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Cicero Hitlers letzte Bombe (Vorschau)

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November 2012<br />

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Flopflieger Eurofighter: Von der<br />

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<strong>Hitlers</strong> <strong>letzte</strong><br />

<strong>Bombe</strong><br />

Warum „Mein Kampf“<br />

freigegeben werden muss<br />

Wer ist grüner?<br />

Im Check: Claudia Roth gegen<br />

Katrin Göring-Eckardt<br />

Wem gehört das Meer?<br />

Chinas Ambitionen als<br />

neue Weltmacht zur See<br />

Wer wird First Lady?<br />

Liz Mohn und Angelika Jahr ringen um<br />

Deutsch lands größten Zeitschriften-Konzern<br />

Österreich: 8 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />

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Es ist die erste Sekunde des<br />

Die erste Seite<br />

Jahres 1913. Ein Schuss hallt<br />

durch die dunkle Nacht. Man hört ein<br />

kurzes Klicken, die Finger am Abzug spannen<br />

sich an, dann ein zweiter, dumpfer<br />

Schuss. Die alarmierte Polizei eilt herbei<br />

und nimmt den Schützen sofort fest.<br />

Er heißt Louis Armstrong.<br />

Mit einem gestohlenen Revolver hatte der<br />

Zwölfjährige in New Orleans das neue Jahr<br />

begrüßen wollen. Die Polizei steckt ihn<br />

in eine Zelle und schickt ihn schon am<br />

frühen Morgen des 1. Januar in eine Besserungsanstalt,<br />

das Coloured Waifs’ Home<br />

for Boys. Er führt sich dort so wild auf und<br />

schreit herum, dass der Leiter der Anstalt,<br />

Peter Davis, sich nicht anders zu helfen<br />

weiß, als ihm aus einer spontanen Idee<br />

heraus eine Trompete in die Hand zu<br />

drücken (eigentlich hat er ihn ohrfeigen<br />

wollen). Louis Armstrong aber wird urplötzlich<br />

stumm, nimmt das Instrument<br />

fast zärtlich entgegen und seine Finger,<br />

die noch in der Nacht zuvor nervös mit<br />

dem Abzug des Revolvers gespielt hatten,<br />

spüren erneut das kalte Metall, doch statt<br />

eines Schusses entlockt er der Trompete<br />

noch im Zimmer des<br />

Direktors erste warme,<br />

wilde Töne.<br />

Lesen Sie weiter…<br />

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Flopflieger Eurofighter: Von der<br />

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C i c e r o | A t t i c u s<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 25. Oktober 2012<br />

Thema: Hoßbach, Hitler, NSU<br />

Die Kraft der Quelle<br />

Titelbild: WieslaW Smetek; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

D<br />

as klingt jetzt vielleicht ein bisschen anbiedernd, aber es stimmt: Am meisten machen<br />

wir uns bei der Produktion unseres Heftes Gedanken über unsere Leser. Passt das<br />

Verhältnis der Themen, der Genres und der Autoren? Ist das nicht zu viel davon oder<br />

zu wenig hiervon? Denn Magazin heißt vor allem eines: Mischung.<br />

Diesmal kamen Sorgen auf. Im Salon beschäftigt sich Konstantin Sakkas zum 75. Jahrestag<br />

mit Adolf <strong>Hitlers</strong> Geheimkonferenz vom 5. November 1937 in der Berliner Reichskanzlei (Ab<br />

Seite 128). Vor seinen Generalen und wichtigsten Vertrauten offenbarte der Diktator seine expansionistischen<br />

Pläne. Der Wehrmachtsadjutant Friedrich Hoßbach schrieb bei der Sitzung mit<br />

und erstellte so das Protokoll eines kommenden Weltkriegs. In unserem Titelschwerpunkt gehen<br />

der Historiker Philipp Blom und andere Experten der Frage nach, warum <strong>Hitlers</strong> wirres Werk<br />

„Mein Kampf“ in Deutschland nach wie vor mit einem Tabu belegt ist – und argumentieren, warum<br />

sich das ändern sollte (Ab Seite 18). In der Berliner Republik schließlich beschreibt Wolf<br />

Schmidt die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses, der zwei Millionen Seiten an Unterlagen<br />

der deutschen Sicherheitsbehörden auswerten muss (Ab Seite 56).<br />

Zu viel vom Gleichen, zu viele Nazis? Wir haben uns dafür entschieden, bei dieser Themenwahl<br />

zu bleiben. Nicht nur, weil ein innerer Zusammenhang besteht. Sondern auch, weil alle<br />

drei Zugänge die These unseres Titels stützen: Nichts darf bei diesem Thema unter Verschluss<br />

bleiben, alles muss auf den Tisch.<br />

Die sogenannten Hoßbach-Protokolle waren in den Nürnberger Prozessen ein entscheidendes<br />

Beweisstück der Anklage, um die Kriegsverbrecher um Hitler ihrer Strafe zuzuführen. Die<br />

Kraft der authentischen Quelle – das macht Hoßbachs Aufzeichnungen bis heute zu einem<br />

wichtigen Dokument. Sie vermitteln einen Eindruck davon, wie generalstabsmäßig das „Anrecht<br />

auf Lebensraum“ mit Krieg und Massenmord erkämpft werden sollte.<br />

Unser Erkenntnisinteresse führt dabei immer entlang der Frage, die dieses Land nie loslassen<br />

darf: Wie konnte das geschehen? In dieser Hinsicht gibt auch <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ Hinweise.<br />

Doch ein Copyright auf das Buch hält ein Tabu in Deutschland aufrecht. Es darf bis Anfang<br />

2016 in Deutschland nicht neu gedruckt werden, es bleibt bis dahin unter Verschluss. Manche<br />

wünschen sich sogar: für immer. Der Ansatz ist aber falsch. Man muss „Mein Kampf“ lesen können,<br />

um Ansätze für Antworten auf die ewige Frage zu bekommen.<br />

Wie konnte das geschehen? Das fragten sich Deutschland und die Welt auch vor einem Jahr,<br />

als klar wurde: Ein Killertrio hatte seit dem Jahr 2000 in Deutschland zehn Menschen umgebracht,<br />

ohne dass irgendjemand das rechtsextreme Muster dieser Morde erkannte. Deshalb müssen<br />

auch hier die Originalakten aus den Schränken der blamierten Ermittlungsbehörden auf den<br />

Tisch. Und Blatt für Blatt gelesen werden können.<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 3


C i c e r o | I n h a l t<br />

Titelthema<br />

Die Französin Linda Ellia versucht,<br />

<strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ mit den<br />

Mitteln der Kunst beizukommen.<br />

Ihr Ausstellung „Notre Combat“<br />

findet international große<br />

Beachtung. Das Projekt illustriert<br />

die Geschichte ab Seite 32<br />

18<br />

Copyright auf ein Tabu<br />

Mit dem toxischen Erbe des Nationalsozialismus<br />

können wir uns nur offen auseinandersetzen<br />

von Philipp Blom<br />

32<br />

Das versiegelte Buch<br />

Warum darf man Hitler nicht lesen? Eine Reise zu<br />

Menschen, die darauf Antworten geben<br />

von Christoph Schwennicke<br />

30<br />

„Faszination des Bösen“<br />

Der SPD-Politiker Mathias Brodkorb sieht im Streit<br />

um „Mein Kampf“ ein Generationenproblem<br />

Interview Von Alexander Marguier<br />

40<br />

„Man hätte es viel früher erlauben sollen“<br />

Andreas Wirschings Institut für Zeitgeschichte<br />

erarbeitet eine Edition von „Mein Kampf“<br />

Interview Von Christoph Schwennicke<br />

Foto: Linda Ellia<br />

4 <strong>Cicero</strong> 11.2012


I n h a l t | C i c e r o<br />

50 FDP im Überlebenskampf 74 Seemacht China 110 Bertels-Frauen<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

42 | UNERSCHROCKEN SPRÖDE<br />

Die Ministerin Anke Spoorendonk<br />

propagiert in Kiel Politik ohne Glamour<br />

Von KATRIN WILKENS<br />

68 | Des Sultans Pascha<br />

General Necdet Özel könnte die Nato in<br />

einen Krieg mit Syrien ziehen<br />

Von Markus Bernath<br />

92 | Europas Vorstopper<br />

EU-Währungskommissar Olli Rehn –<br />

bieder, aber mächtig<br />

Von Eric Bonse<br />

44 | ALLES BEBT, EINER BLEIBT<br />

Mit 65 in Pension? BKA-Präsident Jörg<br />

Ziercke hat schon drei Minister überlebt<br />

Von HARTMUT PALMER<br />

70 | Im Namen Europas<br />

Angelika Nußberger urteilt über die<br />

Einhaltung der Menschenrechte<br />

Von Vanessa de L’Or<br />

94 | Freude am Anschlag<br />

Fred Stoof verpanzert die Autos<br />

des afghanischen Präsidenten<br />

Von Steffen Uhlmann<br />

Fotos: Lene Münch, Marko Greitschus/Agency People Image; Illustrationen: Leif Heanzo, Christoph Abbrederis<br />

46 | JIMMY GIBT NICHT AUF<br />

Der FDP-Vorzeigepolitiker Jimmy<br />

Schulz stemmt sich gegen das Aus<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

50 | „Ein bisschen fröhlichkeit“<br />

FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle über<br />

seine Partei, Koalitionen und Olivenöl<br />

INTERVIEW VON Christoph Schwennicke<br />

und Georg Löwisch<br />

54 | HAIFISCH GEGEN BLAUWAL<br />

Die Grünen Claudia Roth und Katrin<br />

Göring-Eckardt trennen Welten<br />

Von Petra Sorge und Georg Löwisch<br />

56 | DAS VERSPRECHEN<br />

Der Untersuchungsausschuss zum NSU-<br />

Skandal prägt einen neuen Politikstil<br />

Von WOlf Schmidt<br />

64 | DER ALTE, DAS ALTERN UND ICH<br />

Was Menschen wie Geißler, Schmidt und<br />

Kohl für das eigene Leben bedeuten<br />

Von KURT KISTER<br />

65 | FRAU Fried fragt sich …<br />

… ob Homöopathie den<br />

gesellschaftlichen Frieden gefährdet<br />

Von AMELIE FRIED<br />

72 | Der Weichmacher<br />

Reinhard Silberberg, der dabei half, den<br />

Stabilitätspakt aufzuweichen, ist heute<br />

Botschafter in Madrid<br />

Von Andreas Rinke<br />

74 | Herrscher der Meere<br />

Warum das Ost- und Südchinesische<br />

Meer so wichtig sind<br />

Von Oliver Radtke<br />

80 | Alle Mann an die Waffen<br />

China steckt immer mehr Geld in die<br />

Aufrüstung seiner Armee<br />

Von Christiane Kühl<br />

84 | Wenn Bob Marley das wüsste<br />

Inmitten Äthiopiens gibt es eine kleine<br />

Rastafari-Gemeinschaft<br />

Von Philipp Hedemann<br />

90 | Habt euch wieder lieb!<br />

Die deutsch-französische Freundschaft<br />

ist so unterkühlt wie lange nicht mehr<br />

Von Klaus Harpprecht<br />

96 | „Die haben keinen<br />

blassen schimmer!“<br />

Autor Rolf Dobelli über Politikerhirne,<br />

den Goldstandard und Risikokarten<br />

Interview von Christoph Schwennicke<br />

100 | Supervogels Sinkflug<br />

Als Jäger 90 gestartet, als Exportniete<br />

gelandet, die Geschichte des Eurofighters<br />

Von Constantin Magnis<br />

108 | EIn Interessengemälde<br />

Die Infografik zur Verstrickung zwischen<br />

Finanzindustrie und US-Politik<br />

Von Til Knipper und Olaf Simon<br />

110 | Sekretärin vertreibt<br />

Chefredakteurin<br />

Liz Mohn gegen Angelika Jahr – das<br />

finale Duell um Gruner und Jahr<br />

Von Thomas Schuler<br />

116 | Grenzen der Anpassung<br />

In einer eng vernetzten Weltwirtschaft ist<br />

Klimaschutz überlebenswichtig<br />

Von Anders Levermann<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

138 Fotoreportage<br />

Salon<br />

cicero online<br />

Aktuell:<br />

Grüne Urwahl<br />

Per Basisvotum suchen<br />

die Grünen zwei<br />

Spitzenkandidaten für<br />

die Bundestagswahl 2013.<br />

Anfang November steht das<br />

Ergebnis fest. Bei <strong>Cicero</strong><br />

Online lesen Sie, wer das<br />

Rennen gemacht hat und<br />

welche Folgen das haben wird.<br />

www.cicero.de/GRUENE<br />

120 | „Nicht wegjodeln lassen“<br />

Die Komponistin Olga Neuwirth setzt<br />

sich gegen die Männer durch<br />

Von Irene bazinger<br />

146 | Küchenkabinett<br />

Über das Aussterben der<br />

gutbürgerlichen Küche<br />

Von thomas platt und julius grützke<br />

122 | politische sprechblasen<br />

Christophe Blain und sein Comic über<br />

den französischen Ex-Außenminister<br />

Von Matthias Heine<br />

148 | Bibliotheksporträt<br />

Der Kölner Mediziner Reiner Speck und<br />

seine Besessenheit von Proust und Petrarca<br />

Von Claudia Rammin<br />

Wer macht das Rennen bei der<br />

grünen Urwahl: Katrin Göring-<br />

Eckardt, Renate Künast, Claudia<br />

Roth oder Jürgen Trittin (v.l.n.r.)?<br />

124 | Babylons ehrenrettung<br />

Jörg Widmann hat mit Peter Sloterdijk<br />

eine Oper geschrieben<br />

Von Eva Gesine Baur<br />

126 | Die Heimkehr<br />

Ein südafrikanischer Schriftsteller reist<br />

zum ersten Mal ans Grab seines Vaters<br />

Von christopher hope<br />

128 | die Hossbach-protokolle<br />

Vor 75 Jahren sprach Adolf Hitler zum<br />

ersten Mal über seine wahren Kriegspläne<br />

Von Konstantin Sakkas<br />

134 | Benotet<br />

Unser Kolumnist über eine sehr private<br />

Reise mit seinem Vater nach Israel<br />

Von Daniel Hope<br />

136 | man sieht nur, was man sucht<br />

Alfred Böcklins „Selbstbildnis mit<br />

fiedelndem Tod“<br />

Von Beat Wyss<br />

138 | Momentaufnahme<br />

Eine Fotoreportage aus Deutschlands<br />

größtem KFZ-Amt<br />

Von Anne Schönharting und Julian Röder<br />

152 | das schwarze sind<br />

die buchstaben<br />

Ein Film und drei Bücher über den Tod<br />

und die rettende Kraft des Erzählens<br />

Von robin Detje<br />

154 | Die <strong>letzte</strong>n 24 stunden<br />

Eine Feier des Lebens „mit allen<br />

Poren und Ableitungen“<br />

Von Rainald Grebe<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />

Stadtgespräch — seite 10<br />

Forum — seite 14<br />

Impressum — seite 131<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 156<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am<br />

22. November 2012<br />

Geschichte:<br />

Grimms Märchen<br />

Vor 200 Jahren erschien die<br />

Erstausgabe der berühmten<br />

„Kinder und Hausmärchen“.<br />

Wir fragen, was uns die alten<br />

Geschichten der Gebrüder<br />

Grimm und andere Märchen<br />

heute noch bedeuten.<br />

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Grimms_Maerchen<br />

Blog:<br />

Lost in Europe<br />

Für <strong>Cicero</strong> Online bloggt Eric<br />

Bonse aus Brüssel über ein<br />

Europa zwischen Aufbruch,<br />

Bürokratie und Populismus.<br />

www.cicero.de/blog/<br />

eric-bonse-lost-europe<br />

HinterGrÜndig:<br />

Online-Dossiers<br />

In unseren Dossiers finden Sie<br />

Analysen, Hintergründe und<br />

Kommentare zu aktuellen<br />

Themen, die die Politik und<br />

die Gesellschaft bewegen.<br />

www.cicero.de/Dossiers<br />

Fotos: Anne Schönharting/Ostkreuz, Hans Christian Plambeck/Laif; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

6 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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den Tagen, als die Spitfires den Himmel eroberten, gab es<br />

viele Helden. Und wo Helden sind, da sind auch Schurken.<br />

Wer dort oben also ohne Flügelmann unterwegs war, konnte<br />

sich nur auf seine Instinkte verlassen – und auf seine IWC.<br />

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Freude am Fahren


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Am Checkpoint Charlie ist die Mauer wieder auferstanden, ein Unionspolitiker<br />

demonstriert seine Kondition beim Berlin-Marathon, ein anderer blamiert<br />

sich beim Twittern, Norbert Röttgen saust nach unten, und Kohl kostet 55 Cent<br />

Die Mauer ist wieder da:<br />

BeklemmendE Idylle<br />

S<br />

ie ist wieder da: Mitten in Berlin<br />

kann man sie besichtigen. Sie windet<br />

sich durch die Stadt, und wer<br />

an der Ecke Zimmerstraße/Friedrichstraße<br />

das „Panometer“ des Fotokünstlers Yadegar<br />

Asisi betritt, landet nach einer kurzen Zeitreise<br />

im Kreuzberg der achtziger Jahre, genauer<br />

in der Sebastianstraße, Ecke Luckauer<br />

Straße. Dort steht, dreidimensional und naturalistisch,<br />

mitten auf der Straße die Mauer<br />

und sieht aus wie einst: auf der einen Seite<br />

mit Graffiti besprüht und bunt bemalt, auf<br />

der anderen klinisch sauber mit geharktem<br />

Todesstreifen, in dem kein noch so kleines<br />

Unkraut wächst.<br />

Und überhaupt ist alles wie früher: Aus<br />

dem Backsteinbau rechts vorne, direkt vor<br />

der Grenze, hängen Parolen der Hausbesetzer,<br />

an dem abgeklemmten Endstück der<br />

Straße hat sich ein Schrotthändler häuslich<br />

eingerichtet, neben Wagenburg und Streichelzoo<br />

wärmen sich bunt bemalte Punker<br />

am Feuer, daneben steht die hölzerne Tribüne,<br />

von der aus Touristen in den Osten<br />

gucken können. Auch die alte Shell-Tankstelle<br />

ist wieder da, der Antiquitätenladen<br />

und der türkische Gemüsehändler um die<br />

Ecke. Man kann hinüberschauen bis zum<br />

Engelbecken, und natürlich zum Fernsehturm,<br />

der die ganze Szene überragt. Asisi, in<br />

Wien geborener Sohn persischer Eltern, hat<br />

genau den Abschnitt der Mauer in Kreuzberg<br />

wieder auferstehen lassen, wo er selbst<br />

jahrelang gelebt hat. Sein monumentales<br />

Panorama, das von außen aussieht wie ein<br />

Gasometer und deshalb „Panometer“ heißt,<br />

ist die neueste Attraktion am ehemaligen<br />

Checkpoint Charlie, zu dem immer noch<br />

täglich Tausende Besucher strömen.<br />

Es ist nicht das erste Werk des Künstlers:<br />

Bis Mitte Oktober konnte man auf der<br />

Berliner Museumsinsel sein Panorama der<br />

untergegangenen Stadt Pergamon besichtigen.<br />

Am 1. Dezember folgt in Dresden<br />

die Show „Mythos der barocken Residenzstadt“.<br />

Der Blick auf die Berliner Mauer<br />

wird akustisch untermalt mit berühmten<br />

Aussprüchen und Reden aus der Zeit<br />

des Kalten Krieges: Ernst Reuters Appell<br />

„Schaut auf diese Stadt“, John F. Kennedys<br />

Bekenntnis „Isch bin ein Bärlina“, Walter<br />

Ulbrichts Lüge „Niemand hat die Absicht,<br />

eine Mauer zu bauen“ und Erich Honeckers<br />

Irrtum „Die Mauer wird auch in<br />

100 Jahren noch stehen“. Hinterher, wieder<br />

im Freien, weiß man nicht, was einen mehr<br />

erschreckte: das perfekte Grenz- und Sperrsystem<br />

der DDR oder die beklemmende<br />

Idylle des Kreuzberger Alltags neben Mauer,<br />

Stacheldraht und Todesstreifen. Ein Besuch<br />

lohnt sich. hp<br />

Berliner Mitläufer:<br />

Trocken zum Marathon<br />

B<br />

is zum Berlin-Marathon im<br />

Herbst keinen Alkohol trinken<br />

und dann mitlaufen – diesen<br />

guten Vorsatz hatten Thomas Strobl, der<br />

Vorsitzende der CDU von Baden-Württemberg,<br />

und Bundesinnenminister Hans-<br />

Peter Friedrich, CSU, am Silvesterabend<br />

gefasst. Ein alter Freund von Strobl, Matthias<br />

Fritton, schloss sich dem Schwur<br />

später an. Tatsächlich tranken die drei<br />

seitdem nur Wasser und widerstanden allen<br />

Versuchen, sie zu einem guten Tropfen<br />

zu überreden. Beim Laufen aber musste<br />

der Innenminister schließlich doch passen:<br />

keine Zeit zum Trainieren. Strobl<br />

und Fritton traten am 30. September an –<br />

und hielten auch bis zum Ende durch.<br />

Für seine Homepage ließ sich Strobl im<br />

Sportdress mit der Läufernummer 27 317<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 11.2012


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

und Medaille vor dem Reichstag ablichten.Wie<br />

lange er gebraucht hat, mochte<br />

er aber nicht verraten. Nur so viel: „Die<br />

Kenianer waren schneller.“ hp<br />

Digitaler Gruppenzwang:<br />

Twitter-Test mit Folgen<br />

E<br />

igentlich sind 140 Zeichen nicht<br />

viel. Eigentlich. Für Johannes<br />

Singhammers ersten Twitter-Versuch<br />

waren es dann doch zu viele. Dem<br />

stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden<br />

der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag<br />

genügten genau vier Zeichen. Er startete<br />

seine Twitter-Jungfernfahrt mit einem einfachen<br />

„Test“. Das schlug ein. Auch deshalb,<br />

weil den Vier-Buchstaben-Tweed ein<br />

analoger Hilfeschrei flankierte: Singhammer<br />

warb (Achtung!) per Post um neue<br />

Follower: „Seit kurzem bin ich auch bei<br />

Twitter. Ich möchte Sie einladen, mir zu<br />

folgen.“<br />

Ein Journalist der Süddeutschen Zeitung<br />

freute sich so sehr über die ungewöhnliche<br />

Feldpost, dass er sie ins Netz<br />

stellte. Und wie man in das World Wide<br />

Web hineindilettiert, so zwitschert es auch<br />

meist heraus. Die Reaktionen begannen<br />

mit einem einfachen „*muahahahahaha*“<br />

und endeten mit gut gemeinten Gleichnissen<br />

à la „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“.<br />

Motto, ach guck ma, wie putzig,<br />

der Singhammer. Die ersten viralen<br />

Schritte sind bisweilen eben beschwerlich<br />

und für Außenstehende mitunter unerträglich.<br />

Erinnert sei an Horst Seehofers<br />

Facebook-Party, die – neben jungen<br />

Leuten – vor allem zum Fremdschämen<br />

einlud. Es gibt ihn wohl: den digitalen<br />

Gruppenzwang im Bundestag. Wie sonst<br />

lässt sich erklären, dass gestandene Abgeordnete<br />

um jeden Preis auf den 140‐Zeichen‐Zug<br />

aufspringen wollen. Immerhin:<br />

Mehr als ein Drittel aller Bundestagsabgeordneten<br />

twittert. Auch Singhammer<br />

wollte wohl einfach nur dazugehören.<br />

Sendebewusstsein 2.0 sozusagen. Na<br />

dann: Test. ts<br />

Talk mit Kauder:<br />

Nur ohne Precht<br />

L<br />

iebe Kollegen in den Talkshow-<br />

Redaktionen, falls Sie darüber<br />

nachdenken, den Vorsitzenden<br />

der Unionsfraktion im Bundestag, Volker<br />

Kauder, in eine Ihrer Gesprächsrunden<br />

einzuladen, sollten Sie Folgendes wissen:<br />

Herr Kauder kommt grundsätzlich<br />

gern, aber nur unter der Bedingung, dass<br />

der TV-Philosoph Richard David Precht<br />

nicht ebenfalls zu Gast ist. Es wäre übrigens<br />

ein guter Einstieg, ihn nach den Beweggründen<br />

für seine Doktrin zu fragen.<br />

Stets zu Diensten, <strong>Cicero</strong>. mar<br />

RaSANTER absturz:<br />

RÖTTGEN GANZ UNTEN<br />

W<br />

as ist aus Norbert Röttgen<br />

geworden? Ein CDU-Abgeordneter<br />

reagiert mit beklommenem<br />

Blick auf die Frage nach dem Mitte Mai<br />

von Merkel abgesetzten Bundesumweltminister.<br />

Ein anderer gruselt sich. Verständlich.<br />

Geschasst zu werden, nachdem man<br />

einen Landtagswahlkampf vermurkst hat<br />

und karrieretechnisch ein wenig zu fleißig<br />

war – davor graust es jeden Politiker.<br />

Und auch die Rasanz des Machtverlusts<br />

macht beklommen. Als hätte jemand das<br />

Seil eines Fahrstuhls durchtrennt, der gerade<br />

kurz vor dem obersten Stock angekommen<br />

ist. Der Fahrstuhl stürzt durch<br />

die Stockwerke. Chef des größten CDU-<br />

Landesverbands: weg, Bundesumweltminister:<br />

aus, Bundesvize der Partei: vorbei.<br />

„Wenn er alleine steht, heißt es: er sondert<br />

sich ab“, beschreibt ein Fraktionsmitglied,<br />

„und wenn er mit jemandem redet,<br />

heißt’s: er sucht Anschluss.“ Es ist so<br />

schnell gegangen, dass Röttgen selbst offensichtlich<br />

Schwierigkeiten hatte, das zu realisieren.<br />

Er wollte eigentlich beim CDU-<br />

Parteitag im Dezember in Hannover für<br />

den Bundesvorstand kandidieren. In dem<br />

Gremium sitzen ein paar Dutzend Leute,<br />

für einen, der fast ganz oben war, eigentlich<br />

eine kleine Nummer. Aber um die fünf<br />

für NRW vorgesehenen Plätze bewarben<br />

sich gleich sechs andere Parteifreundinnen<br />

und -freunde. Röttgen? Sein Problem. Er<br />

hat dann doch noch zurückgezogen. Wenn<br />

der Fahrstuhl durch den Schacht nach unten<br />

rast, behält man den Kopf besser drin.<br />

Unten, im Erdgeschoss bleibt dann immer<br />

noch das Bundestagsmandat. löw<br />

Aus der Portokasse:<br />

ein kohl für 55 cent<br />

H<br />

elmut Kohl ist jetzt auch als<br />

Briefmarke zu haben – fünf Millionen<br />

Mal zum Preis von 55 Cent.<br />

Ein Porträt des Springer-Fotografen Daniel<br />

Biskup war die Vorlage für das Konterfei<br />

des Altkanzlers. Konrad Rufus Müller, der<br />

viele großartige Kohl-Bilder gemacht hat,<br />

ging leer aus. Eine Intrige der neuen Ehefrau<br />

Maike Kohl-Richter, vermutet Müller,<br />

der früher ganz eng mit dem CDU-Politiker<br />

war, aber nun seit zwei Jahren aus seinem<br />

Umfeld verbannt ist. Der „Kanzlerfotograf“<br />

ist davon überzeugt, dass Kohl<br />

viel lieber jenes Müller-Bild auf der Briefmarke<br />

gesehen hätte, das er auch auf die<br />

Cover aller drei Bände seiner Lebenserinnerungen<br />

drucken ließ. Nachdenklich und<br />

voller Lebenskraft sieht er darauf aus, seinen<br />

Kopf hat er in die Finger der linken<br />

Hand gestützt, seinen Blick in die Unendlichkeit<br />

gerichtet. In dieser Pose des<br />

Welten lenkers gefiel er sich. Aber das habe<br />

wohl die neue Frau Kohl verhindert. Die<br />

Post erklärt, ihr Kunstbeirat habe das Motiv<br />

ausgewählt. Allerdings betont sie auch,<br />

„die Familie Kohl“ – also auch seine Frau<br />

Maike – „war an jedem Schritt beteiligt<br />

und hat dem Bild am Ende zugestimmt“.<br />

Lange können Kohl-Fans ihr Idol allerdings<br />

nicht als Briefporto nutzen. Auf die Weihnachtspost<br />

können sie ihn noch draufpappen.<br />

Doch schon die Neujahrsgrüße müssen<br />

ohne Kohl auskommen. Am 1. Januar<br />

erhöht die Post das Porto. step<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

12 <strong>Cicero</strong> 11.2012


SEIT 1971 ÜBERZEUGT, DASS ES<br />

KEINE GESCHMACKVOLLERE<br />

FORTBEWEGUNG GIBT.<br />

NICHTS FÜR UNENTSCHLOSSENE. SEIT 1842.


