schottische Frauen als in England,<br />
Nordirland oder Wales. Mein Ziel<br />
aber sind schwedische Verhältnisse, was<br />
pro Jahr etwa 700 Millionen Pfund Steuergelder<br />
generieren würde. 700 Millionen<br />
Pfund, die nicht nach Westminster<br />
fließen, sondern in Edinburgh bleiben.<br />
Gleichzeitig möchte ich nach dem Beispiel<br />
Irlands die Unternehmenssteuer<br />
wie auch die Abgaben auf internationale<br />
Flüge senken. Insgesamt soll der<br />
Arbeitsmarkt noch flexibler und attraktiver<br />
werden.<br />
Weshalb drängen Sie David Cameron zu<br />
einer TV-Debatte? Der hat Ihr Anliegen<br />
doch wiederholt abgelehnt.<br />
Der Premier hat mehrere Male versucht,<br />
das Terrain für die Debatte um die<br />
schottische Unabhängigkeit zu definieren,<br />
nun soll seine „Better Together“-<br />
Kampagne von rein wirtschaftlichen<br />
Argumenten auch noch die Köpfe und<br />
Herzen berühren. Aber er weigert sich,<br />
so viel demokratische Verantwortung zu<br />
übernehmen und sich mir in einer Debatte<br />
zu stellen. Westminster sieht sich<br />
als Dammbrecher: Cameron tut schön,<br />
ehe Osborne uns den Magenschwinger<br />
verpasst.<br />
Wie wird die Wahl am 18. September<br />
ausgehen? Bei den bisherigen Umfragen<br />
haben Sie seit September vergangenen<br />
Jahres pro Monat je einen Prozentpunkt<br />
zugelegt und liegen nun bei<br />
geschätzten 42 Prozent Ja-Stimmen.<br />
Bei dem Tempo würden Sie die notwendige<br />
Mehrheit verfehlen.<br />
Am Wahltag wird eine sehr andere<br />
Demografie an den Urnen vertreten sein.<br />
Dieses Referendum hat nichts mit einer<br />
normalen Wahl zu tun. Ganz Schottland,<br />
und ich meine ganz Schottland, wird auf<br />
den Beinen sein. Zum ersten Mal wird<br />
dieses Land über seine Zukunft frei entscheiden<br />
können. Es gibt auf dieser Welt<br />
keine absolute Souveränität. Aber es gibt<br />
den absolut magischen Moment, über<br />
sein Schicksal zu entscheiden (Salmond<br />
hat Tränen in den Augen). Glauben Sie<br />
mir: Mein Land wird so viel besser sein,<br />
wenn es stark und unabhängig ist. Um so<br />
unglaublich vieles besser!<br />
Alex Salmond bleiben noch knapp<br />
170 Tage, um die Schotten von seinem<br />
Anliegen zu überzeugen. Für die heiße<br />
Phase des Wahlkampfs hat die Scottish<br />
National Party 2,5 Millionen Pfund an<br />
Werbeetat zur Verfügung. Bei den Parlamentswahlen<br />
2011 sicherte sich Salmonds<br />
Partei nach zunächst enttäuschenden<br />
Umfrageergebnissen mit<br />
einem Monat leidenschaftlicher Kampagne<br />
die absolute Mehrheit. Auch die<br />
britischen Stars nehmen an der Debatte<br />
teil: Sean Connery beschwört die<br />
Schotten, für die Unabhängigkeit zu<br />
stimmen; während David Bowie seine<br />
Dankesreden bei Preisübergaben mit<br />
dem Slogan beendet: „Scotland, stay<br />
with us!“<br />
Das Gespräch führte ELLEN ALPSTEN<br />
75<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELTBÜHNE<br />
Analyse<br />
AUF<br />
HORCHPOSTEN<br />
Die Zeiten, in denen Spitzenpolitiker weltweit vertraulich telefonieren konnten,<br />
sind vorbei. Mit Indiskretionen wird längst harte Politik gemacht<br />
Von RICHARD HERZINGER<br />
Eine ganze Reihe von Telefon-Abhöraffären hat die internationale<br />
Politik erschüttert. Empörung über die<br />
Praxis, in den telekommunikativen Austausch von<br />
Politikern einzudringen, brandete in der deutschen<br />
Öffentlichkeit freilich nur im Falle des US-Geheimdiensts<br />
NSA auf. Dabei ist bisher nicht bekannt geworden, dass<br />
die NSA etwaige Geheimnisse,<br />
die sie durch das Anzapfen von<br />
Telefonleitungen hochrangiger<br />
Politiker wie Angela Merkel<br />
und Gerhard Schröder erfahren<br />
haben könnte, publik gemacht<br />
und zur öffentlichen Diskreditierung<br />
der Objekte ihrer Wissbegierde<br />
eingesetzt hätte.<br />
Anders verhält es sich mit<br />
dem russischen Geheimdienst.<br />
Er steckt höchstwahrscheinlich<br />
hinter zwei Lauschangriffen,<br />
die im Zusammenhang<br />
mit dem Konflikt um die Ukraine<br />
Schlagzeilen gemacht haben.<br />
Als Anfang Februar ein<br />
Mittschnitt aus einem Gespräch<br />
zwischen der Europaexpertin<br />
im US-Außenministerium, Victoria<br />
Nuland, und dem US-Botschafter<br />
in Kiew auftauchte, erregte<br />
sich hierzulande niemand<br />
über die Verletzung der Persönlichkeitsrechte<br />
der Beteiligten.<br />
Wenn führende amerikanische<br />
Politiker von ausländischen Geheimdiensten<br />
ausgespäht werden,<br />
wird dies kaum als anstößig<br />
empfunden, sondern nur, wenn ein US-Dienst dies seinerseits<br />
mit ausländischen, schon gar mit deutschen Politikern tut.<br />
Jedenfalls waren es nicht die Urheber dieser propagandistisch<br />
motivierten Indiskretion, es war deren Opfer, das sich<br />
wegen des illegal abgehörten Telefonats rechtfertigen und entschuldigen<br />
musste. Hatte Nuland darin doch ihrer Verärgerung<br />
über die Zögerlichkeit der Europäer im Umgang mit dem<br />
Janukowitsch-Regime durch eine drastische Wendung Luft gemacht:<br />
„Fuck the EU!“ Wobei Nuland mit diesem Kraftausdruck<br />
im Kontext des Gesprächs nicht mehr gemeint hatte als<br />
sinngemäß: „Mit der EU können wir eh nicht rechnen.“ Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel hielt es jedoch für angebracht, nicht<br />
etwa den Akt der Ausspähung der Politikerin und die mit der<br />
Veröffentlichung verbundene<br />
Absicht – Moskau wollte Keile<br />
zwischen USA und EU treiben<br />
–, sondern Nulands auf<br />
diese Weise bekannt gewordene<br />
Äußerung für „absolut<br />
inakzeptabel“ zu erklären.<br />
Einem ähnlichen Muster<br />
folgte im März, nach dem Sturz<br />
Janukowitschs, die Veröffentlichung<br />
einer abgehörten Gesprächspassage<br />
zwischen dem<br />
estnischen Außenminister Urmas<br />
Paet mit der EU-Außenbeauftragten<br />
Catherine Ashton.<br />
Darin berichtet Paet über<br />
ihm zugetragene Gerüchte,<br />
nach denen die Kugeln, mit<br />
denen über 40 Demonstranten<br />
der Maidan-Bewegung getötet<br />
worden waren, nicht von<br />
Scharfschützen des Regimes,<br />
sondern von denselben bewaffneten<br />
Oppositionellen stammten,<br />
die auf regime treue Polizisten<br />
gefeuert hatten. In den<br />
internationalen Medien las sich<br />
das dann so, als habe Paet die<br />
Schuld des Janukowitsch-Regimes<br />
an der Ermordung der Demonstranten von sich aus in Zweifel<br />
gezogen, statt solche Zweifel nur zu referieren.<br />
In der abgehörten Konversation wurde als angebliche<br />
Quelle der Gerüchte eine Ärztin erwähnt, die bei erschossenen<br />
Demonstranten und Polizisten dieselbe Art von Wunden<br />
festgestellt habe – was darauf hinweise, dass die Mörder derselben<br />
Tätergruppe angehört hätten. Als besagte Ärztin bestritt,<br />
Illustration: Jens Bonnke<br />
76<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
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WELTBÜHNE<br />
Analyse<br />
Derartiges jemals diagnostiziert und ausgesagt zu haben, löste<br />
sich die vermeintliche Enthüllung in Nichts auf. Irgendwie hängen<br />
blieb aber der diffuse Eindruck, der Westen verberge, in<br />
Komplizenschaft mit dem Maidan und der ukrainischen Übergangsregierung,<br />
ein düsteres Geheimnis – nämlich, dass die<br />
blutigen Übergriffe auf die Demonstranten von deren Anführern<br />
selbst inszeniert worden seien, um sie dem prorussischen<br />
Regime in die Schuhe zu schieben.<br />
Das Publikmachen des Telefonats fügte sich in die russische<br />
Propagandastrategie, die alles daransetzt, die siegreiche<br />
Demokratiebewegung in der Ukraine als Ausgeburt des „Faschismus“<br />
und den Westen als<br />
dessen heimlichen Steigbügelhalter<br />
zu diffamieren.<br />
In anderen Fällen, die für<br />
Turbulenzen sorgten, fällt die<br />
politische und moralische Bewertung<br />
der Spähpraxis nicht<br />
so leicht. Dient doch das Aushorchen<br />
des türkischen Ministerpräsidenten<br />
Recep Erdogan<br />
und des ehemaligen französischen<br />
Präsidenten Nicolas Sarkozy<br />
auf den ersten Blick einem<br />
hehren demokratischen<br />
Zweck: der Aufdeckung von<br />
Korruption an höchster politischer<br />
Stelle.<br />
Was Sarkozy betrifft, scheinen<br />
die ruchbar gewordenen<br />
Lauschattacken sogar legal gewesen<br />
zu sein. Wie es heißt,<br />
wurden sie im Rahmen staatsanwaltlicher<br />
Ermittlungen gegen<br />
den Ex-Präsidenten wegen<br />
des Verdachts verfügt, er habe<br />
sich seinen Wahlkampf 2007<br />
in Teilen von Libyens Diktator<br />
Muammar al Gaddafi finanzieren<br />
lassen – von eben<br />
jenem Despoten, zu dessen Sturz er später mittels der Entsendung<br />
französischer Kampfjets beitragen sollte. Mag die Überwachung<br />
Sarkozys, in deren monatelangem Verlauf sich Hinweise<br />
auf Amtsmissbrauch und Günstlingswirtschaft ergeben<br />
haben sollen, Recht und Gesetz entsprochen haben – auf die<br />
Lancierung dieser Verdachtsmomente an die Medien trifft das<br />
nicht zu. Sie folgte offensichtlich der interessengeleiteten Absicht,<br />
ein mögliches politisches Comeback des ehrgeizigen Ex-<br />
Staatschefs zu verhindern.<br />
Dass sich die bislang nicht erwiesenen Vorwürfe aber auf<br />
Aussagen aus einem Telefonat stützen, verleiht ihnen in der öffentlichen<br />
Wahrnehmung den Anschein vollendeter Tatsachen.<br />
Denn obwohl dank neuester Technik inzwischen potenziell jeder<br />
nahezu jede Telefonleitung anzapfen kann, umgibt das Telefonieren<br />
noch immer die Aura intimer Vertraulichkeit, in der<br />
die Beteiligten aus ihrem Innersten preisgeben, was sie sonst<br />
sorgsam in sich verschließen. Das fördert den Wunsch des Publikums,<br />
da einmal hineinzuhören und die Mitmenschen in ihrer<br />
ungeschminkten Authentizität auf die Schliche zu kommen –<br />
schon gar, wenn es sich um Politiker handelt, denen man mit<br />
Vorliebe ohnehin nur das Schlechteste zutraut.<br />
Umso erstaunlicher ist es, dass Politiker am Telefon noch<br />
immer so ungezwungen daherzuplaudern und finstere Pläne<br />
auszubreiten scheinen, als glaubten sie weiter fest an die Unverletzlichkeit<br />
des Telefongeheimnisses.<br />
Besonders drastisch eines Besseren belehren lassen musste<br />
sich in dieser Hinsicht jüngst der türkische Ministerpräsident.<br />
Von ihm gelangten gleich massenweise<br />
– verschlüsselte wie<br />
unverschlüsselte – Telefonate<br />
über ein klaffendes Sicherheitsleck<br />
im Telekommunikationssystem<br />
seiner Regierung<br />
an obskure Adressaten.<br />
Aber ist es denn nicht gut,<br />
wenn sich ein Mann wie Erdogan,<br />
der seinerseits im Begriff<br />
ist, die Demokratie in der<br />
Türkei seiner autoritären Willkür<br />
zu unterwerfen, auf diesem<br />
Wege gleichsam selbst als<br />
Kleptokrat und Manipulator der<br />
Justiz bloßstellt? Immerhin befeuern<br />
diese entlarvenden Audiodokumente<br />
die demokratischen<br />
Proteste in der Türkei.<br />
Freilich hat der Trend, das<br />
ungezügelte Ausspähen und<br />
Publizieren vertraulicher Telefonate<br />
zum akzeptierten Gewohnheitsrecht<br />
werden zu lassen,<br />
seinen Preis. Zuweilen mag<br />
es als Waffe demokratischer<br />
Aufklärung dienen. Es öffnet<br />
aber zugleich jeglicher Form<br />
von Manipulation und propagandistischer<br />
Irreführung der Öffentlichkeit durch staatliche<br />
Apparate wie durch anonyme Interessengruppen Tür und Tor.<br />
Dass der umfassende Zugriff auf die Kommunikation von<br />
Politikern diese auf Dauer zu moralischer Läuterung bewegen<br />
wird, darf jedenfalls bezweifelt werden. Eher wird diese die<br />
Aussicht, dem zeitgenössischen Ideal totaler Transparenz ausgeliefert<br />
zu sein, dazu anstacheln, ihrerseits avanciertere Formen<br />
der Geheimniskrämerei zu entwickeln.<br />
RICHARD HERZINGER ist Korrespondent für<br />
Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am<br />
Sonntag. Vertrauliche Gespräche führt er nur noch in<br />
abgelegenen Parks<br />
Illustration: Jens Bonnke; Foto: privat<br />
78<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
„ Wenn Carl Benz und<br />
seine Frau so kritisch<br />
rangegangen wären<br />
wie die Deutschen<br />
beim Fracking, hätten<br />
sie ihr Auto nie auf die<br />
Straße gekriegt “<br />
Günther Oettinger, der deutsche EU-Energiekommissar, kritisiert im Interview<br />
die Skepsis seiner Landsleute gegenüber der Schiefergasförderung, Seite 84<br />
79<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
PLÜSCHVOGELS HÖHENFLUG<br />
Brian Sullivan, Chef von Sky Deutschland, zeigt, dass man auch hierzulande mit Pay‐TV<br />
Geld verdienen kann. Wie das geht, lernte er als Maskottchen beim Baseball<br />
Von THOMAS SCHULER<br />
Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />
Brian Sullivan schließt die Augen.<br />
Man möge ihm die mittlere<br />
der drei Fernbedienungen geben,<br />
die auf dem Tisch in seinem Büro liegen.<br />
An der Wand hängen sieben Bildschirme.<br />
Sullivan streckt den rechten<br />
Arm in die Luft. „So, jetzt gehe ich ins<br />
Menü und schalte Sky ein.“ Er drückt,<br />
die Augen immer noch geschlossen, dreimal.<br />
Geschafft.<br />
Das ist seine Art, die Frage zu beantworten,<br />
wieso britische Journalisten ihm<br />
einst den Spitznamen Inspector Gadget<br />
verpasst haben. Geräte haben ihn schon<br />
immer fasziniert. Die Tastatur der Fernbedienung<br />
ließ er so anordnen, dass man<br />
sie blind bedienen kann.<br />
Es gibt noch eine Frage, die ihm dauernd<br />
gestellt wird: Was ist das Erfolgsgeheimnis,<br />
um Pay-TV in Deutschland<br />
profitabel zu machen? Die eine Antwort<br />
darauf gäbe es nicht, sagt er und erzählt<br />
lieber eine Anekdote: Während seines<br />
Studiums arbeitete er für das Baseball-<br />
Team Philadelphia Phillies. Laut Lebenslauf<br />
war er im Marketing, in Wirklichkeit<br />
war er Philli Phanatic, das Maskottchen<br />
des Teams. Als überlebensgroßer grüner<br />
Plüsch-Fantasievogel hüpfte er am Spielfeldrand<br />
auf und ab, umarmte Cheerleader,<br />
Spieler und Fans. „Dass ich an den<br />
Job kam, war purer Nepotismus“, sagt<br />
Sullivan, dessen Vater für das Rahmenprogramm<br />
im Stadion zuständig war.<br />
„Aber ich habe jede Minute geliebt.“ Er<br />
lernte, wie man Massen mit Sport unterhält.<br />
Nichts anderes macht er heute mit<br />
exklusiven Fußballübertragungen.<br />
Aber er macht noch mehr: „Fußball<br />
allein reicht nicht, der Erfolg hängt<br />
nicht an einem Detail, sondern an tausend<br />
Details.“ Bei Sky in München hat<br />
Sullivan den Kundenservice verbessert,<br />
einen Sportnachrichtensender gestartet,<br />
die Rechte für Fußball-Bundesliga und<br />
Champions League verlängert. Allein<br />
für die Bundesliga zahlt Sky jährlich fast<br />
eine halbe Milliarde Euro. Sullivan hat<br />
einen erfahrenen Programmchef geholt,<br />
der in den USA exklusive Film- und Fernsehrechte<br />
einkauft. Er hat mit SkyGo das<br />
eigene Programm auf mobile Endgeräte<br />
gebracht, um mehr jüngere Kunden zu<br />
erreichen. Die Maßnahmen machen sich<br />
bezahlt. Die Zahl der Abonnenten steigt<br />
stetig, seit Sullivans Antritt 2010 von 2,7<br />
auf jetzt 3,7 Millionen. Ende 2014 sollen<br />
es mehr als vier Millionen sein.<br />
DABEI GALT DEUTSCHLAND wegen des<br />
großen Angebots frei empfangbarer Sender<br />
bisher als aussichtsloser Markt für<br />
Pay-TV. 25 Jahre häuften Teleclub, Premiere<br />
und ihr Nachfolger Sky nichts als<br />
Verluste an. Nach Leo Kirchs Pleite investierte<br />
Rupert Murdoch einen Milliardenbetrag,<br />
aus Premiere wurde Sky. Es<br />
half zunächst wenig. Als Sullivan im Januar<br />
2010 nach München kam, verlor der<br />
Sender immer noch eine Million Euro –<br />
jeden Tag. Nun hat der 52-Jährige in seinem<br />
vierten Jahr erstmals geschafft, woran<br />
alle vor ihm gescheitert sind: einen<br />
operativen Jahresgewinn. 35 Millionen<br />
Euro sind zwar nicht viel, und das Wörtchen<br />
operativ ist wichtig, denn nach Abzug<br />
von Zinsen, Steuern und Abschreibungen<br />
gab es auch 2013 einen Verlust<br />
von 133 Millionen Euro. 2014 will Sullivan<br />
den operativen Gewinn auf 70 bis<br />
90 Millionen Euro fast verdreifachen.<br />
Obwohl Sullivan der Typ Manager<br />
ist, den schwierige Aufgaben eher motivieren,<br />
empfand er seinen Start in München<br />
als „beängstigend und einsam“. Er<br />
lebte im Hotel und pendelte zwischen<br />
München und London. „Meine Familie<br />
hat mir einfach gefehlt.“ Nicht nur zum<br />
Entspannen, sondern auch als Testkunden.<br />
Schon in London bei BSkyB wollte<br />
er eine neue Fernbedienung einführen.<br />
Zu Hause machte er einen Probelauf. Als<br />
sein Sohn abends weinend zu ihm kam,<br />
dachte Sullivan erst, es sei etwas Schlimmes<br />
passiert. Der Kleine heulte aber, weil<br />
er den Disney Channel nicht mehr finden<br />
konnte. Die Umstellung wurde gestoppt.<br />
Freund-Feind-Denken sei ihm fremd,<br />
sagen seine Mitarbeiter. Da passt es perfekt<br />
ins Bild, dass Sullivan die neue Konkurrenz<br />
der Online-Videoportale wie<br />
Watchver, Maxdome oder den US-Anbieter<br />
Netflix eher begrüßt als fürchtet.<br />
Er müsse den Deutschen dann nicht mehr<br />
alleine beibringen, fürs Fernsehen zu bezahlen,<br />
sagt Sullivan.<br />
Auch sonst kennt er keine Berührungsängste.<br />
Bei der Ehrung zum Medienmann<br />
des Jahres überraschte er das<br />
Publikum, als er in seiner Rede einen<br />
der Laudatoren lobte. Das Ungewöhnliche<br />
daran: Es handelte sich um Alan<br />
Rusbridger, den Chefredakteur des Guardian,<br />
dessen Enthüllungen Murdochs<br />
News Corporation in eine tiefe Krise gestürzt<br />
hatten. Sullivan bedankte sich bei<br />
Rusbridger dafür, dass der Guardian die<br />
Abhörpraktiken der NSA enthüllt und<br />
die Welt damit verbessert habe.<br />
Seinem obersten Chef Rupert<br />
Murdoch hat er davon wahrscheinlich<br />
nichts erzählt. Der zeigt sich aber „sehr<br />
zufrieden“ mit der Entwicklung von Sky<br />
Deutschland. Sullivans Vertragsverlängerung<br />
scheint eine reine Formsache zu<br />
sein. Er will auf jeden Fall weitermachen,<br />
weil er und seine Familie sich in München<br />
inzwischen sehr wohl fühlen und er noch<br />
da sein will, wenn Sky Deutschland auch<br />
unterm Strich Gewinn macht.<br />
THOMAS SCHULER ist freier Medien-<br />
Journalist in München. Einen seiner ersten<br />
Artikel schrieb er 1989 über den Start von<br />
Leo Kirchs Pay-TV-Sender Teleclub<br />
81<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
FÜR PÄPSTE UND BARBIESAMMLER<br />
Seine Luxusregale stehen im Vatikan und bei Ex-Kanzlern. Aber Buchliebhaber sterben<br />
aus und zwingen Jan Paschen, das Familienunternehmen neu zu erfinden<br />
Von FLORIAN FELIX WEYH<br />
Es muss schön sein, als Buch in einem<br />
Paschen-Regal zu landen! In<br />
ein Paschen-Regal wird man zwar<br />
geschoben, doch nie abgeschoben. Selbst<br />
missratene Romane und längst verglühte<br />
Pamphlete wirken zwischen edlen Regalhölzern<br />
wie Ikonen abendländischer<br />
Kultur.<br />
Das Wort Regal hörte man im westfälischen<br />
Wadersloh bei Paschen & Companie<br />
allerdings lange Zeit ungern. Selbst<br />
frei stehende Einzelstücke hießen firmenintern<br />
Bibliothek. Der Unterschied ist<br />
leicht zu merken: Regale tragen Vornamen<br />
(Billy oder Ivar), Bibliotheken für<br />
Liebhaber einen Nachnamen. Und zwar<br />
den des Familienunternehmens, das Carl<br />
Paschen 1883 gründete.<br />
„Wir sind extrem nischentreu“, erklärt<br />
Jan Paschen, der kaufmännische<br />
Geschäftsführer. Zusammen mit seinem<br />
Bruder Christian, der für Design und Produktion<br />
verantwortlich ist, hält er zwei<br />
Drittel der Firma. Der Rest gehört den<br />
vier jüngeren Geschwistern. Die Nische<br />
heißt freilich nicht mehr Zigarrenkisten<br />
aus Zedernholz, mit denen der Ururgroßvater<br />
einst begann, sondern Buchaufbewahrungskultur.<br />
Dazwischen offerierte<br />
der Mittelständler Wohnmöbel zwischen<br />
kleinbürgerlichem Muff und Popart-Kreischen,<br />
begleitet von einem seltsamen Ruf<br />
in der Branche: „Möbel-Hippie aus Wadersloh“<br />
nannte die Konkurrenz Günter<br />
Paschen, Jans und Christians Vater. Mehr<br />
noch als dessen Haarlänge trug dazu die<br />
in der konservativen Branche als landesverräterisch<br />
gewertete Parteinahme für<br />
Brandts Ostpolitik bei.<br />
Anfang der neunziger Jahre hatte<br />
Günter Paschen genug vom Massengeschäft.<br />
Als Mittfünfziger wollte er noch<br />
einmal richtig Herzblut in die Arbeit stecken;<br />
sein Thema waren Bücher. Strategisch<br />
war die väterliche Entscheidung<br />
keineswegs durchdacht. Oder wie Jan<br />
Paschen heute sagt: „Seine ganze Strategie<br />
bestand aus der Fokussierung.“ Die<br />
beiden ältesten Söhne halfen ihm beim<br />
Umbau des Unternehmens. Dabei hatten<br />
die beiden heutigen Chefs bis dahin gar<br />
nichts mit Bibliotheken zu tun gehabt.<br />
Jan hatte sich als Schlagzeuger in Berlin<br />
verdingt. Der gelernte Tischler und<br />
Bootsbauer Christian war mit Freunden<br />
um die Welt gesegelt.<br />
Gemeinsam warf man den ganzen<br />
kleinbürgerlichen Wohnzimmerkrempel<br />
über Bord, durchlitt eine ökonomisch<br />
schwierige Zeit und befriedigte danach<br />
für mehr als ein Jahrzehnt höchst erfolgreich<br />
die Kundensehnsüchte nach einem<br />
intellektuellen Wohnambiente, in dem<br />
man sich Thomas Mann beim Korrigieren<br />
seiner Romane vorstellen kann.<br />
WER WIE EX-PAPST BENEDIKT, Ex-Kanzler<br />
Gerhard Schröder oder TV-Literaturderwisch<br />
Denis Scheck etwas auf sich<br />
hält, leistet sich seither eine Paschen-Bibliothek.<br />
Auch wenn diese erheblich mehr<br />
kostet als die Regalmeter mit den schwedischen<br />
Vornamen. Allein: Die Umsatzkurve<br />
flacht ab. „In den vergangenen<br />
Jahren ist uns die bürgerliche Mitte weggebrochen“,<br />
gibt Jan Paschen zu.<br />
Dem E-Book will er dabei gar nicht<br />
die Schuld geben, es ist ein Generationswechsel,<br />
vielleicht sogar ein genereller<br />
Kulturbruch. Und wieder sind die Akteure<br />
bei Paschen um die 50, wieder muss<br />
etwas passieren, um das Familienunternehmen<br />
mit seinen 150 Angestellten in<br />
die sechste Generation hinüberzuretten.<br />
Momentan gleicht das kulturelle<br />
Imponiergehabe osteuropäischer Eliten<br />
in Russland und – ja! – der Ukraine die<br />
Umsatzdelle noch aus. „Das hat bis jetzt<br />
nicht abgenommen“, sagt Jan Paschen,<br />
rechnet aber dieses Jahr mit Einbußen.<br />
Aber bieten Regale nicht neutralen<br />
Stauraum? Jan Paschen ist hin- und hergerissen:<br />
Nicht nur sei die bürgerliche<br />
Mittelschicht dem Buch weniger zugeneigt<br />
als früher, sie „minimalisiere“ auch<br />
ihren Lebensstil: Weniger Dinge in entleerten<br />
Wohnräumen. Um ein weiteres<br />
Marktsegment für sich zu gewinnen, hat<br />
Paschen längst Vitrinen und Regalwände<br />
für Sammler aller Art im Angebot: Leica-<br />
Kameras, Porzellanfiguren, Barbiepuppen,<br />
wofür auch immer sich jemand entflammen<br />
mag.<br />
Will Paschen in einer Übergangsphase<br />
beide Zielgruppen ansprechen,<br />
muss ihm ein Spagat gelingen. Oberflächlich<br />
betrachtet, verkauft er Möbel, doch<br />
wettbewerbsfähig ist er nur dort, wo die<br />
mitgelieferte Aura den hohen Preis rechtfertigt.<br />
Für Sammler von Märklin-Loks<br />
oder Überraschungsei-Figuren muss ein<br />
solch wertsteigernder Glorienschein erst<br />
erfunden werden. Damit könnte Paschen<br />
Sammler von dem schrulligen Image befreien,<br />
das ihnen häufig anhängt – vor allem,<br />
wenn ihre Leidenschaft bisher fern<br />
aller kulturellen Akzeptanz lag.<br />
FLORIAN FELIX WEYH ist selbst Gegner<br />
übertriebenen Minimalisierens. Denn die<br />
Schönheit der Welt teilt sich ihm nur mit,<br />
wenn er die Dinge noch anfassen kann<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht haben?<br />
Den Mittelstand!<br />
<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />
einen mittelständischen<br />
Unternehmer vor.<br />
Die bisherigen Porträts<br />
finden Sie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Foto: Marcus Simaitis für <strong>Cicero</strong><br />
82<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
Interview<br />
„MAN HÖRT MEIN<br />
SCHWÄBISCH. UND?“<br />
Das Amt, auf das Angela Merkel ihn abschob, wurde sein Traumjob.<br />
EU-Energiekommissar Günther Oettinger über die englische<br />
Sprache und das russische Gas, über Fracking und Ökostrom – und<br />
den Bedarf der CDU an unbequemen Köpfen<br />
84<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Foto: Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong><br />
Herr Oettinger, Sie sind jetzt vier Jahre<br />
in Brüssel. Was machen eigentlich Ihre<br />
Sprachkenntnisse?<br />
Günther Oettinger: Französisch verstehe<br />
ich sehr gut. Smalltalk geht aktiv<br />
auch, aber ich spreche ansonsten hier in<br />
Brüssel mehr Deutsch und Englisch.<br />
Zu Beginn Ihrer Amtszeit gab es einen<br />
Videoclip von einer Rede, die Sie<br />
in einem etwas grobkörnigen Englisch<br />
hielten.<br />
Eine Veranstaltung in Berlin, ein<br />
paar Tage nach meiner Benennung.<br />
Das Video wurde fast so populär wie Edmund<br />
Stoibers Ausführungen zum Bau<br />
des Transrapids in München. Hat es Sie<br />
getroffen, verhohnepiepelt zu werden?<br />
Ich habe neun Jahre Latein gelernt,<br />
dann sechs Jahre Französisch und nur<br />
vier Jahre Englisch. Nach der Schule<br />
habe ich, außer wenn ich Jeans in New<br />
York eingekauft habe, das Englisch nicht<br />
wirklich gebraucht. Wenn Briten oder<br />
Amerikaner nach Stuttgart kamen, hat<br />
man mit Dolmetscher gearbeitet, auch<br />
aus Gründen der Präzision bei Fachbegriffen.<br />
Das heißt: Ich hatte praktisch<br />
40 Jahre kaum Englisch gesprochen.<br />
Und heute?<br />
Man hört, woher ich komme. Na<br />
und? Wir Deutschen haben da eine verklemmte<br />
Position. Ich rede viel mehr<br />
„Hochenglisch“ als ein Franzose. Ein<br />
Franzose würde alles tun, damit er<br />
Französisch sprechen kann. Und wenn<br />
er schon Englisch sprechen muss, nur mit<br />
einem stolzen Akzent.<br />
Als baden-württembergischer Ministerpräsident<br />
wirkten Sie oft angespannt:<br />
Sie rasten von einem Termin zum nächsten,<br />
regierten das Land aus dem Auto<br />
und redeten wie ein Maschinengewehr.<br />
Haben Sie sich in Brüssel entspannt?<br />
Ich bin älter geworden und damit<br />
auch gelassener. Und Sie haben recht:<br />
Der Termindruck war ein Grund für<br />
diese Anspannung. Fragen Sie mal den<br />
Winfried Kretschmann, der springt auch<br />
ganz schön rum.<br />
Den hat aber noch niemand mit einem<br />
Maschinengewehr verglichen. Wie gerieten<br />
Sie damals so unter Druck?<br />
Durch den Zeitablauf. Es war von<br />
Anfang an ein harter Sprint. Die Mitgliederbefragung<br />
in der CDU Ende 2004,<br />
als Annette Schavan und ich zur Wahl<br />
standen. Dann die Arbeit im neuen Amt.<br />
Alle wollten einen Termin: Gewerkschafter,<br />
Unternehmer, Kammerpräsidenten.<br />
Stadtjubiläen, Verbandstage, Parteiveranstaltungen.<br />
Ich war ständig in<br />
Berlin, 2005 die vorgezogene Bundestagswahl,<br />
und 2006 musste ich in den<br />
Landtagswahlkampf.<br />
Ist das nicht erstaunlich? Sie arbeiten<br />
14 Jahre als Chef der Stuttgarter<br />
CDU-Landtagsfraktion darauf hin, Ministerpräsident<br />
zu werden. Sie werden<br />
es endlich, aber es wird ein Albtraum.<br />
Den wirklichen Traumjob bekommen Sie<br />
2009, als Angela Merkel Sie quasi über<br />
Nacht nach Brüssel komplimentiert.<br />
Ich war in Wien, ein Donnerstagnachmittag.<br />
Die Jahrestagung der<br />
deutsch-österreichischen Handelskammer.<br />
Sie hat mich angerufen. Ich habe<br />
meine Lebensgefährtin gefragt, meine<br />
frühere Frau, mit der ich ein sehr gutes<br />
Verhältnis habe, wegen unseres Sohnes.<br />
Um 8 Uhr morgens habe ich Angela Merkel<br />
zugesagt. Ich würde mich mein Leben<br />
lang ärgern, wenn ich es mir nicht<br />
zugetraut hätte.<br />
Günther H. Oettinger<br />
Der Jurist, 60, CDU, ist EU-Kommissar<br />
für Energie. Nach der Europawahl<br />
am 25. Mai entscheidet sich, ob<br />
er in der Kommission bleibt; das<br />
Ressort müsste er nach den<br />
Brüsseler Gepflogenheiten wechseln.<br />
Ein Wahlsieg der Sozialisten könnte<br />
Martin Schulz zum Kommissionspräsidenten<br />
machen; für Oettinger<br />
wäre dann kein Platz mehr.<br />
Bekommt Schulz kein Amt, müsste<br />
Oettinger immer noch von der<br />
Bundeskanzlerin vorgeschlagen<br />
werden. Sie schickte ihn 2009 nach<br />
Brüssel, nachdem er als badenwürttembergischer<br />
Regierungschef<br />
zum Problemfall geworden war.<br />
Heute ist er Merkel dafür dankbar<br />
Sie hat Sie erlöst?<br />
Ich bin ihr dankbar.<br />
Steht ein EU-Kommissar weniger unter<br />
Beschuss als ein Ministerpräsident?<br />
Die Fronten sind nicht so klar wie<br />
in Stuttgart oder Berlin. Wir sind in der<br />
Kommission eine Art Allparteienregierung.<br />
28 Kollegen, davon acht Sozialisten,<br />
sieben Liberale und 13 Konservative<br />
und Christdemokraten.<br />
Dafür konkurrieren Kommission und<br />
Parlament immer stärker um Macht.<br />
Da ist mehr Konkurrenz zwischen<br />
Rat und Parlament, würde ich sagen. Das<br />
Parlament hat schon jetzt bei Gesetzentwürfen,<br />
die von der Kommission kommen,<br />
eine starke Stellung. Vor allem die<br />
jeweiligen Berichterstatter. Da arbeite<br />
ich auch gern mit einem Sozialisten zusammen<br />
oder mit einem Grünen.<br />
Teilen Sie die Kritik, dass Martin Schulz,<br />
der Präsident des Europaparlaments,<br />
sein Amt für den Wahlkampf der Sozialisten<br />
missbraucht?<br />
Den Begriff „missbraucht“ würde<br />
ich nicht nehmen. Dass er das Parlament<br />
gestärkt hat, rechne ich ihm hoch<br />
an. Aber gerade weil der Präsident keine<br />
unbekannte Größe mehr ist, muss er das<br />
Amt abgeben. Der Präsident ist der Präsident<br />
aller Abgeordneten aller Parteien.<br />
Norbert Lammert macht ja auch nicht<br />
den Wahlkampf der CDU.<br />
Warum sind Sie der Meinung, dass die<br />
deutsche Energiewende gebremst werden<br />
muss?<br />
Das deutsche Erneuerbare-Energien-<br />
Gesetz hat in den ersten Jahren glänzend<br />
funktioniert. Aber jetzt führt es zu<br />
Fehlanreizen. Vor allem weil Strom nicht<br />
speicherbar ist – allen Programmen von<br />
Parteien zum Trotz. Der Strom muss in<br />
der gleichen Millisekunde hergestellt und<br />
geliefert werden. Wenn sich kein einziges<br />
Windrad dreht und die Sonne nicht<br />
scheint, haben Sie ein Problem.<br />
Es gibt noch viele konventionelle Kraftwerke.<br />
Außerdem lässt sich Energie<br />
schon lange speichern, indem Wasser<br />
bergauf gepumpt und dann durch eine<br />
Turbine abgelassen wird, sobald Elektrizität<br />
gebraucht wird.<br />
85<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
Interview<br />
Ja, aber wie weit reicht das? Nach<br />
der Ölkrise im Jahr 1973 wollten meine<br />
Vorgänger in der Kommission vorsorgen.<br />
Es ist mittlerweile Pflicht, dass die Mitgliedstaaten<br />
Öl im Ausmaß von 90 Tagen<br />
Nettoimport speichern. Heute haben<br />
wir etwa Öl im Ausmaß von 99 Tagen<br />
Nettoimport im Tank. Der gespeicherte<br />
Strom in den Stauseebecken würde aber<br />
nur für 24 Minuten reichen.<br />
Wie lange hat die EU Gas, wenn Russland<br />
den Hahn zudrehen würde?<br />
Wir analysieren die Gasversorgungssicherheit<br />
in diesen Tagen ständig. Aber<br />
ich habe allen Grund anzunehmen, dass<br />
die Russen an einer Eskalation nicht interessiert<br />
sind. Davon abgesehen: Unsere<br />
Unternehmen müssen die Gasversorgung<br />
für Haushalte für 30 Tage sicherstellen,<br />
auch wenn eine wichtige Pipeline ausfällt,<br />
berechnet nach einem Wintermonat. Wegen<br />
des milden Winters haben wir jetzt<br />
sogar mehr in den Speichern als vor einem<br />
Jahr.<br />
Ist Deutschland zu abhängig von Putins<br />
Gas?<br />
Wir haben die Diversifizierung vorangetrieben.<br />
In Gasleitungen haben wir<br />
den Reverse Flow eingebaut, sodass das<br />
Gas in beide Richtungen fließen kann.<br />
Es kann nicht nur von Osten nach Westen<br />
gepumpt werden, sondern auch von<br />
West- nach Zentraleuropa. Wir haben<br />
mehr LNG-Terminals, in denen Gas verflüssigt<br />
und verschifft werden kann. Zudem<br />
ist Norwegen mittlerweile mit Russland<br />
als Gaslieferant auf Augenhöhe.<br />
Die EU deckt immerhin 28 Prozent ihres<br />
Gasbedarfs aus Russland und Deutschland<br />
knapp 40 Prozent.<br />
Es ist richtig, über die strategische<br />
Aufstellung zu sprechen. Aber es ist eine<br />
gegenseitige Abhängigkeit. Die Russen<br />
brauchen für ihren Staatshaushalt die Erträge<br />
von Gazprom dringend.<br />
Wer ist abhängiger von wem?<br />
Ich würde sagen: Im worst case wären<br />
wir kurzfristig abhängiger. Aber mittel-<br />
und langfristig wäre der Rufschaden<br />
für Russland so stark, dass sich Europas<br />
Energiemixstrategie ändern würde.<br />
Dann würden Russland die Verkaufserlöse<br />
wegbrechen.<br />
„Die Russen<br />
brauchen die<br />
Erträge von<br />
Gazprom. Nur<br />
kurzfristig<br />
wären wir<br />
abhängiger“<br />
Geplant ist eine Pipeline, in der Gas aus<br />
Aserbaidschan über die Türkei und Südosteuropa<br />
nach Italien fließt. Wird die<br />
uns unabhängiger machen?<br />
Die größten Gasvorkommen der<br />
Welt liegen in der kaspischen und zentralasiatischen<br />
Region. Turkmenistan,<br />
Nordirak, Iran, Kasachstan und Usbekistan.<br />
Und Aserbaidschan, ein Schlüsselland.<br />
Ein Konsortium investiert 20 Milliarden,<br />
um ab 2019 Gas von dort durch<br />
Georgien, die Türkei, Griechenland,<br />
durch die Adria nach Bari in Italien zu<br />
leiten.<br />
Und? Reduziert das unsere Abhängigkeit?<br />
Im Augenblick ist das Gasfeld in<br />
Aserbaidschan für 16 bis 18 Milliarden<br />
Kubikmeter Produktion gut. Davon werden<br />
etwa sieben Milliarden Kubikmeter<br />
an die Türkei gehen und etwa zehn Milliarden<br />
in die EU. Das ist viel, aber im Vergleich<br />
zur Nordstream-Pipeline aus Russland<br />
noch ein geringes Volumen. Aber es<br />
ist ein Türöffner. Ein Test, ob Europa für<br />
Förderstaaten von kaspischem Gas ein<br />
glaubwürdiger Partner ist.<br />
Setzen Sie eigentlich noch auf Fracking?<br />
Ja. Vergleichen Sie den Gaspreis in<br />
den USA doch einmal mit dem in Europa.<br />
Der in Litauen oder Bulgarien ist viermal,<br />
der in Deutschland dreimal so hoch.<br />
Unsere Industrie hält das nicht durch.<br />
Schiefergas sollte für unsere Gasstrategie<br />
eine Option sein.<br />
Auch viele CDU-Politiker fürchten,<br />
dass das Trinkwasser verunreinigt wird,<br />
wenn man unter hohem Druck und mit<br />
Chemikalien ins Gestein bohrt.<br />
Ich rate zu Demonstrationsprojekten<br />
unter strenger Kontrolle von Fachleuten,<br />
um zu entscheiden, wie man Risiken<br />
für Trinkwasser und Grundwasser<br />
zu 100 Prozent ausschließen kann. Aber<br />
wenn Carl Benz und seine Frau so kritisch<br />
rangegangen wären wie die Deutschen<br />
beim Fracking, hätten sie ihr Auto<br />
nie auf die Straße gekriegt.<br />
Deutschland ist etwas dichter besiedelt<br />
als North Dakota oder Texas.<br />
Mit Verlaub, ich war ja drüben in den<br />
USA. Zwischen Fort Worth und Houston<br />
auf einem Produktionsfeld hat mich ein<br />
breitschultriger Techniker angesprochen:<br />
Wo kommen Sie her? Ich sagte: Germany.<br />
Er: Sie sind der erste Deutsche hier. Das<br />
empört mich. Nicht mal rüberzufliegen<br />
und sich ein Bild zu machen!<br />
Was haben Sie denn mitgebracht an<br />
Erkenntnissen?<br />
Grundwasser und Trinkwasser sind<br />
im Regelfall viel weiter oben, maximal in<br />
100 Meter Tiefe. Fracking findet in 4000<br />
bis 6000 Meter Tiefe statt. Da kommen<br />
Ihnen bald die Chinesen von der anderen<br />
Seite entgegen.<br />
Sie sollten mal wieder hinfliegen: In den<br />
USA brechen die Investitionen ein. Am<br />
Anfang kommt man an einer Bohrstelle<br />
gewöhnlich noch sehr gut ans Schiefergas<br />
ran. Aber schon nach einem Jahr<br />
mindert sich die Produktion um 30 bis<br />
60 Prozent.<br />
Das müssen doch die Investoren entscheiden<br />
und keine deutsche Besserwisserei<br />
aus Politik und Medien. Die Briten<br />
werden es machen, die Rumänen, die Polen<br />
natürlich.<br />
Warum natürlich?<br />
Die Polen haben zu 90 Prozent Kohlestrom.<br />
Der Anteil kann nicht gehalten<br />
werden wegen der Klimaschutzvorgaben.<br />
Aber die wollen kein Gas aus Russland.<br />
Deswegen setzen die auf Kernkraft und<br />
Schiefergas.<br />
Foto: Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong><br />
86<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
Interview<br />
Ist Schiefergas für die Ukraine ein Weg<br />
aus der Abhängigkeit von Russland?<br />
Die Ukraine ist zu Demonstrationsprojekten<br />
bereit. Nach der Wahl im Sommer<br />
können Gespräche mit Unternehmen<br />
wie BP, Exxonmobil, Chevron oder<br />
Texaco über Probebohrungen beginnen.<br />
Was hat die EU damit zu tun?<br />
Wenn die EU ein interessanter Exportmarkt<br />
ist, lohnt sich die Investition.<br />
Zurück zum deutschen Strom: Unterschlagen<br />
Sie bei Ihrer Kritik an der Energiewende<br />
nicht, dass bei Sonnen- und<br />
Windkraft der Rohstoff gratis ist und<br />
weder CO 2<br />
noch Atommüll entsteht?<br />
Das bestreite ich nicht. Deswegen<br />
gehört den erneuerbaren Energien<br />
auch die Zukunft, wenn die Technik es<br />
erlaubt, Strom in größeren Mengen zu<br />
speichern. Aber dort werden wir erst in<br />
15 bis 20 Jahren sein. Auch die Netze<br />
brauchen Zeit. Heute werden Sonnenund<br />
Windkraftanlagen an Orten gebaut,<br />
an denen es keine Leitungsinfrastruktur<br />
gibt und wo die natürlichen Bedingungen<br />
ungünstig sind. An solchen volatilen<br />
Standorten brauchen wir ein Tempolimit<br />
für die Förderung. Die Eckpunkte<br />
von Sigmar Gabriel sind deshalb richtig.<br />
Die EU-Kommission prüft gerade, ob die<br />
Rabatte bei der Ökostromumlage legal<br />
sind, die Deutschland vielen Unternehmen<br />
gewährt. Sind Sie da auf der Seite<br />
der um die Rabatte besorgten Unternehmer<br />
oder auf der des Wettbewerbskommissars<br />
Joaquín Almunia?<br />
Almunia hat im Briefkasten einen<br />
Haufen Beschwerden. Fast alle sind aus<br />
Deutschland. Ein Beispiel: Zwei Textilunternehmer<br />
stellen Hightech-Textilien<br />
her. Der erste hat 16 Prozent Stromkosten<br />
in seiner Kalkulation, der zweite 13.<br />
Der erste ist voll befreit, der zweite zahlt<br />
voll. Er tobt – und das zu Recht.<br />
Und Sie wollen die Rabatte nicht vom<br />
Anteil der Stromkosten abhängig machen,<br />
sondern von der Branche?<br />
Ich will ein zweistufiges Verfahren.<br />
Erstens: Sektoren typisieren. Zweitens:<br />
Einzelfallprüfung, damit wir einem Unternehmen<br />
gerecht werden, das auch<br />
Stahl produziert, aber ansonsten ein Gemischtwarenladen<br />
ist.<br />
„Für Paris und<br />
Prag bin ich der<br />
Undercoveragent,<br />
der deutschem<br />
Ökostrom Vorteile<br />
verschafft“<br />
Während Sie den grünen Strom kritisch<br />
sehen, sorgen Sie sich um Dinosaurierstrom.<br />
Sie kritisieren zum Beispiel, dass<br />
Elektrizität aus tschechischen Atommeilern<br />
und polnischen Braunkohlekraftwerken<br />
wegen des Ökostroms<br />
nicht in das deutsche Netz kommt.<br />
Erneuerbarer Strom hat in Deutschland<br />
Vorrang im Netz. Das ist bei 2 Prozent<br />
Solarstrom und 3 Prozent Windstrom<br />
kein Thema. Aber wenn die beiden<br />
bei 15 Prozent plus x sind und an manchen<br />
Tagen bei weit über 30 Prozent,<br />
dann ist der Binnenmarkt gefährdet. Das<br />
ist, als ob auf der Autobahn an manchen<br />
Tagen nur Lastwagen von Edeka fahren<br />
könnten, und Carrefour darf seinen<br />
Bordeaux und seine Koteletts nicht<br />
transportieren.<br />
Wir können es ja mal umdrehen. Was<br />
sind denn die Vorteile der Atomkraft?<br />
Sie ist einfach ein Faktum. Wir hatten<br />
in Deutschland 23 Prozent Kernkraftstrom.<br />
Und wir haben in der Europäischen<br />
Union 28 Prozent Kernkraftstrom,<br />
wobei 14 Länder Kernkraftwerke betreiben.<br />
Ich habe den Stresstest für alle Reaktoren<br />
durchgesetzt, darauf aufbauend<br />
die Direktive zur nuklearen Sicherheit<br />
entwickelt – mit hohen Sicherheitsstandards<br />
für bestehende Kraftwerke, mit<br />
Nachrüstungspflichten. Und wir beschäftigen<br />
uns mit den Versicherungspflichten.<br />
Warum haben Sie solche Faktoren bisher<br />
nicht in die Kosten der Atomenergie<br />
eingerechnet? Das Deutsche Institut für<br />
Wirtschaftsforschung hat Ihnen vorgeworfen,<br />
Atomkraft schönzurechnen.<br />
Das bezog sich auf unsere Strategie<br />
für 2020, das ist jetzt dreieinhalb Jahre<br />
her. Wir haben heute allein durch das,<br />
was wir als neuen Standard für Kernkraftwerke<br />
vorschreiben, deutlich gestiegene<br />
Kosten: Hochwasserschutz,<br />
externe Notfallsysteme, Erdbebensicherheit.<br />
Dazu kommt die Haftpflicht. Das<br />
verändert die Kalkulation.<br />
Und? Haben Sie schon neu gerechnet?<br />
Im Sommer werde ich eine umfassende<br />
Analyse zum Thema Subventionen<br />
aller Art im Energiesektor vorlegen. Von<br />
der Forschung über Bau, Betrieb, Transport<br />
bis hin zur Endlagerung. Die Zahlen<br />
müssen vergleichbar sein.<br />
Sie inszenieren sich als Brüsseler<br />
Schiedsrichter. Warum stehen Sie nicht<br />
zu Ihrer Sympathie für Kernkraftwerke<br />
und Energiekonzerne?<br />
Ich würde Sie wirklich bitten, die<br />
Presse in London, Paris und Prag zu lesen<br />
und das mal mit Ihrem deutschzentrierten<br />
Bild abzugleichen. Ich gelte in<br />
Deutschland als einer der Letzten, der<br />
über Kernkraft spricht. Aber ich gelte in<br />
London, Paris und Prag als der Undercoveragent<br />
der Kanzlerin, der Deutschland<br />
durch die kalte Küche Vorteile für<br />
den grünen Strom verschafft.<br />
Streben Sie eigentlich eine zweite Amtszeit<br />
als Kommissar an?<br />
Ich bin auf beides vorbereitet. Rauszugehen,<br />
da bin ich gerade noch jung genug,<br />
um was ganz anderes zu machen.<br />
Oder drinzubleiben. Das hätte auch seinen<br />
Reiz.<br />
Warum?<br />
Diesmal werden maximal sechs<br />
oder sieben Kommissare wiederkommen.<br />
Viele meiner Kollegen haben auf<br />
der Wegstrecke die Regierung in ihrem<br />
Land verloren, die sie vorgeschlagen hat.<br />
Tajani war ein Vorschlag von Berlusconi,<br />
Barnier von Sarkozy, Lady Ashton von<br />
Gordon Brown. Wer wiederkommt, gehört<br />
zu einem ganz kleinen Kreis derer,<br />
die Erfahrung haben.<br />
88<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
WELT.DE/NEU<br />
Die Welt gehört denen,<br />
die Hirn haben<br />
und Stirn bieten.DOROTHEA<br />
SIEMS,<br />
REDAKTEURIN
KAPITAL<br />
Interview<br />
Schauen wir noch einmal nach Deutschland.<br />
Wünschen Sie sich immer noch einen<br />
Megaenergiekonzern? Zum Beispiel<br />
durch eine Fusion von RWE und Eon?<br />
Wir denken in Deutschland, RWE<br />
und Eon wären riesengroß. Im europäischen<br />
Maßstab oder gar im Weltmaßstab<br />
sind die klein, wenn Sie sich mal EdF<br />
oder GdF in Frankreich anschauen, Gazprom,<br />
BP oder Shell, Chevron oder Petrochina.<br />
Für diese Champions League<br />
sind wir in Deutschland nicht gerade gut<br />
aufgestellt.<br />
Wozu soll das gut sein? Alle Welt redet<br />
von Regionalisierung auf dem<br />
Energiesektor.<br />
Alle deutsche Welt redet davon.<br />
Aber es ist doch ein Widerspruch: Wir<br />
sind stolz, wenn wir in der Weltliga spielen.<br />
BASF und Bayer in der Chemie, VW,<br />
BMW, Mercedes. Nur im Energiebereich<br />
sollen die Strukturen kleinteilig sein.<br />
Noch einmal: Was haben wir davon?<br />
Für große Aufgaben brauchen Sie<br />
richtige Player. Auch 1000 Stadtwerke<br />
bauen mir keine Pipeline vom kaspischen<br />
Meer.<br />
Wie bewerten Sie es rückblickend, dass<br />
Stefan Mappus, Ihr Nachfolger in Baden-Württemberg,<br />
für das Land die<br />
EnBW-Anteile vom französischen EdF-<br />
Konzern zurückgekauft hat?<br />
Ich bin mir sicher, dass der Kaufpreis<br />
vertretbar war, den Mappus gezahlt hat.<br />
Das Aktienpaket kostete 4,7 Milliarden<br />
Euro. Die Staatsanwaltschaft ermittelt<br />
sogar wegen Untreue gegen<br />
Herrn Mappus.<br />
Da wird nichts hängen bleiben.<br />
EnBW war ja börsennotiert, aber die<br />
Zahl der Aktien war so gering, dass sie<br />
keinen Markttest hatten. Nach dem, was<br />
ich gelesen habe, und auch nach der Aussage<br />
von Peter Villis, dem früheren CEO<br />
von EnBW, komme ich zum Schluss, dass<br />
der Preis vertretbar war.<br />
Mal Hand aufs Herz: Als SMS von Mappus<br />
auftauchten, in denen er und sein<br />
Banker Dirk Notheis im Zusammenhang<br />
mit der Transaktion von Angela<br />
Merkel als „Mutti“ sprachen, haben Sie<br />
schmunzeln müssen, oder?<br />
Günther Oettinger zögert zu antworten.<br />
Er schmunzelt schweigend einen<br />
Moment.<br />
Na ja, der Dialog war schon sehr<br />
sportlich.<br />
Hätte Ihnen das passieren können?<br />
Ich lese alle SMS und alle E-Mails.<br />
Aber ich rufe lieber zurück oder gebe<br />
das meinen Mitarbeitern. Ich bin eher<br />
ein Telefonist.<br />
Wie oft telefonieren Sie mit Angela<br />
Merkel?<br />
Sie simst mir ab und zu „Erbitte<br />
Rückruf“. Am Wochenende, am Sonntag<br />
vor dem CDU-Präsidium, wenn europäische<br />
Themen eine Rolle spielen. Da haben<br />
wir einen direkten Austausch unserer<br />
Erwartungen. Dann bin ich so vier<br />
Mal im Jahr bei ihr im Büro, um die Themen<br />
zu besprechen, die für sie wichtig<br />
sind. Es läuft gut. Ich glaube nicht, dass<br />
die Kooperation eines deutschen EU-<br />
Kommissars mit der Bundespolitik so<br />
eng war, das gilt auch für mein Verhältnis<br />
zu Sigmar Gabriel.<br />
Im November 2006 gab es einen CDU-<br />
Parteitag in Dresden. Rede Günther<br />
Oettinger für den Wirtschaftsflügel,<br />
Rede Jürgen Rüttgers fürs Soziale<br />
Foto: Sander de Wilde für <strong>Cicero</strong><br />
90<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
<strong>Cicero</strong>-<br />
Hotel<br />
in der CDU – ein programmatischer<br />
Showdown.<br />
Ja, klar. Ausrichtung der CDU.<br />
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Und Merkel hat sich durchlaviert.<br />
Oettinger lächelt.<br />
Die Balance gewahrt.<br />
Seither hat die CDU eher auf Rüttgers<br />
gemacht, oder?<br />
Ja. Ich bin ja mit ihm mittlerweile befreundet.<br />
Wir treffen uns ab und zu. Aber<br />
damals waren wir Kontrahenten.<br />
Rüttgers hätte Mütterrente und Rente<br />
mit 63 bestimmt unterstützt. Und Sie?<br />
Ich halte die Rente mit 63 für ein völlig<br />
falsches Zeichen. Mein Sohn, 16, dem<br />
sag ich: Junge, du musst kein Streber sein.<br />
Aber so gut lernen, dass der Tank voll ist<br />
und reicht, bis du 70 bist. Der sagt: Papi,<br />
bis 63 reicht doch. Das ist fatal. Wir wenden<br />
da den Zeitgeist. Politiker aus Portugal,<br />
aus Irland, die sagen mir: Wir werden<br />
gezwungen, unseren Arbeitsmarkt zu reformieren,<br />
die Lebensarbeitszeit zu verlängern,<br />
und die Deutschen gehen wieder<br />
in die Vergangenheit.<br />
Aber mit der Mütterrente können Sie<br />
leben?<br />
Die ist auch teuer, nur strukturell<br />
nicht so schädlich wie die Rente mit 63.<br />
Aber sie bringt Deutschland nicht weiter.<br />
Das Land hat dank der Reformen einen<br />
Vorteil – Stichworte: Agenda 2010,<br />
maßvolle Tarifpolitik. Vielen von uns<br />
geht es sehr gut. Zu gut. Die Gefahr ist,<br />
dass man reformfaul wird und in alte Sozialreflexe<br />
fällt.<br />
Sie klingen ja wie früher. Ist das nicht<br />
erstaunlich? All die Männer, die Angela<br />
Merkel auf die Nerven fielen, sind raus<br />
aus der Politik. Koch ist weg, Wulff ist<br />
weg, Rüttgers ist weg. Nur Günther<br />
Oettinger ist immer noch da.<br />
Die Zahl der Ministerpräsidenten<br />
ist überschaubar geworden, wir stellen<br />
in kaum einer Großstadt den Oberbürgermeister.<br />
Unser wirtschaftspolitisches<br />
Profil war schon mal schärfer. Ein paar<br />
unbequeme Köpfe mehr würden da nicht<br />
schaden.<br />
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Fusionhotel einzigartig und wird gerade deswegen<br />
von seiner internationalen Klientel geschätzt. Diese<br />
ist anspruchsvoll, nicht nur in der Wahl ihrer Unterkunft<br />
sondern auch ihrer Lektüre – mit <strong>Cicero</strong> an unserer Seite<br />
stellen wir ein hochwertiges Magazin zur Verfügung, das<br />
zum Lesen und Informieren einlädt und sich seit Jahren<br />
großer (und beständig wachsender) Beliebtheit bei<br />
unseren Gästen erfreut.«<br />
Ken Dittrich, Generaldirektor<br />
Diese ausgewählten Hotels bieten <strong>Cicero</strong> als besonderen Service:<br />
Bad Doberan/Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont: Steigenberger Hotel<br />
Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach · Bergisch Gladbach:<br />
Grandhotel Schloss Bensberg, Schlosshotel Lerbach · Berlin: Brandenburger Hof, Grand Hotel<br />
Esplanade, InterContinental Berlin, Kempinski Hotel Bristol, Hotel Maritim, The Mandala Hotel,<br />
The Mandala Suites, The Regent Berlin, The Ritz-Carlton Hotel, Savoy Berlin, Sofitel Berlin<br />
Kurfürstendamm · Binz/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel Taschenbergpalais Kempinski · Celle:<br />
Fürstenhof Celle · Düsseldorf: InterContinental Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf der<br />
Wartburg · Ettlingen: Hotel-Restaurant Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof,<br />
Kempinski Hotel Gravenbruch · Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten,<br />
Hotel Atlantic Kempinski, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel,<br />
Strandhotel Blankenese · Hannover: Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel Adler ·<br />
Keitum/Sylt: Hotel Benen-Diken-Hof Köln: Excelsior Hotel Ernst · Königstein im Taunus: Falkenstein<br />
Grand Kempinski, Villa Rothschild Kempinski · Königswinter: Steigenberger Grandhotel Petersberg ·<br />
Konstanz: Steigenberger Inselhotel Magdeburg: Herrenkrug Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz:<br />
Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency Mainz · München: King’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel<br />
München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss Neuhardenberg · Nürnberg: Le Méridien ·<br />
Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart:<br />
Hotel am Schlossgarten, Le Méridien · Wiesbaden: Nassauer Hof · ITALIEN Tirol bei Meran:<br />
Hotel Castel · ÖSTERREICH Wien: Das Triest · SCHWEIZ Interlaken: Victoria-Jungfrau Grand Hotel<br />
& Spa · Lugano: Splendide Royale · Luzern: Palace Luzern St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House ·<br />
Weggis: Post Hotel Weggis · Zermatt: Boutique Hotel Alex<br />
Das Gespräch führten GEORG LÖWISCH<br />
und CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
Möchten auch Sie zu diesem<br />
exklusiven Kreis gehören?<br />
Bitte sprechen Sie uns an:<br />
E-Mail: hotelservice@cicero.de
KAPITAL<br />
Kommentar<br />
BÖSE SPENDE, GUTE SPENDE<br />
Parteispenden von<br />
Unternehmen fördern<br />
die Demokratie.<br />
Wir brauchen aber eine<br />
gesetzliche Obergrenze,<br />
fordert Evonik-Chef<br />
Klaus Engel<br />
Die Europawahl steht vor der Tür<br />
und der Wahlkampf ist in vollem<br />
Gange. In Wahlkampfzeiten wird<br />
in Deutschland gerne über die Parteienfinanzierung<br />
gestritten. Mein Unternehmen,<br />
der Chemiekonzern Evonik, ist im<br />
vergangenen November heftig dafür kritisiert<br />
worden, dass wir SPD, CDU und<br />
CSU insgesamt 190 000 Euro gespendet<br />
haben. Dass wir auch die Grünen und die<br />
FDP finanziell unterstützen, blieb dabei<br />
unerwähnt.<br />
Die öffentliche Debatte über das<br />
Für und Wider von Parteispenden ist in<br />
Deutschland geprägt von einem eigenwillig<br />
verengten Verständnis von Demokratie<br />
und gesellschaftlichem Engagement.<br />
Interessen sind gut, solange sie altruistisch<br />
sind. Engagement ist gut, solange<br />