C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Steinbrücks Kandidatur, Merkels E-Wende, Schwans Ratschläge<br />

Zum titelthema „Es kann nur<br />

einen geben“ von Christoph<br />

Schwennicke/Oktober 2012<br />

Ohne Lanze<br />

Das Lesen des Oktoberhefts hat mir ein Wochenende blockiert und einige Stunden<br />

mehr. Daraus ließe sich schließen, wie gut ich die Beiträge fand, was in der<br />

Regel zutraf, und beeindruckend waren auch die Namen der Autoren, die der<br />

alte Römer so um sich gesammelt hat. Ich erwäge, Herrn <strong>Cicero</strong> in mein Budget<br />

aufzunehmen. Anbei ein paar Anmerkungen zum Titel: Dem Ritter, hoch zu Ross<br />

auf seiner Rosinante im Ritt gegen die Merkel, fehlt die in die Hüfte einzulegende<br />

Lanze mit einem grünen Wimpelchen. Er hat zwar eine gewisse Beinfreiheit und<br />

die Sporenrädchen an den Stiefeln könnten bedrohlich wirken – fürs Pferd –, aber<br />

ein Herausforderer im Wettbewerb um die politische Macht im Staat braucht doch<br />

zumindest einen gewissen angriffslustigen Blick, von provokant ganz zu schweigen.<br />

Wolfhard Schmidt, Berlin<br />

In der Defensive<br />

Das Theaterspiel der SPD rund um<br />

die Kanzlerkandidatenkür spricht für<br />

sich. Zunächst sollte der Name des<br />

Spitzenkandidaten erst im nächsten<br />

Jahr bekannt gegeben werden, und nun<br />

wurde Peer Steinbrück innert kürzester<br />

Zeit aufs Schild gehoben. Eine vernünftige<br />

Strategie sieht anders aus, obwohl<br />

Peer Steinbrück aus dem SPD-Kandidatentrio<br />

wohl der aussichtsreichste<br />

Kanzlerkandidat ist. Ob seine direkte<br />

und angriffige Art nicht auch an der<br />

Teflonschicht von Angela Merkel abperlt,<br />

wird sich erweisen. Jedenfalls agiert die<br />

SPD derzeit nicht aus einer Position der<br />

Stärke heraus, sondern ist trotz politischem<br />

Zickzackkurs von Kanzlerin<br />

Merkel in der Defensive. Angela Merkel<br />

steht zwar einer brüchigen und alles<br />

andere als beliebten Regierungskoalition<br />

vor, doch ihre persönlichen Beliebtheitswerte<br />

sind komischerweise äußerst positiv.<br />

Erschwerend für die SPD kommt<br />

hinzu, dass mit Hannelore Kraft die<br />

aussichtsreichste Kandidatin nicht für<br />

das Kanzleramt kandidieren kann.<br />

Gegen die starke Frau aus NRW<br />

wirkt auch Peer Steinbrück eher kraftlos.<br />

Die Androhung der Kavallerie wird<br />

gegenüber Kanzlerin Merkel auch<br />

wirkungslos verpuffen. Derzeit spricht<br />

definitiv nicht sehr viel für die SPD,<br />

und vielleicht ist gerade dies die Chance<br />

von Steinbrück und Co.<br />

Pascal Merz, Sursee/Schweiz<br />

zum beitrag „Klarer denken“<br />

von Alexander Marguier/<br />

September 2012<br />

Dümmste Entscheidung<br />

Alexander Marguier beweist Mut, weil<br />

er vom Bundesumweltminister „klarer<br />

denken“ fordert. Angela Merkel<br />

denkt offensichtlich überhaupt nicht,<br />

denn sonst hätte die wahnwitzige und<br />

illusionäre „Energiewende“ überhaupt<br />

nicht angeleiert werden können. Der<br />

überstürzte und äußerst kostspielige<br />

Atomausstieg ist die dümmste Entscheidung<br />

der Nachkriegszeit. Für mich als<br />

Steuerzahler, Stromverbraucher und<br />

Aktionär von Energieversorgungsunternehmen<br />

ist die hysterische Reaktion auf<br />

das bedauernswerte Seebeben vor Japan,<br />

das den Atomunfall auslöste, unbegreiflich.<br />

Klare Denker, also Menschen, die<br />

keinen Denkfehlern verfallen, sollten<br />

die absurde „Energiewende“ energisch<br />

ablehnen. So bliebe auch der Industriestandort<br />

Deutschland erhalten und zwar<br />

konkurrenzfähig. Übrigens bin ich froh,<br />

dass es <strong>Cicero</strong> gibt, weil diese Zeitschrift<br />

gegen Volksverdummung kämpft.<br />

Kurt Fiebich, Düsseldorf<br />

zum beitrag „Was der<br />

Bundespräsident jetzt tun<br />

sollte“ von Gesine Schwan/<br />

September 2012<br />

verzweifelte Ratschläge<br />

Selbst wenn einige der Grundgedanken<br />

im Kern richtig sind: Der Beitrag von<br />

Gesine Schwan fällt wohl doch eher<br />

unter die Kategorie „reden, ohne etwas<br />

zu sagen“. Herrlich unkonkrete, dafür<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

14 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Hinter jedem großartigen Cappuccino<br />

verbirgt sich ein Geheimnis.<br />

Nur ein perfekter Espresso macht<br />

aus frischer Milch eine großartige<br />

Kaffeespezialität. Entdecken Sie mehr:<br />

www.nespresso.com/geheimnis


C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Presseecho<br />

Schnell Und Wahr<br />

<strong>Cicero</strong> hatte exklusiv gemeldet, dass Steinbrück gegen<br />

Merkel antritt – Chronik einer verzögerten Bestätigung<br />

Ungelegte Eier<br />

„Nichts ist entschieden, das sind<br />

alles ungelegte Eier“, sagte Steinbrück<br />

der Süddeutschen Zeitung<br />

(Samstagausgabe). … „Die Sache ist<br />

ausgemacht, offenbar länger schon.<br />

Steinbrück soll es machen“, heißt<br />

es in dem vorab verbreiteten Text<br />

des neuen <strong>Cicero</strong>-Chefredakteurs<br />

Christoph Schwennicke.<br />

Die Nachrichtenagentur Reuters am<br />

Freitag, 21. September 18:13 Uhr<br />

Kein hartes Dementi<br />

Peer Steinbrück werde Kanzlerkandidat<br />

der SPD, berichtet das<br />

Magazin <strong>Cicero</strong> am Freitagmittag<br />

– und gleich folgt ein Dementi.<br />

„Quatsch“, verlautet es aus dem<br />

Willy-Brandt-Haus, ähnlich klingt<br />

es bei der Bundestagsfraktion.<br />

Später verkündet Generalsekretärin<br />

Andrea Nahles: „Es gibt definitiv<br />

keinen neuen Stand in der K-Frage<br />

der SPD. Daran ändern auch die<br />

verschiedensten Medienveröffentlichungen<br />

nichts.“ Ein hartes<br />

Dementi indes klingt anders.<br />

Daniel Friedrich Sturm in<br />

Welt Online am 22. September 2012<br />

Perpetuum mobile<br />

Es ist hohe Zeit, sich sehr tief zu<br />

verneigen vor den Hauptstadtjournalistinnen<br />

und -journalisten. Ist<br />

diesem Kollektiv doch gelungen,<br />

woran selbst Leonardo da Vinci<br />

scheiterte: die Vollendung des<br />

Perpetuum mobile. Sie nennen es<br />

die „K‐Frage“. Sie wälzen sie mit<br />

Wonne … Zum führenden Fachorgan<br />

des K-Journalismus hat sich das<br />

Hauptstadtmagazin <strong>Cicero</strong> aufgeschwungen.<br />

„Wer, wenn nicht Peer?“,<br />

titelte das Blatt schon im Mai 2011.<br />

Um uns fortan durch alle Abgründe<br />

der K-Frage zu führen … Ende <strong>letzte</strong>r<br />

Woche endlich war <strong>Cicero</strong> wieder<br />

bei Peer angekommen: „Steinbrück<br />

wird Kanzlerkandidat“. Das Blatt,<br />

berichten gut unterrichtete, hektisch<br />

drehende Hauptstadtkreise, erwägt<br />

ob seiner Kernkompetenz in der<br />

K-Frage jetzt die Umbenennung in<br />

Kikero. Oder Kikeriki.<br />

Tom Schimmeck, Frankfurter<br />

Rundschau am 24. September 2012<br />

Überraschung<br />

Nach Informationen der Bild-<br />

Zeitung will Parteichef Sigmar<br />

Gabriel dem SPD-Vorstand bereits<br />

am Montag in einer Sondersitzung<br />

Steinbrück als Kandidaten vorschlagen.<br />

Schon vor einer Woche<br />

hatte das Magazin <strong>Cicero</strong> exklusiv<br />

gemeldet, dass Steinbrück Kanzlerkandidat<br />

wird. Die SPD wollte das<br />

aber bisher nicht bestätigen.<br />

Berliner Tagesspiegel online am<br />

28. September 2012<br />

Schneller als online<br />

Als der SPD-Vorstand an diesem<br />

Montag Peer Steinbrück zum<br />

Kanzlerkandidaten der Partei<br />

kürte, haben wieder fast alle<br />

Politikjournalisten gewusst, dass es<br />

so kommen würde. Oder zumindest<br />

geahnt. Aufgeschrieben und<br />

veröffentlicht hat die Geschichte<br />

zuerst Christoph Schwennicke.<br />

Er ist nicht Journalist bei einer<br />

Tageszeitung oder einem Onlineportal,<br />

sondern Chefredakteur des<br />

Monatsmagazins <strong>Cicero</strong>.<br />

Das Medienmagazin Meedia in seiner<br />

Topstory am 1. Oktober 2012<br />

gedanklich verschachtelte und weitschweifend<br />

ausformulierte Ratschläge<br />

an Joachim Gauck – zeigt sich hier das<br />

verzweifelte Bemühen, die Enttäuschung<br />

über das zweimal verpasste Amt des<br />

Bundespräsidenten zu überspielen, oder<br />

fordert gar die hohe Beliebtheit Joachim<br />

Gaucks zu derartigen Kritikversuchen<br />

heraus? Unweigerlich muss ich bekennen:<br />

ein Schelm, der Böses dabei denkt!<br />

Christian Prachar, Göttingen<br />

zum beitrag „Eberts<br />

Staatsstreich – Die deutsche<br />

Nationalhymne wird 90 Jahre<br />

alt“ von Uwe Soukup/<br />

August 2012<br />

Kein blutiges Hemd<br />

Im vereinten Europa sind wir einer der<br />

wenigen Staaten, die eine so friedliebende<br />

Nationalhymne haben. Da<br />

ist von Einigkeit, Recht und Freiheit<br />

als des Glückes Unterpfand die Rede.<br />

Dafür, dies hier und heute genießen zu<br />

dürfen, sollten wir dankbar sein. Unsere<br />

Sportler haben allen Grund, dies aus<br />

voller Überzeugung mitzusingen. Sollen<br />

Gemurmel oder Schweigen von einigen<br />

als Ablehnung gewertet werden? Wo das<br />

nicht der Fall ist, müsste bei diesen Fußballmillionären<br />

wenigstens die Maxime<br />

gelten: „Wes Brot ich ess, des Lied ich<br />

sing!“ Wer sich aber die Mühe macht,<br />

einmal die Übersetzung von Nationalhymnen<br />

der Länder im Internet aufzurufen,<br />

die bei der Fußballweltmeisterschaft<br />

so innig gesungen wurden, wird<br />

sehen, dass hier vorwiegend von Sieg,<br />

Kampf, Feind und Waffen die Rede ist<br />

(besonders blutrünstig: Frankreich). Ihr<br />

Kommentator Uwe Soukup spricht von<br />

unserem „verschlissenen, blutbefleckten<br />

Hemde“ – das haben wir nach 70 Jahren<br />

längst abgelegt, er hat es nur noch nicht<br />

mitbekommen.<br />

Ines Schulte-Wilde, Wilnsdorf<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

16 <strong>Cicero</strong> 11.2012


EIN REVOLUTIONÄR,<br />

DER NICHTS ERREICHEN WILL.<br />

DAS NULL-EMISSIONSAUTO. FÜR UNS DER NÄCHSTE SCHRITT.<br />

Bei der Arbeit hat Mirco Schwarze nur ein Ziel: das Null-<br />

Emissionsauto zu bauen. Im BMW Werk Leipzig ist er<br />

diesem Ziel mit der Produktion des BMW ActiveE ein gutes<br />

Stück näher gekommen. Dieses Elektrofahrzeug ist ein<br />

weiterer Beitrag zu BMW EfficientDynamics – einer Technologie,<br />

die bisher mehr als 3,4 Millionen Tonnen CO 2<br />

eingespart hat. Und wenn Ende 2013 im Werk Leipzig der<br />

BMW i3 an den Start geht, baut Mirco Schwarze an einem<br />

weiteren Meilenstein der Elektromobilität. Dann kann er<br />

mit Fug und Recht sagen, dass er nichts erreicht hat. Und<br />

doch eine Revolution mit auf den Weg brachte.<br />

Die BMW Group ist zum achten Mal in Folge<br />

nachhaltigster Automobilhersteller der Welt.<br />

Erfahren Sie mehr über den Branchenführer<br />

im Dow Jones Sustainability Index auf<br />

www.bmwgroup.com/whatsnext<br />

Jetzt Film ansehen.


T i t e l<br />

Copyright<br />

auf ein Tabu<br />

Der Führer im Film:<br />

Charlie Chaplin<br />

als Hitler-Persiflage<br />

„Anton Hynkel“ in<br />

„Der große Diktator“<br />

aus dem Jahr 1940<br />

18 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Im Jahr 2015 läuft der<br />

Urheberrechtsschutz für<br />

Adolf <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“<br />

aus. Höchste Zeit, dieses<br />

Machwerk bei Tageslicht zu<br />

sezieren, um ihm endlich<br />

seine scheinbar dämonische<br />

Macht zu nehmen<br />

Von Philipp Blom<br />

„<strong>Hitlers</strong><br />

Buch fußt<br />

hauptsächlich<br />

auf dem<br />

Rassismus des<br />

Wiener Fin de<br />

siècle“<br />

Foto: DDP Images<br />

V<br />

or zwölf Jahren, von Januar<br />

bis April 2000, wurde vor dem<br />

High Court von London eine<br />

Klage gegen die historische<br />

Wahrheit entschieden. Die Angeklagte,<br />

die amerikanische Akademikerin<br />

Deborah Lipstadt, hatte in ihrem Buch<br />

„Denying the Holocaust“ den Autor David<br />

Irving als einen „authentischen Holocaustleugner“<br />

bezeichnet. Irving, der seine<br />

Karriere als Historiker in rechten Kreisen<br />

hauptsächlich durch die Behauptung gemacht<br />

hatte, in Auschwitz seien nie Juden<br />

vergast worden, und dass „mehr Frauen auf<br />

dem Rücksitz [von Ted Kennedys Wagen]<br />

in Chappaquiddick“ gestorben seien als in<br />

den Gaskammern, verklagte Lipstadt wegen<br />

Verleumdung.<br />

Nach britischem Recht ist Holocaustleugnung<br />

nicht strafbar, und bei Verleumdungsprozessen<br />

liegt die Beweislast beim<br />

Angeklagten. Lipstadt musste also nachweisen,<br />

dass Irving tatsächlich nicht, wie<br />

er selbst von sich sagte, ein überragender<br />

Historiker ohne Angst vor der Wahrheit<br />

war. Sondern ein rechtsextremer und rassistischer<br />

Autor, der wissentlich Fakten verdrehte<br />

und Quellen missbrauchte, um ein<br />

historisch überwältigend dokumentiertes<br />

Ereignis aus der Welt zu schreiben und Hitler<br />

als einen großen Feldherrn und Ehrenmann<br />

zu rehabilitieren, der von den, so Irving,<br />

tatsächlich aber niemals systematisch<br />

verübten und nur in viel kleinerem Ausmaß<br />

stattgefundenen Judenmorden nichts<br />

gewusst habe.<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

Bruno Ganz als Adolf Hitler in „Der Untergang“ aus dem Jahr<br />

2004. Oliver Hirschbiegels Film wurde vielfach vorgeworfen,<br />

die historische Führerfigur zu „entmystifizieren“<br />

Witzfigur Hitler: Helge Schneider versuchte sich in Dany<br />

Levys „Mein Führer“ (2007) als Badewannen-Stratege<br />

Was wie die Ausgangssituation eines<br />

makabren Theaterstücks klingt, wurde in<br />

den folgenden mehr als 30 Verhandlungstagen<br />

erschreckende Wirklichkeit. Einer<br />

nach dem anderen traten die wichtigsten<br />

historischen Experten der Gegenwart auf,<br />

unter ihnen Peter Longerich, Robert Jan<br />

van Pelt, Richard J. Evans, John Keegan sowie<br />

Yehuda Bauer, und evaluierten Quellen<br />

und deren Interpretation, beschrieben<br />

Mordmethoden und Tötungskapazitäten,<br />

Architektur und Funktionsweise der Gaskammern<br />

und den historisch belegbaren<br />

Wissensstand <strong>Hitlers</strong> über den Judenmord.<br />

Die kühle und faktische Beschreibung<br />

des Grauens machte es noch ungeheuerlicher.<br />

Ich saß damals im Gerichtssaal, als<br />

Korrespondent einer großen Zeitung. Irving,<br />

ein historischer Autodidakt und<br />

selbst ein hervorragender Quellenkenner,<br />

der Jahrzehnte mit Aktenstudium verbracht<br />

hatte und sich nach Angaben bekannter<br />

Kollegen in vielen Dokumenten<br />

besser auskennt als die meisten Historiker,<br />

hatte bestritten, dass über eine bestimmte<br />

Zeitspanne eine bestimmte Anzahl von Juden<br />

durch Vergasungswagen umgebracht<br />

worden sein könnten. Das sei rein logistisch<br />

unmöglich, sagte er höhnisch. Irving<br />

verteidigte sich selbst. Mit streng gescheiteltem<br />

Haar und in einem doppelreihigen<br />

Nadelstreifenanzug dozierte und schwadronierte<br />

er, fragte Zeugen nach den kleinsten<br />

Details und machte sich über die Verteidigung<br />

lustig. Dies war sein Moment im<br />

Rampenlicht, seine große Schlacht. Die<br />

ganze Welt hörte seinen Thesen endlich<br />

zu, musste ihnen zuhören.<br />

Also rechnete Richard Evans, Professor<br />

für Geschichte an der Universität Cambridge,<br />

vor: Ein Lastwagen mit einer Kapazität<br />

für x Opfer konnte pro Tag den<br />

Weg vom Lager zum Massengrab so und<br />

so oft machen, Tankstopps und Pausen<br />

für Besatzung und Fahrer sowie Einladen<br />

der lebenden Opfer und Ausräumen der<br />

Leichen eingerechnet. All das war schwer<br />

zu ertragen. Neben mir auf der Tribüne<br />

saß ein altes Ehepaar, zusammengesunken,<br />

starr vor Entsetzen. Vor ihnen ein junger<br />

Mann mit Glatze, <strong>Bombe</strong>rjacke und<br />

Springerstiefeln.<br />

Der von ihm selbst angestrengte Prozess<br />

wurde zum Desaster für Irving. Der<br />

vorsitzende Richter, Lord Justice Gray, gab<br />

Deborah Lipstadt in seinem Urteil vollinhaltlich<br />

recht und bestätigte damit auch,<br />

dass Irving aufgrund seiner Aussagen und<br />

Quellenmanipulationen als Lügner, Geschichtsfälscher,<br />

Antisemit und Rassist<br />

bezeichnet werden darf. Zusätzlich dazu<br />

wurde er dazu verurteilt, die Prozesskosten<br />

von 2,5 Millionen Pfund zu zahlen, was<br />

ihn auch wirtschaftlich ruinierte. Im Zuge<br />

der Verhandlung wurden alle Behauptungen<br />

dieses wohl fachlich versiertesten aller<br />

Holocaustleugner widerlegt, alle „Gegenbeweise“<br />

entkräftet. Sollte heute die historische<br />

Wirklichkeit des Holocaust von irgendjemandem<br />

in Zweifel gezogen werden,<br />

dann reicht ein Verweis auf die Prozessakten<br />

Irving versus Lipstadt.<br />

Fotos: Picture Alliance/DPA (2)<br />

20 <strong>Cicero</strong> 11.2012


„Was tabuisiert<br />

wird, kann<br />

besonders<br />

jungen,<br />

verwirrten<br />

oder<br />

verbitterten<br />

Zeitgenossen<br />

dadurch als<br />

verbotene<br />

Wahrheit<br />

erscheinen“<br />

Anzeige<br />

Das Lied<br />

des Lebens<br />

Der Star-Bariton Thomas Quasthoff<br />

über die Höhen des Erfolgs und die<br />

Chance des Neuanfangs<br />

Im November<br />

THOMAS<br />

QUASTHOFF<br />

© Foto Quasthoff: Andre Rivál; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />

Natürlich: Die wirklich fanatischen<br />

Ewiggestrigen sind nicht empfänglich für<br />

Beweise. Sie glauben das, was sie glauben<br />

wollen mit der hermetischen Verbissenheit<br />

eines Kreationisten in einem Museum für<br />

Naturgeschichte. Aber um sie geht es nicht.<br />

In Debatten und Diskussionen geht es darum,<br />

diejenigen zu überzeugen, die offen<br />

sind für Argumente, die Neugierigen, die<br />

Verwirrten, die Zweifelnden, vielleicht sogar<br />

die Gleichgültigen.<br />

In Deutschland, wo die Leugnung des systematischen<br />

Massenmords an Juden und<br />

anderen Gruppen unter Strafe steht (die<br />

Bezeichnung „Holocaust“, also Brandopfer,<br />

ist problematisch und setzte sich allgemein<br />

erst 1978 mit der amerikanischen<br />

Fernsehserie des gleichen Namens durch),<br />

wäre ein historischer Prozess wie der 2000<br />

in London abgehaltene nicht möglich.<br />

Was aber im Dunkeln bleibt und tabuisiert<br />

wird, kann besonders jungen, verwirrten<br />

oder verbitterten Zeitgenossen gerade<br />

dadurch als verbotene, von mächtigen Interessen<br />

unter Verschluss gehaltene historische<br />

Wahrheit erscheinen.<br />

Vielleicht war es in der jungen Bundesrepublik<br />

tatsächlich unerträglich, jemanden<br />

in der Öffentlichkeit den Massenmord<br />

an den Juden leugnen zu hören (es ist noch<br />

heute unerträglich), vielleicht war es in einem<br />

demokratisch noch nicht gefestigten<br />

Land auch gefährlich. Aber wir leben nicht<br />

mehr in so einem Land, und wir müssen<br />

uns auch mit unerträglichen Meinungen<br />

auseinandersetzen. Wir können die wirren<br />

Gedanken und hasserfüllten Tiraden<br />

der alten und jungen Nazis, Rassisten und<br />

religiösen Fanatiker aller Geschmacksrichtungen<br />

als solche behandeln und uns in aller<br />

Offenheit mit ihnen auseinandersetzen.<br />

Es ist wichtig, das toxische Erbe des<br />

Nationalsozialismus zu enttabuisieren,<br />

auch und besonders das Gründungsdokument<br />

der „Bewegung“, Adolf <strong>Hitlers</strong> „Mein<br />

Kampf“. Hitler hatte das Buch 1924 während<br />

seiner Haft in der Feste Landsberg<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

Alexander Marguier, stellvertretender<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

mit Thomas Quasthoff.<br />

Sonntag, 11. November 2012, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble,<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

<strong>Vorschau</strong><br />

Am 2. Dezember zu<br />

Gast: Peer Steinbrück<br />

www.cicero.de/<br />

foyergespraech<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

Foto: DDP Images<br />

„Frühling für Hitler“ hieß ein Film von Mel Brooks aus dem Jahr 1968, aus dem diese Szene stammt.<br />

Der Stoff war später Grundlage für den Musical-Erfolg „The Producers“<br />

geschrieben. Lange Passagen davon hat<br />

er wahrscheinlich auch diktiert, was den<br />

oft wenig geordneten, rednerischen Duktus<br />

des Textes erklärt. Die Redaktion dieser<br />

wirren Tiraden lag bei einem Pater<br />

Stempfle, einem katholischen Ordensmann<br />

und fanatischen Antisemiten, der<br />

aus <strong>Hitlers</strong> Ergüssen einen zusammenhängenden<br />

Text machte und 1934 im<br />

Zuge des Röhm-Putsches unter ungeklärten<br />

Umständen nach Dachau verschleppt<br />

und dann ermordet wurde.<br />

Das Werk, das ursprünglich in zwei<br />

Bänden erschien und erst 1933 in einer<br />

einbändigen Volksausgabe gedruckt wurde,<br />

wurde ab 1936 frisch verheirateten Paaren<br />

im Standesamt statt der Bibel überreicht.<br />

Um zu verhindern, dass dieses ungebetene<br />

Geschenk direkt ins Antiquariat wanderte,<br />

hatte Hitler bei der Reichsschrifttumskammer<br />

eine Sonderregelung erwirkt, die<br />

es verhinderte, dass das Buch aus zweiter<br />

Hand verkauft werden durfte. Die Tantiemen<br />

dieses Werkes, das bis Kriegsende eine<br />

Auflage von etwa zehn Millionen Exemplaren<br />

erreichte, waren eine wichtige persönliche<br />

Einnahmequelle des „Führers“.<br />

Die in „Mein Kampf“ dargelegte Weltanschauung<br />

eines Kampfes der Rassen, der<br />

sich besonders gegen „das Judentum“ und<br />

den Bolschewismus richtete, fußt hauptsächlich<br />

auf den rassistischen Ideologien<br />

des Wiener Fin de siècle und auf den „Protokollen<br />

der Weisen von Zion“, einer antisemitischen<br />

Fälschung, die die Geheimpolizei<br />

des Zaren bereits 1903 in Russland<br />

in Umlauf gebracht hat und die ihrerseits<br />

Material aus Frankreich gebrauchte, das<br />

ursprünglich gegen die Freimaurer gerichtet<br />

war. Einige der von Hitler benutzten<br />

Ideen sind noch heute in rechten Kreisen<br />

anzutreffen, beispielsweise die These,<br />

eine jüdische Verschwörung bediene sich<br />

der Finanzmärkte, um die Welt unter ihre<br />

Kontrolle zu bringen. Angesichts dieser<br />

Verschwörung zwischen „jüdischem Kapital“<br />

und Bolschewismus sah er die Ursache<br />

für eine endzeitliche Schlacht gekommen,<br />

die der „arischen Rasse“ Lebensraum im<br />

Osten verschaffen sollte.<br />

In knapp drei Jahren, 2015, läuft das<br />

vom Freistaat Bayern gehaltene Copyright<br />

auf <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ aus. Damit<br />

kann jeder Verlag dieses von den Nazis<br />

gemeinsam mit der Gutenberg-Bibel als<br />

„wichtigstes deutsches Buch“ bezeichnete<br />

Werk neu herausgeben. Bis jetzt hatte die<br />

bayerische Regierung das geltende Copyright<br />

genutzt, um es unter Verschluss zu<br />

halten. Der zuständige bayerische Kultusminister<br />

Markus Söder (CSU) strebt keine<br />

Verlängerung des Urheberschutzes an. Das<br />

ist ein kluger Schritt, denn so eine Regelung<br />

könnte nur durch ein verfassungsrechtlich<br />

anfechtbares Sondergesetz bewerkstelligt<br />

werden. Söder will stattdessen<br />

zwei kommentierte Ausgaben in Auftrag<br />

geben: eine „entschärfte“ und gekürzte mit<br />

Kommentaren in einfacher Sprache für<br />

Schulen und eine vom Münchener Institut<br />

für Zeitgeschichte voll und quellenkritisch<br />

aufgearbeitete. So will er den Buchmarkt<br />

mit seriösen Ausgaben versorgen, um zu<br />

verhindern, dass andere, propagandistisch<br />

motivierte Versionen sich etablieren.<br />

Die Neuauflage von „Mein Kampf“ ist notwendig.<br />

Im Internet ist der Originaltext<br />

nur wenige Klicks entfernt, und über Antiquariate<br />

lässt sich auch ein Original problemlos<br />

bestellen. Das Verbot ist also bereits<br />

22 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Bringt Tiefe<br />

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mit der gedruckten und der digitalen Ausgabe.<br />