man sich für die richtigen Ziele engagiert.<br />
Unternehmen sind gut, soweit sie<br />
Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen.<br />
Und sich im Übrigen aus der Politik<br />
heraushalten. So einfach ist das in<br />
Deutschland. Und so naiv.<br />
Meine Vorstellung von der Rolle<br />
der Unternehmen in unserer Gesellschaft<br />
ist eine andere. Ich wünsche mir<br />
engagierte Unternehmenslenker, die ihre<br />
Ideen, ihre Werte und ihre Interessen offen<br />
und klar vertreten. Und ich wünsche<br />
mir Manager, die über unseren Standort<br />
Deutschland nicht nur klagen, sondern<br />
ihn mitgestalten.<br />
Denn gerade wir in Deutschland haben<br />
schmerzhaft aus dem Scheitern der<br />
Weimarer Republik lernen müssen, wie<br />
anfällig und fragil eine Demokratie werden<br />
kann, wenn die Extreme plötzlich an<br />
Macht gewinnen.<br />
Auch heute noch, bald 70 Jahre nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg, drohen wirtschaftliche<br />
Krisen insbesondere noch<br />
junge Demokratien in ihren Grundfesten<br />
zu destabilisieren. Wie schnell das<br />
gehen kann, sehen wir in einigen Staaten<br />
Süd- und Osteuropas. Deutschlands<br />
Stabilität geht maßgeblich auf das Fundament<br />
unserer Gesellschaft zurück: Demokratie,<br />
Rechtsstaatlichkeit und soziale<br />
Marktwirtschaft.<br />
Zu verdanken haben wir das auch<br />
unseren großen und kleinen Parteien,<br />
die Garanten dieser Prinzipien sind. Für<br />
ein Unternehmen wie Evonik sind diese<br />
Prinzipien gleich im doppelten Wortsinn<br />
wertvoll: als unverzichtbare Standortfaktoren<br />
und damit als herausragend<br />
Illustration: Christine Rösch; Foto: privat<br />
92<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
wichtige Grundlage unseres wirtschaftlichen<br />
Erfolgs. Wohlstand und Wachstum<br />
sind auf Dauer nur in einer freien und<br />
pluralistischen Gesellschaft möglich.<br />
In meinen Augen ist jede Spende an<br />
die Parteien im demokratischen Spektrum<br />
zugleich eine Spende für Demokratie.<br />
Das ist völlig unabhängig davon, ob<br />
der Spender eine Privatperson, ein Verein<br />
oder ein Unternehmen ist.<br />
Wirtschaftsunternehmen verfolgen,<br />
neben den skizzierten grundsätzlichen<br />
Zielen, im alltäglichen Geschäft auch andere,<br />
weniger prinzipielle Ziele. Einige<br />
wünschen sich Subventionen, andere<br />
niedrige Steuern oder weniger Regulierung.<br />
Auch diese Wünsche sind legitim,<br />
denn die Artikulierung von Interessen<br />
und der Wettbewerb um deren Durchsetzung<br />
gehören zur Demokratie wie Tore<br />
zum Fußball. Das Spielfeld ist öffentlich.<br />
Diese Öffentlichkeit ist beim Spenden<br />
per Gesetz vorgeschrieben. Jedermann<br />
kann im Rechenschaftsbericht der<br />
Parteien nachlesen, wer wem wie viel gegeben<br />
hat.<br />
Wer Spenden reflexhaft als Versuch<br />
einer ungehörigen Einflussnahme auf politische<br />
Entscheidungen grundsätzlich<br />
diskreditiert, richtet damit gleich doppelt<br />
Schaden an: Unmittelbar schädigt ein solches<br />
Urteil die Politik insgesamt. Mittelbar<br />
führt es dazu, dass andere Spender<br />
von ihrem Engagement lieber Abstand<br />
nehmen, um sich drohender Kritik gar<br />
nicht erst auszusetzen.<br />
Letztere Reaktion halte ich für<br />
falsch. Denn wer nach seinen eigenen<br />
Werten und Überzeugungen handelt, der<br />
sollte auch offen für sie eintreten.<br />
DIES GILT GANZ BESONDERS für die Debatte<br />
um Parteispenden. Und damit für<br />
die Frage: Wann ist eine Spende eine gute<br />
Spende? Und wann nicht?<br />
Diese Unterscheidung hängt von der<br />
Intention des Spenders, vom Kreis der<br />
Empfänger und von der geübten Praxis<br />
ab. Und, vor allem, von der öffentlichen<br />
Wahrnehmung vor dem Hintergrund aktueller<br />
politischer Moden.<br />
Dabei ist umfassende Transparenz<br />
immer das oberste Gebot, nur sie sichert<br />
die öffentliche Kontrolle. Wenn etwa ein<br />
Hotelverband eine hohe Summe gezielt<br />
an eine Regierungspartei spendet, wird<br />
sich diese Partei gut überlegen, ob sie<br />
Interessen zu<br />
artikulieren<br />
und für ihre<br />
Durchsetzung<br />
zu kämpfen,<br />
gehört zur<br />
Demokratie<br />
sich im Anschluss tatsächlich für eine<br />
Absenkung der Steuern für Hotelübernachtungen<br />
einsetzen will. Dem Spender<br />
mag dies gefallen, doch wie würde die<br />
Öffentlichkeit diesen Vorgang bewerten?<br />
Deren Urteil folgt bei der nächsten Wahl.<br />
Als Kriterium ebenso wichtig ist die<br />
Angemessenheit des Betrags. Spenden<br />
aus der Wirtschaft machen in Deutschland<br />
nur einen Bruchteil der Parteienhaushalte<br />
aus. Theoretisch aber könnte<br />
ein Unternehmen mit einer übermäßig<br />
hohen Spende eine Partei so gezielt stärken,<br />
dass der Wettbewerb, etwa im Wahlkampf,<br />
verzerrt würde.<br />
Deshalb plädiere ich für eine Obergrenze<br />
bei Parteispenden. Für große Unternehmen<br />
könnte diese Grenze etwa am<br />
Umsatz oder an der Zahl der Mitarbeiter<br />
bemessen sein.<br />
Selbst bei einer solchen Regelung<br />
erweist sich die Abgrenzung zwischen<br />
guten und bösen Spenden im Alltag allerdings<br />
als schwierig: Spendet etwa<br />
ein Industriearbeiter fünf Euro an eine<br />
Partei, weil diese die guten Rahmenbedingungen<br />
für die Industrie erhalten<br />
und damit seinen Arbeitsplatz sichern<br />
will, würde dies in der Öffentlichkeit<br />
sicher nicht auf Kritik stoßen. Würden<br />
40 000 Kollegen seinem Beispiel folgen,<br />
kämen 200 000 Euro zusammen. Zahlt<br />
aber ein Unternehmen mit 40 000 Mitarbeitern<br />
aus dem gleichen Anlass die gleichen<br />
200 000 Euro, erscheint dies in einem<br />
ganz anderen Licht. Zu Recht?<br />
Für die Matadoren der öffentlichen<br />
Meinung lassen sich gute und böse Spenden<br />
ganz einfach abgrenzen: Wer einen<br />
Zweck verfolgt, der der Allgemeinheit<br />
dient, handelt gut. Wer dagegen eigene,<br />
wirtschaftliche Interessen verfolgt,<br />
dessen Spende ist böse. So einfach ist das<br />
in Deutschland. Und so naiv.<br />
Wer will sich eigentlich anmaßen,<br />
über die wahren Motive eines Spenders<br />
zu urteilen?<br />
Gerade wenn sich Unternehmen gesellschaftlich<br />
engagieren, spielt ein weiterer<br />
Aspekt eine wichtige Rolle: Ein<br />
Unternehmen ist eben nicht nur eine<br />
juristische Person, und es besteht auch<br />
nicht nur aus einem Vorstandschef. Ein<br />
Unternehmen ist eine Ansammlung einzelner<br />
Menschen, verbunden durch das<br />
gemeinsame Interesse an sicheren Arbeitsplätzen<br />
und wirtschaftlichem Erfolg.<br />
Es sind die Mitarbeiter, in deren Namen<br />
ein Unternehmen wie Evonik zahlreiche<br />
Bildungs- und Kulturprojekte<br />
unterstützt. Ebenso förderungswürdig<br />
erscheint uns der politische Pluralismus<br />
– und der wird getragen von starken,<br />
qualifiziert besetzten und staatsfreien<br />
Parteien.<br />
Diese Staatsfreiheit wird den Parteien<br />
dadurch garantiert, dass sie nicht existenziell<br />
von staatlichen Zuwendungen abhängen.<br />
Das aber bedeutet im Umkehrschluss:<br />
Wenn die Parteien in ihrer heutigen Form<br />
weiter existieren und arbeiten wollen,<br />
brauchen Sie neben ihren Mitgliedsbeiträgen<br />
eben auch unsere Spenden.<br />
Wer, wie ich, mehr als 30 Jahre in<br />
Unternehmen verbracht hat, weiß genau,<br />
dass man qualifiziertes Personal nur gewinnen<br />
kann, wenn man gute Arbeit<br />
auch gut bezahlt. Das gilt für die Wirtschaft<br />
ebenso wie für die Politik – und<br />
damit eben auch für die Parteien:<br />
Wo kämen sie hin, wenn sie von der<br />
Führungsspitze bis hinunter an die Basis<br />
nicht mehr die Mittel hätten, um Veranstaltungen<br />
durchzuführen und für ihre<br />
Programme zu werben?<br />
Wer erkennt, dass starke und unabhängige<br />
Parteien in Deutschland einen<br />
wesentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen<br />
Erfolg leisten, der sollte spenden.<br />
Wir jedenfalls werden es weiter tun, um<br />
Regierungsparteien und Opposition gleichermaßen<br />
zu unterstützen. Und um der<br />
Demokratie nicht ihre Basis zu entziehen.<br />
KLAUS ENGEL ist<br />
Vorstandsvorsitzender des<br />
Chemiekonzerns Evonik in Essen<br />
93<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
Reportage<br />
94<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
ELEKTRIFIZIERT<br />
AUF DER<br />
SAHNESPUR<br />
Von LUTZ MEIER<br />
In Norwegen hat das<br />
Elektroauto geschafft,<br />
woran die deutsche<br />
Regierung zu scheitern<br />
droht. Sogar<br />
der Kronprinz fährt<br />
mit Strom. Ein Tag<br />
in Oslo, Paradies der<br />
E-Mobilität<br />
Harald Kristiansen, den vierjährigen<br />
Sander auf dem Arm, die<br />
achtjährige Emilia neben sich,<br />
muss sich sputen. Um kurz nach sieben<br />
kann in der Gemeinde Frogner noch niemand<br />
wissen, dass dieser Montag ein relativ<br />
guter Tag für die Pendler von Oslo<br />
wird. Kristiansen hastet durch die kühle<br />
Morgenluft zum Auto. Emilia, die Große,<br />
muss noch einmal zurück, sie hat etwas<br />
vergessen. Harald Kristiansen zieht<br />
schon mal den Stecker aus der Frontklappe,<br />
dreht das Autoradio an. Dann<br />
hört er, dass es heute gut gehen könnte.<br />
Die Staus sind kurz.<br />
Er kurvt die Straße runter. 7:17 Uhr,<br />
Sanders Kindergarten. 7:28 Uhr Emilias<br />
Schule. 7:34 Uhr Einbiegen auf die E6.<br />
Die Autobahn ist voll, Harald Kristiansen<br />
schlängelt sich in eine Lücke und gibt<br />
Gas. Beziehungsweise Strom.<br />
Willkommen im Elektroautoparadies<br />
Norwegen. Harald Kristiansen ist nicht<br />
allein mit seinem Stromfahrzeug, auf der<br />
E6 mischen sich überall Nissan Leafs,<br />
i‐Mievs von Mitsubishi und andere Elektroautos<br />
in den zäh fließenden Verkehr.<br />
11 Prozent aller im Land seit Jahresbeginn<br />
zugelassenen Wagen haben das für<br />
Elektrofahrzeuge reservierte EL‐Nummernschild<br />
bekommen. Der Leaf ist 2014<br />
bislang das meistverkaufte Auto, vor<br />
dem VW Golf und allen anderen Benzinern.<br />
Würde in Deutschland im Verhältnis<br />
zum Gesamtabsatz der gleiche Anteil<br />
von E‐Autos verkauft wie in Norwegen,<br />
es wären 23 000 im Monat. Tatsächlich<br />
wurden bei uns im Februar aber nur 481<br />
Stromwagen verkauft.<br />
Geht es in Norwegen so weiter, fahren<br />
dort nächsten Sommer 50 000 Elektroautos<br />
herum. Das entspricht dem Anteil,<br />
den die Bundeskanzlerin für 2020<br />
verspricht, mit ihrem Ziel von einer Million<br />
E‐Fahrzeugen. Nur haben Angela<br />
Merkels eigene Leute ihr Ziel schon für<br />
unerreichbar erklärt, während Norwegen<br />
fünf Jahre früher dran ist. Was läuft im<br />
nordischen E‐Mobil-Paradies anders als<br />
in Deutschland? Es gibt große strukturelle<br />
Unterschiede wie den Energiereichtum,<br />
aber doch eine Reihe Details, die<br />
auch anderswo funktionieren könnten.<br />
Ziemlich genau ein Jahr ist es her,<br />
dass die Kristiansens den ausladenden<br />
Skoda Superb verkauft haben und den<br />
elektrischen Nissan anschafften. Jetzt
KAPITAL<br />
Reportage<br />
stehen schon 32 826 Kilometer im Display.<br />
„Getestet, gekauft“, sagt Kristiansen.<br />
So ein Leaf sei nicht so teuer. Der<br />
Strom kostet ein paar Kronen. Nachteile?<br />
„Kaum.“ Sollte die Tour in die Berge doch<br />
einmal weiter gehen als die Reichweite,<br />
hängen sie den Leaf an einen Hurtiglader<br />
und machen eine halbe Stunde Pause an<br />
einer Raststätte. Kristiansen tippt auf den<br />
Navi-Bildschirm. Grüne Punkte: Ladesäulen,<br />
an denen es Stunden braucht, bis<br />
die Batterie voll ist. Quadrate: Schnelllader,<br />
bei denen 30 Minuten ausreichen.<br />
Um die Stadt herum gibt es sie überall.<br />
Am Anfang waren die Nachbarn<br />
eher skeptisch als neugierig. Ein Auto,<br />
das nach 150 Kilometern stehen bleibt?<br />
Jetzt fahren auch oben in Frogner die<br />
Teslas vor. Es war eine Kopfentscheidung<br />
und eine Bauchentscheidung, sagt Kristiansen.<br />
Einerseits hat die Familie kühl<br />
kalkuliert. Andererseits stehe im Winter<br />
manchmal der Smog in der Ebene.<br />
Feinstaub und Krach passen nicht in ein<br />
Land mit so viel Natur, was macht es<br />
da schon, dass man ein bisschen planen<br />
Beim Fahren im<br />
Winter die<br />
Skihandschuhe<br />
nicht vergessen,<br />
die Heizung saugt<br />
zu viel Strom<br />
muss? Abends einen Blick auf die Smartphone‐App<br />
werfen, ob der Leaf auch<br />
wirklich Strom zieht. Oder im Winter<br />
die Skihandschuhe mit ins Auto nehmen.<br />
„Die Heizung bleibt nach Möglichkeit<br />
aus“, sagt er. Saugt zu viel Strom.<br />
7:59 Uhr, Parkhaus Hasle, perfekt.<br />
Genügend Zeit, bis der Supermarkt<br />
öffnet. Kristiansen ist der Marktleiter.<br />
28,7 Kilometer, sagt das Display. Restreichweite<br />
106 Kilometer. Gegenüber<br />
parkt Kristiansens Chef ein, der Regionalleiter,<br />
seit Januar auch im Leaf. Er ist<br />
noch besser dran. Kommt aus dem Westen<br />
von Oslo, wo es „Sahnespuren“ gibt,<br />
Bus- und Taxirennbahnen auf der Autobahn,<br />
auf denen Autos mit EL‐Kennzeichen<br />
am Stau vorbeirasen dürfen.<br />
In Oslos Innenstadt gibt es noch<br />
weitere Vorteile für Fahrer von E‐Mobilen:<br />
8:20 Uhr, der riesige E‐Auto-Ladeparkplatz<br />
am Eingang des neuen Geschäftsviertels<br />
Aker Brygge ist fast voll,<br />
in die letzte Lücke setzt Per Henning<br />
seinen Tesla, er steigt aus, gelbes Kabel<br />
unterm Arm. „Da habe ich aber mehr<br />
als Schwein gehabt“, sagt er. Normalerweise<br />
ist ab 7:45 Uhr nichts mehr zu machen.<br />
Das Model S ist schon Hennings<br />
fünftes Stromauto. Bisher aber waren es<br />
Drittwagen der Familie, für die Sahnespuren<br />
und die anderen Privilegien. Der<br />
Tesla hat den Porsche Cayenne als Hauptauto<br />
abgelöst, aus Kostengründen: Parken,<br />
Citymaut, Benzin – fährt Henning<br />
mit dem Cayenne die sieben Kilometer<br />
in die Stadt, kostet ihn das schnell mehr<br />
als 60 Euro. Henning hat seinen deutschen<br />
Sportwagen diesen Winter auch bei<br />
Anzeige<br />
Beste Gründe für das Arbeiten bei Audi:<br />
Raum für kreative Ideen<br />
und große Ideale<br />
Einer von vielen »Besten Gründen bei Audi zu arbeiten« ist unsere Innovationskultur. Sie bietet<br />
jedem unserer Mitarbeiter ein Maximum an Raum, um sich und seine Ideen zu entfalten.<br />
Auf dieser Grundlage können wir automobile Visionen täglich aufs Neue zum Leben erwecken.<br />
Eine von vielen Visionen ist seit Jahren fester Bestandteil unserer Kultur: Die von Thomas Müller,<br />
Leiter in der Entwicklung für Brems-, Lenk- und Fahrerassistenzsysteme, initiierte »Umzugskiste«.<br />
Ein Rückzugsort, an dem Mitarbeiter kreativ arbeiten können.<br />
Mehr erfahren unter: www.arbeiten-bei-audi.de<br />
Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert 8,2–5,1;<br />
CO 2<br />
-Emissionen in g/km: kombiniert 190–135
den Skiausflügen in der Garage gelassen.<br />
„Minus 17 Grad, drei Kinder, 240 Kilometer,<br />
alles kein Problem“, sagt er. Der<br />
Tesla bietet ihm Reichweite, Power, Status.<br />
Norwegen ist für Tesla nach der kalifornischen<br />
Heimat des Herstellers der<br />
zweitgrößte Markt geworden.<br />
PER HENNING IST schon allerhand gefahren,<br />
was schnell ist und viele Zylinder<br />
hat. Hätte er für den Tesla so viel zahlen<br />
müssen wie für einen Panamera, so wie<br />
in Deutschland, er hätte ihn eher nicht<br />
gekauft. Henning schließt den Tesla an,<br />
die Batterie ist eigentlich noch recht voll,<br />
aber das Kabel an der Station garantiert<br />
ihm den kostenlosen Parkplatz für den<br />
Tag. Er muss weiter in den Versicherungs-<br />
Glasklotz, Telefonkonferenz.<br />
10:30 Uhr im Forschungspark von<br />
Oslo. An der Tür von Erik Figenbaum<br />
im Institut für Verkehrsökonomie hängt<br />
ein wütender Artikel, der unter etwas<br />
abenteuerlichen Annahmen vorrechnet,<br />
der Staat würde reiche Tesla-Fahrer mit<br />
50 Milliarden Kronen subventionieren,<br />
also mehr als sechs Milliarden Euro.<br />
„Der große Verlierer von Teslas Erfolg ist<br />
Norwegen“, schrieb die Wirtschaftszeitung<br />
Finansavisen darüber, im Abendprogramm<br />
des öffentlich-rechtlichen<br />
Fernsehens haben sie sich unlängst fast<br />
eine Stunde lang das Maul zerrissen über<br />
Leute wie Per Henning. Tesla ist ein Symbol<br />
geworden. Letztes Jahr hat sich Kronprinz<br />
Haakon einen zugelegt. Gerade<br />
macht die norwegische Krimigroteske<br />
„Kraftidioten“ auf dem internationalen<br />
Filmmarkt Furore. Der serbische Mafiaboss,<br />
gespielt von Bruno Ganz, fährt Maserati.<br />
Sein norwegischer Gegenspieler<br />
ernährt sich vegan und dirigiert sein Imperium<br />
vom Tesla-Rücksitz.<br />
„Sicher, wir sind ein wohlhabendes<br />
Land“, sagt der Verkehrsforscher Figenbaum.<br />
Aber wenn gut situierte Leute vom<br />
Staat profitieren, finden das einige im<br />
traditionell egalitär gepolten Norwegen<br />
trotzdem falsch. Dabei sei die Sache mit<br />
der Zulassungssteuer wahrscheinlich einer<br />
der wichtigsten Faktoren für den Erfolg<br />
der Elektroautos, erklärt Figenbaum.<br />
Kaum irgendwo auf der Welt ist ein<br />
Neuwagen teurer als in Norwegen. Die<br />
Steuer ist der Grund dafür. Zur egalitären<br />
Logik gehört es, dass sie überproportional<br />
wächst, wenn ein Auto größer<br />
und luxuriöser wird. Elektroautos sind<br />
ausgenommen. Das führt dazu, dass ein<br />
etwa klassengleicher Nissan Leaf in Norwegen<br />
so teuer ist wie ein VW Golf. In<br />
Deutschland kostet der elektrische Leaf<br />
13 000 Euro mehr. Aber ein Tesla S, der<br />
anderswo auf dem Niveau eines Luxuswagens<br />
rangiert, ist in Norwegen günstiger<br />
zu haben als ein VW Passat mit guter<br />
Ausstattung.<br />
Hier in Figenbaums Institut bilanzieren<br />
sie gerade, welche Anreize das<br />
norwegische Elektrowunder befördert<br />
haben. Er zählt auf: Zulassungssteuer,<br />
Mehrwertsteuer, Kfz-Steuer – alles auf<br />
Null bei Stromautos. Freie Fahrt nicht<br />
nur in die mautbelegte Osloer Innenstadt,<br />
auch über Brücken, Fähren und<br />
Tunnel. Während der Liter Benzin fast<br />
zwei Euro kostet, fließt der Strom an<br />
den normalen Ladesäulen gratis, einzig<br />
Anzeige
KAPITAL<br />
Reportage<br />
an den Schnellladern müssen die Autofahrer<br />
bezahlen. Auch die vorsichtigen<br />
Verkehrsforscher haben Kosten von rund<br />
fünf Milliarden Euro pro Jahr für den<br />
Staat ausgerechnet, allein für die Steuerprivilegien.<br />
Die öffentlichen Investitionen<br />
in die Infrastruktur kommen noch<br />
obendrauf.<br />
Aber am Ende, sagt Figenbaum, sei<br />
für viele in Oslo gar nicht das Geld entscheidend.<br />
Sondern der Zeitgewinn:<br />
freie Fahrt auf Busspuren, Parkplätze<br />
in der Stadt. Die Busfahrer der Hauptstadt<br />
beschweren sich, dass ihre Spuren<br />
mit E‐Autos vollgestopft sind. Das Parlament<br />
hat die Vergünstigungen bis 2017<br />
garantiert. Begründet hat die Regierung<br />
die Ausgaben mit den ehrgeizigen Klimazielen<br />
des Landes. Norwegen produziert<br />
nicht nur Öl, sondern auch klimaneutralen<br />
Strom im Überfluss. Selbst wenn<br />
die gesamte Fahrzeugflotte des Landes<br />
elektrisch wäre, würden die Wasserkraftwerke<br />
genug Elektrizität liefern.<br />
„Vielleicht nehmen sie uns die Busspuren<br />
weg“, überlegt Snorre Sletvoldd,<br />
der Generalsekretär des E-Auto-Verbands.<br />
„Vielleicht müssen wir auch ein<br />
bisschen Steuern akzeptieren.“ Das alles<br />
könne den Siegeszug nicht aufhalten.<br />
Die Sonne hat sich durchgekämpft,<br />
Norwegen<br />
subventioniert die<br />
Elektroautos mit<br />
fünf Milliarden<br />
Euro im Jahr,<br />
allein durch die<br />
Steuerprivilegien<br />
inzwischen ist es Mittag in Oslo. Das<br />
Haus des Verbands unten am Hafen ist<br />
eines der wenigen Überbleibsel des mittelalterlichen<br />
Oslo, über Jahrhunderte<br />
war hier eine Klinik für Geisteskranke.<br />
„Wenn Ihr in Deutschland wirklich eine<br />
Million Elektrofahrzeuge wollt, müsst ihr<br />
versuchen, die normalen Autos teurer zu<br />
machen“, schlägt Snorre Sletvold vor. Er<br />
sorgt sich ein wenig, dass Norwegen eine<br />
Insel der Seligen bleibt. Für die Autofirmen<br />
der Welt würde es sich auf Dauer<br />
nicht lohnen, Autos zu entwickeln, die<br />
überall auf dem Globus Skepsis ernten<br />
und nur in einem kleinen Land im Norden<br />
Begeisterung.<br />
Am Nachmittag ist die Stadtautobahn<br />
im Osten der Hauptstadt dicht.<br />
Die Fahrt im Elektroauto ins Industriegebiet<br />
Økern aber dauert nur eine Viertelstunde<br />
– Sahnespur. Die Produktionshalle<br />
von Buddyelectric liegt versteckt<br />
hinter einem Bürohaus. Man klopft an<br />
einer Glastür, von ganz hinten schlurft<br />
Geschäftsführer Petter Skram heran. Er<br />
macht erst mal einen Kaffee. Über der<br />
Kaffeemaschine verstaubt das Oktoberblatt<br />
eines Sportwagenkalenders von<br />
2013. „Acht Leute sind noch übrig“, sagt<br />
Skram. Das ist alles, was geblieben ist,<br />
von der einst hoffnungsvollen norwegischen<br />
E‐Auto-Industrie. Vor etwa 15 Jahren<br />
wollten sie die Welt erobern, Ford<br />
war groß beim Osloer E‐Autoentwickler<br />
Think eingestiegen, und auch bei Skrams<br />
Firma Buddyelectric fragten Investoren<br />
aus aller Welt an. In Norwegen haben sie<br />
früh auf Stromfahrzeuge gesetzt, kleine,<br />
einfach gebaute Stadtautos mit Plastikkarosse<br />
entwickelt. Skram erinnert sich<br />
noch, wie sie damals die Regierung von<br />
der Mehrwertsteuerbefreiung überzeugt<br />
haben. Wahrscheinlich habe die Politik<br />
gar nicht gewusst, was sie da tut.<br />
SO GING ES AM ANFANG um Industrieförderung,<br />
doch trotzdem ist wie so oft<br />
die Revolution an ihren Initiatoren vorbeigegangen.<br />
Think ist vom Markt verschwunden,<br />
bei Buddy schrauben sie in<br />
Handarbeit ein halbes Dutzend Autos<br />
pro Jahr zusammen. Sie hoffen auf die<br />
Chinesen, die vergangene Woche da waren,<br />
die hätten vielleicht Interesse an den<br />
Plänen, sagt Petter Skram.<br />
Es wird dämmerig. An einer Tankstelle<br />
im Norden Oslos vertritt sich<br />
Shobna vor einer Schnellladesäule die<br />
Beine, die Pharmazeutin hat tagsüber vergessen,<br />
die Batterie zu laden, jetzt holt sie<br />
sich für 44 Kronen 15 Minuten lang eine<br />
Viertelbatteriefüllung. Sie läuft auf und<br />
ab, erkundet das Tankstellenregal. An<br />
der Nachbarsäule füllt ein Mann seinen<br />
Brennstoffzellen-Hyundai mit Wasserstoff.<br />
Norwegen will auch bei Wasserstoffautos<br />
vorn dabei sein. Nur den Benzinern<br />
droht die Vertreibung aus dem Paradies.<br />
Illustrationen: Otto (Seiten 94 bis 98); Foto: Uta Wagner<br />
LUTZ MEIER hat in Oslo an<br />
einem Tag drei Viertel der<br />
Batterie leer gefahren – das<br />
Beschleunigen im E‐Mietwagen<br />
machte einfach zu viel Spaß<br />
98<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Guten Tag, Frau Ministerin. Hallo,<br />
Herr Ministerialrat. Grüß Gott,<br />
liebes Mitglied des Bundestages.<br />
Moin, Herr Hauptgeschäftsführer,<br />
und einen guten Tag, liebe Mitbürger.<br />
Wir haben etwas ganz<br />
Besonderes für Sie: Tagesspiegel<br />
Agenda. Der erste Lokalteil für die<br />
Berliner Republik – nur dienstags<br />
in der Sitzungswoche und nur im<br />
Tagesspiegel.<br />
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des Bundestages erscheint am Dienstag Tagesspiegel Agenda. Wenn Sie keine Ausgabe verpassen möchten, raten wir<br />
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KAPITAL<br />
Essay<br />
HERRENLOSE SKLAVEREI<br />
Von MAX A. HÖFER<br />
Zu seinem 150. Geburtstag missbrauchen selbstherrliche<br />
Wirtschaftsführer Max Weber zur Rechtfertigung ihres<br />
Handelns. Dabei wäre Deutschlands Soziologenpapst heute<br />
der schärfste Kritiker dieser Art des Kapitalismus<br />
100<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Foto: AKG Images<br />
Kann harte Arbeit unendlichen<br />
Spaß machen? Heute,<br />
so scheint es, mehr denn je.<br />
Überglücklich hat die 24-jährige<br />
Mae Holland einen der<br />
heiß begehrten Jobs bei Circle ergattert,<br />
einer angesagten kalifornischen Internetfirma.<br />
Doch ihre Euphorie schlägt bald in<br />
Horror um, denn die permanente Überwachung<br />
ihrer Leistung im Büro, aber<br />
auch zu Hause, die der Konzern seinen<br />
Mitarbeitern aufnötigt, verlangt Mae alles<br />
ab, psychisch und körperlich. Es ist<br />
ein auf unendliche Verbesserung angelegter<br />
Optimierungsprozess, der seinen<br />
totalitären Charakter stets mit humanitären<br />
Weltverbesserungsphrasen zu bemänteln<br />
weiß.<br />
Das Beklemmende an Dave Eggers<br />
Roman „The Circle“ ist, dass diese<br />
Utopie ihre Schatten nicht von weiter<br />
Ferne auf uns wirft, sondern ganz nah<br />
erscheint, gegenwärtig. Das von Eggers<br />
entworfene Unternehmen ist dem realen<br />
Internetgiganten Google nachempfunden.<br />
Die Algorithmen, die den Mitarbeiter<br />
auskundschaften und den Rauswurf der<br />
low performer empfehlen, sind bereits im<br />
Einsatz. Wer seinen Lebenslauf nicht penibel<br />
den aktuellen Vorgaben dieser Effizienzlogik<br />
anpasst, hat bald nicht mal<br />
mehr die Chance auf ein Vorstellungsgespräch.<br />
Anfang März hat Googles Verwaltungsratschef<br />
Eric Schmidt auf der Internetkonferenz<br />
South by Southwest in<br />
Austin klargemacht, dass er diese Art der<br />
Sozialdisziplinierung für unausweichlich<br />
und gut hält und dass er am liebsten die<br />
ganze Welt diesem Modernisierungsprozess<br />
unterwerfen will.<br />
Der große Theoretiker dieser Modernisierung<br />
ist Max Weber, der wohl<br />
bedeutendste deutschsprachige Soziologe.<br />
Weber, dessen 150. Geburtstag am<br />
21. April ansteht, beschreibt den Kapitalismus<br />
als Gipfel einer umfassenden<br />
weltgeschichtlichen Entwicklung: des<br />
westlich‐abendländischen Rationalismus,<br />
der mit griechischer Wissenschaft<br />
und römischem Recht zaghaft in der Antike<br />
begann. Besagten Gipfel erreichte<br />
der Rationalismus aber erst im Zuge der<br />
Reformation und schließlich im Siegeszug<br />
des Kapitalismus. Weber versteht<br />
darunter das systematisch auf Effizienz<br />
und Leistungssteigerung gerichtete<br />
Verhalten, ohne das unser Wirtschaftssystem<br />
undenkbar ist.<br />
Wie sich die noch fiktive Circle-Mitarbeiterin<br />
Mae mit jeder Faser ihres Körpers<br />
und ihrer Seele dem „wissenschaftlichen“<br />
Optimierungsprogramm ausliefert,<br />
könnte als ein weiterer Höhepunkt dieser<br />
Entwicklung gesehen werden. Aber<br />
hätte Weber dies noch goutiert? Sein Augenmerk<br />
galt stets dem „Menschentum“,<br />
das der moderne Kapitalismus hervorbringt.<br />
Er wäre weit davon entfernt gewesen,<br />
Maes Bereitschaft, sich ihrem Arbeitgeber<br />
derart zu unterwerfen, noch als<br />
freiwillige Zustimmung zu deuten. Weber<br />
sprach vom Kapitalismus als „Schicksalsmacht“<br />
und sah den modernen Menschen<br />
in einem „stahlharten Gehäuse der<br />
Hörigkeit“ gefangen. Dave Eggers nachdenklicher<br />
Roman, der die umfassende<br />
Sozialkontrolle thematisiert, in die uns<br />
die digitale Revolution hineinkatapultiert,<br />
hätte Weber gefallen.<br />
So nüchtern und empirisch Weber<br />
die Durchdringung aller Lebensbereiche<br />
durch das Nützlichkeitsprinzip beschreibt,<br />
so harsche Worte fand er dafür:<br />
„Herrenlose Sklaverei“ nannte er<br />
die Marktmechanismen, die sowohl dem<br />
Arbeitnehmer wie dem Unternehmer lediglich<br />
die zweifelhafte „Freiheit“ ließen,<br />
sich ihnen widerstandslos anzupassen:<br />
„Wer sich entgegenstellt, wird ökonomisch<br />
ebenso unfehlbar eliminiert“, heißt<br />
es in seiner berühmten Schrift „Die protestantische<br />
Ethik und der Geist des Kapitalismus“.<br />
Darin beschwört er eine<br />
Max Weber<br />
gilt als einer der Gründerväter<br />
der Soziologie. Geboren in Erfurt<br />
1864 als Sohn des nationalliberalen<br />
Politikers Max Weber senior<br />
und seiner Frau Helene, wuchs<br />
Weber in Berlin auf und studierte<br />
später Jura, Ökonomie,<br />
Philosophie und Geschichte. Er<br />
lehrte als Professor an den<br />
Universitäten Freiburg und<br />
Heidelberg. Zu seinen wichtigsten<br />
Veröffentlichungen gehören<br />
die 1904 verfasste Schrift „Die<br />
protestantische Ethik und der<br />
Geist des Kapitalismus“ sowie<br />
sein Hauptwerk „Wirtschaft und<br />
Gesellschaft“, das 1922, zwei<br />
Jahre nach seinem Tod, erschien<br />
Zukunft, die „Fachmenschen ohne Geist<br />
und Genussmenschen ohne Herz“ hervorbringt:<br />
„Dies Nichts bildet sich ein,<br />
eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums<br />
erstiegen zu haben.“ Ein kräftiger<br />
Satz, eine Absage an eine dumpf-optimistische<br />
Fortschrittsromantik, heute<br />
am besten passend auf die selbstgerechten<br />
„Do no evil“‐Internetmanager in<br />
Austin, die sich dort einmal mehr in der<br />
selbstverherrlichenden Verheißung gefielen,<br />
unser Leben und die Welt jeden Tag<br />
besser zu machen.<br />
Von dieser kulturkritischen Sicht ist<br />
allerdings in der Weber-Rezeption so gut<br />
wie nichts geblieben. Weber wird verharmlost,<br />
zuallererst von der Wirtschaft,<br />
die ihn gern als bürgerlichen Paradeintellektuellen<br />
zitiert. In den Festansprachen<br />
unserer Wirtschaftsführer taucht<br />
Weber als Stichwortgeber für Fleiß, Verantwortungsbewusstsein<br />
und Disziplin<br />
auf, gerade so, als habe er seine „Protestantische<br />
Ethik“ geschrieben, um die<br />
Menschen zu harter Arbeit und zur Einhaltung<br />
der Betriebsdisziplin anzuhalten.<br />
Gern wird dabei auf die Rationalität<br />
des Marktes verwiesen, die Weber<br />
herausgearbeitet hat, und ihre moralische<br />
Wirkung. Danach sei die „schrankenlose<br />
Erwerbsgier“ gerade kein Wesensmerkmal<br />
der Marktwirtschaft. Im<br />
Gegenteil habe Weber gezeigt, wie der<br />
Kapitalismus die Gier in einem zweckrationalen<br />
Korsett bändigt und das Streben<br />
nach kontinuierlich steigendem Gewinn<br />
als Aufgabe rationaler Unternehmensführung<br />
begreift. Exzesse wie jene der<br />
Bonusbanker seien demnach nur Ausrutscher.<br />
Solange die Politik die richtigen<br />
Rahmenbedingungen schafft, ist die<br />
marktwirtschaftliche Welt in Ordnung.<br />
Das Irrationale dieser Entwicklung,<br />
das Weber ausführlich beschreibt, unterschlagen<br />
unsere Konzernlenker dabei.<br />
Weber hat es bereits an der Quelle<br />
des „Geistes des Kapitalismus“, der calvinistischen<br />
Ethik der Puritaner, ausgemacht:<br />
Als Zeichen dafür, von Gott<br />
auserwählt zu sein, galt ihnen der wirtschaftliche<br />
Erfolg. Fleiß, Kapitalbildung<br />
und Selbstdisziplin wurden so zu ihren<br />
Tugenden. Während überall auf der Welt<br />
die Menschen arbeiteten, um zu leben,<br />
war es bei den Puritanern anders: Sie<br />
lebten, um zu arbeiten. Arbeitsunlust,<br />
101<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KAPITAL<br />
Essay<br />
Genuss, Zeitverschwendung galten dagegen<br />
als Zeichen der Verdammnis. So<br />
entwickelte sich, als unbeabsichtigte Nebenfolge<br />
einer religiösen Weltablehnung,<br />
eine höchst erfolgreiche diesseitige Arbeits-<br />
und Profitmoral, die am Ende, abgelöst<br />
von ihren religiösen Grundlagen,<br />
den American Way of Life hervorbrachte.<br />
Als „schlechthin irrational“ bezeichnete<br />
Weber aber nicht nur den Arbeitseifer,<br />
den die Leistungsasketen in den<br />
Chefetagen heute radikaler denn je vorleben.<br />
Webers zentrale Fragestellung geht<br />
darüber hinaus: Wie kann das Verlangen<br />
nach einem sinnvollen, gelungenen Leben<br />
überhaupt im stahlharten Gehäuse<br />
der Zweckrationalität verwirklicht werden?<br />
Weder der Markt noch die Technik<br />
oder die Wissenschaft können uns sagen,<br />
wie wir leben sollen. Bei Sinnfragen lassen<br />
sie uns im Stich.<br />
Die Wissenschaft hat die einst von<br />
Geistern bevölkerte Welt entzaubert, sie<br />
hat die heiligen Berge und dämonischen<br />
Meere dem kalten Zugriff der betriebswirtschaftlichen<br />
Nutzung geöffnet. Aber<br />
ob Wirtschaftswachstum und Innovation<br />
um ihrer selbst willen noch einen Sinn haben,<br />
müssen wir selbst beantworten. Zu<br />
Webers Zeiten gab es keine Atombomben<br />
und es schwammen keine Müllstrudel<br />
von der Größe Spaniens im Atlantik.<br />
Von einer Überflussgesellschaft, die allein<br />
20 Prozent ihrer Lebensmittel wegwirft,<br />
war man weit entfernt. Dennoch stand<br />
Weber der irrationale Kern der Modernisierung<br />
klar vor Augen. Je technisch<br />
beherrschbarer die Natur und je produktiver<br />
die Wirtschaft auch zu werden<br />
scheinen, eine rationale Welt schaffen wir<br />
so nicht und schon gar keine heile.<br />
WEBER TAUGT DESHALB NICHT zum Vorzeigeintellektuellen<br />
eines Steigerungskapitalismus,<br />
der für ein bisschen Verantwortungsethik<br />
hier und für mehr<br />
Pflichtgefühl und Bescheidenheit dort<br />
plädiert. Weber als Apologet des „ehrbaren<br />
Kaufmanns“, der den Profitmaximierern<br />
von heute ins Gewissen redet –<br />
so bringt man einen großen Denker um<br />
jede kritische Aktualität.<br />
Auch die deutsche Weber-Forschung<br />
verzettelt sich lieber in biederen, rückwärtsgewandten<br />
Debatten. Bis heute<br />
dauert der Streit, ob die „Protestantische<br />
Der Markt, die<br />
Technik und die<br />
Wissenschaft:<br />
Bei Sinnfragen<br />
lassen sie uns<br />
im Stich<br />
Ethik“ genügend Beispiele für calvinistische<br />
Kaufmannskarrieren enthalte und<br />
ob Weber nicht Benjamin Franklin, seinen<br />
Gewährsmann für die radikalisierte<br />
Zeitökonomie („Zeit ist Geld“), falsch zitiert.<br />
Als ob es je ernsthaft bezweifelbar<br />
war, dass protestantische Länder überproportional<br />
wirtschaftlich erfolgreich<br />
waren und dass die „protestantische Arbeitsethik“<br />
substanziell zum Wohlstand<br />
beiträgt. Zuletzt hat der Chicagoer Ökonom<br />
Jörg Spenkuch gezeigt, dass der Zusammenhang<br />
zwischen dem Anteil der<br />
Protestanten in einem Land und dessen<br />
ökonomischem Erfolg heute statistisch<br />
noch klarer zutage tritt als vor 100 Jahren,<br />
zu Webers Zeiten.<br />
Was über dem Fußnoten-Gezänk der<br />
Gelehrten versäumt wird, ist die Auseinandersetzung<br />
über die Aktualität und<br />
Relevanz von Webers Thesen. Diese findet<br />
dafür im Ausland statt. So hat der<br />
französische Soziologe Luc Boltanski<br />
gezeigt, wie die alte Welt der Berufsmenschen,<br />
die von hoher Arbeitsbereitschaft,<br />
aber auch stark von Bestrafungen<br />
bestimmt war, sich in den sechziger<br />
Jahren allmählich verändert hat. Damals<br />
befürchteten die Unternehmen noch den<br />
Untergang der Arbeitsmoral durch Konsum,<br />
Sex und Rock ’n’ Roll. In Wahrheit<br />
war aber die Gegenkultur ihre Rettung:<br />
Boltanski beschreibt, wie Bedürfnisse,<br />
die „direkt der Ideenwelt der 68er entliehen<br />
sind“, die alten Arbeitstugenden<br />
der Pflicht und Treue mit den Idealen<br />
der Autonomie, Flexibilität, Spontaneität<br />
und Kreativität auffrischten. Heute ist<br />
niemand stärker gefährdet, zum Workaholic<br />
zu werden, als die unkonventionellen,<br />
disponiblen, intrinsisch motivierten<br />
Mitarbeiter, die sich mit ihren Projekten<br />
identifizieren und ihren Selbstwert von<br />
der Anerkennung im Beruf ableiten. Sosehr<br />
sich der asketische Sparkapitalismus<br />
von früher in einen spaßmachenden<br />
Schuldenkapitalismus verwandelt hat, so<br />
hartnäckig bleiben wir doch auf die Bedeutung<br />
von Arbeit und Erfolg fixiert.<br />
EINE WEITERE ERGÄNZUNG erfuhr Weber<br />
durch den Amerikaner Colin Campbell.<br />
Weber habe sich zu sehr auf die<br />
„männliche“, kalte Seite des Berufsmenschen<br />
konzentriert und die „weibliche“,<br />
warme und „empfindsame“ Seite des Pietismus<br />
vernachlässigt. Deshalb habe<br />
seine geniale Erzählung über den kapitalistischen<br />
Geist auch eine blinde Stelle:<br />
Wie konnte aus dem „asketischen Protestantismus“<br />
eine moderne Konsumgesellschaft<br />
werden? Campbells Antwort in<br />
seinem Buch „The Romantic Ethic and<br />
the Spirit of Modern Consumerism“ lautet:<br />
durch Gefühlskontrolle. Gerade bei<br />
sensiblen Romantikern durchwandern<br />
die Gefühle mehr Kontrollen, bevor sie<br />
zugelassen werden. Dadurch wird er aber<br />
auch souveräner im Umgang mit den Versuchungen<br />
des Konsums.<br />
Am Aufstieg der Werbung und des<br />
Filmes zeigt auch die israelische Soziologin<br />
Eva Illouz, wie Waren an romantische<br />
Gefühle gebunden und damit konsumierbar<br />
werden. So hat sich in Webers<br />
stahlhartem Gehäuse eine an Konsum<br />
gekoppelte Emotionalität ausgebreitet.<br />
Umgekehrt ist die romantische Liebe<br />
nicht mehr ein Fluchtpunkt aus einer kalten<br />
Welt, sondern die Liebe selbst wird<br />
zunehmend ökonomisiert – man denke<br />
nur an Partnerbörsen im Internet.<br />
Webers „Fachmenschen ohne Geist“<br />
und „Gefühlsmenschen ohne Herz“ sind<br />
aktueller denn je. Wir sollten daher nicht<br />
weiter den Soziologenpapst verehren,<br />
sondern Weber als unbestechlichen Diagnostiker<br />
des Kapitalismus und der Modernisierung<br />
neu entdecken. Denn wenn<br />
wir nicht aufpassen, enden wir alle wie<br />
Mae Holland in „The Circle“.<br />
MAX A. HÖFER leitete<br />
lange das Politikressort von<br />
Capital und war bis 2009<br />
Geschäftsführer der Initiative<br />
Neue Soziale Marktwirtschaft<br />
Foto: Katja Zimmermann<br />
102<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
STIL<br />
„ Wenn der Vater auf<br />
dem Skateboard<br />
steht, was soll der<br />
Sohn dann eigentlich<br />
noch tun, um sich<br />
abzugrenzen? Vielleicht<br />
Krawatte tragen “<br />
Der Produktdesigner Werner Aisslinger in der Rubrik<br />
„Warum ich trage, was ich trage“, Seite 116<br />
103<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
STIL<br />
Porträt<br />
RAUSCH, WOHL DOSIERT<br />
Beate Hindermann erzeugt Stimmungen. Durch das richtige Licht. Oder durch das richtige<br />
Getränk. Wie funktioniert das? Ein Besuch bei der Chefin der Berliner Victoria Bar<br />
Von ALEXANDER GRAU<br />
Foto: Sebastian Hänel für <strong>Cicero</strong><br />
Bars sind Orte des Rückzugs. Zugleich<br />
dienen sie der Kommunikation.<br />
In einer guten Bar ist daher<br />
das Licht wichtig. Es darf die Gäste<br />
nicht ausleuchten; im Dämmerlicht sollen<br />
sie sich aufgehoben fühlen. Aber es<br />
darf auch nicht so düster sein, dass verführerische<br />
Momente unmöglich werden.<br />
Zu den wenigen Lichtquellen, die<br />
den langen, schlauchartigen Barraum<br />
der Berliner Victoria Bar beleuchten,<br />
gehört eine auffällige Tischlampe. Sie<br />
steht gleich vorne, am Anfang des Tresens.<br />
Unter dem roten Schirm rekelt sich<br />
als Lampenständer eine nackte Schönheit,<br />
die sich mit ihrem Rücken an einen<br />
Baumstamm lehnt.<br />
Das Stück, so wird Beate Hindermann<br />
später erzählen, zierte einst ein<br />
Bordell in Soho. Ein Freund brachte es<br />
von New York nach Berlin. Sechs Jahre<br />
lang schmückte die Dame den Tresen<br />
des Green Door, jener legendären Bar,<br />
die Beate Hindermann und Stefan Weber<br />
1995 am Winterfeldtplatz in Berlin-<br />
Schöneberg gegründet hatten. Seit 2001<br />
aalt sich die Schöne nun in der Victoria<br />
Bar.<br />
Beate Hindermann, 49, Deutschlands<br />
bekannteste Barfrau, hat uns einen<br />
Wasserkrug auf den Tisch gestellt,<br />
zwei Gläser und Haferkekse. Ihre blonden<br />
Haare hat sie nach hinten gebunden.<br />
Die markanten Züge ihres Gesichts verstärkt<br />
die schwarze Brille. Ihre Stimme<br />
ist überraschend tief und rau. Unwillkürlich<br />
fantasiert man unzählige Nächte in<br />
verrauchten Bars in sie hinein.<br />
Ursprünglich, erzählt Beate Hindermann,<br />
wollte sie einen anderen Berufsweg<br />
einschlagen. Als die gebürtige<br />
Rheinländerin 1986 nach Berlin kam,<br />
studierte sie Geschichte und Publizistik<br />
an der Freien Universität. Doch mehr als<br />
das Studium faszinierten sie die Stadt<br />
und das Nachtleben: „Besetzte Häuser,<br />
Musik, Kunst, die Clubs. Ich konnte mir<br />
gar nicht vorstellen, dass eine Stadt so<br />
groß sein kann.“<br />
Nachts jobbte die Studentin in einer<br />
Diskothek und durfte erste Cocktails mixen.<br />
Als ihr Chef dann eine Bar übernahm<br />
– die „Weiße Maus“ in Wilmersdorf<br />
–, machte er ihr das Angebot, dort<br />
Barfrau zu werden. „Das war für mich<br />
ein Glücksfall, weil es eine sehr kleine<br />
und sehr schöne Bar war, ich konnte da<br />
frei aufspielen, learning by doing.“<br />
Dass sie sich bald gegen das Studium<br />
und für den Beruf Barfrau entschied, hat<br />
auch mit ihrer Familie zu tun. Sie erzählt:<br />
von den Großeltern, die in Dortmund die<br />
erste Bahnhofsgaststätte nach dem Krieg<br />
hatten, von dem Landgasthaus im Bergischen<br />
Land, in dem sie als Teenager aufwuchs,<br />
vom Spülen des Kaffeegeschirrs<br />
mit der Großmutter, vom Rollschuhlaufen<br />
im Festsaal und wie sie als Zwölfjährige<br />
auf der Kegelbahn bediente. „Ich<br />
wusste, was Gastronomie heißt.“<br />
SIE BERICHTET SCHNÖRKELLOS. Vermutlich<br />
muss man so sein, um hinter einer<br />
Bar zu bestehen. Und um eine Institution<br />
zu werden. Dazu passt auch, dass sie alle<br />
Fragen abblockt, die auf ihre Sonderstellung<br />
als Frau in der deutschen Barlandschaft<br />
abzielen: „Für mich war das immer<br />
selbstverständlich. Ich habe meine Oma<br />
hinter der Theke gesehen, meine Mutter.<br />
Ich habe nie viel darüber nachgedacht.“<br />
Ihre Gestik wirkt resolut. Schwer<br />
vorzustellen, dass sie sich irgendwo<br />
nicht durchsetzen kann. Nur einmal hat<br />
sie eine „Zurückweisung erlebt“, wie<br />
sie es nennt. Das war 1990, nachdem sie<br />
in der Bar am Lützowplatz angefangen<br />
hatte und zunächst nur als Servicekraft<br />
arbeiten durfte. „Als die Personaldecke<br />
aber mal etwas dünner wurde, entsann<br />
man sich dann doch meiner Talente.“ Es<br />
klingt etwas ironisch, aber nicht bitter.<br />
Am Lützowplatz arbeitete sie mit<br />
Stefan Weber zusammen. Mit ihm verwirklichte<br />
sie 1995 ihren Traum von der<br />
eigenen Bar, ihr „Gesellenstück“, wie<br />
es Hindermann bescheiden nennt, denn<br />
das Green Door war ein Mythos, nur zu<br />
klein war der Laden. Als es zu Verwerfungen<br />
im Team kam, beschlossen Hindermann<br />
und Weber von vorne anzufangen,<br />
und gründeten 2001 die Victoria Bar,<br />
das „Meisterstück“, wie sie sagt.<br />
Zwei Jahre später starteten die beiden<br />
die „Schule der Trunkenheit“ – eine<br />
Vortragsreihe, in der sie, begleitet von<br />
passenden Drinks, der Geschichte und<br />
den Geschichten der wichtigsten Spirituosen<br />
nachgehen. Es geht ihr nicht um<br />
Getränke, sondern um Kultur, um Stimmungen,<br />
um die richtige Dosis Rausch.<br />
Bald kam im Auditorium das Bedürfnis<br />
auf, das Gehörte auch nachlesen zu<br />
können. So beschlossen die Dozenten,<br />
aus ihrem Wissen ein Buch zu machen.<br />
„Rezeptbücher gibt es viele“, sagt Hindermann,<br />
„aber ein Buch, das zeigt, dass<br />
hinter jeder Flasche, hinter jedem Drink<br />
ein Stück Kulturgeschichte steht, das die<br />
Welt der Bars so reich macht, das gab es<br />
bisher in Deutschland so noch nicht.“<br />
Beate Hindermann hat uns zwei Gin<br />
and Tonic eingeschenkt: „Unterschiedliche<br />
Spirituosen erzeugen unterschiedliche<br />
Räusche. Den Ginrausch bezeichnen<br />
wir immer als einen gesellschaftlich visionären<br />
Rausch.“ Vielleicht ist deshalb<br />
Gin auch ihre Lieblingsspirituose. Gin<br />
sei allerdings eher was für den Sommer.<br />
„Dagegen begleitet einen Champagner<br />
gut durchs ganze Jahr.“<br />
ALEXANDER GRAU schätzt gute Bars.<br />
Der freie Journalist schreibt regelmäßig<br />
auf <strong>Cicero</strong> Online über Stilthemen<br />
105<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
STIL<br />
Porträt<br />
MR. WUNDERKIND<br />
Ronan Farrow ist Menschenrechtler, Gelehrter, Diplomat und nun auch TV-Moderator.<br />
Seine Mutter ist Mia Farrow, sein Vater Woody Allen. Oder doch Sinatra?<br />
Von CLAUDIA STEINBERG<br />
Bei kaum einem ist 26 ein so auffallend<br />
junges Alter wie bei Ronan<br />
Farrow: Der Sohn von Mia Farrow<br />
und Woody Allen hat längst so viel erlebt<br />
und erreicht, dass sein Lebenslauf<br />
nicht auf eine und auch nicht auf zwei<br />
Seiten passt.<br />
Seine Hollywood-Herkunft, sein<br />
Filmstarflair und seine Zeitrafferbiografie<br />
– zwei abgeschlossene Studien, zwei<br />
Jahre im diplomatischen Dienst, das renommierte<br />
Rhodes-Stipendium – machten<br />
ihn in den Augen des liberalen Kabelsenders<br />
MSNBC zum idealen Kandidaten<br />
für eine eigene Show.<br />
Denn die intensiv umworbene Zielgruppe<br />
der 18- bis 24-Jährigen zieht dem<br />
Fernsehen längst das Internet vor, mit<br />
seinen Bürgerreportern und Blogs. Das<br />
alternde Medium braucht dringend eine<br />
Injektion jugendlicher Energie, die sich<br />
mit den Konventionen der Berichterstattung<br />
allerdings einigermaßen vertragen<br />
muss. Und wer aus der Generation Y hat<br />
schon den Arabischen Frühling mit eigenen<br />
Augen verfolgt, wer war mit dem<br />
US-Sondergesandten Richard Holbrooke<br />
in Afghanistan und Pakistan?<br />
So steht das politische Wunderkind<br />
nun jeden Mittag um eins im Studio und<br />
unterhält sich souverän mit Politikern<br />
und Kommentatoren über die Machenschaften<br />
der CIA, über das „Bridgegate“-<br />
Debakel des Gouverneurs von New Jersey,<br />
über die jüngsten Flüchtlinge des<br />
Assad-Regimes in Lagern im Bekaa-Tal.<br />
Die Reportagen der „Ronan Farrow<br />
Daily“ Show sind locker aus der<br />
Hand gedreht und schnell geschnitten.<br />
Der blonde Prinz der New Yorker Upper<br />
East Side wandelt wie selbstverständlich<br />
durch einen Slum in Nairobi, ganz<br />
offenbar in seinem Element: Schon mit<br />
zehn begleitete er seine Mutter Mia nach<br />
Südafrika, wo ihnen Nelson Mandela in<br />
einer Privataudienz seine Position zum<br />
friedlichen Widerstand darlegte. Im selben<br />
Jahr nahm der Filmstar Mia, damals<br />
bereits Unicef-Botschafterin und Menschenrechtlerin,<br />
Ronan mit nach Darfur.<br />
Seine Leidenschaft für die Diplomatie<br />
entwickelte Ronan Farrow zu Hause,<br />
wo er mit drei leiblichen und acht adoptierten<br />
Geschwistern aus aller Welt sowie<br />
einer Menagerie von Katzen, Vögeln<br />
und Chinchillas aufwuchs. Ronans<br />
Schwester Quincy kam als Tochter einer<br />
drogenabhängigen Mutter zur Welt, sein<br />
Bruder Moses leidet unter einer Zerebralparese,<br />
Minh aus Vietnam ist blind. Sein<br />
Vater Woody Allen, der im Manhattan<br />
von Ronans Kindheit wie ein Gott verehrt<br />
wurde, wohnte allein auf der anderen<br />
Seite des Central Park.<br />
IHREM ÜBERFLIEGER RONAN, der im<br />
Grundschulalter Kafkas „Verwandlung“<br />
verschlang, sich mit elf am Bard College<br />
in Massachusetts immatrikulierte und<br />
mit 16 sein Jurastudium an der Yale University<br />
begann, legte Mia immer wieder<br />
ans Herz, ein normales Leben zu führen.<br />
Normalität fand Ronan jedoch nur in der<br />
Ferne, unter Jugendlichen in Jordanien,<br />
Algerien oder Israel zum Beispiel.<br />
Dort wusste niemand von seiner<br />
berühmten Großmutter Maureen<br />
O’Sullivan, die sich als hilfsbedürftige<br />
Jane in die Arme von Tarzan geflüchtet<br />
hatte, von seiner Tante Prudence Farrow,<br />
der die Beatles einen Song widmeten,<br />
oder gar von seiner Mutter, die<br />
13 Filme mit ihrem Gefährten Woody<br />
drehte, ehe sie Nacktfotos ihrer Adoptivtochter<br />
Soon-Yi auf seinem Kaminsims<br />
entdeckte, woraufhin ein bitterer<br />
und vom Boulevard lustvoll begleiteter<br />
Trennungskrieg begann.<br />
Anfang der neunziger Jahre gab es<br />
wohl keine glamourösere und zugleich<br />
skandalösere Familie als die von Ronan<br />
Farrow. Am selben Tag, als die „Ronan<br />
Farrow Daily“-Show angekündigt wird,<br />
erscheint ein Porträt seiner Mutter in Vanity<br />
Fair. Ein wenig kokett lässt sie darin<br />
durchblicken, dass ihr kurzfristiger<br />
Ehemann und langjähriger guter Freund<br />
Frank Sinatra „möglicherweise“ Ronans<br />
leiblicher Vater sein könnte – und in der<br />
Tat, seine Ähnlichkeit zu „Old Blue Eyes“<br />
ist unverkennbar. „Wir sind ‚möglicherweise‘<br />
alle Kinder von Frank Sinatra“,<br />
verkündet Farrow mit typischer Gelassenheit<br />
auf Twitter, die Botschaft wird<br />
zehntausendmal weitergeleitet.<br />
Kurz darauf beschuldigt seine<br />
Schwester Dylan ihren Adoptivvater<br />
Woody Allen, der gerade für sein Lebenswerk<br />
mit dem Golden Globe ausgezeichnet<br />
wurde, in einem offenen Brief an die<br />
New York Times öffentlich des sexuellen<br />
Missbrauchs, wogegen sich dieser mit einer<br />
Gegendarstellung wehrt.<br />
Das Familiendrama flackert wieder<br />
auf, Ronan Farrow ist omnipräsent,<br />
in Talkshows, in den Klatschkolumnen.<br />
Drei Tage nach seinem Debüt als TV-Moderator<br />
erhält er den Walter-Cronkite-<br />
Preis für herausragende Berichterstattung.<br />
Die LA Times hat ihm noch einen<br />
weiteren Ehrentitel zugedacht – jenen des<br />
„Public Intellectual“. Seit Susan Sontags<br />
Tod ist die Rolle in der amerikanischen<br />
Öffentlichkeit vakant. Doch vielleicht<br />
verschafft sein in Kürze erscheinendes<br />
Buch „Die Büchse der Pandora“ über die<br />
Anstachelung islamistischer Terrorgruppen<br />
durch fehlgeleitete amerikanische<br />
Strategien Farrow endgültig das Recht<br />
auf den Thron. Er wäre mal wieder mit<br />
Abstand der Jüngste.<br />
CLAUDIA STEINBERG berichtet aus New<br />
York für deutsche Magazine. Sie lebt dort<br />
schon länger, als Ronan Farrow alt ist<br />
Foto: Mark Mann /AUGUST<br />
106<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
STIL<br />
Phänomenologie<br />
108<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
KLEID<br />
DER<br />
MACHT<br />
Soldaten, Stewardessen und<br />
Karrieristen: Uniformen<br />
prägen unseren Alltag, mal<br />
mehr, mal weniger subtil. Was<br />
drücken die Uniformierten<br />
durch ihre Kluft aus?<br />
Von ANNE WAAK<br />
Mitte der Sechziger wurde es<br />
bunt in der Luft: Diese Uniform<br />
entwarf der italienische Designer<br />
Emilio Pucci für die Stewardessen<br />
der texanischen Fluggesellschaft<br />
Braniff International. Es war die<br />
große Zeit der Raumfahrt, daher<br />
die merkwürdigen Helme<br />
Sie hat nicht den besten Ruf. In einer pluralistischen<br />
Postmoderne gilt die Uniform<br />
als Merkmal von Vereinheitlichung, Vermassung<br />
und Identitätslosigkeit. Soldaten<br />
tragen sie, Häftlinge, Sektenmitglieder:<br />
alle, die – freiwillig oder nicht – Freiheiten abgegeben<br />
haben.<br />
Die Uniform, deren Zweck es ist, nach außen Zugehörigkeit<br />
zu vermitteln und nach innen Korpsgeist,<br />
scheint unvereinbar mit der Mode, die Individualität<br />
und Selbstausdruck verheißt.<br />
Und doch fasziniert sie die Designer: So zeigte das<br />
Modelabel Hugo Boss im Februar während der New<br />
York Fashion Week schwarze und beige Mäntel mit Ledergürteln<br />
und Schulterklappen. Der neue Boss-Chefdesigner<br />
Jason Wu hatte damit sicher nicht vor, an die<br />
dreißiger Jahre zu erinnern, als Boss die Uniformen<br />
für die Angehörigen der Wehrmacht, der SS und sogar<br />
der Hitler-Jugend produzierte. Vielmehr steht die<br />
Militäruniform für Strenge, Disziplin und durch ihren<br />
speziellen Minimalismus auch für Eleganz – Attribute,<br />
die Wu als typisch für die deutsche Marke erachtet.<br />
Auf den ersten Blick ist der sogenannte Military-<br />
Stil ein Unisex-Look – einer, der Geschlechtsunterschiede<br />
einebnet. Doch wenn Victoria Beckham ein<br />
tarngrünes Kleid mit Gürtel und Brustplatten über den<br />
Laufsteg schickt, überträgt sie diese männlich-militärischen<br />
Elemente auf die Frauenmode, die trotz Hochgeschlossenheit<br />
und Überknielänge sexy wird.