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T i t e l<br />

Foto: Maja Hitij/DDP Images/AP Photo<br />

In dem Musical „The Producers“ (hier eine Szene aus dem Berliner Admiralspalast, 2009) versucht sich ein verkrachter<br />

Produzent an einem Singspiel über den Führer – und landet überraschend einen Publikumserfolg<br />

jetzt porös und allenfalls symbolisch. Diese<br />

Symbolwirkung aber ist kontraproduktiv.<br />

Mehr noch: <strong>Hitlers</strong> Reden, Tischgespräche<br />

und andere Dokumente über sein Denken<br />

sind ebenso frei zugänglich wie die Reden<br />

von Himmler und Goebbels und dessen<br />

Tagebücher, ganz zu schweigen von einer<br />

Flut von NS-Propagandaschriften, Pamphleten,<br />

Zeitungen und anderen Publikationen.<br />

Fast alle wichtigen Reden sind im<br />

Original auf „Youtube“ zu sehen. Nur die<br />

Gründungsschrift der „Bewegung“ bleibt<br />

weiterhin im Giftschrank – als würde etwas<br />

Besonderes in ihr stehen, etwas Unerhörtes,<br />

was jede Leserin und jeden Leser sofort in<br />

seinen Bann ziehen muss.<br />

Es ist sicherlich besser, dieses wirre,<br />

hassdurchtränkte, von der jämmerlichen<br />

Rassenmystik des Fin de siècle durchzogene<br />

Machwerk bei Tageslicht zu sezieren und<br />

ihm seine scheinbare dämonische Macht zu<br />

nehmen. Ein Verbot spricht „Mein Kampf“<br />

einen zu hohen Wert zu und schafft zusätzlich<br />

eine falsche Kausalität: Weder dieses<br />

Buch noch sein Autor waren die Ursache<br />

der nationalsozialistischen Verbrechen – sie<br />

waren nur wichtige Faktoren darin. Hier<br />

liegt eine Gefahr, die sich das deutsche<br />

Geschichtsverständnis lange und oft auch<br />

heuchlerisch zunutze gemacht hat: Es ist<br />

augenscheinlich verlockend, das Phänomen<br />

Hitler für alles verantwortlich zu machen<br />

– ein Phänomen, mit dem man heute<br />

noch periodisch neu aufgegossene „Enthüllungsartikel“,<br />

Bücher und Dokumentarserien<br />

verkaufen kann, die sich mit seinen<br />

Frauen, Schäferhunden, seiner Liebe<br />

zu Wagner oder anderen Aspekten seines<br />

Privatlebens beschäftigen und nichts, aber<br />

auch gar nichts auslassen; was mit Hitler<br />

zusammenhängt, das läuft noch immer. So<br />

entsteht eine mythologische Aufladung seiner<br />

Person und führt zur praktischen Simplifizierung:<br />

Die Nazis waren’s, <strong>Hitlers</strong> dämonisches<br />

Genie, sein stechender Blick.<br />

Hitler wird so als die zentrale Ursache der<br />

„nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“<br />

identifiziert: hier die Nazis und der<br />

„Führer“ – da die Deutschen, die von ihnen<br />

tyrannisiert wurden und so fast unbemerkt<br />

in die Opferrolle schlüpfen können.<br />

Diese moralisch rückgratlose Haltung<br />

hat Daniel Goldhagen in seinem Buch<br />

„<strong>Hitlers</strong> willige Vollstrecker“ angegriffen<br />

und den Bogen dabei weit über jede Plausibilität<br />

hinaus überspannt. Heraus kam<br />

damals ein Bestseller, der leider auch ein<br />

schlechtes Stück Geschichtsschreibung war,<br />

das seinen Erfolg wohl auch latenten deutschen<br />

Schuldgefühlen verdankte. Nicht alle<br />

waren Täter, aber keine Diktatur könnte<br />

ohne die große Menge der Wegseher und<br />

kleinen Profiteure überleben. Es bedarf nie<br />

mehr als einiger weniger Fanatiker, die den<br />

Rest mit Zuckerbrot und Peitsche in ihre<br />

Richtung lenken. Das hat uns ein historisch-psychologisches<br />

Meisterwerk gezeigt,<br />

das von einem Schauspieler kam: Helmut<br />

Qualtingers Fernsehspiel „Der Herr Karl“.<br />

Wenn Sie es nicht kennen, sehen Sie es sich<br />

auf Youtube an. Sie lernen dort alles, was<br />

man über Diktaturen wissen muss – nicht<br />

nur in Wien.<br />

In der historischen Gemengelage der<br />

Weimarer Republik war Hitler aber nicht<br />

der einzige faschistische und antisemitische<br />

Demagoge, und es ist davon auszugehen,<br />

dass irgendjemand anderes zum „Führer“<br />

geworden wäre, wenn Hitler beispielsweise<br />

im Ersten Weltkrieg umgekommen wäre.<br />

24 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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T i t e l<br />

Bertolt Brecht setzte sich in „Arturo Ui“ (hier verkörpert von<br />

Martin Wuttke) mit <strong>Hitlers</strong> Machtergreifung auseinander<br />

Christoph Schlingensief (li.) mit Udo Kier bei der Premiere<br />

seiner Produktion „100 Jahre Adolf Hitler“<br />

Nicht er oder „Mein Kampf“ waren Ursache<br />

und Attraktivität des Nationalsozialismus,<br />

sondern eine spezifisch deutsche<br />

Mischung aus Niederlage im Ersten Weltkrieg,<br />

Demütigung und Zukunftsangst,<br />

Militarismus und Inflation, Dolchstoßlegende<br />

und Antisemitismus, Misstrauen gegen<br />

die junge Demokratie und Sehnsucht<br />

nach dem starken Mann.<br />

Hitler und seine „Schergen“ werden zu<br />

Projektionsfiguren der deutschen Schuld:<br />

Indem sie für tabu erklärt, dämonisch aufgeladen<br />

und in die Wüste geschickt werden,<br />

entlastet sich das Kollektiv. Hitler zu dämonisieren,<br />

heißt die Deutschen zu entschuldigen<br />

und die Lüge zu perpetuieren,<br />

sie seien eben nur verführt worden, sie hätten<br />

sich den Händen des Magiers nicht entwinden<br />

können. Aber die Verbrechen des<br />

Nationalsozialismus sind deutsche Verbrechen,<br />

begangen, geduldet und ermöglicht<br />

von Deutschen und Österreichern, die aktiv<br />

teilnahmen, wegsahen oder profitierten<br />

– nicht von Adolf Hitler und seinen<br />

„Nazi-Schergen“. Wer „Mein Kampf“ weiterhin<br />

wegsperren will, der leistet einer verharmlosenden<br />

Erklärung Vorschub, ob freiwillig<br />

oder nicht. „Mein Kampf“ gehört zu<br />

uns und zu unserer Geschichte, genauso<br />

wie die Hunnenrede Wilhelms II und – in<br />

einem Europa, in dem Nationalstaaten obsolet<br />

werden – die anderen Verbrechen der<br />

Europäer, die durch eine Monopolisierung<br />

des Holocaust‐Gedenkens oft ausgeblendet<br />

werden. In Belgien stehen beispielsweise<br />

heute noch Denkmäler für König Leopold<br />

II, der Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

für seinen persönlichen Profit im Kongo,<br />

seiner persönlichen Kolonie, zehn Millionen<br />

Afrikaner verhungern und bestialisch<br />

ermorden ließ.<br />

Hier klingeln Alarmglocken. Der von<br />

Ernst Nolte losgetretene Historikerstreit<br />

und die larmoyante Stimme von Martin<br />

Walser werden laut. Die Eingliederung der<br />

nationalsozialistischen Verbrechen in einen<br />

weiteren historischen Rahmen riecht nach<br />

Aufrechnung, nach Relativierung. Dabei<br />

sind der Holocaust und seine Einzigartigkeit<br />

ein Grundstein des bundesrepublikanischen<br />

Selbstverständnisses.<br />

Historische Narrative folgen gegenwärtigen<br />

Bedürfnissen. Die Massenmorde der<br />

Nazis zu einem stringent erzählbaren „Holocaust“<br />

umzudeuten, war eine US-amerikanische<br />

Interpretation, die viel mit der<br />

Rechtfertigung ihrer Nahostpolitik und<br />

der Ablenkung von eigenen Verbrechen<br />

(an Native Americans, Afroamerikanern,<br />

in Vietnam et cetera) zu tun hatte, wie Peter<br />

Novick in seinem 2000 erschienenen<br />

Buch „The Holocaust and Modern Memory“<br />

argumentierte. Der Holocaust als<br />

mediales Narrativ – von der gleichnamigen<br />

Miniserie bis zum Film „Schindlers Liste“<br />

und den in den Vereinigten Staaten häufigen<br />

Holocaust-Museen – bot eine ideale<br />

Projektionsfläche und tut es heute noch.<br />

Aber diese Projektionsfläche stammt aus<br />

dem Kalten Krieg und aus Machtkämpfen<br />

um die Deutungshoheit der Geschichte<br />

Fotos: Barbara Braun/DRAMA, Gehner/Team Work<br />

26 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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XXX.<br />

Europaratsausstellung<br />

„Die Massenmorde<br />

der Nazis zu<br />

einem stringent<br />

erzählbaren<br />

,Holocaust‘<br />

umzudeuten,<br />

war eine<br />

US‐amerikanische<br />

Interpretation“<br />

in den Vereinigten Staaten. Objektives Geschichtsverständnis<br />

war nie das Ziel dieser<br />

mediatisierten Interpretation.<br />

Hier muss man wohl, aus der europäischen<br />

Perspektive, anfügen, dass die Kultur<br />

der Bundesrepublik Deutschland durch<br />

Mediatoren wie Adorno und später Henryk<br />

Broder oder Dan Diner den „Zivilisationsbruch“<br />

als Konzept des katastrophalen<br />

Versagens des Humanismus und<br />

dessen Singularität unabhängig von den<br />

Vereinigten Staaten entwickelt und erhalten<br />

hat. In Bezug auf die Geschichte des<br />

deutschen Selbstverständnisses scheint das<br />

Festhalten an der Einzigartigkeit des Holocaust<br />

fast durch eine kulturelle Erwählungsidee<br />

in der Tradition Fichtes und<br />

Hegels motiviert zu sein: Wenn die Deutschen<br />

als Träger einer großen Kultur zu einem<br />

solchen Verbrechen fähig waren, dann<br />

muss das Versagen dieser Kultur schrecklicher<br />

und metaphysisch vernichtender<br />

sein als Völkermorde anderer und „weniger<br />

hochstehender“ Kulturen. In dieser<br />

idealistisch-rassistischen Logik (die, glaube<br />

ich, die nationalsozialistische Ideologie mit<br />

beeinflusste) waren Deutsche und Juden<br />

Konkurrenten um das Privileg der historischen<br />

Erwählung. Im Beharren auf dem<br />

Holocaust-Narrativ besteht diese Logik<br />

weiter. Es ist längst überfällig, mit ihr zu<br />

brechen.<br />

Verbotsgesetze und fixierte historische<br />

Narrative instrumentalisieren menschliches<br />

Leiden für gegenwärtige politische Zwecke:<br />

Als unter Präsident Sarkozy das Leugnen<br />

des Massenmords an den Armeniern unter<br />

Strafe gestellt wurde, war das eine Geste<br />

in Richtung Türkei. Aber was ist dann mit<br />

der künstlichen Hungersnot in der Ukraine<br />

1932 (3,5 Millionen Opfer), mit den<br />

Gulags (1,6 Millionen Opfer), mit Chinas<br />

„Großem Sprung nach vorn“ (mehr als<br />

30 Millionen Opfer)? Was ist mit Kambodscha,<br />

Ruanda und mit Nordkorea heute?<br />

Wo sollen Verbote anfangen oder aufhören?<br />

Wer entscheidet, was unerträglich ist?<br />

Soll man die armen Irren, die in deutschen<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 27<br />

17.10.2012<br />

10.02. 2013<br />

VER FÜH RUNG<br />

FREIHEIT<br />

Kunst<br />

in Europa<br />

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Deutsches<br />

Historisches<br />

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Berlin<br />

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T i t e l<br />

Fußgängerzonen für das glorreiche Nordkorea<br />

werben, mit Gefängnisstrafen belegen,<br />

und müsste man dann nicht auch<br />

Maos Rotes Buch verbieten? Den Opfern<br />

ist es gleichgültig, ob ihr Leben im Namen<br />

einer rassistischen Ideologie, einer statistischen<br />

Quote wie in Stalins Russland oder,<br />

wie im Falle des Kongos, aus blanker Habgier<br />

zerstört wird.<br />

Die Massenmorde, der Völkermord<br />

der Deutschen und Österreicher und ihrer<br />

Mittäter unter nationalsozialistischer<br />

Herrschaft verlieren nichts an ihrem Schrecken,<br />

nichts von ihrem spezifischen Charakter<br />

und nichts von ihrer verpflichtenden<br />

Natur für ihre demokratischen Erben,<br />

wenn sie in einem größeren historischen<br />

Kontext diskutiert, analysiert und verstanden<br />

werden. Im Gegenteil: Erst ein<br />

synoptisches Verständnis der historischen<br />

Prozesse macht das Wesen des deutschen<br />

Völkermords deutlich.<br />

Durch die Öffnung der Archive in den Ländern<br />

des ehemaligen Ostblocks ist diese<br />

übergreifende Analyse nicht nur möglich,<br />

sondern auch notwendig geworden<br />

und kann zu einem vertieften Verständnis<br />

der Geschichte des 20. Jahrhunderts<br />

in seiner Gesamtheit führen. Der US-amerikanische<br />

Historiker Timothy Snyder hat<br />

das in seinem kürzlich erschienenen Buch<br />

„Bloodlands“ meisterhaft demonstriert. Es<br />

geht nicht um moralische Äquivalenz und<br />

schon gar nicht um Aufrechnung – es geht<br />

darum, die Schrecken eines Jahrhunderts<br />

und die Mechanismen der Unmenschlichkeit<br />

zu erfassen und in Zukunft zu verhindern<br />

– in Europa und, soweit möglich, darüber<br />

hinaus.<br />

Eine Kontextualisierung der nationalsozialistischen<br />

Verbrechen ist aus einem anderen<br />

Grund notwendig: Das alte Ehepaar,<br />

das beim Irving-Prozess neben mir saß, gehörte<br />

zu den Überlebenden, aber in wenigen<br />

Jahrzehnten werden auch die <strong>letzte</strong>n<br />

von ihnen gestorben sein. Ich bin mit Tätern<br />

und Opfern aufgewachsen – für meine<br />

Generation sind die Grauen des Völkermords<br />

und seine moralischen Verstrickungen<br />

noch in der eigenen Familie mittelbar<br />

erlebte Geschichte. Für Schüler heute ist<br />

der Zweite Weltkrieg kaum stärker präsent<br />

als der Erste, vielleicht sogar als der Dreißigjährige<br />

Krieg. Er ist längst historisch geworden,<br />

eine Jahreszahl ohne emotionale<br />

Wirklichkeit.<br />

Die verlorene Unmittelbarkeit des Erlebens<br />

eines Ereignisses, das unwiderruflich<br />

zur Geschichte wird, kann kein Pädagoge<br />

wieder herstellen und auch kein Besuch im<br />

Konzentrationslager, wo direkt neben dem<br />

verrosteten Stacheldraht Würstchenbuden<br />

stehen. Für junge Deutsche bestehen keine<br />

persönlichen moralischen Verstrickungen<br />

mehr, wohl aber eine moralische Verpflichtung<br />

eines demokratischen und in<br />

„Wenn die<br />

Erinnerung zu<br />

einem leeren<br />

Ritual wird,<br />

kann sie nur<br />

Entfremdung<br />

schaffen“<br />

Wohlstand lebenden Staates mit einer Geschichte,<br />

in der ein Jahrtausendverbrechen<br />

einen zentralen Platz einnimmt und der<br />

aus eigener Erfahrung heraus Freiheit und<br />

Demokratie als zentral begreift. Die Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit, die sie<br />

aufbringen, geschehen heute in Afghanistan,<br />

in Syrien und im Sudan. Nur im Kontext<br />

der Gegenwart kann der moralische<br />

Imperativ, der Kern der deutschen Erinnerung<br />

an den Nationalsozialismus, wachgehalten<br />

werden.<br />

Die Frage, ob sich das Andenken an<br />

die Grauen des Völkermords der Deutschen<br />

je „normalisieren“ darf, ist müßig –<br />

es ist längst passiert. Diese Normalisierung<br />

ist keine moralische Frage, sondern<br />

eine biologische und in gewisser Hinsicht,<br />

soweit sie Migranten aus anderen historischen<br />

Traditionen betrifft, die Deutsche<br />

geworden sind, eine soziale und demografische.<br />

Die Erinnerung als leeres Ritual<br />

kann nur Entfremdung schaffen, heruntergebetete<br />

Betroffenheit (eine sehr deutsche<br />

Tugend) wird zum Schutzschild gegen<br />

die Einsicht, dass uns das Erbe des<br />

Krieges und des Mordens dazu motivieren<br />

muss, uns heute für Menschenrechte<br />

und demokratische Freiheiten einzusetzen,<br />

wo immer sie bedroht werden.<br />

Die gute Neuigkeit ist, wie Dana<br />

Giesecke und Harald Welzer in ihrem gerade<br />

erschienenen Plädoyer „Das Menschenmögliche<br />

– Zur Renovierung der<br />

deutschen Erinnerungskultur“ schreiben,<br />

dass die deutsche Erinnerungskultur ihr<br />

Ziel weitgehend erreicht hat. Auch wenn<br />

er seine Thesen in Deutschland vertreten<br />

dürfte, würde sich kaum jemand für<br />

die Ideen eines David Irving interessieren.<br />

Auch wenn „Mein Kampf“ an jedem Kiosk<br />

zu haben ist, wird es die Bundesrepublik<br />

nicht gefährden. Auch wenn es nicht mehr<br />

lebendige Erinnerung ist, hat das Trauma<br />

des Nationalsozialismus und der eigenen<br />

Schuld die deutsche Gesellschaft nachhaltig<br />

und positiv geformt.<br />

Die Europäische Gemeinschaft ist ein<br />

Kind des Traumas von Europas zweitem<br />

dreißigjährigem Krieg, 1914 bis 1945. Die<br />

Krise der EU stellt die Wirklichkeit von<br />

beinahe drei Generationen Friede, Wohlstand<br />

und Integration infrage und lässt<br />

Stimmen lauter werden, die zurückwollen<br />

zur D‐Mark, zum Nationalstaat und zum<br />

Nationalismus. Wenn wir Hitler und sein<br />

toxisches Buch weiterhin dämonisieren,<br />

stehlen wir uns aus der historischen Verantwortung<br />

Deutschlands, die letztlich zu<br />

der energischen Unterstützung eines föderalen<br />

Europa und dem Ende der miteinander<br />

konkurrierenden Nationalstaaten führen<br />

muss. Wenn wir den Blick auf unsere<br />

Vergangenheit durch Verbote einschränken,<br />

schaffen wir die Illusion, das Verbotene<br />

sei eine Wahrheit, eine Zukunftsvision,<br />

die „das Establishment“ unterdrücken<br />

will. Durch solche Tabus, nicht durch offene<br />

Diskussion, gefährdet man auf Dauer<br />

die Demokratie.<br />

Auch und gerade im Lichte eines neuen<br />

Geschichtsverständnisses, das sich einem<br />

systemischen Verständnis des 20. Jahrhunderts<br />

und seiner Verbrechen verpflichtet<br />

fühlt, wird die europäische Krise für<br />

Deutschland zu einer Herausforderung,<br />

sich für eine Ausweitung von Integration,<br />

Demokratie und Freiheit in Europa einzusetzen.<br />

Philipp Blom ist Historiker<br />

und Autor. Seine Bücher „Der<br />

taumelnde Kontinent“ und<br />

„Böse Philosophen“ wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet<br />

Foto: Peter Rigaud<br />

28 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Edition<br />

Welchen Weltrekord<br />

kann man<br />

am leichtesten<br />

knacken?<br />

Kann man<br />

Cellulite<br />

weglaufen?<br />

Sind Läufer die<br />

besseren Liebhaber<br />

und wenn ja, warum?<br />

Laufbücher gibt es viele, dieses<br />

aber beantwortet die wirklich<br />

entscheidenden Fragen. Ein Buch<br />

für laufbegeisterte Anfänger,<br />

Fortgeschrittene und solche, die es<br />

werden wollen.<br />

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T I T E L<br />

„Faszination des Bösen“<br />

Der Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, plädiert im Interview<br />

für eine Veröffentlichung von <strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ – um dessen Mythos zu zerstören<br />

H<br />

err Brodkorb, Sie sind Bildungsminister<br />

in einem Bundesland, in<br />

dem die rechtsextreme Szene<br />

besonders aktiv ist. Wenn am 1. Januar<br />

2016 der Urheberrechtsschutz für Adolf<br />

<strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ entfällt, kann im<br />

Prinzip jeder das Werk nachdrucken.<br />

Fürchten Sie sich vor dem Datum?<br />

Nein, überhaupt nicht.<br />

Buchhandel etwa <strong>Hitlers</strong> politische Jugendschriften<br />

verfügbar sind. Ebenso<br />

eine vierbändige Ausgabe der Schriften<br />

von Adolf Hitler aus den Jahren 1933 bis<br />

1945 sowie eine wissenschaftliche Ausgabe<br />

für die Zeit dazwischen. Es sind<br />

also ungefähr 95 Prozent des Hitler’schen<br />

œvres im Buchhandel frei verfügbar – nur<br />

eben nicht „Mein Kampf“.<br />

Sehen Sie keine Gefahr, dass die rechtsextreme<br />

Szene dann „Mein Kampf“ zu einer<br />

Art Hausbibel macht?<br />

Die einzige Gefahr, die ich sehe, besteht<br />

darin, dass irgendein rechtsextremer<br />

Verlag eine Ausgabe von „Mein Kampf“<br />

auf den Markt bringt und damit Geld<br />

verdient, mit dem dann wiederum rechtsextreme<br />

Projekte unterstützt werden. Ich<br />

glaube allerdings nicht, dass von einer<br />

Veröffentlichung dieses Buches eine politische<br />

Gefahr im engeren Sinne ausgeht.<br />

Sie glauben nicht, dass manch historisch<br />

unbedarfter Leser die falschen Schlüsse<br />

aus „Mein Kampf“ ziehen könnte?<br />

Ehrlich gesagt, wer die 800 Seiten<br />

von „Mein Kampf“ je gelesen hat, der<br />

weiß auch, dass das über weite Strecken<br />

so ein krudes und langweiliges Zeug ist,<br />

dass man aufpassen muss, bei der Lektüre<br />

nicht einzuschlafen. Mal ganz davon abgesehen,<br />

kann sich jeder, der über einen<br />

Internetzugang verfügt, die komplette<br />

Ausgabe von „Mein Kampf“ herunterladen.<br />

Es gibt im Internet ja sogar Audioversionen<br />

von „Mein Kampf“, bei denen<br />

man nicht einmal mehr selbst lesen muss,<br />

sondern alles vorgelesen bekommt.<br />

Ich zitiere jetzt eine Passage aus „Mein<br />

Kampf“: „Der schwarzhaarige Judenjunge<br />

lauert stundenlang, satanische Freude<br />

in seinem Gesicht, auf das ahnungslose<br />

Mathias Brodkorb, SPD, Bildungsminister<br />

in Mecklenburg-Vorpommern. Als Juso<br />

erfand er mit anderen das Modelabel Storch<br />

Heinar, das rechtsextreme Symbolik parodiert<br />

Mädchen, das er mit seinem Blut schändet<br />

und damit seinem, des Mädchens<br />

Volke raubt.“ Warum sollten solche Sätze<br />

wieder Verbreitung finden?<br />

Wenn Sie Ihre These ernst nehmen,<br />

warum stellen Sie mir eine solche Frage<br />

und tragen so selbst zur Verbreitung von<br />

<strong>Hitlers</strong> Schriften bei? Zudem unterstellt<br />

Ihre Frage, dass etwas nur dann existiert,<br />

wenn es auch in gedruckter Form vorliegt.<br />

Das ist aber nicht der Fall. Gerade<br />

junge Leute beziehen ihr Wissen heutzutage<br />

nicht vorrangig aus Büchern, sondern<br />

vor allem aus elektronischen Medien.<br />

Und „Mein Kampf“ kann, wie<br />

gesagt, im Internet aus Tausenden unterschiedlichen<br />

Quellen heruntergeladen<br />

werden, einschließlich des Satzes,<br />

den Sie hier zitiert haben. Mal ganz davon<br />

abgesehen, dass auch im deutschen<br />

Nun steht „Mein Kampf“ aber gewissermaßen<br />

stellvertretend für die gesamte<br />

Nazi‐Ideologie. Bayerns Kulturstaatssekretär<br />

Bernd Sibler gab deswegen<br />

unlängst zu bedenken, wenn Touristen in<br />

der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers<br />

Dachau in einen Buchladen kämen<br />

und dort auf „Mein Kampf“ stießen, gäbe<br />

es zu Recht einen Skandal. Liegt der Mann<br />

denn völlig daneben?<br />

Ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn<br />

man in dem gleichen Buchladen Landser-Hefte<br />

kaufen kann, die Tagebücher<br />

von Joseph Goebbels oder <strong>Hitlers</strong> „Zweites<br />

Buch“ – was ja heute schon völlig legal<br />

ist. Ich glaube einfach, der bayerische<br />

Kulturstaatssekretär hat sich mit dem<br />

ganzen Thema so wenig beschäftigt, dass<br />

er gar nicht weiß, was es im deutschen<br />

Buchhandel alles zu kaufen gibt, und<br />

zwar ganz offiziell.<br />

Woher rührt denn dann Ihres Erachtens<br />

diese offensichtliche Tabuisierung von<br />

„Mein Kampf“?<br />

Ich glaube, dass hier ein Generationenproblem<br />

zugrunde liegt. Gerade die<br />

ältere Generation in unserem Land hat<br />

„gelernt“, dass man ein Problem am besten<br />

von sich fernhält, indem man die Augen<br />

davor verschließt oder dafür sorgt,<br />

dass andere es nicht sehen. Dahinter<br />

steht ja so etwas wie der Gedanke, dass<br />

<strong>Hitlers</strong> Schrift so genial und gerissen<br />

Foto: Bernd Wüstneck/Picture Alliance/DPA<br />

30 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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formuliert sei, dass man durch die Lektüre<br />

gewissermaßen codiert wird und<br />

keine Chance hat, sich dagegen zu wehren.<br />

Aber das ist doch lächerlich. Hitler<br />

war zwar ein großer Verbrecher, aber<br />

kein Magier. Und aus dem Impuls, die<br />

Wirkung von „Mein Kampf“ zu überhöhen,<br />

rührt dieser Wegschließreflex. Dagegen<br />

hilft nur eines: das Buch nicht nur<br />

zugänglich zu machen, sondern auch<br />

kritisch zu reflektieren. Und stellen Sie<br />

sich nur mal vor, wie langweilig „Mein<br />

Kampf“ wäre, wenn es in der Schule<br />

durchgenommen würde. Aber seit es<br />

das Internet gibt, tickt die Welt ohnehin<br />

ganz anders.<br />

Sie wollen „Mein Kampf“ entmystifizieren,<br />

indem Sie das Buch ganz offiziell und für<br />

jeden zugänglich machen?<br />

Unbedingt. Als ich noch zur Schule<br />

ging, brachte ein Mitschüler eines Tages<br />

eine in Leder gebundene Ausgabe<br />

von „Mein Kampf“ mit. Und alle anderen<br />

starrten auf dieses Buch, als handele<br />

es sich um eine Reliquie. Diese Faszination<br />

ergab sich aber ausschließlich aus der<br />

Tatsache, dass „Mein Kampf“ nicht normal<br />

zugänglich ist. Auf diese Weise spielt<br />

da etwas herein, das ich als „unaufgeklärte<br />

Faszination des Bösen“ bezeichne,<br />

etwas Quasireligiöses in negativer Wendung.<br />

Dagegen hilft nur Entmystifizierung<br />

durch nüchterne Aufklärung.<br />

Trotzdem hat der Freistaat Bayern als<br />

Inhaber der Nutzungsrechte vor einigen<br />

Monaten verhindert, dass der britische<br />

Historiker Peter McGee kommentierte<br />

Auszüge aus „Mein Kampf“ an die Kioske<br />

bringen konnte …<br />

Ein völlig absurdes Vorgehen, zumal<br />

sich die Sache nach Ablauf des Urheberrechtsschutzes<br />

in drei Jahren sowieso erledigt<br />

hat. Was Bayern da betreibt, ist<br />

eine ängstliche und rückschrittliche<br />

Verhinderungspolitik.<br />

Sie selbst haben schon im Jahr 2003 ausgerechnet<br />

in der ehemaligen „Kraft durch<br />

Freude“-Ferienanlage Prora auf Rügen vor<br />

Jugendlichen aus „Mein Kampf“ gelesen.<br />

Wie kam es dazu?<br />

Das Land Mecklenburg-Vorpommern<br />

hatte damals beschlossen, Prora<br />

symbolisch zurückzuerobern und dort<br />

ein großes Jugendfest zu feiern. Um diese<br />

Veranstaltung politisch einzubetten, haben<br />

wir eine Reihe von Workshops angeboten,<br />

bei der es auch um die Nazi-Ideologie<br />

ging, die ja nicht zuletzt zum Bau<br />

dieser gigantischen Ferienanlage geführt<br />

hat. Und da haben wir in der Tat diese<br />

Lesung aus „Mein Kampf“ abgehalten.<br />

Ohne in Bayern vorher um Erlaubnis zu<br />

fragen?<br />

Selbstverständlich.<br />

Haben Sie damit eine Rechtswidrigkeit<br />

begangen?<br />

Das mögen die Bayern beurteilen. Ich<br />

meine, ich habe damals einen guten Beitrag<br />

zur Aufklärung geleistet.<br />

Und wie haben die Jugendlichen auf<br />

„Mein Kampf“ reagiert?<br />

Wir hatten danach eine sehr ruhige<br />

und sehr sachliche Debatte – unter anderem<br />

darüber, ob man versuchen soll,<br />

diese Schrift vor jungen Leuten geheim<br />

zu halten. Von 200 anwesenden Jugendlichen<br />

haben sich ungefähr 195 dafür ausgesprochen,<br />

dieses Buch ganz normal zugänglich<br />

zu machen und in den Schulen<br />

kritisch zu behandeln.<br />

Stellen Sie sich vor, „Mein Kampf“ würde<br />

vom 1. Januar 2016 an zu einem Bestseller<br />

im deutschen Buchhandel. Das wäre<br />

doch eine ziemliche Katastrophe schon<br />

allein für das Ansehen der Bundesrepublik<br />

im Ausland.<br />

Nein, das wäre weder eine Katastrophe,<br />

noch ließe es Rückschlüsse auf den<br />

politischen Zustand der Bundesrepublik<br />

Deutschland zu. Es wäre vielmehr eine<br />

ganz natürliche Reaktion auf 70 Jahre<br />

Wegschließpolitik.<br />

Und wenn etwa die israelische Regierung<br />

darum bitten würde, „Mein Kampf“ in<br />

Deutschland nicht zu veröffentlichen?<br />

Könnten wir uns dieser Bitte widersetzen?<br />

Wenn ich nicht falsch informiert bin,<br />

können Sie „Mein Kampf“ in Israel sogar<br />

auf Hebräisch kaufen. Aber selbst wenn<br />

nicht: Kein Staat der Erde hat das Recht,<br />

den Bürgern eines anderen demokratischen<br />

Staates vorzuschreiben, was diese<br />

lesen dürfen und was nicht. Auch Israel<br />

nicht.<br />

Das Gespräch führte Alexander Marguier<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 31<br />