STIL<br />
Phänomenologie<br />
Wie die Modetheoretikerin Barbara Vinken unlängst<br />
darlegte, leisten es sich Frauen, die ihren Mann<br />
stehen, inzwischen, sich ganz als Frau anzuziehen.<br />
Und tragen im Beruf eben keinen Hosenanzug und<br />
kein Kostüm mehr, sondern das Allerweiblichste überhaupt:<br />
ein Kleid. Damit reklamieren sie für sich das<br />
Recht, weiblich aussehen zu dürfen, ohne ihre Autorität<br />
zu gefährden. Um als Businesskleidung geeignet zu<br />
sein, muss ein Kleid aber mit Macht aufgeladen werden.<br />
Das leisten die der Uniform entliehenen Versatzstücke.<br />
Reverenz an die Uniform:<br />
ein Kleid aus der Kollektion<br />
von Victoria Beckham ( 2012 )<br />
Ugandas Diktator Idi Amin<br />
( 1925-2003 ) ließ seine<br />
Uniformen angeblich extra<br />
verlängern, damit alle Orden<br />
Platz haben<br />
So sah 1930 die Kluft der<br />
ersten Stewardessen auf der<br />
Strecke San Francisco –<br />
Chicago aus<br />
FRÜHFORMEN DER UNIFORM gab es bereits in der römischen<br />
Legion. Um Tausende Soldaten auszustatten,<br />
war es günstiger, auf einheitliche Kleidung zurückzugreifen.<br />
Mit dem Untergang des Römischen Reiches<br />
geriet die Uniform zunächst in Vergessenheit. Später<br />
sollte das Militär sogar entscheidenden Einfluss auf die<br />
serielle Produktion von Konfektionskleidung haben.<br />
So war es Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der Anfang<br />
des 18. Jahrhunderts die Soldaten seines stehenden<br />
Berufsheers vermessen und einkleiden ließ und<br />
so den Weg für standardisierte Kleidergrößen ebnete.<br />
Vor 200 Jahren wurde in Preußen sogar der aus<br />
heutiger Sicht amüsante bis beängstigende Versuch unternommen,<br />
ein einheitliches Nationalkostüm durchzusetzen.<br />
In der Bevölkerung herrschten aufgrund<br />
der Vormachtstellung des napoleonischen Frankreichs<br />
eine diffuse Unzufriedenheit und das Gefühl, identitätslos<br />
zu sein. Nachdem sich Napoleon in der Völkerschlacht<br />
bei Leipzig geschlagen geben musste, erwachte<br />
1813 ein neues deutsches Nationalbewusstsein.<br />
In der Folge sollte nicht nur die Sprache von fremdländischen,<br />
sprich französischen Einflüssen gesäubert,<br />
auch die Erscheinung sollte „deutsch“ werden.<br />
Sogar Modezeitschriften wurden gemahnt, zur Popularisierung<br />
der Einheitskleidung beizutragen. Dabei<br />
war beiden Seiten bewusst, dass Publikationen wie das<br />
Journal des Luxus und der Moden oder die Allgemeine<br />
Moden-Zeitung damit an ihrer eigenen Abschaffung<br />
arbeiteten. Denn wo eine Volksuniform, da keine Modeindustrie<br />
und keine Magazine. Aber die Gazetten erwiesen<br />
sich als langlebiger als die Idee von der Volkstracht.<br />
Denn die war mit den Ergebnissen des Wiener<br />
Kongresses schon ein Jahr später wieder gestorben.<br />
Eine militärische Uniform signalisiert Macht. Wer<br />
sie trägt, vermittelt Autorität, Professionalität und Sicherheit.<br />
Als sich in den neunziger Jahren die Zahl<br />
der Zwischenfälle mit gewalttätigen Passagieren im<br />
internationalen Flugverkehr mehr als verdreifachte,<br />
statteten viele Fluggesellschaften die Uniformen ihrer<br />
Stewardessen mit goldenen Ärmelstreifen aus. Denn<br />
militärisch-uniformierende Elemente haben sich als<br />
hilfreich erwiesen, um gegenüber potenziellen Gegnern,<br />
von betrunkenen Geschäftsfrauen bis hin zu Fanatikern,<br />
Macht zu demonstrieren. Aus dem gleichen<br />
Grund sind Piloten bis heute zum Tragen einer Mütze<br />
verpflichtet. Wer den Hut aufhat, sagt, wo es langgeht.<br />
Fotos: Bettmann/Corbis (Seiten 108 bis 109), Karl Prouse/Catwalking/Getty Images, DDP Images/Camera Press, IMAGO<br />
110<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Doch wie kam der Hut überhaupt in die Luftfahrt?<br />
Um den Leuten am Anfang des 20. Jahrhunderts die<br />
Angst vor dem Fliegen zu nehmen, griff man auf das<br />
zurück, was sich in der Schifffahrt bewährt hatte: Das<br />
Flugzeug nannte man Luftschiff, der diensthabende Pilot<br />
hieß Kapitän, und wie dieser trug er mit einer marineblauen<br />
Uniform militärische Dienstkleidung. Als die<br />
Lufthansa 1928 zwei Jahre nach ihrer Gründung den<br />
Bordservice einführte, war dafür zunächst ein Schiffssteward<br />
zuständig, dessen Bodenuniform ebenfalls aus<br />
einem dunkelblauen Dienstanzug mit einreihigem Jackett<br />
bestand, das an Bord durch eine weiße Servierjacke<br />
ersetzt wurde.<br />
Als man in den USA damit begann, Frauen mit<br />
dem Dienst im Flugzeug zu betrauen, engagierte man<br />
ausgebildete Krankenschwestern, die während des<br />
Dienstes ihre weiße Schwesterntracht trugen. Schnell<br />
merkten die Verantwortlichen der Fluggesellschaften,<br />
dass die Kittel den Fokus zu sehr auf die Risiken des<br />
Fliegens lenkten.<br />
Die erste genuine Stewardessen-Uniform, die Boeing<br />
Air Transport 1930 einführte, bestand aus einem<br />
dunkelgrünen Kostüm mit zweireihiger Jacke und zwei<br />
Fliegernadeln am Revers, knielangem Faltenrock und<br />
weicher Kappe. Mit freundlichem Lächeln und ansprechendem<br />
Äußeren sollten die Damen die überwiegend<br />
männlichen Fluggäste die Gefahren des Fliegens vergessen<br />
lassen.<br />
Richtig modisch wurde die Stewardess erst Mitte<br />
der Sechziger, als die texanische Fluggesellschaft Braniff<br />
International den italienischen Modedesigner Emilio<br />
Pucci engagierte, auf dass er die Uniformen zeitgemäß<br />
machte. Das hieß: pinke Kostüme mit Miniröcken,<br />
grüne Stiefeletten und durchsichtige Plastikhelme – es<br />
war die große Zeit der Raumfahrt. Das Ganze war<br />
so erfolgreich, dass andere nachzogen: TWA beauftragte<br />
Pierre Balmain, Scandinavian Airlines den jungen<br />
Christian Dior.<br />
Mit der Hinwendung zu jugendlich-modischen<br />
Outfits erlitten die Stewardessen allerdings einen Autoritätsverlust,<br />
der sie anfälliger für männliche Übergriffe<br />
machte. Erst Ralph Lauren kehrte 1978 unter<br />
dem Eindruck der Emanzipation, aber auch der Ölkrise<br />
Mit der Hinwendung zu<br />
jugendlich-modischen<br />
Outfits erlitten die<br />
Stewardessen einen<br />
Autoritätsverlust<br />
und erster Terroranschläge zurück zu einem Stil, der<br />
„der Uniform wieder einen Hauch von ‚Uniform‘“ verlieh,<br />
wie es in einer Presseerklärung von TWA hieß.<br />
Laut dem britisch-schweizerischen Philosophen<br />
Alain de Botton liegt der erotische Appeal der Uniform<br />
in der Diskrepanz zwischen der rationalen Kontrolle<br />
begründet, die Uniformen symbolisieren, und<br />
der ungezügelten sexuellen Leidenschaft, die dabei<br />
zeitweise die Oberhand gewinnen kann. Und sei es in<br />
der Fantasie. Denn im täglichen Leben begegnen uns<br />
Uniformträger meist mit geschäftsmäßiger Indifferenz.<br />
„In unseren Sex-Spielchen aber können wir das Drehbuch<br />
umschreiben“, schreibt de Botton in seinem Essay<br />
„How To Think More About Sex“. „Die Krankenschwester<br />
will so dringend mit uns schlafen, dass sie<br />
vergisst, die Blutprobe zu nehmen; der Kapitalist lässt<br />
einmal alle Erwägungen in Sachen Geld beiseite und<br />
fegt seinen Computer vom Schreibtisch, um uns leidenschaftlich<br />
zu küssen. Intimität gewinnt, zumindest<br />
symbolisch, über Status und Verantwortung.“<br />
DER BEANTWORTUNG DER FRAGE, warum sich die<br />
Militärkluft bei Diktatoren so großer Beliebtheit erfreut,<br />
widmet sich der britische Autor Pete York in seinem<br />
Buch „Dictator Style: Lifestyles of the World’s<br />
Most Colorful Despots“. Indem Männer wie Idi Amin,<br />
Muammar al‐Gaddafi und Robert Mugabe fast schon<br />
flamboyant überdekorierte Uniformen tragen, zeigen<br />
sie, wie wenig sie sich um gängige Regeln kümmern<br />
– weder die der Mode noch die des internationalen<br />
Rechts. Amin ließ angeblich sogar seine Uniform<br />
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STIL<br />
Phänomenologie<br />
Der Business-Anzug ist<br />
heute selbst eine Uniform<br />
geworden, nur durch die<br />
Wahl der Krawattenfarbe<br />
individualisiert<br />
Michael Jackson 1993<br />
während seiner<br />
„Dangerous“-Tour. Viele<br />
Kostüme des „King of Pop“<br />
spielten mit Elementen der<br />
Uniform<br />
Sie genießt höchstes<br />
Ansehen unter Modefachleuten:<br />
die Jacke von<br />
Balmain aus der Sommerkollektion<br />
2009<br />
verlängern, um genug Platz für all seine selbst verliehenen<br />
Orden zu haben.<br />
Demokratische Politiker hingegen signalisieren<br />
mit ihrer möglichst unauffälligen Kleidung, dass ihnen<br />
weniger an der eigenen Eitelkeit gelegen ist als an<br />
den Interessen derer, die sie repräsentieren. Womit wir<br />
bei denen wären, denen wir unser Geld anvertrauen<br />
sollen: den Bankern. Als ungeschriebene Regel gilt hier<br />
bei Männern allein der dunkle Anzug als angemessene<br />
Arbeitskleidung, die Garderobe der Frauen orientiert<br />
sich weitgehend daran. Als eine Erfindung des ausgehenden<br />
18. Jahrhunderts beruht die Seriosität des Anzugs<br />
auf den bürgerlichen Idealen der Zurückhaltung<br />
und Mäßigung, des Puritanismus und Protestantismus.<br />
Denn bis zur Französischen Revolution demonstrierten<br />
beide Geschlechter ihren Reichtum in prächtigen<br />
und farbenfrohen Kleidern. Ausnahme war lediglich<br />
die Sportbekleidung des englischen Landadels, die aus<br />
einem wollenen Reitanzug bestand.<br />
NACHDEM DER ADEL mit all seinem nutzlosen Luxus<br />
in Verruf geraten war, teilte sich die Welt. Und zwar<br />
in den unvernünftigen Teil, den allein die Frau weiter<br />
bewohnen durfte, und den vernünftigen, den der<br />
Mann beherrschte. Und der trug mattes Tuch, einfarbig,<br />
schlicht geschnitten. Der Begriff „Anzug“ hatte bis dahin<br />
die als Einheit getragene Kleidung wie die beim<br />
Militär bezeichnet. Nun stand sie für die Kombination<br />
von langer Hose, Jackett und Weste. Der Business-Anzug<br />
ist heute selbst eine Uniform geworden, die nur<br />
durch die Wahl der Krawattenfarbe individualisiert<br />
und höchstens am Casual Friday abgelegt werden darf.<br />
1996 führte die Deutsche Bank versuchsweise sogenannte<br />
Bankingshops ein. Dabei handelte es sich<br />
um räumlich sehr offene Filialen, aus denen die Bankangestellten<br />
auch heraustreten mussten, um auf der<br />
Straße Neukunden zu werben. Das machte die Einführung<br />
noch einheitlicherer Kleidung notwendig – dunkelblaue<br />
Anzüge und Kostüme mit blau-weiß gestreiften<br />
Hemden oder Blusen.<br />
Man spielte sogar mit dem Gedanken, die Uniform<br />
deutschlandweit in allen Filialen durchzusetzen. Der<br />
Betriebsrat jedoch wehrte sich gegen die „Corporate<br />
Fashion“. In dem gleichnamigen Buch der Kulturanthropologin<br />
Regina Henkel, das sich der Erforschung<br />
von Unternehmensuniformen widmet, wird ein Banker<br />
zitiert. Noch in der Rückschau zeigt er sich fassungslos<br />
angesichts der Idee einer einheitlichen Bekleidung:<br />
„Grauenhaft. Was hat man denn noch für Freiheiten<br />
hier im Job?“ Es scheint, als habe die Uniform selbst<br />
unter Uniformierten ein echtes Imageproblem.<br />
ANNE WAAK schreibt am liebsten über Mode<br />
und Pop. Sie lebt in Berlin und braucht als<br />
freie Autorin keine Uniform<br />
Fotos: Havakuk Levison/Reuters/Corbis, DDP Images/Camera Press, Privat (Autorin)<br />
112<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
„Ich bin doch nicht Jesus“<br />
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114<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
STIL<br />
Betrachtung<br />
VOM DRACHEN, DER<br />
GLÜCK BRACHTE<br />
Von DANIEL HAAS<br />
Illustration MARTIN HAAKE<br />
Unser Autor dachte, dass<br />
ihn eine Erbschaft zum<br />
Millionär macht. Daraus<br />
wurde nichts. Reicher<br />
wurde er trotzdem<br />
Mein Stiefvater ging, wie fast jeden<br />
Morgen, in den örtlichen<br />
Supermarkt, Abteilung Obst<br />
und Gemüse. Dort griff er sich eine Kiwi,<br />
sagte, die ist perfekt, und krachte der<br />
Länge nach auf den Boden. Herzinfarkt.<br />
Der Arzt meinte, er hat nichts gespürt.<br />
Genauso schnell, wie es dauert, einen<br />
Notarzt zu rufen, haben die Hinterbliebenen<br />
ans Erben gedacht: Jetzt gibt’s<br />
Geld. Schließlich war mein Stiefvater selber<br />
einst ein reicher Erbe. Seine Familie<br />
besaß lange ein Chemieunternehmen,<br />
das Klebstoffe herstellte und Mitte der<br />
achtziger Jahre verkauft wurde. Seitdem<br />
war er Privatier und Sammler chinesischer<br />
Kunst. Und hatte er nicht immer<br />
diese Mao-Anzüge getragen? Joppe und<br />
passende Hose, als wollte er sagen: Wer’s<br />
so dicke hat wie ich, darf sich der besitzbürgerlichen<br />
Welt ruhig in der Montur<br />
kommunistischer Kader zumuten.<br />
So habe auch ich mich finanzpornografischen<br />
Fantasien hingegeben: Es<br />
machte Klick und ich residierte in Townhouses<br />
in London und Berlin, mit Interieurs,<br />
edler als im Architectural Digest.<br />
Meine Tochter würde Lacrosse spielen<br />
und später im englischen Internat Kontakte<br />
für eine politische Karriere knüpfen,<br />
während wir, die Eltern, unsere<br />
kleine, aber feine Kollektion zeitgenössischer<br />
Fotokunst aufbauen.<br />
254 Milliarden Euro wurden 2013<br />
vererbt, laut Studien des Deutschen Instituts<br />
für Altersvorsorge werden in den<br />
nächsten sechs Jahren weitere 2,6 Billionen<br />
den Besitzer wechseln. Ich wiegte<br />
mich in Sicherheit: Ein paar Milliönchen<br />
davon würden auf mich entfallen. Dann<br />
kam die Testamentsvollstreckung. Und<br />
die Überraschung.<br />
Die angeblich Geldberge verwaltende<br />
Stiftung war pleite. Zahlreiche Immobilien<br />
hatte mein Stiefvater unter der<br />
Hand und heimlich verkauft. Die Kunstsammlung<br />
hatte sich zerstreut.<br />
Es gab nur: eine Villa mit monströs<br />
hoher Hypothek, die über keinen Seeblick<br />
verfügte, an einem Ort, an dem der<br />
Seeblick das einzig Aufregende und Abwechslungsreiche<br />
ist. In den Worten des<br />
Maklers: „Das ist ein Problem.“ Des Weiteren:<br />
eine Kollektion antiker Spazierstöcke,<br />
deren Sinn sich mir vermutlich<br />
niemals erschließen wird, denn mein<br />
Stiefvater ging nicht spazieren, sondern<br />
fuhr ausschließlich Fahrrad. Fünf Hermès-Krawatten,<br />
die leider zu breit sind,<br />
um sie zu einem Anzug zu tragen, es<br />
sei denn, man wäre Schlagersänger und<br />
träte in Siebziger-Jahre-Revival-Shows<br />
auf. Einen kleinen Drachen aus Porzellan<br />
und zwei Keramik-Pferde, die im<br />
19. Jahrhundert mal den First eines Tempels<br />
in Peking bewacht haben sollen und<br />
die nun auf dem Fensterbrett einer Wohnung<br />
im Berliner Prenzlauer Berg stehen<br />
und den Rest der Ikea-Einrichtung noch<br />
dürftiger aussehen lassen.<br />
254 MILLIARDEN EURO? Mein Geld war<br />
nicht dabei. Im Märchen sind die Stiefkinder<br />
immer die Guten, die am Ende<br />
den ganz großen Reibach machen. Ich<br />
nun kam mir vor wie der mieseste Typ<br />
der Welt, der zu seiner moralischen Verkommenheit<br />
– Gier, Neid, Groll – auch<br />
noch leer ausgehen wird.<br />
Das Gute an der Lage: Sie war schnell<br />
geklärt. Meine Ansprüche waren rechtlich<br />
gesehen bescheiden bis nichtig. Um<br />
ein überschuldetes Haus wollte ich mich<br />
nicht balgen, und natürlich standen die<br />
Antiquitäten und der Familienschmuck<br />
den leiblichen Kindern zu. Die Sache war<br />
klar: Es würde keine Ressourcen geben,<br />
sondern nur ein paar Talismane.<br />
Genau das hatte eine Bekannte über<br />
den Keramikdrachen gesagt, der auf dem<br />
Küchenregal gelandet war: „Das ist aber<br />
ein schöner Talisman!“<br />
Es machte noch einmal Klick, nur<br />
dass ich diesmal nicht dachte, Mensch,<br />
du wirst vermögend sein, sondern: Mann,<br />
du hast vielleicht Glück gehabt.<br />
Du hast diesen wunderbaren Mann<br />
kennengelernt, mit dem du über Kunst,<br />
Politik und die Qualitäten eines guten<br />
Obstsalats spekulieren konntest (Kiwis<br />
sind unverzichtbar). Du hattest einen<br />
väterlichen Freund, der deinen Blick geschärft<br />
hat für die Ironie und Eleganz<br />
der chinesischen Aquarellmalerei, für<br />
die handwerkliche Genialität der asiatischen<br />
Keramik, ihr herrliches Design.<br />
Und wenn du jetzt morgens aufwachst,<br />
tauchen die beiden Pferde auf wie dienstfertige<br />
Geister, die schon in den Tag vorauseilen,<br />
um nach dem Rechten zu sehen.<br />
Talisman. Genau das war dieses Erbe. Ein<br />
einziger kostbarer Talisman.<br />
Die Dinge, die wir an unsere Kinder<br />
weitergeben, sollten Glücksbringer sein.<br />
Immaterielle, und wenn es sich machen<br />
lässt, dürfen auch ein paar materielle darunter<br />
sein. Der Keramikdrache vertritt<br />
mich in Berlin, weil ich aufgrund eines<br />
neuen Jobs viel in Hamburg bin. Seine<br />
Schnauze ist abgeplatzt, man könnte ihn<br />
nicht zu Geld machen. Nicht nur deshalb<br />
wird er bei uns bleiben. Unsere Tochter<br />
ist zwar noch zu klein, um seine Bedeutung<br />
zu begreifen. Aber als wir den Drachen<br />
ins Schlafzimmer verpflanzen wollten,<br />
hat sie protestiert. Er ist Teil ihres<br />
Alltags geworden. Ein Erbe zu Lebzeiten.<br />
DANIEL HAAS ist Redakteur im neuen<br />
Hamburg-Ressort der Zeit. Einmal pro<br />
Woche stellt er sein Erbe zur Schau und<br />
legt eine alte Hermès-Krawatte an<br />
115<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
STIL<br />
Kleiderordnung<br />
Foto: Thomas Kierok für <strong>Cicero</strong><br />
WERNER AISSLINGER<br />
Wenn ich ehrlich bin, habe ich<br />
gar keine große Lust mehr auf<br />
Mode. Nicht, weil sie mir nicht<br />
wichtig wäre, aber mittlerweile bin ich<br />
einfach angekommen bei meinem persönlichen<br />
Wohlfühlstandard. That’s it.<br />
Ich kleide mich unaufgeregt. Praktisch,<br />
aber bewusst. Meistens trage ich Jeans<br />
und ein schlichtes Hemd dazu, das dann<br />
in 20-facher Ausführung in meinem Kleiderschrank<br />
hängt.<br />
In meiner Welt muss ich nicht repräsentieren.<br />
Aber man muss natürlich aufpassen,<br />
nicht in die Sparte des Berufsjugendlichen<br />
abzurutschen. Ich möchte<br />
unbedingt vermeiden, dass ich mit meinen<br />
Kindern irgendwann die Schuhe<br />
tausche. Klar, man kann es sich als Kreativer<br />
natürlich leisten, der ewige Turnschuhtyp<br />
zu sein. Das kann aber auch<br />
sehr schnell peinlich werden. Vielleicht<br />
ist das auch das Problem unserer jetzigen<br />
Generation: Wenn der Vater auf dem<br />
Skateboard steht, was soll der Sohn dann<br />
eigentlich noch tun, um sich abzugrenzen?<br />
Vielleicht Krawatte tragen.<br />
Als ich aufwuchs, kleideten sich Erwachsene<br />
sehr erwachsen. Mein Vater<br />
sah immer so formell aus, mit Anzug,<br />
wie alle anderen Väter auch. Im Kreativbereich<br />
gibt es aber keine Etikette, der<br />
man folgen muss. Und ich will mich auch<br />
nicht unterordnen. Ich will mich wohlfühlen.<br />
Darum geht es. Schuhe bedeuten<br />
für mich in diesem Zusammenhang<br />
Lebensgefühl. Irgendwie fühlt man sich<br />
vom Körper aufwärts. Zumindest ist das<br />
bei mir so. Der Schuh macht den Tag.<br />
Als Designer suche ich in Objekten<br />
nach dem Wesentlichen, dem Archetypischen.<br />
Schließlich will man nicht irgendeinen<br />
Stuhl machen. Man will den Stuhl<br />
machen. Einen Klassiker. Wie die Jeans.<br />
Werner Aisslinger, 50, ist<br />
Deutschlands innovativster<br />
Produktdesigner. Seine Arbeiten<br />
finden sich unter anderem im<br />
Museum of Modern Art in New<br />
York; zuletzt gestaltete er das<br />
Hotel im Berliner Bikini-Haus<br />
Es gibt nicht viele Objekte, die auf dem<br />
heutigen Markt eine lange Lebensdauer<br />
haben. Das meiste wird schnell wieder<br />
ersetzt. Design ist nicht so schnelllebig<br />
wie Mode, aber der Trend geht in dieselbe<br />
Richtung. Der Druck, neue Produkte<br />
auf den Markt zu bringen, wird<br />
zunehmend größer. Die Erwartungshaltung<br />
von außen steigt. Man muss ständig<br />
etwas Neues bringen.<br />
Dabei kommt dann der Stil abhanden.<br />
Früher war das anders. Da gab es<br />
eine Idee vom Lebensraum. Diese Lebensräume<br />
gestalteten sich monochromer<br />
als heute. Man lebte in richtigen<br />
Stilwelten, im Bauhaus- oder im Landhausstil,<br />
ganz gleich. Aber alles war aus<br />
einem Guss. Heute gibt es nur noch Collagen.<br />
Wir umgeben uns mit Objekten,<br />
die von überall her kommen, mit Erbstücken,<br />
Vintage oder Flohmarktartikeln.<br />
Das Prinzip Patchwork dominiert uns.<br />
Das Leben ist Collage. Und auch ich mache<br />
Dinge, die sich einfügen in diese Collage.<br />
Einfügen, aber nicht unterordnen.<br />
Aufgezeichnet von SARAH-MARIA DECKERT<br />
116<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
„ Mich hat alles,<br />
was zu viel war,<br />
vom Wesentlichen<br />
abgelenkt “<br />
Die Sängerin Dillon über ihre Kunst der musikalischen Reduktion, Seite 118<br />
117<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
IMMER NUR 100 PROZENT<br />
Die deutsch-brasilianische Sängerin Dillon treibt mit ihrem zweiten Album die Kunst der<br />
Reduktion voran. Sie sucht das Glück und das Gleichgewicht jenseits aller Melancholie<br />
Von ALEXANDER KISSLER<br />
Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />
Wäre das Universum anders<br />
geordnet, wenn sein Soundtrack<br />
von Dillon stammte?<br />
Die Frage steht unter dem Video zu Dillons<br />
Lied „Thirteen – Thirtyfive“, das bei<br />
Youtube bisher rund neun Millionen Mal<br />
angeklickt worden ist und das man einen<br />
Hit nennen darf: „Wie“, will eine Hörerin<br />
wissen, „würde die Welt wohl aussehen,<br />
wenn diese Art Musik von jedermann gehört<br />
werden würde?“ Eine Begegnung<br />
mit Dillon schafft keine letzte Klarheit:<br />
Würden wir alle so traurig blicken wie<br />
sie auf ihren Fotos und Covern? Oder<br />
würden wir uns verstanden und getröstet<br />
fühlen durch eine zaubrische Stimme,<br />
durch rätselhafte Worte und einen nach<br />
innen zielenden, sehr reduzierten Klang?<br />
Die Kunst der Dominique Dillon de<br />
Byington, genannt Dillon, geboren vor<br />
25 Jahren im brasilianischen São Paulo,<br />
ist eine Raumordnungskunst. Es gibt eine<br />
innere und eine äußere Geografie. Thermische<br />
Gesetze walten, wenn diese Musik<br />
um sich greift. „Platz“ ist das Hauptwort.<br />
Dillon verwendet es oft, wenn sie<br />
von dem spricht, was schwer zu trennen<br />
scheint, ihrem Ausdrucks- und ihrem<br />
Verschweigungsbedürfnis.<br />
Das neue Album „The Unknown“,<br />
mit dem sie durch Europa tourt, ist karg<br />
instrumentiert, „weil ich Platz brauche,<br />
um das zu singen, was ich singen will“,<br />
„mehr Platz!“ Ihre Stimme, die im Konzert<br />
an das isländische Pop-Wunder Björk<br />
erinnert, wird entschieden, springt eine<br />
Terz nach oben: „Mich hat alles, was zu<br />
viel war, vom Wesentlichen abgelenkt.“<br />
Es ist die Frage jeder großen Kunst: Was<br />
kann, was muss weggelassen werden, damit<br />
das Wahre, Schöne, Gute erscheint?<br />
Entschieden weist sie auch die naheliegende<br />
Deutung ihres mitsummtauglichen<br />
Hits vom Album „This Silence<br />
Kills“ (2012) zurück. Dass da eine<br />
unmögliche, skandalöse Liebe zwischen<br />
zwei Menschen mit einem Altersunterschied<br />
von 22 Jahren verhandelt werde,<br />
die böse endet. „You’d be thirteen, I’d<br />
been thirtyfive, gone to find a place for us<br />
to hide.“ Aber nein, wieso, „es kann auch<br />
eine Uhrzeit sein“. Sie schreibe Gedichte<br />
und vertone diese, keine Artikel. „In ihrer<br />
Irrationalität ist sie auch sehr rational.“<br />
Pause. „Ich also.“ Sagt das jemand<br />
von ihr? „Nein. Nein.“ Ein Lächeln will<br />
sich auf ihrem Gesicht niederlassen und<br />
überlegt es sich anders.<br />
WARUM LIESS DIE FAMILIE Brasilien hinter<br />
sich, wanderte nach Deutschland<br />
aus über Österreich, ehe die Mutter die<br />
fünfjährige Dillon auf den Arm nahm,<br />
ihr Köln zeigte, das sei nun die Heimat?<br />
Wegen Wim Wenders. „Der Himmel über<br />
Berlin“ habe die Mutter beeindruckt.<br />
Oder es war der Wunsch, den Kindern –<br />
fünf Geschwistern schließlich – echten<br />
Schnee zu zeigen. Auf jeden Fall sei sie<br />
mit 18 Jahren, nach dem Abschluss einer<br />
englischsprachigen Schule in Köln, allein<br />
nach Berlin gezogen, ihrer großen Liebe<br />
unter den Städten. „Doch mittlerweile<br />
habe ich eine Affäre mit Paris.“ Da gebe<br />
es ganz andere Platz- und Raumverhältnisse.<br />
Sie schaut zur Decke. Das Lächeln<br />
schwirrt herbei, landet, bleibt.<br />
Es sei ja gar nicht wahr, dass sie melancholisch<br />
ist, ein schreckliches Wort,<br />
„das pure Dazwischen, ein Schwebezustand,<br />
in dem man sich leidtut“. Melancholie<br />
müsse sich verwandeln in Verzweiflung<br />
oder Hoffnung, Wut oder<br />
Glück, dann werde es interessant. Sie<br />
sei an guten Tagen „ziemlich ausgeglichen.<br />
Ich habe es bis jetzt nur nicht geschafft,<br />
in meiner Musik ausgeglichen zu<br />
sein.“ Das Lächeln breitet sich aus. Bald<br />
muss es weichen. Natürlich, mit 16 Jahren<br />
habe sie sich ohne Notenkenntnisse<br />
an das elterliche Klavier gesetzt, aus Langeweile,<br />
Verzweiflung, Angst, und nach<br />
Tasten gesucht, „die mit mir zusammen<br />
singen konnten“. Im Schreiben und Lesen<br />
und Singen kam sie dann zu sich.<br />
„Ich musste mich mit mir selbst auffüllen.<br />
Jahrelang.“<br />
Dillon singt in weiten Bögen, langsam,<br />
repetitiv, sie haucht und gurrt und<br />
zieht das Tempo an, ehe die Kreise wieder<br />
kleiner werden, singt auf einem zart<br />
gewebten Teppich aus elektronischen<br />
Beats, singt vom Weg ins Unbekannte,<br />
einem Wir, das auseinanderbricht, dem<br />
Zug der Gedanken, der entgleist, aber<br />
auch von Knoten, die sich lösen, einem<br />
immergrünen Wald tief drinnen, dem<br />
Wandel, dem Verlangen. Pop sei das nicht,<br />
dazu fehle es am „plakativen Sex“.<br />
Ein Klavier sendet einzelne Töne,<br />
die über sich selbst erschrecken, Schläge<br />
wie auf Bambus treten dazu. Undenkbar,<br />
dass Trompeten erklängen wie noch beim<br />
Debüt, ein Kinderchor oder dieses muntere<br />
Fingerschnippen. Reduktion ist hier<br />
alles, die Stimme nimmt sich den Raum.<br />