Prof. Dr. Wilhelm<br />

Vossenkuhl<br />

war emeritierter Ordinarius<br />

für Philosophie an<br />

der Ludwig-Maximilians-<br />

Universität in München.<br />

724 Seiten<br />

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Prof. Dr. Harald Lesch ist<br />

Professor für Theoretische<br />

Astrophysik am Institut<br />

für Astronomie an der<br />

Ludwig-Maximilians-<br />

Universität und Professor<br />

für Naturphilosophie an<br />

der Hochschule für Philosophien<br />

in München<br />

sowie Moderator der<br />

ZDF-Reihe „Abenteuer<br />

Forschung“.<br />

www.der-wissens-verlag.de<br />

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Kostenlose Katalog: Tel.: 089/6492277


T i t e l<br />

Das versiegelte Buch<br />

In der Schule war uns Hitler nur pädagogisch aufbereitet begegnet. Irgendwann haben<br />

wir weggehört. Über Churchills Memoiren kam das Interesse zurück – und damit die Frage<br />

auf: Warum darf man Hitler nicht lesen? Eine Rundreise zu Leuten, die diese Frage angeht<br />

Von Christoph Schwennicke<br />

W<br />

eihnachten vor einem Jahr<br />

stand ein kleiner Zweispalter<br />

im Guardian. In einer<br />

Filiale der Buchladenkette<br />

Waterstone im englischen<br />

Huddersfield hatte ein Mitarbeiter <strong>Hitlers</strong><br />

„Mein Kampf“ als „ideales Geschenk“ fürs<br />

Fest empfohlen. Die Kette entschuldigte<br />

sich für diese Geschmacklosigkeit.<br />

Mich ließ die Erklärung des Unglücksraben<br />

nicht los. Er hatte das Buch eine<br />

„Pflichtlektüre“ für alle genannt, „die eine<br />

der abscheulichsten Figuren der Weltgeschichte<br />

zu begreifen versuchen“. Eine<br />

schockierende Lektüre „und eine Warnung<br />

an alle kommenden Generationen“.<br />

Ist da nicht was dran? Ist es nicht relevant<br />

zu wissen, aus welcher geistigen Quelle<br />

sich die deutsche Katastrophe speiste?<br />

In Deutschland konnte das Buch in<br />

den vergangenen Jahrzehnten gar nicht<br />

erst in den Handel kommen. Weil Hitler<br />

zuletzt in München gemeldet war, hält<br />

der Freistaat Bayern das Urheberrecht bis<br />

zum 1. Januar 2016. Er verhindert, dass<br />

das Buch nachgedruckt wird. Es ist luftdicht<br />

verpackt, versiegelt.<br />

Wo keine Luft drankommt, da gärt es.<br />

Der Inhalt wird nicht mehr gekannt, man<br />

kann ihn ja nicht untersuchen. Stattdessen<br />

Mit den Mitteln der Kunst: Die Französin<br />

Linda Ellia bat 600 Menschen aus<br />

17 Ländern, eine Seite aus der französischen<br />

Fassung von <strong>Hitlers</strong> Hetzschrift „Mein<br />

Kampf“ künstlerisch zu verfremden<br />

und sie so zu „Unserem Kampf“ zu<br />

machen. Die Ausstellung „Notre Combat“<br />

war zuletzt in Nürnberg zu sehen<br />

wird er mystifiziert. Und die Frage kommt<br />

auf, was denn wohl passiert, wenn eines<br />

Tages die Verpackung aufbricht. Manche<br />

wollen den Inhalt gleich neu verpacken.<br />

Sicherheitshalber. Man weiß ja nicht, was<br />

passieren könnte.<br />

Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit.<br />

Endlich Luft dran zu lassen.<br />

Kann es sein, dass wir das schon längst<br />

hätten tun sollen? Dass seit Jahren ein Fehler<br />

gemacht wurde?<br />

1. Die Prägung<br />

In der Schule begegnete mir Hitler immer<br />

pädagogisch aufbereitet. Das aber sehr oft.<br />

Unser Geschichtsunterricht, das war in den<br />

Achtzigern, bestand grob gesagt aus drei<br />

Blöcken: der Steinzeit, dem Mittelalter und<br />

der Nazizeit.<br />

Bei der Nazizeit sagten die Geschichtslehrer<br />

stets dazu, dass Deutschland Verantwortung<br />

auf ewig trage: kein Verbrechen<br />

der Weltgeschichte vergleichbar, sechs<br />

Millionen ermordete Juden, ein Weltkrieg<br />

vom Zaun gebrochen, einen Kontinent in<br />

Schutt gelegt, eine junge Demokratie zerstört.<br />

Im Zentrum: Adolf Hitler.<br />

Es ist nicht einfach, das zuzugeben,<br />

aber es war so: Irgendwann konnten<br />

wir die Lektion nicht mehr hören. Wir<br />

32 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Fotos: Linda Ellia<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 33


T i t e l<br />

34 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Fotos: Linda Ellia<br />

immunisierten uns gegen den Unterricht<br />

einer Generation von Lehrern, die gerade<br />

erfolgreich und zu Recht ihrer Vorgängergeneration<br />

vorgehalten hatten, die Nazizeit<br />

nicht aufgearbeitet zu haben.<br />

Dieses Immunisieren ging weit. Bei einem<br />

Besuch in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers<br />

Buchenwald musste uns<br />

unser Lehrer die Kopfhörer der ersten<br />

Walkmen von den Ohren reißen.<br />

Wir mochten diesen Lehrer. Wir hatten<br />

ihn nicht in Geschichte, sondern in<br />

Deutsch. Ein Lehrer aus Leidenschaft, der<br />

uns mit seinem Elan antrieb. Er war für<br />

uns gerade deshalb eine Autorität, weil er<br />

nicht autoritär auftrat. Nie vorher und nie<br />

nachher habe ich ihn so wütend gesehen<br />

wie in diesem Moment auf dem Gelände<br />

von Buchenwald.<br />

Ich habe mich damals geschämt. Wie<br />

benommen saß ich nach der Standpauke<br />

auf einer Mauer, und es pochte in den Ohren.<br />

Ich schäme mich bis heute.<br />

Die sture Ignoranz der Vätergeneration<br />

und die geschichtslose Ignoranz der<br />

Schülergeneration brachten die 68er-Lehrer<br />

im Prinzip dazu, das Richtige zu tun:<br />

Sie ließen nicht locker. Den einen gegenüber<br />

ebenso wenig wie den anderen. Aber<br />

diese Art von Pädagogik hatte einen Nachteil.<br />

Sie tabuisierte, sie verstellte einen direkten<br />

Blick auf die Sache: Wer war dieser<br />

Mann? Wie konnten ihm so viele erliegen?<br />

Und: Ist es gut, wenn man Hitler nur als<br />

Phänomen und nicht als Person betrachten<br />

kann, zum Beispiel in seiner Autobiografie?<br />

2. Zurück zum Lehrer<br />

Der Kontakt zu diesem Lehrer ist nie abgerissen,<br />

und aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis<br />

ist über die Jahre ein freundschaftliches<br />

geworden.<br />

Er sagt, natürlich wäre es besser gewesen,<br />

„Mein Kampf“ längst freizugeben<br />

in Deutschland. Allein schon, damit alle<br />

hätten erkennen können, wie unlesbar das<br />

Buch im Grunde ist.<br />

Er ist Deutsch- und Geschichtslehrer,<br />

immer noch mit Leidenschaft. Gerade hat<br />

er seine Schüler begeistert für ein gemeinsames<br />

Projekt mit Schülern der tschechischen<br />

Stadt Iglau, zwischen Brünn und Prag gelegen.<br />

Die Schüler arbeiten grenzübergreifend<br />

an einem großen Buch zu dieser Stadt.<br />

Sie war vor 1945 vorwiegend von Deutschen<br />

bewohnt, in Iglau brachen sich nationalistische<br />

Aggressionen Bahn. „Hitler<br />

und seine Nazis nützten diese Spannungen<br />

für ihre völkerverachtenden Pläne: Statt ihr<br />

Schicksal selbst zu bestimmen, wurden die<br />

Iglauer letztlich von Tätern zu Opfern des<br />

nationalsozialistischen Herrschaftswahns“,<br />

heißt es in der Ankündigung des Buches.<br />

Er sagt, es erfordere immer noch sehr<br />

viel Fingerspitzengefühl, in dieser Angelegenheit<br />

zu recherchieren.<br />

Von „Mein Kampf“ habe er einmal zwei<br />

Ausgaben im Bücherschrank gehabt. Eine<br />

einbändige und eine zweibändige, die sein<br />

Schwiegervater seinerzeit von der Bäckerinnung<br />

zu irgendeinem Anlass bekam.<br />

Eine der beiden Ausgaben fehlt inzwischen.<br />

Eine Schülerin hatte meinen Lehrer<br />

vor Jahren einmal danach gefragt und<br />

sie wohl vergessen zurückzugeben. Ein<br />

schlechtes Gefühl stellt sich ein, als er das<br />

sagt: Ich hätte einfach nach dem Buch fragen<br />

können. Damals habe ich mich nicht<br />

getraut. Oder ich war zu gleichgültig.<br />

3. Churchill und Hanfstaengl<br />

Das Interesse an weiterer Beschäftigung<br />

mit der Nazizeit und Hitler war nach der<br />

Schulzeit für einige Zeit erloschen. Aber<br />

es wurde vor Jahren wieder geweckt, auf<br />

Seite 83 des ersten Bandes von Winston<br />

Churchills Memoiren. Der britische Premier<br />

beschreibt dort, wie er im Sommer<br />

1932 im Münchner Hotel Regina auf einen<br />

„Gentleman“ traf, eloquent und klug. Der<br />

Mann stellte sich als ein Herr Hanfstaengl<br />

vor, sprach in den wärmsten Worten von<br />

Hitler und versuchte, Churchill während<br />

des Abendessens in brillantem Englisch zu<br />

einem Treffen mit Hitler zu überreden.<br />

Er habe zu dieser Zeit keine Vorurteile<br />

gegen Hitler gehabt, notiert Churchill in<br />

seinen Memoiren, im Gegenteil: Er bewundere<br />

Männer, die in schlechten Zeiten<br />

für ihr Land einstünden – auch wenn<br />

er selbst auf der anderen Seite stehe.<br />

Hitler bewundern? Churchill, <strong>Hitlers</strong><br />

erbitterter Kriegsgegner, bewunderte einen<br />

Massenmörder? Es geht so weiter. Auf<br />

Seite 260 schreibt Churchill über <strong>Hitlers</strong><br />

„Genius“, der ihn beim Überfall auf Österreich<br />

von falschen Ratschlägen seiner<br />

Generäle abhielt. <strong>Hitlers</strong> Genius? Churchill<br />

bescheinigt dem geisteskranken Hitler<br />

Geisteskraft?<br />

Von Churchill weiter zu Ernst Hanfstaengls<br />

Memoiren. Der Mann war Auslandspressechef<br />

der NSDAP. Sicher<br />

keine glasklare Quelle, aus der nur<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 35


T i t e l<br />

Die Rechtslage<br />

Volksverhetzung als Hebel?<br />

Das Urheberrecht verhindert zurzeit das Erscheinen<br />

von „Mein Kampf“. Weil die Frist abläuft, setzen<br />

Gegner einer Veröffentlichung nun aufs Strafrecht<br />

Bayern geht gegen jede Person vor, die<br />

<strong>Hitlers</strong> „Mein Kampf“ veröffentlichen<br />

will. Der bayerische Finanzminister<br />

hält nämlich seit Kriegsende das<br />

Urheberrecht an diesem Werk. Das<br />

erlischt nach 70 Jahren. Nach dem<br />

31. Dezember 2015<br />

kann theoretisch jeder<br />

„Mein Kampf“ veröffentlichen<br />

– jedenfalls<br />

aus zivilrechtlicher<br />

Sicht.<br />

„Mein Kampf“ hat<br />

aber auch eine strafrechtliche<br />

Relevanz.<br />

1979 hat der Bundesgerichtshof<br />

sich erstmalig<br />

dezidiert zu diesem<br />

Buch geäußert. Es<br />

sei kein Propagandamittel,<br />

das sich explizit<br />

gegen die Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

richte, entschieden die<br />

Richter. Der Besitz und die Verbreitung<br />

von Originalausgaben in Antiquariaten<br />

ist seither straflos.<br />

Kann der Staat aber mit strafrechtlichen<br />

Mitteln verhindern, dass das<br />

Buch heute nachgedruckt wird? Immerhin<br />

stachelt das Werk mit seiner<br />

antisemitischen Hetze unzweifelhaft<br />

zum Hass gegen Teile der Bevölkerung<br />

auf – und so ist in Deutschland<br />

der Tatbestand der Volksverhetzung<br />

definiert.<br />

Es wird darauf ankommen, in welcher<br />

Form „Mein Kampf“ veröffentlicht<br />

wird. Was ist, wenn das Institut<br />

für Zeitgeschichte eine historisch-kritische<br />

Ausgabe publiziert oder wenn<br />

ein Kabarettist öffentlich aus „Mein<br />

Kampf“ rezitiert? Dafür hat der Gesetzgeber<br />

die sogenannte Sozialadäquanzklausel<br />

geschaffen. Hinter dem Begriff<br />

„Sozialadäquanz“ verbirgt sich in diesem<br />

Fall die Fragestellung, ob „Mein<br />

Kampf“ zu publizieren einem gesellschaftlich<br />

anerkannten Zweck dient:<br />

Wissenschaft, Kunst und der Aufklärung<br />

der Bürger. Wenn die Justiz diese<br />

Frage bejaht, entfiele<br />

der Tatbestand der<br />

Volksverhetzung. Der<br />

Verleger könnte das<br />

Werk drucken und verbreiten,<br />

der Künstler<br />

dürfte rezitieren,<br />

und beide müssten<br />

nicht fürchten, Post<br />

vom Staatsanwalt zu<br />

erhalten.<br />

Darf man von<br />

2016 an „Mein<br />

Kampf“ auch unkommentiert<br />

publizieren<br />

– etwa ohne Vorwort<br />

und historische<br />

Einordnung? Hier<br />

ist die Bewertung schon schwieriger.<br />

Der Strafrichter am Landgericht Oldenburg,<br />

Dirk Rahe, hat zur Sozialadäquanzklausel<br />

und ihrer Bedeutung<br />

für das Strafrecht promoviert. Er<br />

meint, die Klausel sei eigentlich nur<br />

ein Appell an die Strafverfolgungsbehörden,<br />

schon von vornherein auf<br />

ein Ermittlungsverfahren zu verzichten,<br />

wenn beispielsweise ein Verlag<br />

sich kritisch und äußerlich für jeden<br />

erkennbar mit indizierten Werken<br />

auseinandersetze. Bedenklich werde<br />

es, wenn nicht erkennbar sei, welche<br />

Ziele der Verleger mit der Publikation<br />

von „Mein Kampf“ verfolge. Ein<br />

Ermittlungsverfahren sei dann unausweichlich.<br />

Ob so eine Publikation<br />

letztlich strafbar ist, werden aber wohl<br />

die Gerichte entscheiden müssen.<br />

Daniel Martienssen<br />

Wahrheitswasser sprudelt. Und doch lesenswert,<br />

wie Hanfstaengl, bis zu seinem<br />

Bruch mit Hitler dessen Pressemann, persönlicher<br />

Pianospieler und Hofintellektueller,<br />

den deformierten und in vielerlei Hinsicht<br />

erbärmlichen Menschen hinter der<br />

Fassade des Diktators kenntlich machte.<br />

„Hatte ich anfangs seine offensichtliche<br />

Verliebtheit in meine Frau mit Indifferenz<br />

oder Nonchalance beobachtet, so kam ich<br />

bald zu der Einsicht, dass seine dauernden<br />

Blumengeschenke, Handküsse und verzehrenden<br />

Blicke allein in seiner außergewöhnlichen<br />

Fähigkeit zur Selbstdarstellung<br />

zu suchen seien. Mit dem eigenen Talent,<br />

sich und andere bis zur Glaubwürdigkeit<br />

betören zu können, lebt er sich auch in<br />

diese Rolle des leidenschaftlichen Liebhabers<br />

hinein, ohne sie jedoch, wie ich zu behaupten<br />

wage, bis zur Vereinigung mit dem<br />

weiblichen Partner steigern zu können.“<br />

Hanfstaengl hielt Hitler für impotent.<br />

Aber in dieser scharfen Beobachtung und<br />

Analyse des Schauspiels vom leidenschaftlichen<br />

Frauenverführer, der sich in Rollen<br />

hineinzuleben vermag, liegt auch ein<br />

Erklärungsmuster.<br />

Churchills Memoiren und Hanfstaengls<br />

Erinnerungen sind gewissermaßen Semi-<br />

Primärliteratur über Hitler. Beobachtungen<br />

und Einschätzungen von Zeitzeugen.<br />

Die Primärquelle „Mein Kampf“ aber ist<br />

offiziell weiter unter Verschluss. Warum?<br />

4. Der Mann mit dem Schlüssel<br />

Das bayerische Finanzministerium am<br />

Odeonsplatz in München liegt nur zwei<br />

U‐Bahnstationen entfernt vom Prinzregentenplatz<br />

16. Ein schönes Eckhaus mit weißgelber<br />

Fassade und Erkern und Balkonen.<br />

Sitz der Polizeiinspektion 22. Bis zu seinem<br />

Tod im April 1945 war in diesem Gebäude<br />

Adolf Hitler polizeilich gemeldet.<br />

Deshalb ist der Freistaat Bayern gewissermaßen<br />

Erbe <strong>Hitlers</strong>, ihm gehören die<br />

Urheberrechte an dessen Buch. 70 Jahre<br />

lang. Und als Finanzminister ist Markus<br />

Söder der Rechteverwalter, der Mann mit<br />

dem Schlüssel.<br />

Als der britische Verleger Peter McGee<br />

im Frühjahr dieses Jahres Auszüge aus<br />

„Mein Kampf“ in Deutschland veröffentlichen<br />

wollte, standen plötzlich Rechtsexperten<br />

des Hauses im Büro des Ministers und<br />

erklärten dem zu dem Zeitpunkt ahnungslosen<br />

Söder, dass das seine Baustelle sei. Am<br />

Urheberrecht hängt bislang in Deutschland<br />

Foto: DDP Images/DAPD<br />

36 <strong>Cicero</strong> 11.2012


das Tabu: <strong>Hitlers</strong> 1924 in dessen Haft in<br />

Landsberg am Lech geschriebene Nazimanifest<br />

darf nicht veröffentlicht werden.<br />

Markus Söder ist 45 Jahre alt. Meine<br />

Generation. Man spricht eine Sprache, hat<br />

einen gemeinsamen Erfahrungshorizont.<br />

Söder sitzt in dem Büro, in dem ihm<br />

seine Beamten vor einem halben Jahr seine<br />

neue Herausforderung erklärten. Wohl<br />

auch das Paradox: Übers Internet oder im<br />

Antiquariat ist „Mein Kampf“ ja erhältlich.<br />

Wird das Buch damit nicht zur Bückware,<br />

die viel reizvoller ist als Tresenware?<br />

Heimlich liest es sich doch viel lustvoller<br />

als offen am Tisch.<br />

Er spricht von einer „Gratwanderung“.<br />

Die Morde des NSU gingen ihm<br />

durch den Kopf, und der Satz eines Demonstranten<br />

im arabischen Raum gegen<br />

die Mohammed-Karikaturen, der sinngemäß<br />

in die Kamera klagte: „Das eine ist<br />

bei euch Meinungsfreiheit und das andere<br />

Antisemitismus.“<br />

Der Satz hallt nach in Söders Kopf. Er<br />

unterschreibt ihn nicht, aber er beschäftigt<br />

ihn.<br />

Verbote kosten etwas. Sie machen eine<br />

freiheitliche Gesellschaft angreifbar.<br />

Der Minister ist groß geworden in einer<br />

Zeit, als die einen „Stoppt Strauß“-Buttons<br />

trugen und er den FJS-Button. Als er als<br />

kleiner Junge einmal zu Hause mit einem<br />

Anstecker von Willy Brandt auftauchte,<br />

gab es vom Vater einen Satz heiße Ohren.<br />

Heute, sagt Söder, lebten wir in einer<br />

unideologischen Gesellschaft. „Eine<br />

Charlotte<br />

Knobloch<br />

will eine<br />

Neuausgabe<br />

der Hetzschrift<br />

verhindern<br />

unideo logische Gesellschaft ist anfälliger<br />

für Extreme.“ Diese Anfälligkeit gebe es<br />

besonders bei jungen Menschen, deshalb<br />

sei eine pädagogisch sinnvolle Aufarbeitung<br />

des Buches gerade für die Schulen so<br />

wichtig. „Wir müssen uns über das Buch<br />

auseinandersetzen. Es muss entmystifiziert<br />

werden.“ Die Gesellschaft habe sich verändert,<br />

der kulturelle Umgang mit Hitler<br />

habe sich verändert. „Allein der Film ‚Der<br />

Untergang‘ …“, denkt Söder laut.<br />

Der Eindruck ist eindeutig. Er denkt<br />

im Grunde genauso. Er sieht das mit der<br />

Bückware auch. Seine politische Funktion<br />

zwingt ihn zu vorsichtigeren Formulierungen.<br />

Aber es treibt ihn um, und es ärgert<br />

ihn, dass andere tun, als ginge sie das alles<br />

nichts an. „Beim Thema ‚Mein Kampf‘ soll<br />

sich auch der Bund äußern und einbringen.<br />

Aber bislang ist da nichts passiert.“ Es sei<br />

„ein historischer Zufall, dass das Urheberrecht<br />

dazu in Bayern liegt. Aber das kann<br />

kein Grund für Berlin sein, sich bei diesem<br />

Thema zu enthalten.“<br />

Israel, sagt Söder beim Abschied noch,<br />

mache Druck. Aber das werde Frau Knobloch<br />

sicher ausführen können.<br />

5. Das Nein<br />

Besuch bei Charlotte Knobloch, der Präsidentin<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

München und Oberbayern. An der Pforte<br />

stehen drei ernst dreinblickende Männer,<br />

zum Teil in Uniform. Termin mit Frau<br />

Knobloch? Einen Moment bitte. Dann<br />

Schleuse, Taschendurchsuchung, den Ausweis<br />

bitte. Ein Zivilist, freundlich, aber<br />

wortkarg, begleitet mich in den vierten<br />

Stock, im Flur zwei bewaffnete Bodyguards.<br />

Charlotte Knobloch saß mit am runden<br />

Tisch in Nürnberg, den Söder nach der<br />

McGee-Sache einberufen hatte. Sie hatte<br />

sich dort damit einverstanden erklärt, dass<br />

der Freistaat eine wissenschaftlich-kritische<br />

Ausgabe in Auftrag gibt.<br />

Es muss etwas passiert sein in der Zwischenzeit.<br />

Denn jetzt sagt sie: „Betrachten<br />

Sie alles, was ich bisher dazu gesagt habe,<br />

als obsolet. Es muss rechtlich geprüft werden,<br />

ob es möglich ist, die Veröffentlichung<br />

über den Straftatbestand der Volksverhetzung<br />

zu verhindern. Ich werde da sicher<br />

nicht lockerlassen.“<br />

Knobloch war vor einigen Wochen in<br />

Israel, zusammen mit Bayerns Ministerpräsident<br />

Horst Seehofer, eine mehrtägige<br />

Reise, hochrangige Gesprächspartner.<br />

Bei allen Terminen hatte sich die Delegation<br />

aus Bayern auf Kritik am Beschneidungsurteil<br />

vorbereitet. Aber es<br />

kam nicht so. Beschneidung? Eure Sache!,<br />

signalisierten die Gastgeber. Aber „Mein<br />

Kampf“ demnächst in deutschen Buchläden?<br />

Niemals!<br />

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Anatomie des totalitären Denkens<br />

Kommunistische und nationalsozialistische<br />

Weltanschauung im Vergleich<br />

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Warum konnten zwei inhaltlich<br />

so unterschiedliche Ideensysteme<br />

wie das nationalsozialistische und<br />

das marxistische als Herrschaftsideologien<br />

totalitärer Diktaturen<br />

fungieren? Wie konnten sie sich<br />

als tauglich erwiesen, Menschen<br />

zu begeistern, Überzeugte zu<br />

opferträchtigen Handlungen zu<br />

inspirieren und entsprechende<br />

Vorgehensweisen (scheinbar)<br />

moralisch zu rechtfertigen?<br />

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Wie politisch sind die »Piraten« wirklich?<br />

Die Autorin hat diese von Beginn<br />

an intensiv beobachtet und begleitet.<br />

Mit ihrer fundierten Analyse geht sie<br />

dem Hype um die Bewegung auf den<br />

Grund und wagt eine Prognose, wohin<br />

der Kurs die Partei und Deutschland<br />

führt.<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 37<br />

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T i t e l<br />

Fotos: Linda Ellia, Andrej Dallmann (Autor)<br />

In Israel kam die Idee mit der Volksverhetzung<br />

auf, und heute ärgert sich Charlotte<br />

Knobloch, dass sie darauf nicht selbst<br />

gekommen ist.<br />

Charlotte Knobloch wird oft als etwas<br />

herb und schwierig im Umgang dargestellt.<br />

Das ist bei dieser Begegnung gar nicht so.<br />

Sie ist eine zugewandte Gastgeberin und<br />

hat einen warmen, mütterlichen Blick.<br />

Umso schwerer fällt es, ihr diese Frage<br />

zu stellen. Ob es nicht vielleicht besser<br />

sein könne, dem Buch den Reiz des Verbotenen,<br />

des Unzugänglichen zu nehmen?<br />

Es stimme ja gar nicht, dass das Buch<br />

nicht zugänglich sei, sagt sie. Jeder, der<br />

wolle, könne es leider lesen. „Aber man<br />

sollte eine unselige Gedenk- und Erinnerungskultur<br />

nicht mit einer offiziellen<br />

Ausgabe fördern.“<br />

Bleibt die Frage, die noch schwerer fällt.<br />

Frau Knobloch ist 79 Jahre alt. Ihre Großmutter,<br />

bei der sie aufwuchs, ist 1944 im<br />

KZ Theresienstadt ermordet worden. Sie<br />

selbst entging dem Holocaust knapp. Ihr<br />

Mann überlebte das KZ in Krakau.<br />

Haben Sie das Buch gelesen, Frau<br />

Knobloch?<br />

„Nein!“ Pause. Ein Blick in die Augen<br />

des Gegenübers. „Das kann ich nicht! Das<br />

werde ich nie können!“<br />

Dieser Blick bleibt.<br />

6. Das Buch<br />

Ich habe „Mein Kampf“ in den Tagen danach<br />

etwa zur Hälfte gelesen. Oft wird gesagt,<br />

es sei langweilig und unlesbar. Das<br />

stimmt nicht. Die Schilderungen seiner<br />

Kindheit sind peinlich, schwülstig und<br />

kitschig, die Beschönigungen seines Scheiterns<br />

in der Schule und an der Kunstakademie<br />

erbärmlich, seine Grundsatzaussagen<br />

über Gewerkschaften, Juden, Sozialdemokraten<br />

und Marxismus aufgrund ein paar<br />

zufälliger Eindrücke in Wien wirr, seine<br />

„Rassenlehre“ von Storch und Meise und<br />

Arier und Jude hirnrissig.<br />

Und doch gibt das Buch Ansatzpunkte<br />

zu einem Verstehen.<br />

7. Unser Kampf<br />

Als die französische Künstlerin Linda Ellia<br />

<strong>Hitlers</strong> Werk „Mein Kampf“ das erste<br />

Mal in die Hände bekam, „brannten meine<br />

Finger“, schreibt sie auf ihrer Homepage<br />

notrecombat.com. Der Jüdin war zumute,<br />

als halte sie Hitler in den Händen und die<br />

ganze Schwere des Holocaust. Sie hatte das<br />

Bedürfnis, dieses Buch mit anderen zu teilen.<br />

Eines Abends kam sie auf die Idee, das<br />

mit dem Teilen wörtlich zu nehmen. Sie<br />

löste Seite für Seite aus dem Buch und ließ<br />

diese etwa 600 Seiten von 600 mehr oder<br />

weniger zufällig ausgewählten Menschen<br />

aus 17 Ländern gestalten.<br />

Jeder sollte seine Gefühle auf dieser einen<br />

Seite darstellen, die diese Seite beim<br />

Lesen auslöst. 600 für sechs Millionen.<br />

„So machen wir ‚Mein Kampf‘ zu ‚Unserem<br />

Kampf‘“, sagt sie.<br />

Linda Ellia hat recht. „Mein Kampf“<br />

muss „Unser Kampf“ werden. Auch in<br />

Deutschland. Eine offene Auseinandersetzung<br />

täte gut.<br />

Die Verpackung muss geöffnet werden.<br />

Damit Luft an dieses Buch kommt.<br />

Christoph Schwennicke<br />

ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

38 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Von der Hanse bis<br />

in den Orient<br />

Begeben Sie sich mit umfangreichem Kartenmaterial,<br />

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auf die Spuren des Handels<br />

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Philip Parker<br />

Legendäre<br />

Handelsrouten<br />

Von Karawanen<br />

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www.nationalgeographic.de<br />

NEU


T i t e l<br />

„Man hätte es viel<br />

früher erlauben sollen“<br />

Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, über die kritische Edition<br />

von „Mein Kampf“, seine erste Lektüre und eine klaffende Lücke in der Hitler-Forschung<br />

H<br />

err Wirsching, wann haben Sie<br />

zum ersten Mal „Mein Kampf“<br />

gelesen?<br />

Während meines Studiums. Es war pure<br />

Neugier. Ich wollte wissen, was da denn<br />

nun wirklich drinsteht. Ich habe damals<br />

reingeschaut, es aber nicht komplett<br />

durchgelesen. Intensiver habe ich mich<br />

damit beschäftigt, als ich an meiner Habilitationsschrift<br />

saß. Es ging darin unter<br />

anderem um die Frühzeit des Nationalsozialismus,<br />

und da ist „Mein Kampf“ natürlich<br />

eine zentrale Quelle.<br />

Haben Sie beim ersten Lesen ein Gefühl<br />

des Verbotenen verspürt?<br />

Ich habe nie irgendeinen „Thrill“ oder<br />

ein Gefühl des Verbotenen empfunden.<br />

Das Buch konnte ich in der Unibibliothek<br />

einsehen. Später habe ich mir<br />

ein Exemplar angeschafft, das ging im<br />

Antiquariat. Ich musste nur mitteilen,<br />

dass ich es für wissenschaftliche Zwecke<br />

brauche.<br />

Wie würden Sie dieses Buch in wenigen<br />

Attributen beschreiben?<br />

Einmal ist es eine von Hitler selbst drastisch<br />

stilisierte Biografie. Dann ist „Mein<br />

Kampf“ auch das Dokument einer spezifischen,<br />

verbrecherisch pervertierten<br />

Rationalität – beruhend auf den völkisch-nationalistischen<br />

und rassistischen<br />

Traditionen. Aus wissenschaftlicher Sicht<br />

ist das ein wichtiger Untersuchungsgegenstand,<br />

weil sich hier <strong>Hitlers</strong> Programmatik<br />

zeigt.<br />

„Der 1. Januar 2016 wirkt wie ein Damoklesschwert“: Andreas Wirsching, 53, leitet das<br />

Institut, das im Auftrag Bayerns an der wissenschaftlichen Edition von <strong>Hitlers</strong> Autobiografie<br />

arbeitet. „Die Luft könnte längst raus sein“, findet der renommierte Historiker<br />

Halten Sie es für richtig, dass man das<br />

Buch in Deutschland bisher nicht im<br />

Laden kaufen kann?<br />

Zumindest eine kritisch kommentierte<br />

Edition hätte man schon sehr viel früher<br />

erlauben sollen. Das Institut für Zeitgeschichte<br />

hat ja bereits in den neunziger<br />

Jahren die Bände „Hitler. Reden,<br />

Schriften, Anordnungen“ herausgegeben.<br />

Auch <strong>Hitlers</strong> sogenanntes „Zweites Buch“<br />

wurde damals neu ediert. Der Versuch,<br />

„Mein Kampf“ in die Edition mit einzubeziehen,<br />

blieb aber vergeblich.<br />

Warum ist es nicht passiert?<br />

Der Freistaat Bayern als Inhaber der<br />

Urheberrechte hat es aufgrund politischer<br />

Bedenken nicht gestattet, und<br />

so klafft hier eine Lücke. Hätte man<br />

„Mein Kampf“ damals schon herausgegeben,<br />

wäre die Luft aus dem Thema sehr<br />

schnell raus gewesen. Das ist jetzt nicht<br />

mehr so leicht. Denn nun steht das Auslaufen<br />

des Urheberrechts im Raume: Der<br />

1. Januar 2016 wirkt gewissermaßen wie<br />

ein Damoklesschwert.<br />

Könnten Sie mit einer historisch-kritischen<br />

Ausgabe von „Mein Kampf“ schon<br />

vor diesem Datum herauskommen?<br />

Foto: Christian O. Bruch/Laif<br />

40 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Anzeige<br />

Bis vor einem halben Jahr hätte ich gesagt:<br />

Es ist unmöglich, das bis 2016 überhaupt<br />

zu machen. Das Projekt ist sehr<br />

aufwendig, weil ja ein wissenschaftlicher<br />

Gewinn herauskommen soll: Der Text<br />

des Buches muss gleichsam durchgeknetet<br />

und auf Traditionslinien und Quellen<br />

hin untersucht werden. Das kostet<br />

Zeit und Personal. Nachdem der Freistaat<br />

Bayern nun aber die Arbeit adäquat<br />

fördert, werden wir es, wie ich hoffe, bis<br />

Ende 2015 schaffen. Vorher jedoch nicht.<br />

Haben Sie Anzeichen dafür, dass es ein<br />

Umdenken in der bayerischen Regierung<br />

geben könnte – und die Veröffentlichung<br />

von „Mein Kampf“ auch über 2016 hinaus<br />

unterbunden werden soll?<br />

Alle rechtlichen Überlegungen, die mir<br />

bekannt sind, schließen eine solche Möglichkeit<br />

aus. Das Projekt einer wissenschaftlichen<br />

Edition wurde mit den jüdischen<br />

Vertretern abgestimmt. Ich würde<br />

mich daher wundern, wenn das jetzt<br />

noch gekippt würde. Wichtig ist, dass wir<br />

eine sachliche Diskussion führen. Und<br />

dass ab 2016 ein Referenzwerk vorliegt.<br />

Ziel muss sein, dass „Mein Kampf“ in<br />

gedruckter Form nur mit aufklärendem<br />

Kommentar zu haben ist – anders als in<br />

irgendwelchen Internetquellen.<br />

Aber ab 2016 können andere das Original<br />

auch herausbringen.<br />

Das stimmt. Aber die Frage ist, ob das<br />

dann noch so spannend ist, wenn wir<br />

schon fertig sind. Macht man gar nichts,<br />

steigt die Gefahr dagegen deutlich.<br />

Worin besteht die Gefahr überhaupt?<br />

Man kann das mit dem Obersalzberg vergleichen,<br />

<strong>Hitlers</strong> zweitem Regierungssitz<br />

bei Berchtesgaden. Der Obersalzberg<br />

war prädestiniert dafür, ein Wallfahrtsort<br />

für Neonazis zu werden. Damals hat der<br />

Freistaat Bayern die richtige Entscheidung<br />

getroffen, dass das Institut für Zeitgeschichte<br />

eine Dokumentation erarbeitet.<br />

Dort haben wir jetzt einen Lern- und<br />

Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus.<br />

Das hat die Sache unter<br />

Kontrolle gehalten. Es ist wichtig, bei<br />

„Mein Kampf“ einen ähnlichen Weg zu<br />

gehen.<br />

Das Gespräch führte Christoph Schwennicke


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Unerschrocken spröde<br />

Wie macht sich Anke Spoorendonk, erste Dänen-Ministerin in Kiel? Treffen mit einer Omegapolitikerin<br />

von Katrin Wilkens<br />

W<br />

ENN Manager, Politiker oder Neumitglieder<br />

eines Lion Clubs auf<br />

die Frage „Was lesen Sie gerade?“<br />

antworten: „die jüngste Kennedy-Biografie“,<br />

so tun sie das aus einem mit Fantasielosigkeit<br />

gemischten Arbeitseifer. Mit<br />

Kennedy kann man nichts falsch machen.<br />

Der zeigt die perfekte Symbiose aus Macht<br />

und Schönheit. Das Ideal des Frauenhelden<br />

und Weltverbesserers, von dem man<br />

nur lernen kann.<br />

Mehr lernt man jedoch von den anderen.<br />

Von denen, die weder ästhetisch auftrumpfen<br />

noch rhetorisch. Die emsig und<br />

konsensorientiert sind. Nicht die Alphabullen<br />

einer Herde, sondern die Omegarinder.<br />

Die, die den Vertrag zustande bringen,<br />

nicht die, die ihn präsentieren. Das<br />

sind Menschen wie Anke Spoorendonk,<br />

Omegapolitikerin.<br />

Spoorendonk amtiert seit Juni dieses<br />

Jahres in Schleswig-Holstein als Ministerin<br />

für Justiz, Europa und Kultur. Sie garantiert<br />

der Regierung von Ministerpräsident<br />

Torsten Albig die Ein-Stimmen-Mehrheit.<br />

Und, wenn es so etwas gäbe, wäre sie auch<br />

noch Ministerin für Minderheiten, Ungerechtigkeit<br />

und Underdogs, denn Spoorendonk<br />

ist die erste Ministerin, seit sich<br />

der SSW, der Südschleswigsche Wählerverband,<br />

1948 gegründet hat.<br />

Im Büro hat Anke Spoorendonk lauter<br />

Bilder ihrer Kinder und Enkelkinder und<br />

einen Schreibtisch, von dem sie selbst sagt,<br />

er sei zu groß, den sie aber in über vier Monaten<br />

nicht losgeworden ist. Sie ist so ziemlich<br />

das Gegenteil einer PR-Politikerin.<br />

Keine von denen, die eine geschmeidige<br />

Verve besitzen, kein Claudia-Roth-Auftritt,<br />

kein Silvana-Koch-Mehrin-Aussehen.<br />

Spoorendonk ist spröde bis zur Unerschrockenheit.<br />

Kanariengelbe Blusen unter<br />

gerafften Lederwesten-Ensembles, kein<br />

Haarschnitt, sondern Fasson, eine Brille,<br />

die man guten Gewissens als geschmacksfrei<br />

bezeichnen darf – solche Frauen sind<br />

auf Kirchentagen gefürchtet, sie haben<br />

immer eine Regenhaut in der Handtasche<br />

und singen „Geh aus mein Herz“ ein bisschen<br />

zu laut. Und doch machen Menschen<br />

wie sie die Politik, die Roths und Koch-<br />

Mehrins repräsentieren sie nur.<br />

Spoorendonk ist das Gegenteil vom eleganten,<br />

kosmopolitischen Kennedy: regional<br />

verwurzelt – sie spricht deutsch, dänisch<br />

und platt – und mit der Haptik einer<br />

Heide Simonis oder Regine Hildebrandt.<br />

Politik machen solche Frauen mit Sachthemen,<br />

nicht mit einer Föhnwelle.<br />

Der SSW ist als Regionalpartei in<br />

der bundesdeutschen Parteienlandschaft<br />

ebenso einmalig wie rührend: Als einzige<br />

Partei Deutschlands darf sie auch dann in<br />

den Landtag, wenn sie weniger als 5 Prozent<br />

der Wählerstimmen hat. Der SSW ist<br />

so eine Art unverheiratete Patentante, die<br />

nie ganz ernst genommen wird, aber weil<br />

sie schon immer Weihnachten dabei war,<br />

wird sie auch dieses Jahr eingeladen. Wenn<br />

Vater und Mutter über die Geschenke streiten,<br />

ist sie nicht mehr nur die, die geduldet<br />

wird, sondern auch die, die schlichtet.<br />

Die Oberstreitschlichterin des SSW ist<br />

seit 2009 Anke Spoorendonk. Gemäß ihrer<br />

Patentantenfunktion will sie nicht nur<br />

Repräsentantin der dänischen Minderheit<br />

in Schleswig-Holstein sein, sondern auch<br />

noch das dänische Prinzip in die Politik<br />

bringen.<br />

Im dänischen Parlament sei es unüblich,<br />

dass geklatscht oder gar gepöbelt werde, erzählt<br />

sie, Dialogbereitschaft sei dort wichtiger<br />

als Rhetorik und Grabenkampf. „Ein<br />

guter Vorschlag ist ein guter Vorschlag“,<br />

sagt sie, „auch wenn er von der Opposition<br />

kommt.“<br />

Man nimmt die Deutsch- und Geschichtslehrerin<br />

in ihr wahr, wenn sie<br />

sich über das Gebaren deutscher Politiker<br />

echauffiert. Über solche, die sich profilieren.<br />

Die sich darstellen, womöglich noch<br />

in Brioni. Genauso gut könnten es Jugendliche<br />

sein, die ihre Malzbierdosen direkt<br />

ins Gebüsch werfen statt in den Müllkorb.<br />

Spoorendonk hat eine Grundschulpädagogen-Autorität,<br />

gespeist aus Überzeugung<br />

und Pragmatismus und einer kirchentagshellen<br />

Birkenholzmoral, die man auch mit<br />

einem Atomkrieg nicht kaputt kriegte, weil<br />

diese humorfreie Vernunft resistent gegen<br />

jeden Wandel ist.<br />

Aufgewachsen ist sie als Einzelkind in<br />

einem Kommunalpolitikerhaushalt kurz<br />

nach dem Schreckensdemagogen Hitler.<br />

Nie wieder Rhetorik, hieß die schämende<br />

Devise damals. Nie wieder Inszenierung,<br />

die 1939 ins Verderben führte.<br />

Spoorendonks Onkel zählte zu den<br />

Gründern der Partei, ihr Vater saß im<br />

Stadtrat. Butterdänen nannte man damals<br />

diejenigen Schleswiger, die sich nach<br />

1945 zu Dänemark bekannten und somit<br />

die von den Dänen produzierten Lebensmittelüberschüsse<br />

bekamen, während die<br />

Ernährungslage deutscher Schleswiger bis<br />

1948 karg war.<br />

Spoorendonk ist eine Zähe, selbst eine<br />

Morddrohung hielt sie 2005 nicht ab, die<br />

Politik zu machen, die sie für richtig hält.<br />

Sie wollte damals eine rot-grüne Landesregierung<br />

unter Heide Simonis dulden, deren<br />

Gegner sie dafür attackierten. Also hieß<br />

es: Zähne zusammenbeißen, Polizeischutz,<br />

weiterarbeiten. Simonis fiel 2005 durch<br />

und ging. Spoorendonk blieb. Sieben Jahre<br />

später ist sie in der Regierung. Dort sitzt sie<br />

nun als Prototyp des dänischen Politikprinzips,<br />

das sich entlang der skandinavischen<br />

Jante-Moral entwickelt hat: Glaube nicht,<br />

dass du etwas Besonderes bist.<br />

Ist sie aber doch.<br />

Katrin Wilkens<br />

ist freie Journalistin in Hamburg<br />

Fotos: Roland Magunia, Simone Scardovelli (Autorin)<br />

42 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Anke Spoorendonk, Kieler Ministerin,<br />

liebt Politik ohne Föhnwelle und<br />

Pöbelei. „Ein guter Vorschlag ist<br />

ein guter Vorschlag, auch wenn er<br />

von der Opposition kommt“<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 43


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Alles bebt, einer bleibt<br />

BKA-Chef Jörg Ziercke überdauerte schon drei Innenminister und denkt nicht daran, in Pension zu gehen<br />

von Hartmut Palmer<br />

V<br />

om sonntagskrimi bekommt er selten<br />

etwas mit. Wenn andere Leute<br />

„Tatort“ oder „Polizeiruf 110“ gucken,<br />

sitzt der oberste Kriminalist der Republik<br />

fast immer im Auto. „Dann ist auf<br />

den Autobahnen wenig Verkehr, und ich<br />

komme gut voran“, sagt Jörg Ziercke. Von<br />

seinem Haus bei Kiel fährt der Präsident<br />

des Bundeskriminalamts aber nicht in die<br />

Zentrale nach Wiesbaden, sondern in die<br />

BKA-Außenstelle nach Berlin. Denn hier,<br />

in der Hauptstadt, wird er zum Wochenbeginn<br />

immer gebraucht.<br />

Immer dienstags steht im Bundeskanzleramt<br />

die „nachrichtendienstliche Lage“<br />

an. In dieser hochkarätigen Runde ist alles<br />

streng geheim. Die Polizei- und Geheimdienstchefs<br />

tauschen hier regelmäßig ihre<br />

Erkenntnisse aus. Ziercke, seit Februar 2004<br />

im Amt, ist der inzwischen Dienstälteste,<br />

umgeben von lauter Neulingen. Hans-Georg<br />

Maaßen zum Beispiel wurde erst am<br />

1. August Präsident des Bundesamts für<br />

Verfassungsschutz, nachdem sein Vorgänger<br />

Heinz Fromm wegen zahlreicher Pannen<br />

und Skandale bei der Aufklärung der<br />

Nazi‐Morde des sogenannten Nationalsozialistischen<br />

Untergrunds entnervt gegangen<br />

war. Ulrich Birkenheier, seit 1. Juli Chef des<br />

Militärischen Abschirmdiensts, ist, kaum<br />

im Amt, ebenfalls unter Druck geraten, als<br />

der Verdacht aufkam, dass der MAD schon<br />

1995 einen der drei mutmaßlichen Mörder<br />

als V-Mann anheuern wollte. Die FDP will<br />

den MAD gleich ganz auflösen.<br />

Bei den Sicherheitsbehörden wackelt<br />

alles wie in einem Erdbebengebiet. Nur<br />

einer ist von den Erschütterungen unberührt:<br />

Ziercke.<br />

Auch er war einmal in den Schlagzeilen<br />

zur NSU, weil er öffentlich darüber<br />

spekuliert hatte, die Ermordung der Polizistin<br />

in Heilbronn sei möglicherweise<br />

eine „Beziehungstat“ gewesen, weil das<br />

Opfer und Unterstützer des mutmaßlichen<br />

Mörders aus demselben Dorf kamen.<br />

„Beziehungstat“ – das Wort löste Entsetzen<br />

aus, weil es im allgemeinen Sprachgebrauch<br />

eine andere Bedeutung hat als im Fachjargon<br />

der Kriminalpolizei. Er habe dem Opfer<br />

keine persönliche oder gar intime Beziehung<br />

zu Mitgliedern der NSU‐Szene<br />

unterstellen wollen, erklärt Ziercke, aber<br />

dass es eine „geografische Beziehung“ gegeben<br />

haben könnte, zwischen dem Ort,<br />

dem Täter und dem Opfer, kann er immer<br />

noch nicht ausschließen.<br />

Der Schock über die Pannen bei der<br />

NSU‐Aufklärung hat etwas bewirkt bei den<br />

Sicherheitsbehörden der Republik. „Dieses<br />

Desaster ist wie ein Weckruf gewesen“,<br />

sagt Ziercke. Es gibt jetzt in Berlin ein „Gemeinsames<br />

Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus<br />

und Rechtsterrorismus.“ Alle<br />

Erkenntnisse, die beim Verfassungsschutz<br />

und bei der Polizei über Nazi‐Umtriebe<br />

anfallen, werden hier ausgewertet. „Hier<br />

kommen jetzt jede Woche Experten aus<br />

39 deutschen Sicherheitsbehörden zusammen<br />

und tauschen ihre Erkenntnisse über<br />

aktuelle rechtsextremistische und rechtsterroristische<br />

Entwicklungen aus. Das hat es<br />

vorher so noch nicht gegeben.“ Der BKA-<br />

Präsident nennt Rechtsterroristen ganz bewusst<br />

„Nazis“, weil sich „die neuen nicht<br />

von den alten Nazis unterscheiden“.<br />

Otto Schily hatte Ziercke 2004 aus<br />

dem Kieler Innenministerium geholt, es<br />

war eine schwierige Zeit für das BKA. Der<br />

neue Präsident sollte Ruhe in die Behörde<br />

bringen. Die Belegschaft meuterte nämlich<br />

gegen den Plan, die Zentrale in Wiesbaden<br />

und die Außenstelle in Meckenheim komplett<br />

nach Berlin zu verlegen.<br />

Der Mann aus Kiel hatte damit kein Problem:<br />

Er baute in aller Stille die Berliner Außenstelle<br />

aus. Als er anfing, arbeiteten dort<br />

fünf Beamte. Heute sind es 1300. In Wiesbaden<br />

sitzen 4000 und etwa 500 noch in<br />

Meckenheim bei Bonn. Der Trend ist eindeutig:<br />

Vor allem die jungen Kriminalbeamten<br />

wollen unbedingt in die Hauptstadt.<br />

Auf Schily folgten die Christdemokraten<br />

Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière.<br />

Mit beiden kam der Sozialdemokrat<br />

gut zurecht. Einmal gab es einen Dissens:<br />

Als de Maizière die Bundespolizei mit dem<br />

BKA zusammenlegen wollte, legte Ziercke<br />

sich quer: „Ich bedaure, Herr Minister. Aber<br />

dieses Konzept kann ich in der Form nicht<br />

mittragen. Es gibt zusätzlichen Prüfbedarf.“<br />

Die Pläne verschwanden. Inzwischen arbeitet<br />

der Alte schon unter dem vierten Minister,<br />

Hans-Peter Friedrich von der CSU hat<br />

nun sogar seine Dienstzeit bis 2014 verlängert,<br />

dann wird Ziercke 67. Der Politiker<br />

schaute sich nach Alternativen um, fand<br />

aber keine. Auch deshalb lobt er Ziercke:<br />

„Der Mann ist erstklassig.“<br />

Wie hat er diese sehr verschiedenen<br />

Dienstherren für sich eingenommen? Vielleicht<br />

vermittelt er ihnen einfach, dass er<br />

die Polizeiarbeit von Grund auf beherrscht.<br />

Polizist wurde Ziercke eigentlich aus<br />

Liebe zu seiner norddeutschen Heimat.<br />

Nach dem Abitur hatte er die Wahl: Entweder<br />

zwei Jahre freiwillig zum Bund oder<br />

für drei Jahre zur Kripo. Er entschied sich<br />

für die Kripo, weil er wusste, dass er dann<br />

nach einem Jahr die Chance haben würde,<br />

an die Polizei-Akademie geschickt zu werden<br />

– die lag in seiner Heimatstadt Lübeck,<br />

direkt neben seinem Gymnasium.<br />

Aber Berlin ist auch gut. Von seinem<br />

Büro im Allianz-Hochhauses an der Spree<br />

hat er einen herrlichen Blick auf den Bootshafen<br />

am Treptower Park. Der Fluss, das<br />

Wasser, die Schiffe, es ist ein wenig wie zu<br />

Hause im Norden. „Das erinnert mich an<br />

Schleswig-Holstein und die Ostholsteinische<br />

Schweiz.“ Er schätzt es, wenn sich nicht<br />

zu viel ändert im Leben.<br />

hartmut palmer<br />

ist politischer Chefkorrespondent<br />

von <strong>Cicero</strong>. Er lebt und arbeitet<br />

in Bonn und Berlin<br />

Foto: Andreas Pein, Andrej Dallmann (Autor)<br />

44 <strong>Cicero</strong> 11.2012


„Wenn am Sonntag der<br />

‚Tatort‘ läuft, sind die<br />

Autobahnen schön frei“<br />

BKA-Chef Jörg Ziercke in seinem Berliner Amtszimmer<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Jimmy gibt nicht auf<br />