Man vergisst das nicht. Sie fräst sich hinein,<br />
diese Stimme, in das fremde Ohr,<br />
die andere Seele. Schlägt Haken und verharrt<br />
an Stellen, die es vorher nicht gab.<br />
Auch im Leben, sagt Dillon, brauche<br />
es ein Umfeld, das Raum gibt. In<br />
der Kunst habe sie sich den Platz geschaffen,<br />
schaffen müssen, „man hat ja<br />
nur 100 Prozent“. Das heißt: Jedes Zuviel<br />
wird ein Zuwenig, wenn die innere<br />
Stimme versagt. Oder das Ich zu stumpf<br />
ist, um auf sie zu hören. Das Universum<br />
nach Dillon wäre ein weites Land mit<br />
sehr aufmerksamen Menschen.<br />
ALEXANDER KISSLER leitet bei <strong>Cicero</strong><br />
den Salon. Dillons schwebende Musik<br />
erinnert ihn manchmal an Haikus und<br />
manchmal an die Stunden vor Dämmerung<br />
119<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
ER GEHÖRT ZU UNS<br />
Der Tenor Jonas Kaufmann verzückt auch mit Schuberts „Winterreise“ die Massen,<br />
obwohl seine Stimme eintönig ist, zuweilen angestrengt und unsauber. Wie macht er das?<br />
Von MICHAEL STALLKNECHT<br />
Die Szene ist vorhersehbar: ausverkaufte<br />
Häuser, handgeschriebene<br />
Schilder mit Kartengesuchen und<br />
jeden Abend stehende Ovationen. Von<br />
Berlin bis London, von Moskau bis Mailand.<br />
Jonas Kaufmann ist in den kommenden<br />
Wochen auf Tournee mit Franz<br />
Schuberts „Winterreise“, dem traurigen<br />
Gang eines Wanderers in den ewigen<br />
Schnee. Doch Stimmfetischisten sollten<br />
vorab vielleicht besser in die bereits<br />
erschienene CD hineinhören. Dort sind<br />
einige unschöne Töne zu hören: kehlige<br />
und gaumige, angeschliffene, matte und<br />
solche mit unsauberen Vokalen.<br />
Jonas Kaufmann ist ein Phänomen:<br />
der berühmteste Tenor, ja im Grunde<br />
der einzige einem breiten Publikum bekannte<br />
Tenor der Welt. Kein Intendant<br />
zwischen New York, London und Paris<br />
kommt an ihm vorbei. Dass ihn die Bayreuther<br />
Festspiele nach seinen Auftritten<br />
als Lohengrin im Jahr 2010 nicht noch<br />
einmal gewinnen konnten, ist peinlich<br />
für die Festspiele, nicht für ihn.<br />
Doch hört man sich im Musikbetrieb<br />
um, findet Kaufmann nur wenige uneingeschränkte<br />
Bewunderer. Unüberhörbar<br />
sind die technischen Probleme dieser<br />
Stimme, die eigentümlich tief – manche<br />
sagen: „baritonal“ – im Hals sitzt, von wo<br />
sie Kaufmann immer erst hinaufwuchten,<br />
an schwächeren Abenden auch pressen<br />
muss in tenorale Höhen. Ihm fehlt das<br />
Legato, das die Stimme frei fließen lässt.<br />
Tenöre sollten kraftvoll und zärtlich zugleich<br />
klingen, das ist ihr Jobprofil.<br />
Kaufmann muss aber machohaft<br />
powern, oder er beginnt zu säuseln. Dann<br />
entstehen die fahlen und brüchigen Farben,<br />
die er, auch in der neuen „Winterreise“,<br />
mit freilich großer gestalterischer<br />
Intelligenz einsetzt. Wer mit den Hörkonventionen<br />
wenig vertraut ist, empfindet<br />
das wohl als expressiv. Doch Gesang<br />
sollte selbstverständlich klingen, nicht<br />
angestrengt. So klang die „Winterreise“<br />
jedenfalls bei Peter Anders oder Peter<br />
Pears, so klingt sie nun bei Daniel Behle.<br />
Die Opernwelt ist mit Tenören nicht<br />
gesegnet. Und braucht sie umso dringlicher,<br />
da sie auch medial bestehen muss.<br />
Nur wer es ins Fernsehen schafft, gilt als<br />
Star. Nicht zufällig erreichte Kaufmanns<br />
Debütalbum „Romantic Arias“ im Jahr<br />
2008 die volle Aufmerksamkeit. Sein<br />
Kollege Rolando Villazón war kurz zuvor<br />
in die erste Stimmkrise gerutscht. Mit<br />
dem quirligen Mexikaner hatte die Plattenindustrie<br />
einen Tenor aufgebaut, bei<br />
dem die technischen Fähigkeiten dem<br />
Image nicht dauerhaft standhielten.<br />
NACH DEM WECHSEL von Plácido Domingo<br />
ins Baritonfach gibt es kaum bekannte<br />
Tenöre. Stars sind eine aussterbende<br />
Spezies. Im Klassikbetrieb haben<br />
Intendanten, Regisseure, Dirigenten die<br />
Herrschaft über die Bühnen übernommen.<br />
Kaufmann funktioniert in diesem<br />
System. Er begann zwischen 1994 und<br />
1996 am Staatstheater Saarbrücken im<br />
grundsoliden festen Engagement. Die<br />
großen Rollen eignete er sich am Opernhaus<br />
Zürich an. Deshalb kann er heute<br />
wild zwischen den bekanntesten Rollen<br />
des französischen, italienischen und<br />
deutschen Faches wechseln. Die Natur<br />
hat ihn mit einem äußerst robusten<br />
stimmlichen Material ausgestattet, das<br />
Schicksal Villazóns dürfte er nicht teilen.<br />
Dazu erobert er sich immer wieder<br />
neue Partien wie kürzlich jene des Alvaro<br />
in Verdis „Macht des Schicksals“ in<br />
München oder die des Dick Johnson aus<br />
Puccinis „La fanciulla del West“ an der<br />
Wiener Staatsoper. Freilich klingt das alles<br />
bei ihm ziemlich gleich. Kaufmann<br />
mag ein wendiger Gestalter sein, die rein<br />
stimmlichen Mittel bleiben begrenzt.<br />
Dass die „Winterreise“ die Popcharts<br />
erklimmt, hat andere Gründe.<br />
Kaufmann funktioniert perfekt als mediales<br />
Image. Er sieht, was kaum ein Kritiker<br />
verschweigt, gut aus. Kann Wagners<br />
Helden ohne Helm und Brustpanzer<br />
geben, auf die die Regisseure der Gegenwart<br />
eh verzichten. Gern zeigt er sich im<br />
T-Shirt. Das macht ihn authentisch. Die<br />
alten, halb normativen Ideale der Klassik<br />
greifen nicht mehr. Eher die des Pop,<br />
bei dem die Stimme sowieso charakteristischer<br />
bleiben darf. Wie rief das New<br />
York Magazine schon vor Jahren verzückt<br />
aus? „Brangelina sings!“<br />
Kaufmann verfügt über die entscheidende<br />
Mischung aus Durchschnittlichkeit<br />
und Überdurchschnittlichkeit, die eine<br />
massenmediale Gesellschaft liebt. Er hat<br />
etwas vom Mathestudenten, als der er tatsächlich<br />
angefangen hat. Ist lässig, aber<br />
ehrgeizig. Erotisch, aber skandalfrei. Im<br />
Opernhaus seiner Heimatstadt München –<br />
wo er geboren wurde, studierte und heute<br />
lebt – springt er spontan für unbekanntere<br />
Kollegen ein. Die Salzburger Festspiele<br />
haben ihn schon vom Badesee direkt<br />
auf die Bühne befördert. Kaufmann<br />
ist der Tenor wie du und ich.<br />
Dass er vom angeblich konservativen<br />
Opernpublikum bedingungslos gefeiert<br />
wird, zeigt nur, dass auch das Opernpublikum<br />
längst ein Eventpublikum<br />
geworden ist. Es orientiert sich nicht an<br />
Hörtraditionen, sondern an Images. Da<br />
mögen die Stimmfetischisten traurig auf<br />
ihre Plattenschränke starren und leise<br />
„Niedergang“ murmeln. Jonas Kaufmann<br />
wird dennoch der einzige wirklich berühmte<br />
Tenor der Welt bleiben.<br />
MICHAEL STALLKNECHT ist Musikkritiker<br />
und Publizist. Er lebt wie Kaufmann in<br />
München, dessen Opernpublikum dem<br />
Tenor zu Füßen liegt<br />
Foto: Ernst Kainerstorfer/Picturedes/Action Press<br />
120<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
DER GEFÜHLSKOLOSS<br />
Mit dem Soldaten-Drama „Zwischen Welten“ setzt Ronald Zehrfeld seine Porträts<br />
starker und verletzlicher Helden fort. Für den Schauspieler ist der Körper sein Ruhepol<br />
Von BJÖRN EENBOOM<br />
Foto: Jens Gyarmaty für <strong>Cicero</strong><br />
Es könnte der Händedruck eines Actionstars<br />
sein. Fest, prankenhaft<br />
umschlossen. Die dazugehörige<br />
Körperwelt: sportlich, muskulös, breitschultrig.<br />
Ein Hüne. Doch Ronald Zehrfeld,<br />
der diesem Körper innewohnt, ballert<br />
sich durch keine Männerfantasien. Er<br />
gehört zu den profiliertesten deutschen<br />
Schauspielern seiner Generation. Nun<br />
spielt er seine bisher wichtigste Rolle.<br />
Als wir uns vor dem Deutschen Theater<br />
in Berlin treffen, entfährt es ihm:<br />
„Anfangs dachte ich: Vielleicht kann ich<br />
am Ende meiner Karriere vor so einem<br />
großen Haus spielen, das wär’s! Aber<br />
dank Peter Zadek spielte ich schon während<br />
meines Schauspielstudiums hier.“<br />
So wurde aus dem ersehnten Abschluss<br />
ein früher Anfang. Bereits 2002 durfte<br />
er sich in Hans Neuenfels’ Inszenierung<br />
von „König Ödipus“, bald darauf in Zadeks<br />
„Mutter Courage“ beweisen. Der<br />
Sprung in die erste Liga der Kino- und<br />
Fernsehschauspieler folgte sogleich.<br />
Jetzt ist Zehrfeld in dem Soldaten-<br />
Drama „Zwischen Welten“ der Hauptdarsteller.<br />
Die österreichische Regisseurin<br />
Feo Aladag, prämiert für ihr Debüt<br />
„Die Fremde“, zeigt mit diesem realistischen<br />
wie subtilen Film die Dilemmata<br />
des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan:<br />
Aporien, wohin man schaut. Nicht<br />
jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.<br />
Zehrfeld verkörpert den Bundeswehrhauptmann<br />
Jesper, der ein Dorf vor<br />
den Taliban beschützen soll. Er freundet<br />
sich mit dem Dolmetscher Tarik und dessen<br />
Schwester an und blickt immer tiefer<br />
in die eigene Zerrissenheit, die sich in<br />
dem fremden Land spiegelt. Bis zum tragischen<br />
Finale ist der Konflikt zwischen<br />
Moral und Gehorsam nicht zu schlichten.<br />
Der Film wurde in Kunduz und Mazar<br />
e Sharif realisiert. „Dass Ronald die<br />
Hauptrolle spielen sollte“, sagt Aladag,<br />
„stand von vornherein fest. Ebenso, dass<br />
wir an Originalschauplätzen drehten –<br />
trotz aller filmischen wie politischen<br />
Schwierigkeiten. Die Zusammenarbeit<br />
mit der afghanischen Regierung und<br />
mit dem Verteidigungsministerium und<br />
dem Einsatzführungskommando waren<br />
durchaus anspruchsvoll.“ Zehrfeld büßte<br />
während der Dreharbeiten zwölf Kilo ein.<br />
Sein Repertoire reicht weit. In Dominik<br />
Grafs Serie „Im Angesicht des Verbrechens“<br />
stritt er als Polizist gegen die<br />
Russenmafia und erhielt den Deutschen<br />
Fernsehpreis und den Grimme-Preis. Für<br />
sein feinsinniges Porträt eines Kinderarztes<br />
im DDR-Drama „Barbara“ neben<br />
Nina Hoss gab es eine Nominierung zum<br />
Deutschen Filmpreis. In der Erfolgsserie<br />
„Weißensee“ spielt er einen unkonventionellen<br />
Pfarrer, in Christian Krachts Kinodebüt<br />
„Finsterworld“ einen Polizisten<br />
mit abseitigen Fantasien. Fast immer sind<br />
es Männer, die ihr Leben in einer Ordnung<br />
eingerichtet haben, deren Gitterstäbe<br />
Risse bekommen.<br />
AUFGEWACHSEN IST der 36-Jährige in<br />
Ostberlin, zwei Straßen von der Hochschule<br />
für Schauspielkunst Ernst Busch<br />
entfernt, an der er mit Mitte 20 sein Studium<br />
aufnehmen sollte. „In meiner Kindheit<br />
lagen Welten dazwischen. Es war ein<br />
Arbeiterviertel. Wir nannten die Schüler,<br />
die auf der Straße ihre Texte rezitierten,<br />
die Schauspieletten. Die passten<br />
einfach nicht in den Kiez.“ Zehrfeld<br />
strebte eine Sportlerkarriere an. Mit elf<br />
Jahren wurde er Jugendmeister der DDR<br />
im Judo. Der Traum von Olympia schien<br />
nah, doch dann kam die Wende. Mit ihr<br />
drehte sich auch sein Leben.<br />
Neue Räume taten sich auf. Aus der<br />
Teilnahme an freien Theatergruppen erwuchs<br />
die Vorstellung, das Schauspielen<br />
zum Beruf machen zu können: „Erst spät<br />
entwickelte sich bei mir das Bewusstsein,<br />
dass man auch als einfacher, nicht so belesener<br />
Mensch diesen Beruf ergreifen<br />
kann. Ich weiß nicht viel über Medea<br />
und die großen Weltthemen, aber ich<br />
fühle etwas.“<br />
Gefühlswelten sind Zehrfelds darstellerische<br />
Stärke. Er beherrscht den<br />
spektakulären Ausbruch ebenso wie den<br />
lakonischen Blick, der den Kerl mit einem<br />
Augenaufschlag in einen Teddy verwandelt.<br />
„Mittlerweile akzeptiere ich,<br />
dass ich Schauspieler bin. Ich habe jahrelang<br />
gebraucht, um mir klarzumachen,<br />
dass ich mein Brot damit verdiene.“ Vielleicht<br />
sind es solche Skrupel, die seinen<br />
Helden stets einen Hauch von Verzagtheit<br />
und Anlehnungsbedürfnis verleihen.<br />
Dem Judo hat Zehrfeld entsagt. Er<br />
wechselte zur japanischen Kampfkunst<br />
Aikido: „Es ist auch gut für meinen Beruf,<br />
über den Körper eine gewisse Ruhe<br />
zu erlangen. Ich muss in der Lage sein,<br />
ruhig zu bleiben. Manchmal merke ich,<br />
dass ich zu schnell und zu viel rede, da<br />
wünsche ich mir eine andere Ruhe, um<br />
mein Zentrum nicht zu verlieren.“ Das<br />
Gespräch ist die Probe aufs Exempel.<br />
Silbe um Silbe steigert sich das Tempo.<br />
Berlinert er? Doch da stoppt eine neue<br />
Nachdenklichkeit den Strudel der Worte.<br />
Welche Aspekte des Menschseins gilt<br />
es noch auszuleuchten, nach dieser Armada<br />
der Ordnungshüter und Gefühlskolosse,<br />
der Raubeine mit dünnem Nervenkostüm?<br />
Alles wolle er spielen, alles.<br />
„Dieser Beruf“, sagt Ronald Zehrfeld, als<br />
er die Stätte seines Beginnens mit einem<br />
Sprung von der Treppe verlässt, „soll für<br />
mich ein Marathon sein.“<br />
BJÖRN EENBOOM ist Filmkritiker und<br />
langweilt sich bei Actionhelden sehr. Bei<br />
Ronald Zehrfeld hingegen nicht<br />
123<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
1914<br />
BÜCHER, ZUM GLÜCK<br />
Von CHRISTOPHE FRICKER<br />
Bildungskanonen, gefährliche Klassiker und stille Erneuerung:<br />
Im Ersten Weltkrieg gehörte das Lesen zum Frontalltag
Foto: AKG Images [M]<br />
Bitte keine Kriegsbücher an die Front schicken!“<br />
So steht es im Dezember 1915 im Champagne-Kameraden,<br />
der Feldzeitung der 3. deutschen<br />
Armee. Die Soldaten „erleben selbst“.<br />
Man müsse ihnen vom Krieg nicht erzählen.<br />
Außerdem seien die meisten Bücher über den Krieg ohnehin<br />
„nicht geeignet, den Ruhm des deutschen Schrifttums<br />
zu erhöhen“. Kriegstreiberische Werke bezeugten gerade<br />
nicht die geistige Überlegenheit des Deutschen, auf die<br />
diese sich so gern berufen.<br />
Auch die Truppenzeitung Der Landsturm wehrt sich:<br />
„Um Gottes willen keinen Schund. Man bedenke, dass für<br />
den Soldaten im Felde das Beste gerade gut genug ist.“ Der<br />
Geist reagiere „nur auf wirklich Wertvolles“. Willkommen<br />
seien „sachlich orientierende Flugschriften“ zu Landeskunde,<br />
Technik und Wirtschaft sowie Unterhaltungsbücher<br />
zur „Ablenkung und Erfrischung“. Auch „Witzblätter“<br />
hätten ihre Berechtigung, wenn sie „in künstlerischer wie<br />
auch inhaltlicher Beziehung auf der Höhe“ seien und der<br />
Soldat ihre Wirkung „an sich verspürt“.<br />
Der Erste Weltkrieg war ein<br />
Kampf der Leser. Die deutsche Feldpost<br />
transportierte insgesamt 28,7 Milliarden<br />
Sendungen: Briefe und Karten<br />
sowie Pakete, denen meist wenigstens<br />
ein kleiner schriftlicher Gruß beilag.<br />
Viele enthielten Bücher, die begierig<br />
gelesen wurden. Nicht immer war es<br />
„das Beste“. Besonders großen Anklang<br />
fanden Unterhaltungsautoren<br />
wie Kurt Aram und Walter Bloem.<br />
Zum ersten Mal wurde im Ersten Weltkrieg die Mobilmachung<br />
total. Alles sollte dem Krieg dienen. Das heißt<br />
allerdings nicht, dass immer geschossen wurde. Im Stellungskrieg<br />
waren viele Nächte ereignislos. Was dann gelesen<br />
wurde, sollte die Kampfkraft stärken. Denn, wie ein<br />
verbreitetes Schlagwort lautete, „Volksbildung ist Volkskraft“.<br />
Deshalb gab es Feldausgaben beliebter Titel und<br />
Reihen wie die Bücherei für Schützengraben und Lazarett<br />
oder Lamms jüdische Feldbücherei für deutsche Soldaten<br />
jüdischen Glaubens. Schützengraben-Bücherei nannte<br />
man genormte Kisten mit rund 100 Büchern, die bis an<br />
die vorderste Front getragen wurden. Fahrbare Kriegsbüchereien<br />
mit jeweils acht Kisten versorgten eine Division.<br />
Der Bibliothekar Wilhelm Sandmann machte diese Praxis<br />
mobiler Ausleihstellen nach dem Krieg fruchtbar und<br />
nahm 1929 den ersten Bibliotheksbus in Betrieb.<br />
Das Rote Kreuz sammelte ab 1916 Bücherspenden.<br />
In sogenannten Bildungskanonen standen sie für ruhende<br />
Truppen hinter der Front bereit, getrennt nach Offiziersund<br />
Mannschaftsbüchereien. Mitgelieferte Verleihungstabellen<br />
hielten Dienstgrad, Name und Truppenteil des<br />
Der Krieg neigt sich dem Ende zu,<br />
als im Juli 1917 im Elsass diese<br />
Feldbücherei für Ablenkung sorgt<br />
Lesers fest, damit jedes Exemplar nachzuverfolgen war.<br />
Das Rote Kreuz wusste: „Bücher sind Freunde und bedeuten<br />
für unser Heer und unsere Flotte eine geistige Macht.“<br />
Diese Meinung spiegelt sich in vielen Feldpostbriefen.<br />
Von der Westfront schreibt Christian Tramsen im November<br />
1916: „Man hat ja zum Glück seine Bücher, sonst<br />
wäre es schrecklich so alleine.“ Einige schickt seine Familie,<br />
andere leiht er sich: „Ich habe noch immer ein Buch<br />
von Lt. Souchai, der seit der Somme-Schlacht vermisst und<br />
scheinbar tot ist. Ich werde an die Eltern schreiben, ob ich<br />
es behalten darf. ‚Mitteleuropa‘ von Friedrich Naumann;<br />
gutes polit. Buch.“ Den Erfolgsroman „Der Wetterwart“<br />
des Schweizer Heimatautors Jakob Christoph Heer habe<br />
er „in 2 Tagen ausgelesen. Sonst lese ich kaum Romane.<br />
Gut geschrieben. Ich war nur nicht gerade in der Stimmung,<br />
nun [eine] solch furchtbar unglückliche Lebens- und<br />
Liebesgeschichte zu lesen. Es packte mich teilweise sehr.“<br />
In den ersten vier Kriegsmonaten erreichten 3,2 Millionen<br />
Bücher die Soldaten über zivilgesellschaftliche<br />
Kanäle. Der Verleger Eugen Diederichs<br />
nannte die Buchsendungen an die<br />
Front „geistige Kriegsfürsorge“. Beim<br />
Reclam-Verlag gab es für 20 Mark die<br />
„geistige Futterkiste“ mit 100 Bänden<br />
aus der Universalbibliothek. Der Deutsche<br />
Fußball-Bund setzte 1915 große<br />
Mengen eines in Feldgrau gebundenen<br />
Kriegsjahrbuchs in den Frontbuchhandlungen<br />
ab. Diese wurden<br />
vom deutschen Verkehrs- und Bahnhofsbuchhandel<br />
in Frontnähe betrieben<br />
und über die eigens gegründete Buch- und Zeitschriftenvertriebsgesellschaft<br />
bestückt. Reclam stellte entlang<br />
der Front seine schon vor dem Krieg eingesetzten Buchautomaten<br />
auf. Die Innere Mission der evangelischen<br />
Kirche und der katholische Borromäusverein gründeten<br />
Vertriebsorganisationen.<br />
THEODORE WESLEY KOCH, Chefeinkäufer der US-Kongressbibliothek,<br />
berichtet in seinen Memoiren von einem<br />
Lazarett an der Ostfront. Einem deutschen Soldaten und<br />
dessen Sohn habe der CVJM Charles Dickens’ „Oliver<br />
Twist“ und eine russische Grammatik übergeben. Die beiden<br />
Verwundeten studierten die Bücher, wodurch sich ihre<br />
Stimmung aufhelle. Die Gedankengänge eines auf derselben<br />
Station behandelten Berliner Professors seien angesichts<br />
von Dickens’ Weihnachtsgeschichte ebenfalls heiterer<br />
geworden.<br />
Die Oberste Heeresleitung sah all das gern. Lesende<br />
Soldaten galten als motivierter – weniger geneigt zu desertieren<br />
oder zu revoltieren. Der Ausschuss für fahrbare<br />
Kriegsbüchereien an der Front empfahl ihnen neben Raabe,<br />
Keller und Hesse auch Wilhelm Busch und den fünfbändigen<br />
„Humoristischen Hausschatz des deutschen Volkes“.<br />
Auf der Anschaffungsliste stand – undenkbar später<br />
im Zweiten Weltkrieg – selbst Literatur aus Feindstaaten:<br />
Robinson Crusoe und Sherlock Holmes, ja sogar das<br />
125<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
1914<br />
Fotos: Marbach Institut [M], Reclam Verlag<br />
erzählerische Werk von Edgar Allen Poe. Eine Zensur gab<br />
es zwar grundsätzlich, sie wurde aber je nach Truppenteil<br />
sehr unterschiedlich gehandhabt. Sozialistische Schriftsteller<br />
und Avantgarde-Autoren blieben freilich außen vor.<br />
Bücher waren im Heer nahezu allgegenwärtig. Paul<br />
Diekmann schreibt im Juni 1915 aus einem Schützengraben<br />
in der Nähe von Lille, dort sei „alles Sumpf und Moor“,<br />
und „Stuhl und Tisch und Kiste“ habe er nicht – nur ein<br />
Buch. Stoßtruppführer Ernst Bischoff meldet sich aus dem<br />
weißrussischen Smorgon bei dem Jenaer Historiker Alexander<br />
Cartellieri. In der „fahrbaren Bücherei“ seines Truppenteils<br />
befinde sich „eine reichliche Auswahl von Büchern<br />
bester und bekanntester Schriftsteller bis herunter<br />
zur seichtesten Unterhaltungslektüre“.<br />
Der Gefreite Friedrich Uhlig berichtet, die Universität<br />
Jena habe ihren Kriegsteilnehmern die „Deutsche Politik“<br />
des Historikers Heinrich von Treitschke gesandt. Er gebe<br />
die Broschüre, um seiner „Pflicht als Akademiker“ zu genügen,<br />
den Kameraden als Alternative zu ihren „seichten<br />
Novellenheftchen“. Hans Müller schreibt aus Boureuilles,<br />
die „reiche politische Literatur, die der Krieg erzeugt oder<br />
wieder an die Oberfläche bringt, hat mein politisches Verständnis<br />
schon wesentlich gefördert“. Nach dem Dienst<br />
habe er „reichlich Zeit zum Lesen und Schreiben“.<br />
Die Postkarte eines Soldaten<br />
vom September 1916 zeigt die<br />
Ankunft der Bücherkisten<br />
Zahlreiche Truppenteile gaben eine Zeitung heraus,<br />
in der Verlautbarungen und Huldigungen zum Geburtstag<br />
des Kaisers und der Fürsten zu lesen waren, kriegswirtschaftliche<br />
Analysen, Betrachtungen über die Befreiungskriege<br />
oder Lokalgeschichtliches über den aktuellen Truppenstandort.<br />
Und natürlich viel Gebrauchsliteratur: die<br />
humoristische Erzählung „Mutter Schanettchen, die Konsequente“<br />
der Journalistin Leonore Niessen-Deiters etwa.<br />
Oder „Sonderbare Geschichten“ von Herbert Eulenberg.<br />
Preisausschreiben regten Soldaten und Offiziere zum<br />
Verfassen von Artikeln an. Die meisten schrieben Gedichte.<br />
„Jeder, der mit der Leitung einer Kriegszeitung<br />
betraut worden ist, wird die Beobachtung gemacht haben,<br />
dass die Zahl der poetischen Beiträge aus dem Felde die<br />
der Prosabeiträge weit übersteigt“, schreibt der Chefredakteur<br />
der Somme-Wacht 1917. Diese Kriegszeitung der<br />
1. Armee enthielt Tiefgründiges über das Reich und den<br />
Feind, Knittelverse über Läuse und Matsch, sentimentale<br />
126<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Lieder über den Wald und die Fluren der Heimat. Und die<br />
Soldaten lasen es, wenn er es druckte.<br />
Die teils in sechsstelliger Auflage erscheinenden Feldzeitungen<br />
boten auch Klassisches: Schillers „Lied von der<br />
Glocke“ und Ausschnitte aus Goethes „Hermann und Dorothea“,<br />
Texte von Eichendorff, Stifter und Freiligrath.<br />
Gedichte der antinapoleonischen Lyriker Theodor Körner<br />
(„Frisch auf, mein Volk! Die Flammenzeichen rauchen“)<br />
und Ludwig Uhland („Dir möcht’ ich diese Lieder<br />
weihen, / Geliebtes deutsches Vaterland!“)<br />
oder Rudolf Alexander Schröders<br />
Reiterlied mit dem energischen<br />
Anfang: „Wir reiten von Wäldern und<br />
Schluchten verborgen, / Wir traben<br />
hinein in den dämmernden Morgen, /<br />
Deutschland, Deutschland!“ Selbst<br />
Ausschnitte aus einem Hauptwerk<br />
christlicher Theologie, Thomas von<br />
Kempens „Nachfolge Christi“, wurde<br />
den Lesern im Feld dargeboten.<br />
Die Zeitungen dienten übrigens<br />
nicht nur der Lektüre. Eine Broschüre über die „Herstellung<br />
von Bettdecken mit alten Zeitungen als Einlage“ empfiehlt<br />
ihre Weiterverwendung zum Schutz gegen die Kälte.<br />
Der Landsturm wird, eingeschoben „zwischen Hemd und<br />
Hosenträger“, zum dämmenden Polster.<br />
Da das Deutsche Reich laut dem Historiker Thomas<br />
Nipperdey eine bildungsorientierte „Schulgesellschaft“<br />
war, wurden Texte selbst im Krieg nicht nur gelesen, sondern<br />
auch auswendig gelernt und zitiert oder auf improvisierten<br />
Bühnen aufgeführt. Sie sollten den Krieg erträglich<br />
und vor allem begreiflich machen. Der kämpfende Student<br />
Sophus Lange bittet seine Angehörigen um Schillers<br />
„Wallenstein“, „denn darin ist Hindenburg, darin sind Marketender<br />
und sorglose Soldatengelage, darin sind große<br />
Haupt- und Staatsaktionen“. Es verwundert nicht, dass der<br />
Notration aus 100 Büchern:<br />
Auch der Reclam-Verlag<br />
stillte den geistigen Hunger<br />
britische Offizier Arthur Conway Young an einem ganz<br />
anderen Frontabschnitt ein „Wallenstein“-Exemplar fand,<br />
als er einen Graben eroberte.<br />
Ernst Jünger, Deutschlands bedeutendster Kriegstagebuch-Autor,<br />
mehrfach verwundet und hoch ausgezeichnet,<br />
war ein belesener Deuter des Weltkriegs. Grimmelshausen,<br />
Schopenhauer und Nietzsche, aber auch Karl May,<br />
Casanova und Otto Julius Bierbaum standen auf seiner<br />
Leseliste, außerdem Leonhard Franks Abenteuer „Die<br />
Räuberbande“ und der „französische<br />
Schundroman“ namens „Le vautour de<br />
la Sierra“. Jüngers wichtigste Lektüreerfahrung<br />
war der „Rasende Roland“<br />
des italienischen Renaissance-Dichters<br />
Ariost. Dessen Rückblick auf das Rittertum<br />
schärfte Jüngers Blick für die neue<br />
Art der Kriegsführung in seiner eigenen<br />
Zeit. Noch in den neunziger Jahren<br />
dachte Jünger regelmäßig daran, wie er<br />
„den Ariost in der Kartentasche“ mitführte.<br />
Er zitiert in seinem Kriegstagebuch:<br />
„Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen, /<br />
Wann er auch kommt, wenn er nur rühmlich ist.“<br />
Im August 1918 stößt Ernst Jünger im nordfranzösischen<br />
Artois auf englische Flugblätter. „Es war sogar ein<br />
Gedicht Schillers vom freien Britannien dabei.“ Jünger<br />
überlegt: „Ein Krieg, in dem man sich durch Verse bekämpft,<br />
wäre eine recht segensreiche Erfindung.“ Dass<br />
die deutsche Heeresleitung 30 Pfennig pro abgegebenem<br />
Flugblatt bezahlt, unterstreiche die Gefährlichkeit auch<br />
klassischer Texte.<br />
Die Lesegewohnheiten gerade der Gebildeten änderten<br />
sich im Feld kaum. Der mit dem Dichter Stefan George<br />
befreundete junge Altphilologe Norbert von Hellingrath,<br />
der noch vor Kriegsausbruch Hölderlins Spätwerk in der<br />
Württembergischen Landesbibliothek entdeckt hatte, las<br />
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Müde und<br />
ausgebrannt?<br />
Anstrengende<br />
und aggressive<br />
Kinder?<br />
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Lassen Sie sich nicht irre machen – Gefühle und Wünsche sind keine Krankheiten!<br />
Der Bestsellerautor Jörg Blech enthüllt, wie die Grenze zwischen<br />
psychisch gesund und gestört zunehmend verschoben wird, und zeigt<br />
einen Ausweg aus der Psychofalle. Diagnose: unbedingt lesenswert.
SALON<br />
1914<br />
weiter George. Er schnitt sich dessen Gedichtband „Der<br />
Stern des Bundes“ auf Taschenformat zurecht. Das Buch<br />
spricht von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Erneuerung<br />
in Zeiten von Gier, Neid, Raubbau und Apathie und<br />
hält auch einen „heiligen krieg“ für möglich. Dieser findet<br />
im Buch aber nicht statt, weil sich enge, stille Freundschaftsbünde<br />
bilden, die auf friedlichem Weg für neues Leben<br />
sorgen. Hellingrath mag das getröstet haben. Georges<br />
andere Freunde schrieben einander vom Feld aus.<br />
Der Germanist Friedrich Gundolf schickte dem Historiker<br />
Friedrich Wolters die ersten Korrekturbögen seiner<br />
Goethe-Biografie in die Karpaten. Wolters las dort bei<br />
klirrender Kälte und brütender Hitze auch Leopold von<br />
Rankes „Serbien und die Türkei im neunzehnten Jahrhundert“.<br />
Beide erhielten Briefe von George.<br />
Auf der anderen Seite der mazedonischen Front saß<br />
der Oxforder Gelehrte R. W. Chapman und edierte in einer<br />
Hütte aus Sandsäcken unter einem Wellblechdach James<br />
Boswells Tagebuch einer Hebridenreise von 1785. Boswell<br />
wurde vor allem durch seine Biografie Samuel Johnsons<br />
bekannt, des bedeutendsten englischen Wörterbuch-Autors.<br />
Auch dessen Tagebuch einer Schottlandreise gehörte<br />
zu den Editionsprojekten, die Chapman während seines<br />
Einsatzes auf dem Balkan unbeirrt weiterverfolgte.<br />
In Großbritannien hatte die Schulpflicht ebenfalls<br />
breitere Bevölkerungsschichten zu Lesern gemacht. Neben<br />
Joseph Conrad war Thomas Hardy besonders populär.<br />
Der Lyriker Siegfried Sassoon war bei der Lektüre so<br />
bewegt, dass er gestand: „Ich wollte nicht sterben, ohne<br />
Hardys ‚Die Heimkehr‘ fertig gelesen zu haben.“<br />
Insgesamt ist das Lesen im Krieg viel weniger erforscht<br />
als das Schreiben aus dem Krieg oder über den<br />
Krieg. Wichtige Anstöße gaben jüngst die Ausstellung<br />
„August 1914: Literatur und Krieg“ im Deutschen Literaturarchiv<br />
Marbach oder die „Reading Experience Database“<br />
der britischen Open University.<br />
Ein Klassiker ist „The Great War and Modern Memory“,<br />
das leider nicht ins Deutsche übersetzte Buch des<br />
Historikers Paul Fussell von 1975. Fussell schreibt, dass der<br />
Literatur in Großbritannien nie zuvor und nie wieder von<br />
einer breiten Öffentlichkeit so viel Respekt entgegengebracht<br />
worden sei wie im Ersten Weltkrieg. Der Grund: In<br />
den zehner Jahren sei der klassisch-humanistische Glaube<br />
Für die Ostfront: Die erste<br />
fahrbare Kriegsbücherei wird in<br />
Berlin zusammengestellt<br />
Fotos: Marbach Institut [M], privat (Autor)<br />
128<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Anzeige<br />
an die Kraft der Literatur noch intakt gewesen, und dieser<br />
habe sich über das neue demokratische Ideal der Massenbildung<br />
verbreitet. Daher seien die schriftlichen Kriegszeugnisse<br />
voller literarischer Zitate. Kämpfende Dichter,<br />
Journalisten und einfache, kaum gebildete Soldaten flochten<br />
Anspielungen auf bekannte und unbekannte Texte in<br />
ihre Berichte ein. Fussell zufolge „beherrschte“ das „Oxford<br />
Book of English Verse“ gar den Ersten Weltkrieg. Die<br />
darin versammelten Gedichte hätten die Kriegswahrnehmung<br />
britischer Soldaten und Offiziere geprägt. Selbst neue<br />
Soldatenlieder bezeugten die freimütige, produktive Auseinandersetzung<br />
mit literarischen Werken.<br />
EINE ANDERE WICHTIGE ANTHOLOGIE las der Sanitäter<br />
Vero Garratt: „Wenn es Abend wurde, suchte ich in der<br />
Abgeschiedenheit einer leerstehenden Hütte bei Kerzenlicht<br />
die poetischen Werke, die mir Trost boten, im ‚Treasury<br />
of English Poetry‘ des Palgrave-Verlags auf.“ Je zerlesener<br />
sie wurde, umso mehr erwies sie sich als Segen.<br />
Kanonische Werke sollten die eigene Situation erhellen.<br />
Nur manchmal hatte es nicht den gewünschten Effekt.<br />
In den Anthologien stand auch Düsteres. Der junge Offizier<br />
Edwin Campion Vaughan berichtet, er habe sein Buch<br />
ausgerechnet bei dem schmerzvollen Abschiedsgedicht<br />
„Barbara“ von Alexander Smith aufgeschlagen: „Lass ab,<br />
lass ab, lass ab / Du kehrst nie mehr zurück.“<br />
Der Bildungshunger der Soldaten hatte natürlich<br />
Grenzen. Fussell erkennt das kaum an, deshalb ist sein<br />
Buch umstritten. Er bezieht fast jede soldatische Äußerung<br />
auf die klassische Literatur und berücksichtigt zu<br />
selten, dass viele Kriegsheimkehrer kulturelle Traditionen<br />
und deren oft rosiges Bild des Kampfes kritisierten.<br />
Auch aus praktischen Gründen durfte die Lesefreude<br />
der Truppen nicht zu groß werden. Sonst würde ein Soldat<br />
so nutzlos wie der fiktive Privatdozent Dr. phil. T. A. Meyer<br />
in einer Satire der Somme-Wacht. Meyer war „ein außerordentlich<br />
gewissenhafter und gründlicher Mensch, wie<br />
sich das auch für einen Philologen gehört, der noch aus der<br />
Stellung des I-Punktes tiefsinnige Schlüsse ziehen kann.<br />
Sonst war Herr Meyer aber ganz manierlich, harmlos und<br />
gesund.“ 1914 wollte er sich freiwillig melden, sich aber<br />
zuvor „erst geistig für den neuen Beruf eines Feldgrauen<br />
vorbereiten“.<br />
Er bestellte sich, so geht die Fabel, alle Bücher, auf denen<br />
„Unentbehrlich für jeden Soldaten“ oder „Geistiges<br />
Gewaffen für unsere Krieger“ stand und las lange und viel.<br />
Als er sich bereit fühlte und zum Bezirkskommando ging,<br />
hörte er: Der Krieg ist schon seit einem halben Jahr vorbei.<br />
Tatsächlich gekämpft haben ihn die Soldaten und Offiziere<br />
im Feld. Nur böse Zungen würden behaupten: in<br />
ihren Lesepausen.<br />
CHRISTOPHE FRICKER ist Kulturwissenschaftler,<br />
Autor und derzeit Marie Curie Research Fellow an<br />
der University of Bristol. Sein Buch „Stefan George:<br />
Gedichte für Dich“ ( 2011 ) stand auf Platz 2 der<br />
Sachbuchbestenliste von NDR und SZ<br />
»Gier und Maßlosigkeit gab es immer. Sie galten als<br />
Laster. Heute gelten sie als Tugend. In dieser Hybris<br />
Unbenannt-1 1 11.03.14 20:5<br />
liegt der Kern der Krise unserer westlichen Kultur.«<br />
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SALON<br />
Man sieht nur, was man sucht<br />
Echt sind hier nur die MASKEN<br />
und dies bittere GEFÜHL Von BEAT WYSS<br />
James Ensor zeigte den „Einzug Christi in Brüssel 1889“ als Mummenschanz<br />
der Satten und Frivolen. So kritisierte er die Große Koalition seiner Heimat<br />
James Ensor war 28 Jahre alt, als<br />
er den „Einzug Christi in Brüssel<br />
1889“ malte. Er wohnte bei<br />
seiner Mutter, die im belgischen<br />
Badeort Ostende einen Souvenirladen<br />
betrieb. Die Leinwand fand<br />
kaum Platz im Atelier, das zuvor sein<br />
Im J. Paul Getty Museum in<br />
Los Angeles ist Ensors schrilles<br />
Sittenpanorama zu besichtigen<br />
Kinderzimmer gewesen war. Ein sehr<br />
persönliches Manifest wurde es, das drei<br />
Jahrzehnte lang eingerollt herumlag. Die<br />
Mutter war inzwischen gestorben, als<br />
Ensor auszog, um sich ein paar Straßen<br />
weiter, im Haus seines Onkels, neu<br />
einzurichten. Hier fand sich Platz, das<br />
Foto: The J. Paul Getty Museum, Los Angeles/© Artists Rights<br />
Society (ARS), New York/SABAM, Brussels<br />
130<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Foto: Gaetan Bally/Keystone Schweiz /Laif<br />
Riesengemälde aufzuhängen. Zu Ensors<br />
Lebzeiten ist es selten öffentlich ausgestellt<br />
worden. Heute gilt es als Hauptwerk,<br />
worin der Künstler seine Rolle in<br />
der Gesellschaft schildert und zugleich<br />
kundgibt, was ihn an der Politik in der<br />
Hauptstadt Brüssel störte.<br />
Die damals regierende Große Koalition,<br />
den macchiavellistischen Versuch,<br />
Bürgertum und Arbeiterschaft in der<br />
belgischen Willensnation zu verschmelzen,<br />
mochte er nicht. Er greift zu plakativen<br />
Mitteln. Ensor ist der Jonathan<br />
Meese des 19. Jahrhunderts. Katholische<br />
Kirche und Militär, Säulen der belgischen<br />
Krone, zelebrieren ihre heilige<br />
Allianz im frenetischen Korso. Angeführt<br />
wird der Zug von Nikolaus, dem spendierfreudigen<br />
Heiligen. Als Tambourmajor<br />
schwingt der korpulente Bischof den<br />
Taktstock vor einer Blaskapelle maskierter<br />
Soldaten.<br />
Von der beflaggten Tribüne nehmen<br />
die Honoratioren den Maskenzug ab, Zeremonienmeister<br />
einer Stunksitzung. Politik,<br />
Religion, Karneval: Friede, Freude,<br />
Eierkuchen fürs Volk. „Es lebe die Soziale“<br />
prangt auf dem Transparent, das<br />
die Szene als bombastisch absurde Parole<br />
überspannt. Auch die Sozialisten<br />
waren mit im Boot. Vier Jahre vor der<br />
Aufhebung der Sozialistengesetze im<br />
Deutschen Reich, am 15. August 1886,<br />
Mariä Himmelfahrt, durfte die belgische<br />
Arbeiterbewegung bereits erstmals<br />
im Rahmen der Festumzüge in der Stadt<br />
mitmarschieren. Die Burgfriedenspolitik<br />
war besiegelt. GroKo, Alaaf!<br />
Worum geht es bei diesem ohrenbetäubenden<br />
Klamauk? Jesus auf dem Esel<br />
geht unter im Gewühl. Ist es der echte?<br />
Sein bärtiges Gesicht wirkt gepudert.<br />
Dem wahren Jesus hatten die Menschen<br />
mit Palmwedeln zugewinkt, seinem Einzug<br />
in Jerusalem mit Kleidern einen Teppich<br />
ausgebreitet. Hier in Brüssel sind die<br />
Narren mit ihrer eigenen Fröhlichkeit<br />
beschäftigt. Der Geschmacksverstärker<br />
uniformierter Ausgelassenheit lässt die<br />
frohe Botschaft zum Spektakel geraten.<br />
Saturnalien dienten schon den Römern,<br />
die herrschende Ordnung zu bestätigen.<br />
Pessimistische Gedanken malt Ensor<br />
im Jahr 1889, zur Hundertjahrfeier der<br />
Französischen Revolution. In einer Gesellschaft<br />
triumphierender Allianzen ist<br />
es der Opposition buchstäblich zum Kotzen<br />
zumute. Links oben im Bild übergibt<br />
sich ein mit Turban kostümierter Narr.<br />
Ensor legt in derb altflämischer Redensart<br />
nach, wenn er neben dem Spuckenden<br />
einen Hintern malt, der über die Brüstung<br />
– pardon – scheißt. Die grün bespannte<br />
Empore ist mit rotem „XX“ bezeichnet,<br />
dem Emblem der „Société des<br />
Vingt“, einer Vereinigung belgischer<br />
Künstler, die Ensor mitbegründet hat.<br />
Ihre Mitglieder waren überwiegend anarcho-sozialistisch<br />
gesinnt.<br />
Zum Autor<br />
BEAT WYSS<br />
ist einer der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes.<br />
Er lehrt Kunstwissenschaft<br />
und Medienphilosophie an der<br />
Staatlichen Hochschule für<br />
Gestaltung in Karlsruhe. Er<br />
schreibt jeden Monat in <strong>Cicero</strong><br />
über ein Bild und dessen<br />
Geschichte<br />
Immer wieder erstaunt die Simultaneität,<br />
mit der wirkmächtige Themen in<br />
der Ideengeschichte auftreten. Ensor malt<br />
den „Einzug Christi“ zur gleichen Zeit, da<br />
Friedrich Nietzsche seine autobiografische<br />
Schrift „Ecce Homo“ schreibt. Das bärtige<br />
Gesicht Jesu hat Züge eines Selbstporträts.<br />
Seit Baudelaire hat sich die symbolistische<br />
Generation mit dem verhöhnten<br />
Christus identifiziert. Der Intellektuelle<br />
erkennt sich als Spottfigur vor dem Tribunal<br />
der Banausen.<br />
Ganz verlassen sieht sich Ensor nicht.<br />
Als symbolische Allianzfigur im Karneval<br />
der Selbstvergessenheit setzt er das<br />
Profil eines lächelnden Voltaire rechts<br />
unten ins Bild. Der Kritiker von absolutistischer<br />
Macht und Kirche ist neben<br />
Christus der einzig Unmaskierte.<br />
Der Maler versteckt sein politisches<br />
Profil hinter einem Schwarm bunter Masken.<br />
Das allegorische Selbstporträt des<br />
jungen Mannes als soziale Randfigur war<br />
nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Es<br />
sollte ihn durch die Enge des Ostender<br />
Alltags begleiten. Heute hängt „Der Einzug<br />
Christi“ in Los Angeles. Was an klassischer<br />
Moderne den Atlantik überquert,<br />
empfängt kanonische Weihe.<br />
131<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
Literaturen<br />
Neue Bücher, Texte, Themen<br />
Tatsachenroman<br />
Das Leiden der anderen<br />
„Alles ist wahr“ erzählt ohne Larmoyanz vom größtmöglichen<br />
Unglück und gibt darin ein Zeugnis tiefer Menschlichkeit<br />
Es gibt nicht viele Bücher, die einen<br />
erfassen wie eine große Welle<br />
und mit sich fortreißen, mitten hinein<br />
in das Leben der anderen. Emmanuel<br />
Carrères „Alles ist wahr“ übt diesen<br />
Sog aus. Nach der Lektüre spült es einen<br />
wieder an Land, wo man leicht benebelt<br />
zu sich kommt und sich fragt: Was war<br />
das eigentlich?<br />
Dieses Buch ist weder Roman noch<br />
Autobiografie, ein schlichter Tatsachenbericht,<br />
aber keine Reportage, ein Buch<br />
übers Leben und Überleben, über Leiden<br />
und Sterben, derart angefüllt mit Dramen,<br />
dass man dem Autor, wäre all dies<br />
Fiktion, die Anhäufung von so viel Unglück<br />
schwerlich abnehmen würde. Aber<br />
alles ist wahr: Innerhalb weniger Monate<br />
wird der französische Schriftsteller<br />
Zeuge zweier großer Dramen, dem<br />
größtmöglichen Unglück, das er sich vorstellen<br />
kann: „der Tod eines Kindes für<br />
seine Eltern und der Tod einer jungen<br />
Frau für ihre Kinder und ihren Mann“.<br />
Jahre später verkettet er beide Ereignisse<br />
und macht daraus eine einzige Erzählung,<br />
aufregend, spannend, oft erschütternd<br />
und sehr schwer einzuordnen.<br />
Die Geschichte beginnt ganz leise,<br />
aber man spürt sofort, dass dies nur die<br />
melancholische Ruhe vor dem großen<br />
Sturm ist: Der Ich-Erzähler macht Urlaub<br />
auf Sri Lanka. Seine Freundin ist<br />
dabei, zwei Söhne aus vorherigen Beziehungen,<br />
der eine von ihr, der andere von<br />
ihm. Im Pool dreht jeden Morgen eine betagte,<br />
athletische Deutsche ihre Runden,<br />
die an Leni Riefenstahl erinnert. Ein paar<br />
Deutschschweizer Ayurveden üben sich<br />
Foto: Igor Zhuravlov/Colourbox.com<br />
132<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
in Yoga, während Emmanuel, der Ich-<br />
Erzähler und Schriftsteller, und Hélène,<br />
die Fernsehjournalistin aus Paris, das unspektakuläre<br />
Ende ihrer Beziehung beschließen.<br />
Es wird ihr letzter gemeinsamer<br />
Urlaub sein. Sie machen Schluss<br />
ohne Feindseligkeit und schauen sich nur<br />
traurig dabei zu, wie sie für alle Zeiten<br />
auseinanderdriften.<br />
Dann, am nächsten Morgen, geschieht<br />
das Ungeheuerliche: Eine Welle<br />
verschlingt das ganze Dorf unterhalb ihres<br />
Hotels. Menschen werden ins Meer<br />
gerissen, ihre Leichen später wieder angespült.<br />
Andere überleben, weil sie sich<br />
an eine Palme geklammert haben oder irgendwo<br />
zwischen Brettern und Bruchstücken<br />
eingeklemmt wurden. „Von da an<br />
spricht man von einem Tsunami, als hätte<br />
jeder dieses Wort immer schon gekannt.“<br />
Es ist nicht das erste Mal, dass sich<br />
Carrère auf das Feld des Faktischen begibt.<br />
Aber er tut dies nicht, um die Wirklichkeit<br />
literarisch zu verdichten, sondern,<br />
im Gegenteil, um sie von allem<br />
Überflüssigen zu befreien und sich zu<br />
ihr in Beziehung zu setzen. Begonnen<br />
hat alles im Jahr 2000 mit „Amok“, einem<br />
Buch, in dem er den Fall von Jean-<br />
Claude Romand rekonstruierte, der<br />
18 Jahre lang behauptete, Arzt zu sein,<br />
und dann, als seine Lüge aufflog, seine<br />
Frau, seine Kinder und auch seine Eltern<br />
tötete. Jahre hat Carrère mit diesem Projekt<br />
verbracht und ist daran fast verzweifelt.<br />
Als er am Ende beschloss, seine Erfahrung<br />
tagebuchartig für sich selbst zu<br />
notieren, löste sich plötzlich der Knoten.<br />
Er erzählte in Ich-Form, subjektiv, ohne<br />
Wahrheitsanspruch. Das Buch wurde ein<br />
solcher Erfolg, dass es mit Truman Capotes<br />
Meisterwerk „Kaltblütig“ verglichen<br />
wurde. Und Carrère hatte seinen<br />
Stil gefunden, wenn nicht sogar ein neues<br />
Genre begründet.<br />
In „Ein russischer Roman“ hat er<br />
sich dann an die Tabus der eigenen Familie<br />
gemacht, die Geschichte des exekutierten<br />
Großvaters erzählt und damit<br />
„Psychoanalyse unter freiem Himmel betrieben“,<br />
wie er es formuliert, mit allem,<br />
was das an Schamlosigkeit und Kollateralschäden<br />
mit sich brachte. Auch „Limonow“<br />
gehört dazu, eine Romanbiografie<br />
über einen irrlichternden russischen Helden.<br />
Sie erschien nach Carrères Bestseller<br />
„Alles ist wahr“, der bereits 2009 im<br />
Am Abend zuvor<br />
waren sie noch wie<br />
wir und wir wie sie.<br />
Aber ihnen<br />
geschah etwas,<br />
das uns nicht<br />
geschah, und jetzt<br />
gehören wir zu<br />
zwei verschiedenen<br />
Sorten Mensch<br />
Original herauskam und nun endlich in<br />
deutscher Übersetzung vorliegt. Es ist<br />
fraglos das erschütternste Buch in dieser<br />
Reihe.<br />
„Alles ist wahr“ beginnt mit dem<br />
Protokoll größter Verwirrung. Carrère<br />
erzählt vom Gestank der Leichen, von<br />
Ruth, der Engländerin, die vor dem Krankenhaus<br />
ausharrt, in einer Art Schockstarre,<br />
wartend auf ihren Verlobten. Er<br />
beschreibt, wie sich sein luxuriöses Hotel,<br />
das er wenige Tage zuvor noch liebend<br />
gern gegen ein studentisches Guesthouse<br />
am Strand getauscht hätte, in das Floß<br />
der Medusa verwandelt und Touristen<br />
aufnimmt, die alles verloren haben. Unter<br />
ihnen Delphine und Jerôme, ein Paar,<br />
mit dem sie sich wenige Tage zuvor angefreundet<br />
hatten und deren vierjährige<br />
Tochter Juliette ertrunken ist.<br />
Die Welt, die so paradiesisch wirkte,<br />
erscheint plötzlich als Horrorfilm. Die einen<br />
sind ein Teil von ihm, die anderen<br />
bleiben Zuschauer: „Da sind wir, sauber,<br />
adrett und verschont, und um uns herum<br />
diese Schar von Aussätzigen, Strahlenopfern,<br />
von verwilderten Schiffbrüchigen.<br />
Am Abend zuvor waren sie noch wie wir<br />
und wir wie sie, aber ihnen geschah etwas,<br />
das uns nicht geschah, und jetzt gehören<br />
wir zu zwei verschiedenen Sorten<br />
Mensch.“ Nüchtern, ganz ohne Pathos<br />
beschreibt Carrère, was er sieht, wem er<br />
begegnet, behält sich dabei aber selbst<br />
mit überraschender Unbestechlichkeit<br />
im Blick und notiert, wie er sich anfangs<br />
noch an der dramatischen Wende eines<br />
sich zuvor dahinschleppenden Urlaubs<br />
erfreute. Schamhaft beginnt der nach seinen<br />
eigenen Worten liebesunfähige Ich-<br />
Erzähler, sich und seine Neurose im Leid<br />
der anderen zu spiegeln. Der Tsunami<br />
wird für ihn zu einer Art wake-up call:<br />
Das Unglück der anderen wird ihn und<br />
auch seine Beziehung retten. „D’autres<br />
vies que la mienne“, andere Leben als das<br />
meine, lautet der Titel im französischen<br />
Original, und er lässt ahnen, wie nah das<br />
Leben der anderen an das eigene heranrücken<br />
kann, ohne dass beide je ganz ineinanderfallen<br />
könnten.<br />
Kaum zurück in Frankreich, in Sicherheit,<br />
nimmt ein neues Drama seinen<br />
Lauf: Juliette, die Schwester seiner Lebensgefährtin,<br />
Richterin in der Nähe von<br />
Lyon, hat Krebs. Sie ist Anfang 33, sie<br />
hat einen sie liebenden Mann, drei sehr<br />
kleine Kinder, das jüngste ist gerade mal<br />
anderthalb. Carrère lernt sie kennen, als<br />
sie schon im Sterben liegt. Eine Begegnung<br />
mit einem ihrer engen Freunde und<br />
Kollegen lässt ihn begreifen: Es muss alles<br />
aufgeschrieben werden. Der Tsunami,<br />
der Krebs, das Sterben, die Geschichte<br />
der Freundschaft zweier hinkender Richter,<br />
die beide in ihrer Jugend einen ersten<br />
Krebs bekämpft hatten, und die sich<br />
verbinden im Engagement für die kleinen<br />
Leute, die sich verbünden im juristischen<br />
Kampf gegen die Verschuldung, gegen<br />
eine ungerechte soziale Ordnung und<br />
sich an der „Speerspitze eines kühnen,<br />
aufregenden Kampfes“ um Gerechtigkeit<br />
wiederfinden, bis einer von ihnen stirbt.<br />
„Alles ist wahr“ ist ein Buch voller<br />
Leid, ohne Larmoyanz, ein Zeugnis von<br />
Menschlichkeit. Seit dessen enormem Erfolg<br />
erhält Carrère Post von Menschen,<br />
die ihn bitten, ihr Leben aufzuschreiben.<br />
Er ist in ihren Augen ein écrivain<br />
public geworden, eine Art „Mutter Teresa<br />
der Literatur“, wie er selbst sagt. Er<br />
aber kann ihnen nur antworten, dass er<br />
es doch eigentlich schon erzählt habe.<br />
Als sei nun alles gesagt. Martina Meister<br />
Emmanuel Carrère<br />
„Alles ist wahr“<br />
Aus dem Französischen von Claudia Hamm.<br />
Matthes & Seitz, Berlin 2014. 248 S., 19,90 €<br />
133<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
Literaturen<br />
Roman<br />
„F“ wie der<br />
Drache Fafnir<br />
Gelehrt, schwer verdaulich<br />
und ungeheuer heiter: Julio<br />
Cortázars „Autonauten“<br />
Von der spanischen Übersetzung eines<br />
Reisebuchs von Werner Herzog<br />
noch ziemlich deprimiert, erkundete<br />
Julio Cortázar, der mit Jorge<br />
Luis Borges die Doppelspitze der fantastischen<br />
argentinischen Literatur des<br />
20. Jahrhunderts besetzt, am 24. Mai<br />
1982 den nördlichen Teil des Autobahnrastplatzes<br />
Achères-la-Forêt. Der verheißungsvolle<br />
Duft von wilden Blumen<br />
führte den Schriftsteller über einen asphaltierten<br />
Weg zu einem Pavillon hinauf,<br />
der wohl dem Verwalter der ebenfalls<br />
hier gelegenen Autowerkstatt<br />
gehören musste. Da hörte Cortázar, wie<br />
die Stimme des mit weißen Blüten übersäten<br />
Busches zu ihm sprach: „Siehst du,<br />
das ist nicht mehr der Geruch der Autobahn,<br />
hier betritt man eine andere Welt.“<br />
Diese andere Welt aber – also alles,<br />
was sich hinter Drahtzäunen, Erdwällen,<br />
Schutzwänden und wehrhaften Hecken<br />
verbergen mochte – blieb Cortázar auf<br />
jenen 800 Kilometern, die zwischen Paris<br />
und Marseille liegen, schon aus Prinzip<br />
verborgen. Die Expedition, auf der er<br />
sich befand, folgte einem strengen Reglement.<br />
Zusammen mit seiner Frau, der<br />
kanadischen Schriftstellerin Carol Dunlop,<br />
war er in einem mit allem Lebensnotwendigen<br />
ausgestatteten VW-Bus aufgebrochen,<br />
um die Strecke von Paris nach<br />
Marseille auf der Autobahn zurückzulegen.<br />
Auf allen 65 Rastplätzen, die auf<br />
diesem Weg lagen, wollte er für mindestens<br />
einige Stunden haltmachen und auf<br />
jedem zweiten von ihnen übernachten,<br />
ganz gleich, wie einladend es dort auch<br />
immer aussehen mochte.<br />
Auf diese Weise sollten die beiden<br />
mehr als einen Monat unterwegs sein,<br />
ohne die Autobahn ein einziges Mal zu<br />
verlassen. Zu Fuß, das lässt sich errechnen,<br />
wäre dieselbe Distanz in demselben<br />
Zeitraum leicht zu überwinden gewesen,<br />
wenn nicht sogar schneller.<br />
„Die Autonauten auf der Kosmobahn“<br />
lautet der Titel jenes schwer verdaulichen,<br />
hochgelehrten, unwahrscheinlich<br />
heiteren und verstörend privaten<br />
Buches, das aus dieser Versuchsanordnung<br />
entstanden und nun, zum Glück,<br />
auf Deutsch neu wiederaufgelegt worden<br />
ist. Julio Cortázar und Carol Dunlop<br />
– er: Mitte sechzig, sie: Mitte dreißig<br />
– schreiben diesen Band, der eine<br />
unklassifizierbare Melange aus klassischem<br />
Logbuch, teilnehmender Beobachtung,<br />
Satire, Brief- und Schelmenroman,<br />
literaturgeschichtlich hyperinformierter<br />
Reisejournal-Kolportage, promenadologischem<br />
Manifest und bodenlos rührender<br />
Lovestory ist, gemeinsam.<br />
Kein Ort, kein Gegenstand, der in<br />
diesem Text nicht sprachmagisch aufgeladen<br />
würde. So ist das Gefährt der beiden<br />
nicht einfach nur ein gewöhnlicher<br />
VW-Bus vom Gebrauchtwagenmarkt.<br />
Das große F, das der Mechaniker dem<br />
Fahrzeug vor Reisebeginn aufs Hinterteil<br />
geklebt hatte, bedeutet auch nicht einfach<br />
Frankreich: Es steht für den Drachen<br />
Fafnir, auf dessen Namen Cortázar<br />
und Dunlop ihr Auto getauft haben. Fafnir<br />
bewacht, der Sage nach, den Schatz<br />
der Nibelungen, und war, wie die beiden<br />
Reisenden voller Bewunderung festhalten,<br />
sowohl dumm als auch pervers. Dass<br />
er durch Siegfrieds Hand sterben musste,<br />
können sie ebenso wenig verzeihen wie<br />
den Mord des Minotaurus durch Theseus.<br />
Dieses Buch ist neben all diesem<br />
auch ein Buch übers Sterben, es ist das<br />
Testament einer Liebe, die in dieser Autofahrt<br />
ihren letzten Transit gefunden<br />
hat. Julio Cortázar litt, wohl infolge einer<br />
Bluttransfusion, an einer damals noch<br />
namenlosen Immunschwächekrankheit<br />
und hatte seine Ehefrau damit längst infiziert.<br />
Beide starben – sie: Mitte dreißig,<br />
er: Mitte sechzig – kurze Zeit, nachdem<br />
die Überfahrt nach Marseille vollendet<br />
war. Wie es im Jenseits einer Autobahn<br />
namens „Leben“ aussehen mochte, darüber<br />
konnten sie dann leider nicht mehr<br />
schreiben.<br />
Ronald Düker<br />
Julio Cortázar, Carol Dunlop<br />
„Die Autonauten<br />
auf der Kosmobahn“<br />
Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer.<br />
Suhrkamp, Berlin 2014. 359 S., 22,95 €<br />
Sachbuch<br />
Die EU kam nicht<br />
zum Bettmerhorn<br />
Thor Kunkel entdeckt das<br />
wahre Leben in den Alpen<br />
und verflucht Berlin<br />
Im Juni 2011 nahm der Schriftsteller<br />
Thor Kunkel Abschied von Berlin und<br />
zog in die Berge. Ein Haus aus Holz<br />
ließ er sich und seiner Frau bauen in der<br />
Schweiz, im Wallis, auf einer Alm knapp<br />
unterhalb der Baumgrenze, am Rande<br />
des Aletschgletschers. Von dort teilt er<br />
uns in „Wanderful“, dem Protokoll einer<br />
inneren wie äußeren Emigration, mit:<br />
Ihr lebt falsch, ihr Städter. In den Bergen<br />
liegt die Wahrheit, blüht die Schönheit,<br />
gedeiht das Wesentliche.<br />
Thor Kunkel weiß: Was er tut, ist<br />
nicht originell. Legion ist die Liste der<br />
Autoren, die vor ihm gipfelwärts schritten.<br />
Nietzsche und Rilke, Zuckmayer und<br />
Hesse, Adorno selbst und viele, viele andere<br />
richteten es sich für eine längere oder<br />
kürzere Weile in der Nachbarschaft von<br />
Gams und Edelweiß ein. Kunkel wählt<br />
das große argumentative Rüstzeug, um<br />
uns seinen Abschied geschichtsnotwendig<br />
erscheinen zu lassen. Berlin wird<br />
zur Chiffre für fast alles, was er ablehnt.<br />
Und daran herrscht kein Mangel. Er floh<br />
vor Fäkalsprache und Lichtsmog, vor<br />
der „kommerziellen Liederlichkeit“ und<br />