Trotz der Misere seiner FDP will Jimmy Schulz im Bundestag bleiben. Fast unmöglich ist das. Aber nicht ganz<br />

von Georg Löwisch<br />

I<br />

N Rottenburg an der LAABER<br />

redet sich Jimmy Schulz nah an<br />

die Katastrophe heran. Erst kurz<br />

nach seiner Ankunft beim Bezirkstag der<br />

niederbayerischen FDP hat er realisiert,<br />

dass hier von ihm kein schnelles Grußwort<br />

erwartet wird, sondern ein 30-Minuten-<br />

Auftritt. Er soll über sein Spezialgebiet referieren,<br />

das Internet, im Grunde erwarten<br />

sie von ihm, dass er die Zukunft an<br />

die Laaber bringt. Ein Witztermin ist das<br />

hier wirklich nicht, einige dieser Delegierten<br />

könnten in wenigen Wochen entscheiden<br />

über die Zukunft von Jimmy Schulz,<br />

44 Jahre, Bundestagsabgeordneter aus Hohenbrunn<br />

bei München.<br />

Er tippt die Themen an, tastet das Publikum<br />

mit den Augen ab, er wirft ihnen<br />

Begriffe hin. Netzpolitik? Digitale Aufklärung?<br />

Vorratsdatenspeicherung?<br />

An den Tischen im Saal murmeln die<br />

Niederbayern, sie bereiten gerade einen<br />

Dringlichkeitsantrag vor: die Rettung des<br />

Schnupftabaks vor den Eurokraten.<br />

Jimmy Schulz, ein Meter siebzig, macht<br />

sich größer hinterm Rednerpult. Schweiß<br />

steht ihm auf der Stirn, er fasst sich ans<br />

Kinn, zupft sich am Ohr. Verhaspelt sich<br />

in Hackerattacken, verirrt sich in Virenzoos,<br />

braut ein schreckliches Mischmasch<br />

aus Videotheken und IP‐TV.<br />

Der Bezirksvorsitzende saugt an seinem<br />

Weißbier, seine kleine Tochter schnattert<br />

mit ihrem Plüschstorch, im Hintergrund<br />

plärrt ein Senior über Rösler.<br />

Dann, Schulz ist endlich wieder auf<br />

seinem Platz im Publikum, geschieht das<br />

Wunder. Ein junger Mann geht zum Rednerpult,<br />

Christian Neulinger, Kreisvorstand<br />

Passauer Land, Gemeinde Pocking.<br />

Er hört sich ungefähr so an wie ein mit<br />

Tranquilizern vollgepumpter Gerhard Polt.<br />

Aber gerade dieses langsame Niederbayerisch<br />

verleiht ihm Gewicht, und der ganze<br />

Saal hört schlagartig hin, als er anhebt:<br />

„Spricht da Jimmy, kant i imma Ja sang.“<br />

Der Schnupftabak, das Weißbier, der<br />

Storch, alles verschwindet. „Wir müssen’s<br />

richtig machen.“ Zustimmung. Brummeln.<br />

„Mit die richtige Leit. Wia brauchan mea<br />

Leit wia den!“<br />

Später braust Jimmy Schulz Richtung<br />

München. Er wirkt aufgekratzt hinterm<br />

Steuer. Beseelt. Der gute Moment eben hat<br />

ihn tief eintauchen lassen in diese Welt, die<br />

ihn glücklich macht: sein Bundestagsmandat,<br />

der Kampf um die Freiheit im Netz,<br />

auch seine eigene Bedeutung. Die Politik<br />

kann ein Traum sein. „Ich lebe meinen<br />

Traum“, sagt er. „Und ich würde das auch<br />

machen, wenn ich kein Geld bekäme.“<br />

Aus dem Traum reißen ihn die Zahlen.<br />

5 Prozent Emnid, 4 Prozent Forsa, 4 Prozent<br />

Infratest. Selbst wenn die FDP 2013<br />

ins Parlament kommt, heißt das nicht, dass<br />

Jimmy Schulz drinbleibt.<br />

Es gibt zurzeit viele in seiner Situation.<br />

Die FDP hat 93 Abgeordnete im Bundestag,<br />

14,6 Prozent holte sie 2009. Newcomer<br />

wie Schulz spülte der Boom einfach<br />

nach Berlin. Jetzt, da die FDP abstürzt,<br />

kann man an einem wie ihm sehen, wie ein<br />

einzelner Politiker herumgeschleudert wird<br />

von den großen Bewegungen im Wettbewerb<br />

der Parteien. Aber Jimmy Schulz will<br />

nicht machtlos sein. Und das kann man<br />

ebenfalls von ihm lernen: Was einen Menschen<br />

dazu bringt, in dieser aussichtslosen<br />

Lage zu kämpfen.<br />

Die Fraktion der FDP lässt sich in drei<br />

Gruppen einteilen. Da ist das hintere Drittel.<br />

Diese Abgeordneten werden es auf den<br />

Landeslisten der FDP nicht auf einen jener<br />

vorderen Plätze schaffen, die ins Parlament<br />

führen würden. Sie sind raus. Denn<br />

die Listen sind im gemischten deutschen<br />

Wahlrecht für die Liberalen entscheidend.<br />

Direktmandate in den Wahlkreisen holen<br />

sie eh nie. Die Listen wählen die Delegierten<br />

in den Landesverbänden. Auf die vorderen<br />

Plätze kommen die Mächtigen, Minister,<br />

Staatssekretäre, Landesvorsitzende,<br />

Generalsekretäre, Bezirkschefs. Das ist das<br />

zweite Drittel der Fraktion: Wenn es die<br />

FDP schafft, schaffen sie es auch. Dann<br />

gibt es noch das Drittel dazwischen, es<br />

sind Abgeordnete, die sich eine winzige<br />

Chance ausrechnen. Ihre Partei müsste<br />

sensationelle 7,8 Prozent erreichen, und<br />

sie müssten sich irgendwie einen vorderen<br />

Platz auf der Landesliste erkämpfen, gleich<br />

hinter den Mächtigen, dann wären sie vielleicht<br />

doch drin.<br />

Um diese Chance kämpft Jimmy<br />

Schulz.<br />

Deshalb fährt er am Wochenende<br />

quer durch Bayern auf Parteiversammlungen,<br />

drückt die Halsschmerzen mit Pastillen<br />

weg, schüttelt Hände, legt im Foyer<br />

gelbe Feuerzeuge mit seinem Namen aus,<br />

erklärt den Parteifreunden die Piraten, das<br />

Urheberrecht oder die neue Beteiligungssoftware<br />

der Liberalen. Er telefoniert rum,<br />

verhandelt mit Kreisvorständen, isst mit ihnen<br />

Hirschgulasch, statt den Samstagabend<br />

bei seiner Familie zu sein. Er wirkt nie unglücklich<br />

dabei. Selbst in Berlin, wenn er<br />

seine Zeit in Termine zerhackt, hat dieser<br />

Mann einen gelösten, zufriedenen Zug um<br />

die Augen. Er lebt ja seinen Traum, er will<br />

auf keinen Fall aufwachen. Man muss sich<br />

seine Geschichte anschauen, um zu verstehen<br />

warum.<br />

Jimmy Schulz wächst in Ottobrunn im<br />

Münchner Speckgürtel auf. Der Vater arbeitet<br />

an der Bundeswehruniversität, die<br />

Mutter ist Ärztin. In der siebten Klasse<br />

wird am Gymnasium Informatik angeboten.<br />

Die Aufgaben faszinieren ihn, er kann<br />

aber nur auf Papier daran arbeiten, Anfang<br />

der Achtziger hat niemand einen Rechner<br />

Foto: Antje Berghäuser<br />

46 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Berlin, die Politik, seine<br />

Erfolge mit Internetthemen.<br />

Jimmy Schulz will nicht<br />

aufwachen aus diesem Traum<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 47


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

zu Hause. Deshalb nimmt er an den Nachmittagen<br />

die S-Bahn nach München, im<br />

Kaufhaus am Marienplatz fährt er in die<br />

Elektronikabteilung hoch und stellt sich in<br />

die Schlange. Dann hat er immer zehn Minuten<br />

am Vorführcomputer, einem Commodore<br />

64. Er wünscht sich ein eigenes<br />

Gerät, aber 1000 Mark, das wollen seine<br />

Eltern nicht ausgeben. Mit 16 bekommt er<br />

einen C16 von Aldi, auf dem er versucht,<br />

Matheaufgaben zu lösen. Für den Englischunterricht<br />

programmiert er einen Vokabeltrainer.<br />

Er sagt, dass er eigentlich faul<br />

gewesen ist, die Siebte musste er wiederholen,<br />

die Elfte auch. Aber Neugier treibt ihn.<br />

Technik kann ein grenzenloses Spiel sein, er<br />

verliert sich darin.<br />

Er hat die Entstehung der Netzwelt<br />

von Grund auf erfahren, er hat das Neue<br />

ausgekostet, durchdacht, sogar mitentwickelt.<br />

Eigentlich ideal für so eine FDP, die<br />

sich behaupten muss in dieser Zeit mit den<br />

neuen Themen, neuen Mechanismen und<br />

neuen Mitbewerbern. Er hat ein Gefühl<br />

für Momente, 2010 hat er die erste Bundestagsrede<br />

mit Notizen vom iPad gehalten.<br />

Als er noch Schüler ist, kauft sich<br />

seine Mutter einen PC für ihre Arztpraxis.<br />

Wenn der Rechner hochfährt, blinkt nur<br />

ein Pfeil, die passende Software wäre sehr<br />

teuer. Jimmy hilft. Datenverwaltung, Textverarbeitung,<br />

Druckertreiber, er macht das<br />

gern. Seine Mutter ist so froh, dass er sich<br />

einen Computer aussuchen darf. Er freut<br />

sich heute noch, wenn er darüber spricht,<br />

wie er ein günstiges Gerät kaufen wollte.<br />

Und die Mutter sagte: „Welchen hättest du<br />

wirklich gern?“ Es wird ein Amiga 2000.<br />

Mit Farbmonitor! Mit Maus!<br />

Im Frühjahr 1989, die Familie macht<br />

Urlaub in Kitzbühel, geht eine Lawine ab.<br />

Die Mutter stirbt.<br />

Jimmy Schulz sagt, dass ihn das verändert<br />

habe. Er musste sich um seine kleine<br />

Schwester kümmern. Er musste das Abitur<br />

schaffen. Im Sommer 1989 unternahm<br />

er noch etwas: Er trat den Republikanern<br />

bei, den Rechtspopulisten. Er sagt, das sei<br />

die einzige Partei gewesen, die die deutsche<br />

Einheit damals gewollt hätte, und seine<br />

Mutter war einst aus der DDR geflüchtet.<br />

Die Ausländerhetze habe er erst langsam registriert,<br />

ein Jahr später trat er aus.<br />

Er bestand das Abi. Danach ging er zu<br />

den Gebirgsjägern, fuhr Snowboardrennen<br />

mit, begann ein Politikstudium, jobbte bei<br />

einer Computerzeitschrift. Das Jonglieren<br />

mit vielen Dingen liegt ihm, aber wenn<br />

Jimmy Schulz erzählt, hat man den Eindruck,<br />

dass nach dem Tod der Mutter zu<br />

seiner wuseligen Begeisterungsfähigkeit der<br />

Wille gekommen ist, die Dinge durchzuziehen.<br />

Als wollte er sich die Kontrolle<br />

über das Leben wieder erkämpfen. Vielleicht<br />

ist das ja so: Dass Kämpfer in der<br />

Politik ein existenzielles Erlebnis durchgemacht<br />

haben.<br />

Noch während des Studiums hat er mit<br />

Freunden eine Firma gegründet. CyberSolutions,<br />

cys.de, sie haben alles angeboten,<br />

Seine<br />

Internetfirma<br />

machte ihn<br />

noch als<br />

Student zum<br />

Millionär<br />

was mit dem entstehenden Netzwerk zusammenhing,<br />

das heute Internet heißt. Einige<br />

Kunden hatten ihre Mailadresse bei<br />

CyberSolutions, um modern auszuschauen,<br />

und die Mail faxten Jimmy und seine Leute<br />

ihnen dann zu. Sie entwickelten ein Analysetool<br />

namens Big Brother, das den Datenfluss<br />

beobachtete, sodass man Leistungen<br />

abrechnen konnte. Da ging es richtig<br />

los: Große Kunden meldeten sich, er arbeitete<br />

100 Stunden die Woche, das Geschäft<br />

boomte. Investoren kauften sich<br />

die Firma und gliederten sie in ein größeres<br />

Unternehmen namens Telesens ein.<br />

Jimmy Schulz blieb Geschäftsführer und<br />

bekam Anteile. Die Firma wuchs, sie zogen<br />

in neue Räume. Börsengang 2000, Party in<br />

Köln, gleichzeitig Studienabschluss, Party<br />

in München, die Aktie zwischen 33 und<br />

38 Euro, Party auf der Cebit, Millionär, die<br />

Aktie über 60 Euro. Dann ging es abwärts,<br />

die Investoren sparten, sie drängten ihn aus<br />

der Firma. Seine Anteile durfte er erst verkaufen,<br />

als er mehrere Millionen Euro verloren<br />

hatte. Die Telesens ging pleite.<br />

Nach dem Ausstieg aus der Firma hat<br />

er erst einmal durchgeatmet. Er hatte noch<br />

genug Geld, auch wenn er seine Firma verloren<br />

hatte. Er kümmerte sich um seinen<br />

Sohn und nahm Beratungsaufträge an.<br />

Und er interessierte sich für die FDP, die<br />

damals in Bayern ein außerparlamentarischer<br />

Winzling war. Er setzte auf sie, besuchte<br />

Parteistammtische, es ging oft um<br />

Otto Schilys Überwachungsgesetze. 2002<br />

zog er in den Gemeinderat von Hohenbrunn<br />

ein, kam in den Bezirksvorstand.<br />

Dann wuchs und wuchs die FDP wie vorher<br />

die Internetblase.<br />

Und Jimmy Schulz wurde Abgeordneter<br />

des Deutschen Bundestags. Ein Traum,<br />

fast ein Rausch. In Berlin rast er durch<br />

die Verbindungsgänge zwischen den Parlamentsgebäuden<br />

wie eine kräftige kleine<br />

Lok. Unter der Wilhelmstraße durch, unter<br />

der Dorotheenstraße, iPhone am Gürtel,<br />

Cola light in der Hand, Laptoptasche<br />

über der Schulter. Zurück ins Büro,<br />

er lässt sich in den Drehstuhl fallen, sein<br />

Blick flirrt durch den Raum, zum iPhone,<br />

zum Computer, zum Laptop, zum Telefon.<br />

Die Mitarbeiterin schaut rein, ob sie was<br />

von Feinkost Lindner holen soll, du musst<br />

was essen, Jimmy. Nur 150 Gramm von<br />

den Flusskrebsen, wir machen Trennkost,<br />

nein 200 Gramm. Helmut Markwort ruft<br />

noch an, und nachher muss er zur Vodafone<br />

Night, rauskriegen, wie er verhindert,<br />

dass in die internationalen Internetverträge<br />

in Dubai Quatsch reinkommt. Ein bisschen<br />

wichtigtuerisch wirkt er schon, aber<br />

die Blogger nehmen ihn ernst und die arrivierten<br />

Politiker holen sich Rat.<br />

Aber was zählt das in Bayern?<br />

Am 17. November stellt dort die FDP<br />

ihre Liste zusammen. Wenn sie es überhaupt<br />

in den Bundestag schafft, bedeutet<br />

jeder Prozentpunkt ungefähr ein Berlinticket.<br />

Zum Beispiel wären 6 Prozent sechs<br />

sichere Plätze in Bayern. Die Landesvorsitzende<br />

Leutheusser-Schnarrenberger, der<br />

niederbayerische Staatssekretär, der Bezirkschef<br />

Oberbayern, die bayerisch-schwäbische<br />

Generalsekretärin, dann wären mal<br />

die Franken dran, die Jungliberalen hätten<br />

auch einen Kandidaten und den Meierhofer<br />

aus der Oberpfalz, den gibt’s ja a no.<br />

Und den Jimmy.<br />

Georg Löwisch<br />

ist Textchef von <strong>Cicero</strong><br />

Foto: Wolfgang Borrs<br />

48 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Du hast es in der Hand.<br />

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vorteilhaften Verpackungen zählen: Schon bei den Rohstoffen setzen Tetra Pak<br />

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genutzt und ihre platzsparende Form ermög licht effiziente Transporte. Werden<br />

Tetra Pak Getränke kartons nach dem Gebrauch in gelben Tonnen oder Säcken<br />

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und Energieträger für weitere Industrien. Dies sind nur einige Vorteile, die für<br />

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| B e r l i n e r R e p u b l i k | Ü B E R L E B E N S K A M P F D E R F D P<br />

„Ein Bisschen Fröhlichkeit“<br />

FDP-Fraktionschef RAINER Brüderle über das Absacken seiner Partei, Solarstrom<br />

und Ampel, Rösler und Steinbrück und über seine Auszeiten auf einer inneren Insel<br />

H<br />

err Brüderle: Vor oder nach<br />

Niedersachsen?<br />

Was meinen Sie?<br />

Wann lösen Sie Ihren Parteivorsitzenden<br />

Philipp Rösler ab?<br />

Wir haben einen Vorsitzenden, der meine<br />

volle Unterstützung hat.<br />

Sie tun, als hätte die FDP mit ihren 4,<br />

5 Umfragenprozent alle Zeit der Welt.<br />

Die FDP muss die Zeit bis zur Bundestagswahl<br />

gut nutzen, indem sie solide arbeitet.<br />

Und ich führe jetzt keine Personaldiskussion,<br />

da können Sie sich fünf Mal<br />

anschleichen.<br />

Wir schleichen doch gar nicht. Wir fragen<br />

ganz offen, wie lange die FDP ihren Parteivorsitzenden<br />

behalten will.<br />

Noch mal: Wir haben einen gewählten<br />

Parteivorsitzenden, der meine volle Unterstützung<br />

hat. Punkt.<br />

Unser Eindruck ist: Sie spielen im Moment<br />

politisch auf Ballhalten. Wir können kein<br />

Thema sehen, wo die FDP ein Tor schießt.<br />

Nur ein Beispiel: Wir haben dafür gesorgt,<br />

dass sich so manch eine Verklärung<br />

der grünen Ökostrompolitik aufgelöst<br />

hat – zum Beispiel die Vorstellung, die<br />

Energiewende, die wir alle wollen, gäbe<br />

es zum Nulltarif oder ohne neue Leitungen.<br />

Wir haben erreicht, dass die Überförderung<br />

der Solarenergie im sonnenarmen<br />

Deutschland endlich reduziert wird.<br />

Diesen Weg werden wir weitergehen,<br />

denn die derzeitige Fehlsteuerung im Bereich<br />

der erneuerbaren Energien muss<br />

schnellstmöglich beendet werden.<br />

„Die kleine Oma<br />

subventioniert<br />

den Schickimicki,<br />

der mit der<br />

Solaranlage seinen<br />

Swimmingpool<br />

heizt.“ – Rainer<br />

Brüderle beim<br />

<strong>Cicero</strong>-Interview<br />

Sie wollen vor der Bundestagswahl das<br />

Erneuerbare-Energien-Gesetz knacken?<br />

Das Gesetz muss gründlich überarbeitet<br />

werden. Möglichst schnell. Wir brauchen<br />

ein Mengenmodell im Rahmen eines europäischen<br />

Binnenmarkts: Energieerzeuger<br />

oder Stromhändler werden verpflichtet,<br />

einen bestimmten Anteil des Stromes<br />

aus erneuerbaren Energien zu erzeugen<br />

oder zu verkaufen. Egal ob Wind, Wasser<br />

oder Sonne. So wird die Energiewende<br />

technologieoffen. Bisher fördert das Gesetz<br />

einseitig die Fotovoltaik. Das sind<br />

Traumverträge mit einem Garantiepreis<br />

über 20 Jahre.<br />

Und?<br />

Drastisch ausgedrückt, subventioniert die<br />

kleine Oma in der Sozialwohnung den<br />

Schickimicki, der mit der Solaranlage<br />

seinen Swimmingpool heizt und seinen<br />

teuren Solarstrom zum hohen Fixpreis<br />

Foto: Lene Münch<br />

50 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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über Jahrzehnte garantiert verkauft. Mit<br />

Marktwirtschaft hat dieses Gesetz der<br />

Grünen wirklich nichts zu tun.<br />

Sie spielen die Oma gegen die Energiewende<br />

aus, die Ihnen zu schnell geht.<br />

Nein! Wir haben die Energiewende<br />

gemeinsam beschlossen und wollen<br />

sie. Das stellt überhaupt niemand infrage.<br />

Aber man muss die Probleme dieser<br />

komplexen Materie so beschreiben,<br />

dass die Menschen es auch verstehen.<br />

Die Energiewende soll es schnell geben,<br />

aber man muss sie technologieoffen machen,<br />

damit sie funktioniert. Und außerdem<br />

fehlen in Deutschland bisher etwa<br />

4000 Kilometer Hochspannungsleitungen<br />

und regionale Verteilnetze. Hier erwarte<br />

ich, dass gerade die Grünen ganz<br />

vorne dabei sind, den Menschen vor Ort<br />

zu erklären, warum wir diese Stromleitungen<br />

benötigen. Immer nur nach erneuerbaren<br />

Energien zu rufen, ist zu<br />

wenig. Man muss auch redlich die Konsequenzen<br />

benennen. Das vermisse ich<br />

bei den Grünen.<br />

Sie hören sich an wie ein Oppositionspolitiker.<br />

Sie regieren doch, oder nicht?<br />

Wir müssen die Probleme lösen, die die<br />

Umweltminister Trittin und Gabriel uns<br />

hinterlassen haben: hohe Dauersubventionen<br />

und fehlende Leitungen. Die Energiewende<br />

kann nur wirklich gelingen,<br />

wenn auch die Länder mitziehen. Und da<br />

liegt einiges im Argen. Wir müssen weg<br />

von der Bevorzugung einzelner Technologien.<br />

Auch bei der Windenergie. Ja, sie<br />

ist effizient, aber nur, wenn wir es auch<br />

schaffen, sie von Nord- und Ostsee nach<br />

Süddeutschland zu bringen, wo die vielen<br />

Kernkraftwerke bisher waren und die<br />

Industrie auf eine sichere Energieversorgung<br />

angewiesen ist.<br />

Die würden Sie am liebsten wieder anschalten,<br />

nicht wahr?<br />

Nein, das ist abgehakt. Ich kenne niemanden<br />

in Deutschland, der wieder auf<br />

Kernkraft setzen möchte. Aber wir brauchen<br />

nachhaltige, stetige Energieversorgung<br />

in leistungsfähigen Netzen, sonst<br />

machen wir sie instabil. Und diese Probleme<br />

gehen wir an.<br />

Auch in anderen Politikfeldern sind Sie<br />

beim Neinsagen gut: beim Betreuungsgeld<br />

oder bei der Vorratsdatenspeicherung.<br />

Was bauen Sie denn auf?<br />

Dass wir einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung<br />

nicht zustimmen, ist sehr<br />

positiv. Wir schützen die Bürgerrechte.<br />

Wir sind nicht der Wohlfahrtsausschuss<br />

der Jakobiner, die bestimmen, was wir<br />

dürfen und wie wir zu leben haben. Wir<br />

machen liberale Politik, die auf Freiheit<br />

zur Verantwortung setzt.<br />

In Ihrer politischen Karriere ist etwas auffällig:<br />

Wenn die FDP absackt, steigt Rainer<br />

Brüderle auf.<br />

Diese Korrelation sehe ich nicht.<br />

Als es der FDP schlecht ging 2011, sind<br />

Sie vom Job des Wirtschaftsministers auf<br />

den des Fraktionsvorsitzenden gewechselt,<br />

mit dem Sie viel besser klarkamen.<br />

Ich war gern Wirtschaftsminister. Der<br />

Fraktionsvorsitz war nie mein Ziel. Aber<br />

ich bin Teil des liberalen Teams und gestalte<br />

gern. Deswegen arbeite ich in der<br />

neuen Struktur gerne mit. Der Job des<br />

Fraktionsvorsitzenden macht mir viel<br />

Freude, auch wenn es keine einfache<br />

Zeit ist, weil wir gerade bei der Eurorettung<br />

viele wichtige Entscheidungen treffen<br />

müssen.<br />

1983 in Rheinland-Pfalz lag die FDP mit<br />

3,5 Prozent am Boden – und Sie konnten<br />

Landesvorsitzender werden. Warten Sie,<br />

bis die Partei reif ist, und rücken dann ins<br />

Zentrum?<br />

So primitiv ist Politik nicht. Dass man alles<br />

kräftig an die Wand fährt, damit ein<br />

Platz frei wird. Ich möchte, dass die FDP<br />

bei den nächsten Wahlen erfolgreich ist.<br />

Deswegen führe ich auch keine Personaldebatten.<br />

Damals in Mainz war die FDP<br />

aus dem Landtag geflogen. Es war für<br />

uns alle schmerzlich. Ich wurde gebeten,<br />

den Vorsitz zu übernehmen, und habe<br />

mich in die Pflicht nehmen lassen.<br />

Rainer Brüderle ist kein Mann, der in<br />

Ämter drängt?<br />

Nein.<br />

Haben Sie Angst zu scheitern, wenn Ihr<br />

Wunsch abgelehnt würde?<br />

Weder hebe ich den Finger noch habe ich<br />

einen Amtswunsch. Und zur Angst nur<br />

so viel: Nach 40 Jahren Politik in verschiedenen<br />

Etagen haben Sie Respekt vor<br />

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manchen Aufgaben und Ämtern, aber<br />

keine Angst. Wir brauchen jetzt keine<br />

neue Personaldebatte. Genscher sagt immer,<br />

entscheidend sind Inhalt, Person<br />

und Stil. Daran sollten wir uns halten.<br />

In Rheinland-Pfalz haben Sie die Zusammenarbeit<br />

mit Sozialdemokraten schätzen<br />

gelernt. Sie haben jahrelang in einer<br />

sozialliberalen Koalition regiert. Würden<br />

Sie das im Bund gern wiederholen?<br />

Die SPD war in Mainz vernünftig, und<br />

wir haben sie zur Mitte zentriert.<br />

„Eine konsequent reformorientierte SPD<br />

könnte bei der nächsten Bundestagswahl<br />

der bessere Koalitionspartner sein, als es<br />

eine sich immer stärker sozialdemokratisierende<br />

Union wäre.“ Kennen Sie den<br />

Satz?<br />

Der ist von mir. Aber das habe ich 2005<br />

gesagt. Jetzt haben wir eine andere Situation:<br />

eine christlich-liberale Koalition,<br />

die per Saldo gut regiert. Wir wollen<br />

diese Koalition fortsetzen. Alle Spekulationen<br />

über die Ampel sind abwegig.<br />

Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki kann<br />

sich ein Ampelbündnis unter Peer Steinbrück<br />

sehr gut vorstellen.<br />

Deswegen bin ich in der FDP, weil bei<br />

uns jeder seine Meinung sagen kann.<br />

Meine Meinung ist, dass wir unsere Kraft<br />

nicht für irgendwelche Farbspielchen verwenden<br />

sollten. Wir haben eine erfolgreiche<br />

Regierung und wollen die fortsetzen.<br />

Punkt.<br />

Was halten Sie denn von Peer Steinbrück?<br />

Er ist zwar ein fähiger Mann und respektabler<br />

Kandidat. Ich kenne ihn<br />

schon sehr lange. Aber die Frage ist, ob<br />

er die SPD repräsentiert und das Wahlprogramm,<br />

das sie jetzt erst schreiben,<br />

nachdem sie einen Kandidaten haben.<br />

Da habe ich meine Zweifel. Das Schauspiel<br />

der SPD war ja schon bezeichnend.<br />

Obwohl sie sich offensichtlich schon<br />

lange einig waren, wer es macht, haben<br />

sie trotzdem drei Kandidaten durch<br />

die Landschaft geschoben wie die drei<br />

Fragezeichen.<br />

Steinbrück ist wie Sie ein Weintrinker.<br />

Es ist mir als Rheinland-Pfälzer sympathisch,<br />

wenn er auch von Wein etwas<br />

versteht.<br />

Verzichten Sie im Wahlkampf eigentlich<br />

auf Wein?<br />

Ich trinke ohnehin nicht viel. Besonders<br />

in der Endphase des Wahlkampfes<br />

ist es mitunter so, dass man mehrere<br />

Male am Tag reden muss. Da muss jeder<br />

für sich entscheiden, wie er damit klarkommt<br />

– und ob er Wein oder Wasser<br />

trinkt. Wichtiger für einen guten Wahlkampf<br />

ist, dass man fit bleibt, regelmäßig<br />

Sport macht.<br />

„Wenn ich mich<br />

kasteie und dann<br />

ein Schnitzel<br />

sehe, werde ich<br />

schwach“<br />

Besteht nicht die Gefahr, dass man sich<br />

den Stress wegtrinkt?<br />

Ich bin eher ein Stressesser. Früher hatte<br />

ich weit über 100 Kilo, jetzt halte ich<br />

mich knapp unter 80. Mir ist aber völlig<br />

klar: Im Wahlkampf wird das Jackett<br />

enger. Wenn ich mich den Tag über kasteie<br />

und dann abends ein Schnitzel sehe,<br />

werde ich schwach.<br />

Sie haben 2006 gesagt, ein halber Liter<br />

Wein am Tag mache einen Mann gesund.<br />

Da gab es gleich Diskussionen, Sie würden<br />

zum Saufen aufrufen.<br />

Als ich Weinbauminister in Rheinland-<br />

Pfalz war, haben wir an der Uni Freiburg<br />

eine Studie in Auftrag gegeben. Es<br />

gab ja das sogenannte French Paradox:<br />

Dass die Franzosen länger leben, obwohl<br />

sie Rotwein trinken. Kardiologen in den<br />

USA haben festgestellt, dass Rotweintrinker<br />

weniger Plaquebildung in den Herzkranzgefäßen<br />

haben und deshalb weniger<br />

infarktgefährdet sind. Weil in Rheinland-<br />

Pfalz viel mehr Weißwein angebaut wird,<br />

wollte ich wissen, ob der auch solche<br />

Wirkung haben kann.<br />

Und?<br />

Die Tests in Freiburg haben ergeben, dass<br />

Weißwein ähnliche Effekte hat. Soweit<br />

ich mich erinnere, liegt die Obergrenze,<br />

wo der Weingenuss wieder ins Ungesunde<br />

umschlagen kann, bei Frauen bei<br />

0,4 Liter am Tag und bei Männern bei<br />

einem halben Liter. Es gab dann Proteste<br />

von Medizinern, ich würde dem Drogenkonsum<br />

das Wort reden. Das wichtigste<br />

Ergebnis der Studie war, dass man alles<br />

nur in Maßen genießen sollte.<br />

Hat das Ihrem Image gutgetan?<br />

Es war Teil meines Ministeramts, auch<br />

solche Fragen sachlich zu klären. Übrigens:<br />

Die Herzkranzgefäße schützt auch<br />

Olivenöl. Ein gutes Olivenöl, ein Stück<br />

Weißbrot und ein Glas Wein, das hab ich<br />

für mein Leben gern. Und noch ein bisschen<br />

Schafskäse.<br />

Sind denn die schweren Zeiten der FDP<br />

leichter zu ertragen, wenn man mal ein<br />

Glas trinkt und nachdenkt?<br />

Wichtig ist, dass man die Fähigkeit hat,<br />

sich mal rauslösen zu können aus den<br />

schwierigen Zusammenhängen. Ich muss<br />

ab und zu auf eine innere Insel gehen.<br />

Die Menschen mit den verklemmten,<br />

verkniffenen Gesichtern können auch<br />

keine vernünftige Politik machen. Politik<br />

braucht manchmal auch ein bisschen<br />

Fröhlichkeit, Wärme und Humor.<br />

Politische Verhandlungen als gemütliches<br />

Beisammensein, das meinen Sie doch<br />

nicht im Ernst.<br />

In Verhandlungen muss man klare Kante<br />

zeigen. Koalitionen sind zwar keine Liebesheiraten,<br />

aber man muss sich mit dem<br />

Partner verstehen. Und das geht manchmal<br />

leichter, wenn man die eine oder andere<br />

politische Frage in einem ansprechenden<br />

Rahmen diskutiert.<br />

Was ist Ihre Prognose für die<br />

Niedersachsen-Wahl?<br />

Ich glaube, dass die christlich-liberale Regierung<br />

ihre Arbeit fortsetzen kann und<br />

die FDP unter Stefan Birkner mit einem<br />

guten Ergebnis dazu beiträgt. Nach oben<br />

gibt es da keine Begrenzung.<br />

Und nach unten?<br />

Jetzt versuchen Sie es schon wieder: Dass<br />

ich eine Untergrenze festlege und damit<br />

sage, dass Philipp Rösler geht, wenn wir<br />

die nicht schaffen. Den Anfängerfehler<br />

mach ich aber einfach nicht.<br />

Das Gespräch führten Georg Löwisch und<br />

Christoph Schwennicke<br />

52 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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Haifisch gegen Blauwal<br />

von Petra Sorge und Georg Löwisch<br />

„Ausgestellte Emotionalität.“<br />

Claudia Roth, 57<br />

1. PRägung 68.<br />

2. JugenDtraum Die Welt verändern.<br />

3. Früher Slogan „Keine Macht für niemand“ von „Ton Steine Scherben“, deren<br />

Managerin sie später wurde.<br />

4. Drogen Sah beim Kiffen mit Renate Künast nach deren Erinnerung „weiße<br />

Drachen“.<br />

5. Job Bundesvorsitzende der Grünen.<br />

6. prämisse Grüne müssen die Welt retten.<br />

7. Aggregatzustand Auf Kreuzzug.<br />

8. Methode Lautstarkes Nerven.<br />

9. Profilierung Das Böse beklagen.<br />

10. KLEIDERSCHRANK Teppichblazer, Pünktchenkleid, Boa-Constrictor-Schal.<br />

Dirndl. Lederjacke. „Es wird keine graue Claudia geben“ (2006).<br />

11. Diktaturerfahrung 2011 drei Tage in Nordkorea, Reich des Bösen.<br />

12. Kinder Verzichtete nach eigener Aussage der Karriere wegen auf Kinder.<br />

13. strategie Herzt die grüne Parteifamilie.<br />

14. Feminismus Lila, lila, lila. Der Bundesfrauenrat der Grünen gehört zu<br />

ihren Alliierten. Noch wichtiger: Kristina Schröder als neue Böse.<br />

15. Joschka Fischer Sie setzte seine Politik durch und galt trotzdem als<br />

grünes Gewissen.<br />

16. machterhalt Bald zehn Jahre Parteivorsitzende. Für die<br />

rotationsfreudigen Grünen sind das Elisabeth-II-Kategorien.<br />

17. Schlappe 2006 mit nur 66,5 Prozent als Vorsitzende bestätigt – die<br />

Delegiertenstrafe für zu blasse Farben eines neuen Parteilogos.<br />

18. WAS Ihre gegner fürchten Tränen im Parteirat.<br />

19. Schwarz-grün Sondierte 2005 Jamaika-Bündnis mit Merkel, Stoiber und<br />

Westerwelle. Ergebnislos. Benötigt Union für Abgrenzung (das Böse).<br />

20. Perspektive für 2013 Die eigene Basis im Wahlkampf motivieren und das<br />

ganze Potenzial an Stammkunden mobilisieren.<br />

21. Expertenbewertung Hubert Kleinert, grüner Politikprofessor: „Wer<br />

ein intellektuelles Politikverständnis hat, vermutet hinter der ausgestellten<br />

Emotionalität Berechnung. Aber sie ist eine Marke.“<br />

22. Talkshows 14 Auftritte seit 2009. (In der Wertung: „Günther Jauch“,<br />

„Maybrit Illner“, „Anne Will“, „Hart aber fair“, „Markus Lanz“, „Menschen bei<br />

Maischberger“, „Beckmann“).<br />

23. Im Bundestag 471 Aktivitäten wie Reden, kleine Anfragen, Anträge,<br />

Kurzinterventionen. Parlamentsreden: 14, davon elf zu Protokoll gegeben.<br />

24. FUssball Kumpelt mit Theo Zwanziger.<br />

25. Fanclub Grüne Jugend, die sie lautstark unterstützt.<br />

26. Urwahl-Zitat „Ich hab echt die Schnauze voll!“<br />

27. Urwahl-Temperatur Erhitzte sich bei Urwahlforum in Leipzig derart über das<br />

Böse, dass sie sich Sauerstoff zufächeln musste.<br />

28. Roth über Göring-Eckardt „Ich bin nicht evangelisch und nicht aus Thüringen.“<br />

29. Höhepunkt der schriftlichen bewerbung „Let’s make the world a better place!“<br />

30. MeeresbiologiE Werner Winkler, Außenseiterkandidat bei der Urwahl: „Typ<br />

Haifisch. Angriffslustig, zielorientiert, und wenn es heißt, wir gehen essen, denkt sie:<br />

zerfleischen.“<br />

Foto: JURI REETZ/BREUEL-BILD<br />

54 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Die Grünen veranstalten gerade eine Urwahl für die Spitzenkandidatur. Chancen auf die zwei<br />

Posten haben: Trittin, Künast, Roth, Göring-Eckardt. Ist eh dasselbe in Grün? Von wegen.<br />

Claudia Roth und Katrin Göring-Eckardt trennen Welten. Die 30 wichtigsten Unterschiede<br />

Foto: Werner Schuering / imagetrust<br />

„Ein wenig<br />

Gutmenschentum.“<br />

Katrin<br />

Göring-<br />

Eckardt, 46<br />

1. PRÄGUNG 89.<br />

2. Jugendtraum Einmal nach New York reisen.<br />

3. Früher Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“, ein Leitspruch der kirchlichen DDR-<br />

Opposition, der sie sich anschloss.<br />

4. Drogen „Meine Drogensünden beschränken sich auf die Dinge, die man in der<br />

DDR bekam. Da sah man keine weißen Drachen.“<br />

5. Job Bundestagsvizepräsidentin, Präses der Evangelischen Kirche Deutschland.<br />

6. prämisse Jesus hat die Welt gerettet.<br />

7. Aggregatzustand Betet das Kreuz an.<br />

8. Methode Leise Nervenstärke.<br />

9. Profilierung Das Gute sehen.<br />

10. Kleiderschrank Anzug. Maximal Jeans. „Das ‚Mama, du bist peinlich‘<br />

bewahrt zumindest vor komplett falschen Klamotten“ (2012).<br />

11. Diktaturerfahrung Lebte 24 Jahre in der DDR.<br />

12. Kinder Zwei Söhne plus die drei ersten Kinder ihres Mannes.<br />

13. strategie Positioniert die Grünen als Familienpartei.<br />

14. Feminismus Kämpfte in der DDR für den Doppelnamen, der heute<br />

KGE abgekürzt wird. Sonst, wenn’s hochkommt, Postfeministin.<br />

15. Joschka Fischer Sie setzte seine Politik durch und galt deshalb als sein<br />

williges Werkzeug.<br />

16. machterhalt Konnte nach dem Ende von Rot-Grün den Fraktionsvorsitz im<br />

Bundestag nicht in die Opposition retten, sondern wurde abgewählt.<br />

17. schlappe 2006 auch noch aus dem Parteirat gewählt – die Delegiertenstrafe für<br />

das Eintreten für die Hartz-Reformen.<br />

18. Was ihre gegnerinnen fürchten Sie operiert lautlos.<br />

19. schwarz-grün War 2004 vor der Thüringer Landtagswahl offen für Schwarz-Grün,<br />

scheiterte dann mit 4,5-Prozent-Ergebnis. Wird seither schwarz-grün einsortiert.<br />

20. Perspektive für 2013 Die Grünen um neue Wählermilieus erweitern.<br />

21. expertenbewertung Hubert Kleinert, grüner Politikprofessor: „Auch wenn ihre<br />

Aura ein wenig Gutmenschentum enthält: sie kommt über den Kopf. Sonst: solide, seriös,<br />

bislang keine besondere thematische Stärke.“<br />

22. talskshows Acht Auftritte seit 2009. (In der Wertung: „Günther Jauch“, „Maybrit<br />

Illner“, „Anne Will“, „Hart aber fair“, „Markus Lanz“, „Menschen bei Maischberger“ ,<br />

„Beckmann“).<br />

23. Im Bundestag 333 Aktivitäten wie Reden, kleine Anfragen, Anträge, Kurzinterventionen.<br />

Reden: Acht, alle gehalten (laut Parlamentsstatistik seit Beginn der Wahlperiode).<br />

24. FuSSball Trug bei der WM 2006 ein Fanhemd, das nun im Haus der Geschichte liegt.<br />

25. fanclub Realofürsten wie Boris Palmer, Tarek al Wazir, Dieter Janecek, die das aber nur<br />

sehr leise ausleben dürfen (grüne Mann-Frau-Dialektik).<br />

26. Urwahl-Zitat „Wir sind die Dafür-Partei.“<br />

27. Urwahl-Temperatur Gesichtskühl. Braucht rhetorische Vorglühphase, wenn sie bei einer<br />

Kandidatenvorstellung dran ist.<br />

28. Göring-Eckardt über Roth „Wir gehören zwei verschiedenen politischen Generationen an.“<br />

29. Höhepunkt der schriftlichen Bewerbung „Manche sagen, ich wäre eine Vertreterin der<br />

leisen Töne. (…) Wenn es drauf ankommt, bin ich gerne laut!“<br />

30. meeresbiologiE Werner Winkler, Außenseiterkandidat bei der Urwahl: „Typ Blauwal.<br />

Sucht sich ein ruhiges Gewässer und wartet, bis das Essen zu ihr kommt.“<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 55


| B e r l i n e r R e p u b l i k | A u f k l ä r u n g d e s N S U - S k a n d a l s<br />

Das Versprechen<br />

Vor einem Jahr flog die rechtsextreme Terrorzelle NSU auf. Die Politiker im Berliner Untersuchungsausschuss<br />

wollen einen neuen Stil prägen: Aufklären statt sich aufplustern. Doch<br />

angesichts der Unmengen an Polizei- und Geheimdienstakten läuft ihnen die Zeit davon<br />

von Wolf Schmidt<br />

56 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Das Papier zum Skandal. Zwei Millionen Seiten an<br />

Behördendokumenten gingen bisher an den NSU-Untersuchungsausschuss<br />

Foto: Marcus Scheidel/Action Press<br />

Y<br />

avuz Narin hastet zum Eingang<br />

des Glas-Beton-Kolosses am<br />

Spreeufer hinter dem Reichstag.<br />

Er will pünktlich im Paul-<br />

Löbe-Haus sein, heute, immer.<br />

Ab 10 Uhr wird ein weiterer ehemaliger<br />

Verfassungsschützer vernommen, der erklären<br />

soll, warum die Neonazis des NSU<br />

mehr als zehn Jahre ungestört raubend und<br />

mordend durchs Land ziehen konnten.<br />

Narin hat sich den orangefarbenen<br />

Bundestagsgastausweis an den Gürtel seiner<br />

schwarzen Anzughose geclipt. Der Aufzug<br />

bringt ihn in den fünften Stock, Besuchertribüne.<br />

Er setzt sich in die erste<br />

Reihe, wo man den besten Blick auf das<br />

hat, was sich ein Stockwerk tiefer in dem<br />

250 Quadratmeter großen Saal 4.900 abspielt.<br />

An einem Tisch sitzen 22 Abgeordnete,<br />

gewappnet mit Akten, mit denen sie<br />

den Ex-Geheimdienstmann konfrontieren.<br />

Der gerät rasch in die Defensive, spricht<br />

von „Fehleinschätzungen“, bedauert.<br />

Siebeneinhalb Stunden und zwei Zeugen<br />

später, wenn die meisten Journalisten<br />

längst gegangen sind, wird Yavuz Narin<br />

noch auf der Besuchertribüne sitzen und<br />

sich mit seiner geschwungenen Schrift Notizen<br />

in ein Ringbuch machen. Gut zwei<br />

Dutzend hat er vollgeschrieben, seit der<br />

Ausschuss im Januar eingesetzt wurde. Narin<br />

ist immer da, als wollte er diesen Staat<br />

beaufsichtigen wie ein gefährliches Tier.<br />

Der 34 Jahre alte Rechtsanwalt vertritt<br />

die Familie eines Opfers der Zwickauer<br />

Zelle. Der Grieche Theodoros Boulgarides<br />

hatte einen Schlüsseldienst im Münchner<br />

Westend, im Juli 2005 wurde er in seinem<br />

Laden erschossen. Narin war schon Anwalt<br />

der Familie, als die Polizei noch ahnungslos<br />

war. Bis vor einem Jahr, am 4. November<br />

2011, in Eisenach nach einem Banküberfall<br />

die Leichen von Uwe Mundlos und<br />

Uwe Böhnhardt gefunden wurden; wenige<br />

Stunden später explodierte in Zwickau das<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 57


| B e r l i n e r R e p u b l i k | A u f k l ä r u n g d e s N S U - S k a n d a l s<br />

Haus, in dem die beiden mit ihrer Komplizin<br />

Beate Zschäpe gewohnt hatten. Und<br />

das Vertrauen in die Behörden implodierte.<br />

Es gab Debatten und Gedenkstunden, der<br />

Staat bemühte sich um die Opfer. Von einer<br />

„Schande für unser Land“ sprach Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel bei der Gedenkfeier<br />

für die Ermordeten im Februar.<br />

Saal 4.900 im Paul-Löbe-Haus ist der<br />

Ort, an dem die Schande ein Stück weit<br />

wiedergutgemacht werden könnte, indem<br />

die Abgeordneten Zeugen vernehmen,<br />

Unmengen von Akten auswerten und<br />

„Dieser Untersuchungsausschuss arbeitet<br />

besser und effektiver als alle davor“<br />

Der Grüne Hans-Christian Ströbele<br />

Parteiübergreifendes<br />

Wir‐Gefühl. Die Mitglieder des<br />

Untersuchungsausschusses von links:<br />

Wolfgang Wieland (Grüne), Hartfrid<br />

Wolff (FDP), Sebastian Edathy (SPD),<br />

Clemens Binninger (CDU), Petra Pau<br />

(Linkspartei) und Eva Högl (SPD)<br />

Der Opfer-Anwalt Yavuz<br />

Narin beobachtet jede<br />

Sitzung des Ausschusses<br />

aufklären – ohne in die üblichen Rituale<br />

der Profilierung zu fallen.<br />

Typischerweise sind Untersuchungsausschüsse<br />

ein Mittel der Opposition, um<br />

die Regierung anzugreifen. „Ein Untersuchungsausschuss<br />

ist erstens ein Kampfinstrument,<br />

zweitens ein Kampfinstrument<br />

und drittens ein Kampfinstrument“, hat<br />

Joschka Fischer einmal gesagt. Mal sollte<br />

die CDU als quasi mafiöse Vereinigung<br />

entlarvt werden, mal die Grünen als Multikulti-Spinner,<br />

die osteuropäische Horden<br />

ins Land lassen, mal die SPD als willfährige<br />

Gehilfin finsterer US-Geheimdienstmachenschaften.<br />

Es geht um die Show. Und<br />

der Showdown ist das Kreuzverhör eines<br />

Ministers oder gar Kanzlers.<br />

Dieser Ausschuss kann sich das nicht<br />

leisten. Eine Inszenierung, in der sich die<br />

Abgeordneten aufplustern und stolzieren<br />

wie die Gockelhähne, würde alles noch<br />

schlimmer machen. Aber kann es anders<br />

laufen? Ist ein Ausschuss möglich, der mit<br />

der eingeübten politischen Kultur bricht<br />

und dessen Mitglieder sich die parteitaktischen<br />

Reflexe verbieten? Jedenfalls ging<br />

es so los. Im Januar wurde auf Antrag aller<br />

Fraktionen, von Union bis Linkspartei, ein<br />

Untersuchungsausschuss eingesetzt. Man<br />

werde „alles tun“ für eine „gründliche und<br />

zügige Aufklärung“, hieß es in dem Beschluss.<br />

Das ist das Versprechen.<br />

Yavuz Narin, oben auf der Besuchertribüne,<br />

ist eine Art Bindeglied zwischen<br />

den Opfern und der Politik. An ihm kann<br />

man sehen, wie schwer es ist, das Vertrauen<br />

in den Staat wiederherzustellen. Für Narin<br />

ist dieser Fall wichtig, auch persönlich.<br />

Acht der zehn Mordopfer der NSU‐Terroristen<br />

hatten wie er türkische Wurzeln.<br />

„Der Staat hat sie alleine gelassen“, sagt er.<br />

Schlimmer noch: Jahrelang hatten die Ermittler<br />

die Opfer dem falschen Verdacht<br />

ausgesetzt, in kriminelle Machenschaften<br />

verstrickt zu sein und an ihrem Tod eine<br />

Mitschuld zu tragen. „So etwas darf sich<br />

nie mehr wiederholen.“<br />

Der junge Anwalt hat keine der bald<br />

50 Zeugenvernehmungen verpasst. Dieses<br />

Mal ist er am Abend vor der Ausschusssitzung<br />

nach Berlin gefahren, sechs Stunden<br />

war er auf der Autobahn. Meist ruft<br />

er nach den Vernehmungen Theodoros<br />

Boulgarides’ Witwe an und berichtet ihr<br />

von den Fragen, die aufgeworfen wurden.<br />

Und von den Abgründen, die sich aufgetan<br />

haben.<br />

Die Sitzungen dauern. Stundenlang lümmeln<br />

die Kameraleute auf den Lederpolstern<br />

vor dem Sitzungssaal herum. Auf dem<br />

Boden liegen zerlesene Bild-Zeitungen und<br />

leere Cola-Flaschen. Drinnen dürfen die<br />

Fernsehleute nicht filmen, höchstens zwei,<br />

drei Minuten vor den Zeugenvernehmungen.<br />

Deshalb müssen sie warten, bis die<br />

Türen aufgehen und sich die Abgeordneten<br />

nach draußen bewegen, zu den Mikrofonen<br />

neben dem Treppenaufgang. Innerhalb<br />

einer halben Minute steht ein Pulk<br />

Fotos: Hans Christian Plambeck/Laif, Julian Röder/Ostkreuz<br />

58 <strong>Cicero</strong> 11.2012


| B e r l i n e r R e p u b l i k | A u f k l ä r u n g d e s N S U - S k a n d a l s<br />

Journalisten um die Politiker, Scheinwerfer<br />

werden angeworfen. Aufnahme läuft.<br />

In früheren Untersuchungsausschüssen<br />

hätte das, was dann kommt, so ausgesehen:<br />

Die Vertreter der Opposition hätten behauptet,<br />

die Befragung habe eindeutig gezeigt,<br />

dass Minister XYZ versagt habe und<br />

zurücktreten müsse. Und die Vertreter der<br />

Regierungskoalition hätten inbrünstig behauptet,<br />

die Befragung habe eindeutig alle<br />

Vorwürfe widerlegt. Rücktritt? Iwo!<br />

Im NSU‐Ausschuss läuft es anders.<br />

Wenn der Vorsitzende Sebastian Edathy<br />

und die fünf Obleute der Fraktionen sich<br />

vor die Kameras stellen, sind sie in ihren<br />

Einschätzungen erstaunlich nahe beieinander.<br />

Vielleicht formuliert Petra Pau von der<br />

Linkspartei ihre Kritik an den Behörden etwas<br />

schärfer als Clemens Binninger von der<br />

CDU. Aber in gefühlt 90 Prozent der Fälle<br />

geht sie in dieselbe Richtung.<br />

„Dieser Untersuchungsausschuss arbeitet<br />

besser und effektiver als alle davor“, sagt<br />

Hans-Christian Ströbele von den Grünen.<br />

Er muss es wissen: Es ist sein vierter Untersuchungsausschuss,<br />

der erste befasste<br />

sich mit dem in die DDR übergelaufenen<br />

Verfassungsschützer Hansjoachim Tiedge.<br />

1985 war das.Trotz seiner Prostatakrebserkrankung,<br />

die der inzwischen 73 Jahre<br />

alte Ströbele vor kurzem öffentlich machte,<br />

studiert er stundenlang Akten, führt Pressegespräche,<br />

sitzt manchmal bis kurz vor<br />

Mitternacht in den Zeugenvernehmungen.<br />

Ströbele ist nicht bekannt als einer, der den<br />

Parteienkonsens sucht. Aber in diesem Fall<br />

empfindet er die fraktionsübergreifende<br />

Zusammenarbeit als Segen. Er verliert kein<br />

böses Wort über die Kollegen. Auch nicht<br />

über die von Union und FDP.<br />

Fotos: Ralph Köhler/Action Press, Imago (3)<br />

In Thüringen stümperten Fahnder dem<br />

rechtsextremen Trio hinterher – während der<br />

dortige Geheimdienst Hinweise für sich behielt<br />

Am 4. November 2011 explodierte dieses Haus in Zwickau.<br />

Und das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden implodierte<br />

Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (rechts) starben vor einem Jahr nach<br />

einem Banküberfall in Eisenach. Beate Zschäpe sitzt in Untersuchungshaft<br />

Wenn dieser Ausschuss ein „Kampfinstrument“<br />

ist, dann nicht eines der Opposition<br />

gegen die Regierung, sondern eines<br />

des Parlaments gegen die Vertuschung.<br />

Schon jetzt ist durch die Arbeit des<br />

Gremiums mehr herausgekommen, als bei<br />

den meisten der über 50 Untersuchungsausschüsse<br />

in der Geschichte der Bundesrepublik.<br />

Das Bild, das sich immer deutlicher<br />

abzeichnet, ist das einer katastrophalen Zusammenarbeit<br />

der Sicherheitsbehörden von<br />

Bund und Ländern.<br />

Polizei und Geheimdienste haben sich<br />

nicht geholfen, sondern behindert. Die<br />

bayerische Sonderkommission „Bosporus“<br />

versteifte sich jahrelang auf die These, dass<br />

die deutschlandweite Mordserie an Migranten<br />

einen Hintergrund in der organisierten<br />

Ausländerkriminalität haben müsse.<br />

Spuren nach rechts wurden so spät wie inkonsequent<br />

verfolgt. Stattdessen glaubten<br />

die Ermittler, mit einer undercover betriebenen<br />

Dönerbude den Killern und der vermeintlich<br />

hinter ihnen stehenden Mafia auf<br />

die Schliche zu kommen. Sogar die Dienste<br />

eines Geisterbeschwörers, der behauptete,<br />

zu einem der Opfer im Jenseits Kontakt<br />

zu haben, nahm die Polizei in Anspruch.<br />

Derweil stümperten in Thüringen Zielfahnder<br />

des LKA den 1998 abgetauchten<br />

Jenaer Neonazis Mundlos, Böhnhardt und<br />

Zschäpe hinterher – während der dortige<br />

Verfassungsschutz Hinweise für sich behielt,<br />

dass sich das Trio in Sachsen verstecken<br />

und mit Waffen eindecken könnte.<br />

13 Jahre blieb die Terrorzelle unentdeckt.<br />

Ohne den Untersuchungsausschuss<br />

wäre auch die Schredderei von Verfassungsschutzakten<br />

nach dem Auffliegen<br />

des NSU nicht herausgekommen. Die<br />

bis heute mysteriöse Aktion führte im Juli<br />

dazu, dass sich der Chef des Bundesamts<br />

60 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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| B e r l i n e r R e p u b l i k | A u f k l ä r u n g d e s N S U - S k a n d a l s<br />