dem „urbanen Tumult“, einem nihilistischen<br />
Mainstream, der „Adapter-Kultur“<br />
im Zeitalter der Smartphones, das er ein<br />
„Cyberzooikum“ nennt, ja vor dem „Getriebe<br />
des allgemeinen Weltunrechts“.<br />
Weltflucht, beharrt er, sei diese Generalabsage<br />
nicht, „eher die Entdeckung<br />
der wirklichen Welt“. Wie schaut sie aus,<br />
diese Welt, deren oberster Gesetzgeber<br />
der Berg ist? Am Anfang steht die Anstrengung,<br />
denn weder die Schweizer<br />
noch der Berg haben auf Kunkel gewartet.<br />
Die Mühen um die Baugenehmigung<br />
veranlassen ihn zu dem Bonmot, „unter<br />
den Anlässen, die Selbstmord rechtfertigen<br />
können“, seien „Drangsale der Behörden<br />
und Amtsschikanen an vorderer<br />
Stelle zu nennen“. Teuer wird es, eine<br />
eigene Wasserleitung legen zu lassen,<br />
134<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
gleich der erste Winter entpuppt sich als<br />
fast halbjähriges „Schnee-Inferno“. Die<br />
Erfüllung eines Traumes, lernt er, bleibt<br />
immer „hinter der Erwartung zurück,<br />
vielleicht besteht das ganze Leben nur<br />
darin, sich immer wieder zu ernüchtern“.<br />
Dennoch wird der gebürtige Frankfurter,<br />
der lange in Amsterdam in der<br />
PR-Branche arbeitete, innerer Schweizer,<br />
noch ehe er recht angekommen ist. Das<br />
Gastland imponiert ihm als Residuum<br />
alteuropäischer Freiheiten inmitten einer<br />
Europäischen Union, die den Einheitsmenschen<br />
anstrebe. Die „EU-Cowboys“<br />
kamen nicht bis zum Bettmerhorn.<br />
Kunkel mit seinen jeder Tendenz im<br />
gegenwärtigen Literaturbetrieb widersprechenden,<br />
ins Fantastische wie ins<br />
Tollkühne ausgreifenden Romanen „Endstufe“,<br />
„Subs“ und „Schaumschwester“<br />
fühlt sich schon lange wie ein Bergler, ein<br />
Montagnard: „Der geborene Berggänger<br />
(…) kann im Grunde nur ein Mann<br />
des Widerstandes werden. (…) Hier, abseits<br />
der Zivilisation genannten Ver-Unordnung,<br />
findet der Berggänger Mittel<br />
und Wege, seine menschliche Seite zu<br />
retten.“ Sein neues Lebensmotto lautet<br />
„Solvitur ambulando – im Gehen lösen<br />
sich die Probleme, nicht auf der Straße.“<br />
Ja, hier stilisiert sich einer mit großer<br />
Klappe zum letzten Outlaw der Literatur,<br />
zum Thoreau des 21. Jahrhunderts<br />
auf der Suche nach seinem „Herzensbild“.<br />
Manch Unausgegorenes findet<br />
sich auch, eine buddhistisch zugespitzte,<br />
neopagane Naturreligiosität etwa, vor<br />
der selbst die harmlosen Gipfelkreuze<br />
keinen Bestand haben; sie seien „Gaunerzinken<br />
an den Toren des Himmels“.<br />
Dafür entschädigen die Schonungslosigkeit,<br />
mit der Thor Kunkel sich und die<br />
Gegenwart, an der er unrettbar Anteil<br />
hat, seziert, und sein Mut zur hochfahrenden<br />
wie demütigen Geste, von keiner<br />
Rücksichtnahme gemildert: „Man<br />
sollte sich selbst gegenüber stets anmaßend<br />
sein. Der Schuh ist selten eine<br />
Nummer zu groß.“ Solche Sätze schreibt<br />
sonst niemand. Alexander Kissler<br />
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Storys<br />
Draußen in der<br />
Lower East Side<br />
Grace Paleys Storys<br />
erzählen vom New York<br />
der Siebziger<br />
Sie hängen nachmittags auf der<br />
Straße ab, die jungen Mädchen und<br />
Frauen in diesen Geschichten, auf<br />
einer Treppe vor einem Mietshaus in der<br />
New Yorker Bronx sitzend oder in Greenwich<br />
Village. Großmäulig und schlagfertig<br />
sind sie als Teenager – mit drei quengelnden<br />
Kindern findet man sie auf dem<br />
Spielplatz ein paar Jahre später. Das ist<br />
kein Stoff für große Literatur, dachte<br />
Grace Paley, die gern las und Gedichte<br />
schrieb, wenn sie auf die schnellen, anzüglichen<br />
Wortwechsel lauschte, in den<br />
Jahren, als sie selbst noch eine von ihnen<br />
war: mit einem Halbtagsjob im Büro, die<br />
erste Ehe mit 19 und mit Ende 20 dann<br />
mit zwei kleinen Kindern.<br />
Die spätere Autorin, Bürgerrechtlerin<br />
und Feministin Paley bezeichnete<br />
sich selbst einmal als „kooperative Anarchistin“.<br />
Als drittes Kind russisch-jüdischer<br />
Einwanderer 1922 in der Bronx geboren,<br />
wuchs sie mit Jiddisch, Russisch<br />
und Englisch auf. Für formale Bildung<br />
fehlten der politisch interessierten Arzttochter<br />
schlichtweg Geduld und Disziplin<br />
– die spätere Universitätsdozentin ist<br />
selbst eine Schulabbrecherin. Es zieht sie<br />
auf Demos und Straßenfeste, nicht an<br />
den Schreibtisch. Über die jungen welfare<br />
mothers im Park nebenan, die von<br />
der Fürsorge leben, weil ihre Männer sie<br />
sitzen ließen, schreibt in den fünfziger<br />
und sechziger Jahren niemand: Frauen<br />
sind adrett und anstellig, nicht frech und<br />
eigenwillig wie in Paleys Kurzgeschichten,<br />
die sie zum ersten Mal im Jahr 1959<br />
in einer Sammlung veröffentlicht.<br />
In „Spielplatz, Nordostseite“ hat die<br />
Prostituierte Leni einen hübschen kleinen,<br />
farbigen Sohn. „So’n dämlicher Typ<br />
schuldete mir was und konnte nicht zahlen.<br />
Also gab er mir das erste Balg, das<br />
er kriegte. Ja, das ist Hilfe für bedürftige<br />
Kinder. Jetzt, meine Süße, bleibe ich wie<br />
eine Bärenmutter einfach zu Hause und<br />
glotze fern. Freier mach ich kaum noch<br />
einen in der Woche.“ Der schnoddrigwitzige<br />
Ton und der schnelle Rhythmus<br />
sicherten Grace Paley ihren Ruf als Großstadtautorin.<br />
Ihre New Yorker Protagonisten<br />
sind street smart und abgebrüht,<br />
aber den Provinzküken bricht die Stadt<br />
grausam das Genick.<br />
Die wahre Geschichte „Das kleine<br />
Mädchen“ wollte lange niemand drucken.<br />
Paley erzählt sie aus der Perspektive eines<br />
älteren Afroamerikaners und ermöglicht<br />
damit eine Distanz zur Hauptfigur.<br />
„Morgens kam Carter im Café vorbei“ –<br />
so lautet die unspektakuläre Hinführung<br />
zu einem Gewaltexzess wie in einem<br />
Blaxploitation-Film. Carter, ein<br />
lässiger, selbstbewusster Afroamerikaner<br />
– „Seine Hosen spannen. Sein Kopf<br />
macht Bilder“ – ist auf Beutetour im Park.<br />
Und schon schnappt die Falle zu für die<br />
weiße Schülerin aus dem Mittleren Westen,<br />
die so gierig ist aufs Großstadtleben.<br />
Grace Paley und ihre Übersetzerin Sigrid<br />
Rusch meier treffen den Ton der Lower-<br />
East-Side-Absteigen in den drogenvernebelten<br />
siebziger Jahren, als New York<br />
noch eine gefährliche Verheißung war.<br />
Ihre authentische Sprache und die<br />
kluge Dramaturgie machen diese Geschichten<br />
fast zu kleinen Hörstücken,<br />
was sicherlich auch daran liegt, dass Paley<br />
ihre Storys immer vor Zuhörern ausprobierte.<br />
Die Vietnamkriegsgegnerin<br />
engagierte sich auch nach ihrem Umzug<br />
ins ländliche Vermont gemeinsam mit ihrem<br />
zweiten Ehemann in der Friedensbewegung<br />
und für Frauenrechte, sie blieb<br />
eine umtriebige Aktivistin, die, ausgezeichnet<br />
mit mehreren Literaturpreisen,<br />
2007 starb. Neben Gedichtsammlungen<br />
und Essays veröffentlichte sie nach diesem<br />
zweiten Erzählband 1985 nur noch<br />
einen weiteren. Das Interview mit ihr,<br />
das sich im Anhang des Buches findet,<br />
erklärt neben den Daten zu Leben und<br />
Werk unter anderem auch, warum es<br />
nicht mehr brauchte, um sich unweigerlich<br />
in den Kanon moderner US-Literatur<br />
einzuschreiben. Claudia Fuchs<br />
Grace Paley<br />
„Ungeheure Veränderungen in<br />
letzter Minute. Storys“<br />
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.<br />
Schöffling, Frankfurt 2014. 256 S., 19,95 €<br />
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SALON<br />
Bibliotheksporträt<br />
DIE VIELEN GELIEBTEN<br />
DES HERRN M.<br />
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler macht in der<br />
Bibliothek wie im Leben sich den Zufall zunutze. Auch sein Buch<br />
über den Ersten Weltkrieg verdankt sich dieser lässigen Kunst<br />
Von SOPHIE DANNENBERG<br />
In diesem Randbezirk Berlins gehen die Kids mit Pudelmützen zur Dorfdisko.<br />
Die Gehwege sind aus Gras, die Häuser schmiegen sich in die Vorgärten.<br />
Das Haus der Münklers erkennt man von außen an den Büchern. Sie<br />
scheinen hinter den Fenstern auf, als wäre das Haus aus Büchern gemauert,<br />
die weiß verputzt wurden. Die Bücher nehmen drei Etagen ein. Herfried<br />
Münkler sitzt hinter einem schlanken Wasserglas am Tisch, spricht höflich<br />
und leise. Seine Frau, die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, grüßt<br />
und verschwindet lautlos zu ihrem Schreibtisch unter dem Dach.<br />
„Unsere Bibliothek“, sagt Herfried Münkler, „ist ein gewachsener Organismus,<br />
in dem die Ringe unserer beider Interessen mal auseinanderlaufen<br />
und sich mal überschneiden.“ Mehrfach wurden die Bücher umorganisiert,<br />
hintereinander, aufeinander gestellt, dann wieder aussortiert. Zwar gibt es<br />
Kategorien: Ideengeschichte, Realgeschichte, Kultur- und Sozialgeschichte,<br />
Kunst, Literatur. Aber der Zufall bringt alles durcheinander. Denn die Bücher<br />
neigen zum Wandern: aus den Kategorien in die Handapparate mit den<br />
aktuellen Themenfeldern und von dort wieder zurück in andere Kategorien,<br />
neue Themenfelder. Die Bücher, die Münkler für den „Großen Krieg“<br />
verwendete, füllen ein halbes Zimmer. „Was mache ich mit ihnen? Ich kann<br />
mich nicht von ihnen trennen, aber sie passen auch nicht mehr in die Regale.<br />
In welche Kategorie sollen sie, Kriegsliteratur oder Ideengeschichte?“<br />
Aber Herfried Münkler lässt sich nicht vom Zufall aus dem Konzept<br />
bringen. Er macht ihn sich zunutze. Das gilt auch für seine Laufbahn. Was<br />
im Rückblick aussieht wie ein Karriereplan, sind in Wahrheit überlegte Reaktionen<br />
auf Unerwartetes. „Das Leben hängt von so vielen Zufällen ab“,<br />
sagt er. „Wir versuchen nachträglich, eine Stringenz zu erzählen. Aber das<br />
Erzählen der eigenen Identität ist immer auch ein Konstruieren der Identität.“<br />
Die Idee, über Machiavelli zu forschen, damals im Frankfurt der siebziger<br />
Jahre, am Institut für Sozialforschung, war auch so ein Zufall. Man<br />
las Marx und Mitscherlich, nicht „Il Principe“. Ein Außenseiterthema, bei<br />
einem Außenseiterlehrer zudem. Münklers Doktorvater war Iring Fetscher,<br />
ein im Kontext der Frankfurter Schule eigenständiger Denker, Kenner von<br />
139<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Hegel und Rousseau, kein Zeitgeistvertreter wie Habermas. „Habermas<br />
betrieb zu viel Gemeindebildung. Das lag mir nicht, immer an den Lippen<br />
des Meisters zu hängen. Bei meinem Doktorvater Iring Fetscher war das<br />
viel unproblematischer.“<br />
Die Dissertation über Machiavelli wurde ein Erfolg. Nach seiner Habilitation<br />
über Staatsraison konnte er sich den Lehrstuhl aussuchen und entschied<br />
sich für Berlin. Studenten rät er, so vorzugehen wie er: sich nicht in<br />
überbevölkerten Themen anzusiedeln, stattdessen Entdeckerqualitäten zu<br />
entwickeln. „Doktoranden auf Themensuche fordere ich zu intellektueller<br />
Promiskuität auf. Sie sollen sich mehrere Geliebte mit nach Hause nehmen<br />
und dann entscheiden, welche Liebesbeziehung für sie am meisten hergibt.“<br />
Das Prinzip des aufmerksamen Sich-treiben-Lassens hat ihn so produktiv<br />
gemacht, dass seine Publikationsliste fast unübersichtlich erscheint. Mal<br />
ist es Politische Theorie, mal die Antike, mal die Renaissance, die ihn beschäftigt.<br />
Seine Bücher und ihre Übersetzungen füllen zwei hohe Regale in<br />
der oberen Etage der Bibliothek. Er hat sie alle mit der Hand geschrieben,<br />
mit einem Füllfederhalter. Zuweilen leidet Münkler unter der Kopfarbeit<br />
und empfindet es als Glück, physisch etwas zu leisten. „Das ist auch etwas<br />
Taktiles, eine Erotik des Schreibens. Der Tintenfluss zwingt zur Flüssigkeit<br />
der Gedanken. Es passiert mir dann nicht, dass ich schneller schreibe,<br />
als ich denken kann. Texte, die ich am Computer tippe, werden nicht gut.“<br />
Berühmt machte ihn 2002 sein Buch über „Die neuen Kriege“. Darin<br />
vertritt er die These, dass die klassischen zwischenstaatlichen Kriege mehr<br />
und mehr verschwinden. An ihre Stelle treten schwelende Kriege, die Söldner,<br />
Terroristen, Warlords führen. Seither berät Münkler Politiker, etwa zur<br />
Frage der Terrorabwehr oder Internetsperren. Journalisten sprechen ihn als<br />
Experten an: „Ich bin ein ambivalenter Mensch, gelegentlich gehen mir Interviews<br />
auf die Nerven. Alles ist jetzt so bedeutsam, das ist schrecklich.<br />
Es ist doch auch gut, mal was dahinzusagen, auch mal leichtsinnige Äußerungen<br />
machen zu können. Das beflügelt das Denken.“<br />
Auch dass er jetzt ein Buch über den Ersten Weltkrieg veröffentlichte,<br />
sei nicht geplant gewesen. Es gab in Deutschland keine neueren umfassenden<br />
Darstellungen, da schrieb er eben eine. Herausgekommen ist ein detailreiches<br />
Werk, das den Begriff der Schuld hinter sich lässt und nach Verantwortung<br />
fragt, das klug oszilliert zwischen Analyse und Anschauung. Und –<br />
natürlich – die Zufälle schildert, die diesem Krieg seine Wendungen gaben.<br />
Herfried Münklers Bibliothek ist ein Ort der Übergänge. Die Ideen<br />
wandern aus den Büchern in seinen Kopf und aus dem Kopf in die Bücher.<br />
Mit kleiner, gestochen scharfer Handschrift schreibt er Anmerkungen aufs<br />
letzte Vorsatzblatt. So auch bei einem Lieblingsbuch, der „Legitimität der<br />
Neuzeit“ von Hans Blumenberg. Er las es zum ersten Mal mit 22 Jahren.<br />
„Blumenberg hat mich mit seinem Wissen kolossal beeindruckt. Mensch,<br />
Herfried, dachte ich damals, so viel willst du auch mal wissen!“<br />
Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> (Seiten 138 bis 141)<br />
SOPHIE DANNENBERG ist Schriftstellerin ( „Teufelsberg“ )<br />
140<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
SALON<br />
Hopes Welt<br />
DAS SCHIFF DES LEBENS UND SEINE VIELEN HÄFEN<br />
Wie ich in Kapstadt einmal daran erinnert wurde, dass die<br />
Wahrheit über einen Menschen nicht im Reisepass steht<br />
Von DANIEL HOPE<br />
Die Dame bei der Einreise am Flughafen<br />
Kapstadt schaute skeptisch. „Sie haben<br />
keinen südafrikanischen Pass?“ Ich verneinte.<br />
„Aber Sie sind in Südafrika geboren.“ Ich<br />
nickte, sie lächelte doch: „Welcome home, Sir.“<br />
Du wunderbares Wort „Zuhause“! Die Frage<br />
von Nationalität und Zugehörigkeit stelle ich<br />
mir, seit ich weiß, dass meine jüdischen Urgroßeltern<br />
mütterlicherseits in Berlin lebten und sich<br />
als Deutsche fühlten. Eigentlich müsste ich sagen,<br />
ich bin Südafrikaner. Ich könnte auch überzeugend<br />
argumentieren, ich bin Engländer, denn<br />
in England verbrachte ich Kindheit und Jugend.<br />
Englisch ist meine Muttersprache. Wie wäre es<br />
mit Österreicher, in Wien lebe ich seit Jahren.<br />
Oder Ire, meine Familie väterlicherseits stammte<br />
aus Irland. Ich habe einen irischen Reisepass.<br />
Den Iren habe ich es zu verdanken, dass wir<br />
damals in England bleiben konnten. Als unsere<br />
Aufenthaltsgenehmigung auszulaufen drohte,<br />
hätte dies eine Rückkehr nach Südafrika bedeutet.<br />
Für meine Eltern aber war das Leben im Südafrika<br />
der siebziger Jahre mit der abscheulichen<br />
Rassentrennung unerträglich geworden. Mein<br />
Vater hatte das kritische Literaturmagazin Bolt<br />
gegründet und erregte die Aufmerksamkeit der<br />
Behörden, indem er die Gedichte eines Schwarzen,<br />
des damaligen Präsidenten von Senegal,<br />
Léopold Senghor, darin veröffentlichte.<br />
Eines Sonntags läuteten zwei Telefontechniker.<br />
„Wir haben keine Probleme, und außerdem<br />
ist Sonntag“, sagte meine Mutter. Dennoch installierte<br />
der Monteur vor den Augen meiner Eltern<br />
im Telefonhörer eine Wanze. Von diesem<br />
Zeitpunkt an wurden alle Telefonate überwacht.<br />
Wenn meine Eltern das Haus verließen, wurden<br />
sie beschattet. Die Beamten der Sicherheitspolizei<br />
verheimlichten ihre Anwesenheit nicht,<br />
sondern winkten zynisch. Kuverts wurden aufgerissen,<br />
Briefe gelesen und wieder in die Umschläge<br />
gesteckt. Mein Vater hatte zu dieser Zeit<br />
eine Reihe von schwarzen Freunden, aber unter<br />
der Apartheidsregierung war es fast unmöglich,<br />
Kontakt zu halten. Wenn Gäste zum Abendessen<br />
in die Wohnung kamen, mussten sie heimlich<br />
den Dienstbotenlift nehmen. Die Benutzung<br />
des „Weißenlifts“ und der Aufenthalt im Gebäude<br />
nach Einbruch der Dunkelheit waren ihnen<br />
verboten.<br />
Wir flüchteten nach England, wo uns schnell<br />
das Geld ausging. Eines Tages erfuhr meine Mutter,<br />
dass man mit einem irischen Pass in England<br />
dauerhaft leben und arbeiten konnte. Sie wühlte<br />
sich durch das Taufregister im irischen Waterford,<br />
bis sie einen Taufschein meines Urgroßvaters<br />
ausfindig machte. Wir alle wurden Iren.<br />
Wenn ich sehe, wie viel Blut vergossen<br />
wurde im Namen unzähliger Nationalitäten, bin<br />
ich froh, in so vielen Ländern friedlich aufgenommen<br />
worden zu sein. Die eigene Nationalität<br />
scheint mir keine Frage des Reisepasses zu sein,<br />
sondern dieses Gefühl, Anker schlagen zu dürfen.<br />
„Was bist du zum Teufel?“, fragte mich neulich<br />
jemand. Ich bin überzeugter Europäer. Fragen<br />
Sie mich nur nicht nach meinem Pass …<br />
DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang und<br />
schreibt jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. Sein Memoirenband<br />
„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt<br />
erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und<br />
Katastrophen in der Musik“ ( Rowohlt ) und<br />
die CD „Spheres“. Er lebt in Wien<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
142<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Anzeige<br />
Wolfgang Bauer, Reutlingen<br />
Ich schreibe für<br />
DIE ZEIT<br />
Die Luftangriffe auf Aleppo zählen für Wolfgang Bauer zu den schlimmsten Verbrechen gegen eine Zivilbevölkerung seit denen<br />
des Vietnamkriegs. Er weiß, wovon er spricht. Sechsmal schon war er seit dem Ausbruch der ersten Aufstände in Syrien. Was er dort<br />
gesehen und erlebt hat, was er davon berichtet, übersteigt unsere Vorstellungskraft, macht uns fassungslos. Die behütete Friedlichkeit<br />
seiner schwäbischen Heimatstadt, in der wir ihn besuchen, erscheint plötzlich surreal. Wolfgang Bauer kennt diesen Gegensatz und<br />
braucht ihn zum Schreiben. Warum er den Glauben an die Menschlichkeit nie verliert, obwohl er oft dem Schrecklichsten begegnet,<br />
zu dem Menschen fähig sind, erzählt er im Film.<br />
Autoren der ZEIT im Filmporträt<br />
www.fuer-die-zeit.de
SALON<br />
Foto: Dan Martensen/Trunk Archive<br />
144<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Die letzten 24 Stunden<br />
Mein Texas,<br />
mein Scotch<br />
und mein<br />
Schaukelstuhl<br />
ETHAN<br />
HAWKE<br />
Ethan Hawke<br />
Kritik und Publikum jubeln oft,<br />
wenn der Schauspieler seinen<br />
Studien der Männlichkeit neue<br />
Facetten abgewinnt, zuletzt in<br />
„Before Midnight“ und „Boyhood“,<br />
beides von Richard Linklater<br />
In den vergangenen drei Jahren<br />
wurde ich viermal für tot erklärt.<br />
Einmal saß ich am Steuer meines<br />
Autos, trank eine Cola und fuhr mit<br />
meinen Töchtern in den Urlaub, als<br />
im Radio ein kalifornischer Sender das<br />
Gerücht in die Welt setzte, ich hätte mir<br />
das Leben genommen. Ein anderes Mal<br />
berichtete eine kanadische Zeitung von<br />
einem tödlichen Sturz am Filmset. Angeblich<br />
hätte ich Kokain genommen und<br />
wäre derart im Rausch gewesen, dass ich<br />
mir beim Dreh einer Actionszene das<br />
Genick brach. Zuletzt sorgten zweimal<br />
wildgestreute Nachrichten bei Twitter<br />
dafür, dass sich mehrere Tausend Leute<br />
bemüßigt fühlten, meinen Namen mit<br />
den gut gemeinten Abschiedsworten<br />
Rest In Peace zu verlinken.<br />
Ich weiß nicht, was mir all dies sagen<br />
soll. Eigentlich musste ich darüber lachen.<br />
Dennoch war es jedes Mal ein seltsames<br />
Gefühl, die Nachricht des eigenen Todes<br />
zu lesen. Die Falschmeldungen sahen aus<br />
der Distanz betrachtet kaum anders aus<br />
als die einiger Freunde und Kollegen, die<br />
mich in meiner Karriere begleitet und irgendwann<br />
verlassen haben. Der erste, River<br />
Phoenix, war gerade 23 Jahre alt, als<br />
er eines Nachts auf dem Sunset Boulevard<br />
an einer Überdosis starb. Der letzte,<br />
Heath Ledger, war auch noch keine 30,<br />
als er völlig überraschend von uns ging.<br />
Ich bin jetzt mittlerweile über<br />
40 Jahre alt, und vielleicht ist es so, dass<br />
ich im Gegensatz zu den beiden die<br />
schwierigste und gefährlichste Phase in<br />
meinem Leben überstanden habe. Dies<br />
bedeutet jedoch nicht, dass es für mich<br />
keine Angst mehr vor dem Tod gibt –<br />
diese Angst ist nicht verschwunden. Es<br />
geht nun aber nicht mehr um mich selbst,<br />
sondern um meine vier Kinder, für die<br />
ich da sein will, solange es geht.<br />
Wenn ich also wüsste, mir blieben<br />
nur noch 24 Stunden auf dieser Welt,<br />
dann würde ich die Zeit mit ihnen verbringen<br />
und versuchen, ihnen so viel<br />
wie möglich mit auf den Weg zu geben.<br />
Damit meine ich keine elterlichen Ratschläge,<br />
die sie sowieso nicht hören wollen<br />
würden, sondern vielmehr Erinnerungen,<br />
an denen sie sich eines Tages<br />
festhalten können.<br />
Ich würde meine Kinder in ein Auto<br />
stecken und mit ihnen nach Texas fahren,<br />
wo ich geboren bin. Sie waren noch<br />
nie dort, und sie sollen wenigstens einmal<br />
in ihrem Leben die Farm sehen, auf<br />
der ich früher in den Schulferien immer<br />
meinen Onkel besucht habe. Es ist ein<br />
malerischer Ort, unweit von Austin, und<br />
doch mitten im Nirgendwo. Die Sonne<br />
würde uns ins Gesicht brennen, doch<br />
ich wäre der Einzige, der keine Schutzcreme<br />
tragen muss, denn bei mir käme<br />
es darauf nicht mehr an. Wir würden gemeinsam<br />
über die endlosen Felder laufen,<br />
ich würde mit meinen kleinen Töchtern<br />
in den mannshohen Maisplantagen<br />
Fangen spielen und würde meinen Sohn,<br />
der jetzt schon elf geworden ist, fragen,<br />
was er sich vom Leben erträumt.<br />
Erst am Abend, wenn meine letzten<br />
Stunden anbrechen, würden wir zurück<br />
zur Farm gehen. Ich würde mich in den<br />
quietschenden, alten Schaukelstuhl auf<br />
der Veranda setzen, meine Kinder im<br />
Arm. Weil ich nicht den Schmerz, sondern<br />
das Glück dieses Augenblicks schwer ertragen<br />
könnte, würde eine Flasche voll<br />
teurem irischen Scotch nicht schaden, um<br />
mich von sentimentalen Reden abzuhalten.<br />
Einfach nur die Kleinen um mich herum<br />
haben und leicht betäubt wegdämmern:<br />
Das wäre das schönste Ende, das<br />
ich mir vorstellen kann.<br />
Aufgezeichnet von CLAAS RELOTIUS<br />
145<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
POSTSCRIPTUM<br />
N°-4<br />
DEBATTE<br />
Früher gab es einmal Debatten, Streitgespräche,<br />
Kontroversen. Die Älteren<br />
unter uns werden sich vielleicht noch daran<br />
erinnern, wie so etwas ablief. Nämlich<br />
im Wesentlichen über den Austausch von<br />
Argumenten. Da stellte also jemand eine<br />
wohlüberlegte These in den Raum, und<br />
wer sich kompetent genug und dazu berufen<br />
fühlte, formulierte eine entsprechende<br />
Gegenthese. Nicht selten führte dieser<br />
öffentliche Meinungsaustausch dazu, dass<br />
hinterher alle ein bisschen schlauer waren.<br />
Insgesamt also eine feine Sache.<br />
Diese Form der mehr oder weniger anspruchsvollen<br />
Auseinandersetzung scheint<br />
mittlerweile jedoch abgelöst worden zu<br />
sein durch ein Aufmerksamkeitsgeheische,<br />
dessen rabaukenhafter Kern meist nur<br />
notdürftig hinter intellektuellen Pappkulissen<br />
versteckt wird. Der jüngste – und<br />
nach kurzem Getöse schnell wieder zu<br />
den Akten gelegte – Fall hat gezeigt, dass<br />
selbst hochdekorierte Schriftstellerinnen<br />
nicht davor gefeit sind, sich auf dieses<br />
Spiel einzulassen.<br />
Ob Sibylle Lewitscharoff, die ihre seltsamen<br />
Homunkulus-Thesen inzwischen<br />
widerrufen hat, nun auch zu den Opfern<br />
eines vermeintlichen Tugendterrors gezählt<br />
werden muss, sollen andere entscheiden.<br />
Fest steht jedenfalls, dass weder ihre<br />
Einlassungen noch die wütenden Reaktionen<br />
darauf irgendeinen geistigen Mehrwert<br />
hervorgebracht haben – geschweige<br />
denn einen von Dauer.<br />
Eigentlich komisch, dass heute zwar<br />
jedem Ramschartikel mit irgendwelchen<br />
Nachhaltigkeitszertifikaten ein langes<br />
und nützliches Dasein bescheinigt werden<br />
soll, während gleichzeitig bei öffentlichen<br />
Debatten immer mehr die Mechanismen<br />
der Wegwerfgesellschaft greifen: heute<br />
formuliert, morgen darüber aufgeregt,<br />
übermorgen schon vergessen. Und wenn<br />
doch etwas zurückbleibt, dann allenfalls<br />
beleidigende Kampfbegriffe wie „Kopftuchmädchen“<br />
oder eben „Halbwesen“.<br />
Das ist dann eine Art intellektueller Sondermüll:<br />
schwer zu entsorgende Klimakiller,<br />
die auch sonst niemandem nützen.<br />
Existiert eigentlich schon ein Begriff<br />
für diesen Typ von Kontroversen? In Anlehnung<br />
an Lewitscharoffs Wortwahl aus<br />
Anlass ihrer Dresdner Rede würde ich es<br />
mit der Beschreibung so versuchen: Nicht<br />
ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern<br />
zweifelhafte Geschöpfe, halb Debatte,<br />
halb künstliches Weißnichtwas.<br />
ALEXANDER MARGUIER<br />
ist stellvertretender Chefredakteur<br />
von <strong>Cicero</strong><br />
DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 24. APRIL<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
146<br />
<strong>Cicero</strong> – 4. 2014
Auf den ersten Blick ein Klassiker.<br />
Auf den zweiten Blick sogar noch mehr.<br />
Der klassische Charakter der 1815 Rattrapante Ewiger Kalender lässt<br />
sich auf den ersten Blick erkennen. Die Eisenbahn-Minuterie und die<br />
arabischen Ziffern sind von den früheren Taschenuhren von A. Lange &<br />
Söhne inspiriert. Bei genauer Betrachtung des Manufakturkalibers L101.1<br />
offenbaren sich die klassisch konstruierten Mechanismen des ewigen<br />
Kalenders und des Chronograph-Rattrapante. Mit ihren anspruchsvollen,<br />
traditionell umgesetzten Komplikationen ist die Uhr eine Hommage<br />
an die Leistungen Ferdinand A. Langes. www.alange-soehne.com