für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, vorzeitig<br />

in den Ruhestand zurückzog.<br />

Im September wurde im Ausschuss<br />

bekannt, dass das Berliner Landeskriminalamt<br />

einen der mutmaßlichen Unterstützer<br />

der Zwickauer Zelle jahrelang als<br />

Informanten in der Neonazi‐Szene geführt<br />

hatte: den einst mit Beate Zschäpe liierten<br />

Thomas S. Er war es auch, der dem Trio das<br />

TNT für die Rohrbomben beschaffte, die<br />

nach dessen Abtauchen in einer Garage gefunden<br />

wurden.<br />

Wenn der Anwalt Yavuz Narin der Familie<br />

des NSU-Opfers Theodoros Boulgarides<br />

von den immer neuen Enthüllungen<br />

berichtet, bekommt er inzwischen die Antwort:<br />

Da fällt man doch vom Glauben ab!<br />

„Diese Mordserie“, sagt er, „stellt die Strukturen<br />

des Staates grundlegend infrage.“<br />

„Was haben Sie gedacht, als der NSU im<br />

November 2011 aufgeflogen ist?“ Eva Högl<br />

von der SPD, eine Juristin mit zehn Jahren<br />

Erfahrung im Bundesarbeitsministerium,<br />

stellt diese Frage fast jedem Zeugen,<br />

der vor den Ausschuss zitiert wird. Högl<br />

lächelt dabei betont freundlich. Es ist ein<br />

doppelbödiges Lächeln, das sagt: Ich gebe<br />

Ihnen die Chance, ihre Betroffenheit zum<br />

Ausdruck zu bringen, Selbstkritik zu üben,<br />

Demut zu zeigen. Diese Chance sollten Sie<br />

gefälligst nutzen.<br />

Clemens Binninger von der Union beginnt<br />

Zeugenbefragungen meist mit einem<br />

nüchternen Satz: „Wir haben jetzt etwa<br />

23 Minuten zusammen.“ Das ist die Zeit,<br />

die seiner Fraktion pro Fragerunde zusteht.<br />

Binninger war früher Polizist in Baden-<br />

Württemberg. Den Commissario nennen<br />

ihn Ausschussmitarbeiter. Als am 28. Juni<br />

der BKA-Chef Jörg Ziercke im Saal 4.900<br />

saß, geriet er mit Binninger aneinander.<br />

Der ließ Ziercke auflaufen: „Für Hochmut<br />

ist in diesem Ausschuss wenig Platz“, sagte<br />

er dem BKA-Boss. Die Botschaft: Hier haben<br />

nicht Sie das Sagen, sondern wir. Einen<br />

ehemaligen Landesgeheimdienstchef fragte<br />

Binninger: „Wozu brauchen wir einen Verfassungsschutz,<br />

wenn er nicht mitdenkt?“<br />

„Wir können jede Gangart“, sagt der<br />

Grünen-Obmann Wolfgang Wieland.<br />

„Von ganz lieb bis ganz böse.“<br />

Das Selbstbewusstsein gegenüber den<br />

Behörden, das parteiübergreifende Wir-<br />

Gefühl: So außergewöhnlich die Atmosphäre<br />

in diesem Ausschuss ist, ganz frei<br />

von Parteiinteressen ist die Arbeit nicht.<br />

Wenn im Ausschuss Spitzenpolitiker geladen<br />

sind, steigt die Versuchung der Parteitaktik<br />

– und je näher die Bundestagswahl<br />

2013 rückt, desto größer wird sie werden.<br />

Ende September war der hessische<br />

Ministerpräsident Volker Bouffier von der<br />

CDU als Zeuge geladen. Es ging um die<br />

Frage, ob Bouffier, als er noch Innenminister<br />

in Hessen war, die Ermittlungen der<br />

Polizei blockierte. Beim neunten Mord des<br />

NSU in einem Kasseler Internetcafé im April<br />

2006 war Sekunden vor oder gar zur Tatzeit<br />

ein Verfassungsschützer des Landes anwesend,<br />

angeblich zufällig und rein privat,<br />

zum Cyberflirt. Bouffier erlaubte es den Ermittlern<br />

nicht, die V-Leute des damals von<br />

„Was haben Sie gedacht,<br />

als der NSU im November<br />

aufgeflogen ist?“ Die<br />

SPD-Abgeordnete Högl<br />

fragt das jeden Zeugen<br />

der Polizei verdächtigten Geheimdienstmannes<br />

zu vernehmen – eine Entscheidung,<br />

die er noch heute für richtig hält,<br />

wie er im September im Ausschuss sagte.<br />

Da schaltete Eva Högl von der SPD auf Attacke:<br />

Bouffier sei ein „eiskalter Bürokrat“.<br />

Während Commissario Binninger auf Beschwichtigungskurs<br />

ging und den CDU-<br />

Kollegen in Schutz nahm. Skandal? Iwo!<br />

Auf der Tribüne im Paul-Löbe-Haus<br />

sitzt Yavuz Narin. Er registriert jene Tiefpunkte,<br />

jene Momente, in denen ein Stück<br />

des Vertrauens wieder verspielt wird, das<br />

der Ausschuss gewonnen hat. Was soll er<br />

den Opferangehörigen berichten? Dass<br />

sich in Berlin die Politiker übereinander<br />

aufgeregt haben?<br />

Wenn demnächst Ex-Bundesinnenminister<br />

Otto Schily befragt wird, dürfte die<br />

Union dem Sozialdemokraten vorwerfen,<br />

dass er 2004 voreilig verneint hatte, der<br />

Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße<br />

könne terroristische Hintergründe<br />

haben. Die SPD wird rufen: Dafür hat er<br />

sich doch längst entschuldigt!<br />

Doch dann gibt es wieder diese anderen<br />

Momente, in denen die Akteure selbst<br />

stutzen, als wären sie verblüfft über den<br />

Geist dieses Ausschusses. Etwa als der ehemalige<br />

bayerische Innenminister Günther<br />

Beckstein als Zeuge auftrat. Da lobte Petra<br />

Pau von der Linkspartei den CSU-<br />

Mann für seine Entschlossenheit gegen<br />

Neonazis. Beckstein runzelte die Stirn.<br />

Das Lob von links sei ihm „fast peinlich,<br />

Entschuldigung!“<br />

Für ausgiebige Parteitaktik fehlt den<br />

Politikern auch schlicht die Zeit. Ein Untersuchungsausschuss<br />

muss seine Arbeit bis<br />

Ende der jeweiligen Legislaturperiode abschließen.<br />

Deshalb müsste der Ausschuss<br />

im Frühjahr die <strong>letzte</strong>n Zeugen hören und<br />

bis zum Sommer den Abschlussbericht<br />

schrei ben. Darin soll nicht nur stehen, was<br />

in den Behörden falsch lief, sondern auch,<br />

was passieren muss, damit sich ein solches<br />

Versagen nicht wiederholt. „Das ist eigentlich<br />

nicht zu bewältigen“, sagt Ströbele von<br />

den Grünen.<br />

Die Behörden decken die Abgeordneten<br />

in Berlin mit Akten ein. Das ist klüger,<br />

als den Vorwurf der Vertuschung zu riskieren.<br />

Neulich hat Thüringen an einem Freitag<br />

778 weitere Aktenordner an die Geheimschutzstelle<br />

des Bundestags geschickt.<br />

Insgesamt sind dem Ausschuss seit Januar<br />

knapp zwei Millionen Seiten an Dokumenten<br />

zugegangen. Auf einen Stapel aufgehäuft<br />

wäre dieser Papierberg vier Mal so<br />

hoch wie das Reichstagsgebäude.<br />

Weil immer mehr Abgeordnete das Gefühl<br />

bekommen, dass ihnen die Zeit nicht<br />

reicht, gibt es nun Überlegungen, den Ausschuss<br />

in der nächsten Legislaturperiode<br />

neu zu starten. Um das zu Ende zu bringen,<br />

was in den restlichen Monaten bis zur<br />

Wahl nicht mehr geschafft wurde. Auch das<br />

hat es in der Geschichte der Bundesrepublik<br />

so noch nicht gegeben.<br />

„Auch der nächste Bundestag wird sich<br />

intensiv mit den Konsequenzen für Geheimdienst<br />

und Polizei beschäftigen müssen“,<br />

sagt Ströbele. Er rechnet fest damit.<br />

Das sei mit der Grund, warum er noch<br />

mal für den Bundestagswahlkampf antreten<br />

will, wenn seine Krankheit geheilt ist.<br />

Er will die Aufklärung mit zu Ende bringen.<br />

Und das Versprechen einlösen.<br />

Wolf Schmidt<br />

ist Redakteur für Innere Sicherheit<br />

der Berliner „tageszeitung“. Er<br />

beobachtet die Arbeit des Untersuchungsausschusses<br />

seit Januar<br />

Foto: Urban Zintel<br />

62 <strong>Cicero</strong> 11.2012


www.gq.de<br />

DAS MÄNNER<br />

STIL MAGAZIN.


| B e r l i n e r R e p u b l i k | R ü c k s c h a u<br />

Der Alte, das<br />

Altern und ich<br />

Der eigene Hosenbund ist von der 32 auf die 34 gewandert. Und Helmut Kohl ist ein<br />

Greis. Man kann den Alten wie einen Spiegel nehmen, in dem man sein Leben anschaut<br />

von Kurt Kister<br />

W<br />

oran merkt man, dass man<br />

wirklich älter wird?<br />

Nein, es geht jetzt nicht<br />

um solch verdrießliche<br />

Dinge wie Haarausfall oder<br />

die trüb stimmende Erkenntnis, dass zwar<br />

die Beinlänge der Jeans bei 32 bleibt, der<br />

Bund aber nach 34 gewandert ist und keinerlei<br />

Anstalten macht, das Weiterwandern<br />

einzustellen. Über so etwas kann man sich<br />

hinweghelfen, sei es indem man sich wie<br />

Bruce Willis den Schädel rasiert oder sei es,<br />

dass man die Hemden nur noch über der<br />

Hose trägt, was ja sogar die coolen Italiener<br />

ohne Bauch tun (die mit Bauch allerdings<br />

auch).<br />

Nicht hinweghelfen kann man sich<br />

über die Erkenntnis, dass Menschen, die<br />

für das eigene Leben eine gewisse Rolle<br />

spielten, ebenfalls alt, sehr alt geworden<br />

sind. Und darin spiegelt man auch sich<br />

selbst – „den hätte ich jetzt fast nicht mehr<br />

erkannt, der ist aber alt geworden“. Man<br />

rechnet nach und stellt fest, dass man jetzt<br />

selbst so alt ist wie er, der heute Alte, es<br />

damals war, als man ihn auf dem Höhepunkt<br />

seiner Karriere kannte und beobachtete.<br />

Das ist eigentlich nicht so lange her.<br />

Und doch sind es schon wieder 25 Jahre.<br />

Zum Beispiel Helmut Kohl. Als der<br />

vor ein paar Wochen gefeiert wurde, waren<br />

Fotos und Videoclips des alten Kanzlers<br />

im Rollstuhl omnipräsent. (Er wurde<br />

gefeiert, weil er vor 30 Jahren zum Kanzler<br />

gewählt worden war. Vor 30 Jahren? Kann<br />

das wirklich sein?)<br />

Kohl, der einst so agile Riese, ist im Alter<br />

geschrumpft. Er ist greisenhaft geworden,<br />

was nicht an seinem Lebensalter liegt,<br />

weil es andere 82-Jährige gibt, die sich zu<br />

Recht nicht als Greis bezeichnen lassen mögen.<br />

Ihn aber hat das Schicksal niedergeworfen.<br />

Ja, das klingt pathetisch. Vielleicht<br />

ist er trotzdem zufrieden, gar glücklich –<br />

auch weil ihm bewusst ist, dass er sich „eingeschrieben<br />

hat ins Buch der Geschichte“,<br />

wie er das früher formuliert hätte.<br />

Sollte er noch lesen, wird er vielleicht<br />

gelächelt haben bei der Lektüre mancher<br />

Jubiläumstexte von Noch-nicht-ganz-so-<br />

Alten, die schon früher über ihn geschrieben<br />

haben und es bis heute nicht verwinden<br />

können, dass jener Kohl – der von der<br />

geistig-moralischen Wende, der Provinzler,<br />

die Birne – doch irgendwie gesiegt hat, ein<br />

Großer wurde. Und sei es nur retrospektiv.<br />

(„Aber nicht die Parteispendenaffäre vergessen!“,<br />

tönt es aus der Kulisse …)<br />

Ach ja, Erinnerung. „Die Hamburger<br />

Blätter“ spielten damals eine große Rolle.<br />

Politisch. Sie schrieben gerne gegen Kohl<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

64 <strong>Cicero</strong> 11.2012


F r a u F r i e d F r a g t s i c h …<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Picture alliance<br />

an und werden dauernd von seinen Biografen<br />

zitiert. Heute hat nicht mal mehr<br />

der Spiegel eine eindeutige Agenda, was<br />

ja vielleicht gar nicht so schlecht ist. Von<br />

„den“ Hamburger Blättern als Gesamtwesen,<br />

gar als politischer Mediendrache, redet<br />

man eigentlich gar nicht mehr – höchstens<br />

sehr weit innerhalb der Branche, und<br />

dann geht es meistens um so Sachen wie<br />

die Nannen-Preis-Jury, die Frauenquote<br />

oder Doppelspitzen.<br />

Kohl, der immer so viel geredet hat,<br />

spricht nicht mehr. Er kann es nicht mehr,<br />

jedenfalls nicht so wie manche anderen Alten<br />

aus jener Zeit, in der man selbst jung<br />

war. Egon Bahr und Erhard Eppler, Heiner<br />

Geißler und Hans-Dietrich Genscher<br />

und natürlich Helmut Schmidt, der ewig<br />

währende Oberleutnant Dr. Staat, von dem<br />

man glauben könnte, er habe noch persönlich<br />

Fürst Bismarck gesehen. Diese Alten<br />

reden und schreiben. Sie haben, mit Ausnahme<br />

Schmidts, ihre damaligen Rollen<br />

längst hundertmal neu interpretiert und<br />

gelten heute nicht nur als weise, sondern<br />

sogar als Weise. Dass mancher von ihnen<br />

früher gehetzt hat oder ein DDR-Appeaser<br />

war, ist eigentlich nur noch von zeitgeschichtlichem<br />

Interesse.<br />

Jedenfalls kann Helmut Kohl sogar ein<br />

Spiegel sein. Ein Spiegel, in den man blickt<br />

und feststellt, wie lange vieles schon her ist,<br />

von dem man heute eigentlich gerne erzählt.<br />

Man erzählt heute gerne davon, weil<br />

man älter wird.<br />

Menschen, die älter werden, neigen<br />

stärker dazu zurückzuschauen. Das ist einerseits<br />

banal, weil sie schlichtweg mehr<br />

erlebt haben als Jüngere. Andererseits fragt<br />

man sich, was wohl noch kommen kann,<br />

da man doch jene Jahre hinter sich hat, in<br />

denen man die kleinen Ekstasen der Unvernunft<br />

auslebte und nicht bei jedem<br />

überambitionierten Ziel nach den realistischen<br />

Rahmenbedingungen fragte. Gewiss,<br />

auch im Alter sind Ekstasen der Unvernunft<br />

möglich. Es besteht nur eine erhebliche<br />

Gefahr, sich dabei lächerlich zu machen.<br />

Im schlimmsten Fall vor sich selbst.<br />

Kurt Kister<br />

55 Jahre alt, ist Chefredakteur<br />

der Süddeutschen Zeitung<br />

... ob Homöopathie den<br />

gesellschaftlichen<br />

Frieden gefährdet<br />

S<br />

eit kurzem habe ich eine Freundin weniger.<br />

Sie hat mich bei Facebook entfreundet,<br />

weil ich geschrieben habe, dass ich nicht an<br />

Homöopathie glaube. Homöopathie habe nichts mit<br />

Glauben zu tun, fauchte sie – und kündigte mir die<br />

Freundschaft. Ich kenne sie seit 30 Jahren.<br />

Wenn man früher eine Party aufmischen<br />

wollte, musste man sagen, dass man Terroristen<br />

versteckt oder seine Kinder schlägt.<br />

Heute genügt es, die Wirksamkeit der<br />

weißen Zuckerkügelchen anzuzweifeln,<br />

schon wird man von Anhängern der<br />

Hahnemann’schen Heilslehre verfolgt, als<br />

habe man eine Mohammed-Karikatur aufs<br />

Papstgewand gepinkelt.<br />

Dass bislang in keiner wissenschaftlichen Studie die Wirksamkeit der Methode<br />

nachgewiesen werden konnte, ficht die Gläubigen nicht an. Sie warten mit<br />

unglaublichen Wunderheilungen auf, die ihnen oder ihren Bekannten oder ihren<br />

Haustieren widerfahren sind. Bei Tieren wirkt kein Placebo! Wer heilt, hat recht!<br />

Wer’s glaubt, wird selig.<br />

Inquisition war früher, heute gibt es Homöopathie. Wer zweifelt, ist der Häresie<br />

überführt und wird mit wütender Verachtung nicht unter 200 Jahren bestraft.<br />

Die Gläubigen halten sich selbst für Wissende. Und wollen – wie alle religiösen<br />

Fanatiker – die Ungläubigen bekehren. Dass auch Angehörige der gebildeten<br />

Stände die Homöopathie (und andere zweifelhafte Heilslehren vom Handauflegen<br />

bis zur Irisdiagnostik) propagieren, legt den Verdacht nahe, dass wir das Zeitalter<br />

der Aufklärung verlassen haben. Das magische Denken, das diesen Methoden zugrunde<br />

liegt, gilt aus medizinischer Sicht als psychopathologisch. Oder wie sonst<br />

soll man eine Lehre nennen, deren Anhänger sich mit Filzstift Zeichen auf den<br />

Körper malen, um ihre energetischen Schwingungen zu harmonisieren? Es handelt<br />

sich um die sogenannte „Neue Homöopathie“, ihr Guru Erich Körbler war gelernter<br />

Antennentechniker.<br />

Wenn das so weitergeht, haben wir hierzulande bald die gesellschaftliche Spaltung,<br />

um nicht von einem Religionskrieg zu sprechen. So beobachtete ich kürzlich<br />

auf einem Spielplatz, wie sich ein Kind das Knie aufschlug. Seine Mutter näherte<br />

sich mit Wundspray und Pflaster, wurde aber von einer engagierten Homöopathin<br />

weggerissen, die in die Runde blickte und rief: „Ein Filzstift, schnell!“ Die Dame<br />

kann von Glück sagen, dass es nicht mein Kind war.<br />

Es ist klar, dass mir nach diesem Text eine Fatwa der Homöopathie-Dschihadisten<br />

droht. Kurz dachte ich daran, Asyl in Nordkorea zu beantragen, wo es keine<br />

Kügelchen-Krieger gibt. Aber nun gehe ich erst mal hier in den Untergrund. Vielleicht<br />

habe ich ja noch ein, zwei noch nicht erleuchtete Freunde, die bereit sind,<br />

mich zu verstecken.<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 65


Leserreisen<br />

Wunder der Wüste<br />

Leuchtende Dünen, strahlende Sterne, glänzende Aussichten: Wer mit dem Zug durch<br />

Namibia reist, erlebt Natur und Kultur dieses faszinierenden Landes sicher und komfortabel<br />

Reise durch Namibia: Kupferrot schimmert<br />

die Wüste in der Abendsonne, hautnah lassen<br />

sich wilde Tiere erleben, komfortabel<br />

reist es sich im Sonderzug Desert Express<br />

Wo liegt die älteste Wüste der Welt? In Namibia. Wo finden<br />

sich die höchsten Dünen? In Namibia. Wo gibt es die<br />

beste Schwarzwälder Kirschtorte südlich von Lörrach? In<br />

Namibia, im Café Anton, in Swakopmund.<br />

Namibia ist ein Land der Extreme. Hier trifft die Wüste<br />

direkt auf den Ozean, deutsche Kleinstadtwohligkeit auf<br />

afrikanische Kultur, politische Jugendlichkeit auf geologisches<br />

Greisenalter. Gerade einmal<br />

22 Jahre jung ist der Staat,<br />

dessen Grenzen zurückgehen auf<br />

die Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“.<br />

1883 erwarb der Kaufmann<br />

Adolf Lüderitz in großem Stil Land<br />

von den einheimischen Nama, erbat<br />

Schutz bei Reichskanzler Otto<br />

14 Tage mit dem Desert Express<br />

quer durch Namibia<br />

von Bismarck und so wurde das<br />

Land an der Atlantikküste nördlich<br />

der britischen Kap-Kolonie<br />

deutsche Kolonie. Mit deutschem Ordnungssinn machte<br />

man sich an die Erschließung des Landes, es gab einen<br />

kleinen Diamantenrausch, als 1908 die Edelsteine, auch<br />

„Klippekies“ genannt, einfach im Sand gefunden wurden.<br />

Mit dem Ersten Weltkrieg endete dieser Abschnitt der Geschichte.<br />

„Südwest“ wurde von britischen Truppen eingenommen<br />

und 1920 dem Völkerbund unterstellt. Fortan<br />

von Südafrika verwaltet, schaffte es Namibia erst 1990,<br />

nach über hundertjähriger Fremdbestimmung, den Schritt<br />

in die Unabhängigkeit.<br />

Übrig geblieben sind neben einer verhältnismäßig guten<br />

Infrastruktur auch rund 12000 deutschstämmige Namibier,<br />

die ihre Kultur pflegen und für Überraschungen wie<br />

eben Schwarzwälder Kirschtorte am Wüstenrand sorgen.<br />

So weit zur politischen Jugendlichkeit. Erdgeschichtlich<br />

dagegen ist Namibia eines der „ältesten“ Länder der Erde.<br />

Durch seine besondere Lage finden sich in Namibia besonders<br />

alte Teile der Erdkruste. Andererseits ist das Klima


Leserreisen<br />

Informationen<br />

und Buchung<br />

Juwel der Wüste –<br />

Mit dem Sonderzug durch Namibia<br />

Entdecken Sie die grandiosen Landschaften Namibias auf<br />

einer nur von Lernidee Erlebnisreisen angebotenen Route!<br />

Mit dem exklusiv gecharterten Desert Express reisen Sie<br />

komfortabel vom Fish River Canyon zu den Dünen der<br />

Namib, ins charmante Swakopmund an der Atlantikküste<br />

und zu den Tierherden des Etosha-Nationalparks.<br />

Termine für den 14-tägigen Exklusiv-Charter mit dem<br />

Desert Express: im März, August, Oktober und November 2013<br />

Reisepreis: ab 4.420 € pro Person<br />

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Telefon: 030 / 786 000-24<br />

E-Mail: leserreise@cicero.de<br />

Online: www.lernidee.de/desert-express<br />

In Kooperation mit:<br />

hier über Jahrmillionen ähnlich trocken geblieben. Das hat<br />

zur Bildung der ältesten Wüste unseres Planeten geführt,<br />

der Namib, und dazu, dass sich geologische Formationen<br />

in Namibia weitestgehend ohne „störende“<br />

Fauna oder menschliche Siedlungsspuren<br />

besichtigen lassen.<br />

Eine Zugreise an Bord des „Desert Express“<br />

führt durch die grandiosen Landschaften<br />

Namibias und macht es möglich, dieses<br />

große, vielfältige Land auf eine einzigartige<br />

Art und Weise kennenzulernen. Vom<br />

Fish River Canyon im Süden – dem zweitgrößten<br />

Canyon der Erde – geht die Reise<br />

entlang am Rand der Kalahari hinein in die Namib. Überwältigend<br />

sind hier nicht nur die bis zu 380 Meter hohen,<br />

welthöchsten Sanddünen, die im Morgenlicht in den<br />

großartigsten Rot- und Orangetönen leuchten. Überwältigend<br />

ist auch die absolute Stille, die unser europäisches<br />

Kegelbahnen, Konzertsaal – das<br />

Erbe der deutschen Kolonialzeit<br />

Ohr nicht kennt. Und bei Nacht der Sternenhimmel, der<br />

hier über der Wüste ungestört von Lichtquellen oder auch<br />

nur Luftfeuchtigkeit so klar und prachtvoll strahlt, dass es<br />

kaum möglich ist, die einzelnen Sternenbilder<br />

auseinander zu halten.<br />

Von der Wüste führt die Reise weiter nach<br />

Walvis Bay (dt. Walfischbucht), wo die kalte<br />

Dünung des Atlantischen Ozeans direkt auf<br />

den Wüstensand trifft und Schwärme von<br />

Flamingos und Pelikanen entlang ziehen.<br />

Vorbei am „Matterhorn Namibias“, der<br />

1600 Meter hohen Spitzkoppe, geht die<br />

Fahrt weiter in den Etosha-Nationalpark,<br />

wo sich Elefanten, Löwen und Antilopen beobachten lassen.<br />

Und wenn am Ende das Komforthotel auf Schienen<br />

wieder in der Hauptstadt Windhoek einrollt, dann heißt es<br />

Abschied nehmen von Namibia und zwei unvergesslichen<br />

Wochen.


| W e l t b ü h n e<br />

Des Sultans Pascha<br />

Türkeis Generalstabschef Necdet Özel könnte die Nato in einen Krieg mit Syrien treiben<br />

von Markus Bernath<br />

S<br />

chultern klopfen, Wangen tätscheln,<br />

im Kampfanzug ein Gläschen<br />

Tee auf dem Dorfplatz trinken.<br />

Necdet Özel, der Mann, der die Nato<br />

und den Westen in einen Krieg mit Syrien<br />

reißen könnte, muss erst noch die Heimatfront<br />

auf Linie bringen. In Akçakale, einem<br />

Grenzstädtchen im Südosten der Türkei,<br />

reißt er den Arm hoch und ballt die Faust.<br />

„Wir haben ihnen eine Antwort verpasst“,<br />

sagt der türkische Armeechef und meint<br />

die Syrer auf der anderen Seite der Grenze.<br />

„Wenn es sein muss, schlagen wir noch härter,<br />

noch schlimmer zu.“ Nur Stunden später<br />

zwingen türkische Kampfjets eine syrische<br />

Passagiermaschine auf dem Flug von<br />

Moskau nach Damaskus zur Landung.<br />

Die Türken aber wollen keinen Krieg<br />

mit den Nachbarn, keine syrischen Flüchtlinge<br />

in Lagern und erst recht keine Artilleriegeschosse,<br />

die im Garten einschlagen.<br />

Sie wollen ihre Soldaten wie früher beim<br />

Paradieren bewundern und keine Generäle<br />

im Gefängnis sehen. Alles scheint ihnen<br />

wie auf den Kopf gestellt, und Necdet Özel<br />

müsste es richten. Doch die Zweifel an diesem<br />

„sehr besonderen Armeechef“, wie ein<br />

türkischer Kolumnist süffisant schrieb, nagen<br />

an der Bevölkerung.<br />

Den Einmarschbefehl nach Syrien hat<br />

die türkische Armee bereits in der Tasche.<br />

Özel, der Vier-Sterne-General, so heißt<br />

es in Ankara, habe die Regierung überzeugt,<br />

dass er mehr Spielraum brauche,<br />

um auf die Grenzverletzungen zu reagieren.<br />

Schwer war das nicht. Außenminister Ahmet<br />

Davutoğlu drängt ohnehin schon auf<br />

eine „Pufferzone“, ein militärisch besetztes<br />

Gebiet möglichst im Norden Syriens, damit<br />

die Armee auch gleich die Kurden dort<br />

unter Kontrolle bekommt. Regierungschef<br />

Tayyip Erdoğan wiederum will keine<br />

Schwäche zeigen. Özel ist sein Armeechef.<br />

Der erste, den sich eine gewählte türkische<br />

Regierung selbst ausgesucht hat.<br />

„Pascha“ nennt er ihn höflich, und<br />

Necdet „Pascha“, Herr über knapp eine<br />

halbe Million Soldaten, lässt kaum eine<br />

Gelegenheit aus, um sich bei Erdoğan zu<br />

revanchieren. Ein freundliches Wort hier,<br />

ein gut gewählter Auftritt dort. Über Politik<br />

redet er nicht, anders als seine Vorgänger<br />

und Kollegen, die nun im Gefängnis<br />

sitzen und denen wegen angeblicher<br />

Putschpläne gegen die konservativ-religiöse<br />

Regierung der Prozess gemacht wird.<br />

„Unser Land gehört uns allen. Unser Land<br />

kommt zuerst“, sagt Özel. Das findet auch<br />

Erdoğan gut.<br />

Seit dem Sommer 2011 steht der 62-Jährige<br />

an der Spitze der türkischen Armee. Die<br />

schlechten Nachrichten kommen seither<br />

in immer kürzeren Abständen: Schlampereien<br />

in Kommandostellen, Nachlässigkeit,<br />

Inkompetenz, die türkische Rekruten und<br />

Zivilisten das Leben kosten. 25 Soldaten<br />

starben zuletzt bei einer Explosion in einem<br />

Munitionslager. Und jetzt droht der<br />

syrische Sumpf.<br />

Als Özel bei einer Trauerfeier für tote<br />

Soldaten die Tränen kommen, fällt die<br />

Presse über ihn her. Der islamische Prediger<br />

Fethullah Gülen, die graue Eminenz der<br />

türkischen Politik, kommt ihm zu Hilfe.<br />

„Auch Mohammed hat geweint“, sagt Gülen.<br />

Es ist ein Zeichen, wie sehr der Armeechef<br />

vom Lager der Konservativen kooptiert<br />

wird.<br />

Dabei ist Necdet Özel, Sohn eines Offiziers<br />

an der Militärakademie in Ankara, in<br />

seiner Laufbahn allen kompromittierenden<br />

Wegmarken glücklich ausgewichen: Er war<br />

zu jung für den Putsch von 1971, zu weit<br />

weg beim nächsten Coup 1980. Özel ist<br />

damals Stabsoffizier im türkisch besetzten<br />

Norden von Zypern. Sein Name fehlt auch<br />

1997, als die Armeeführung den islamistischen<br />

Regierungschef Necmettin Erbakan<br />

aus dem Amt drängt. Dafür spricht er als<br />

Truppenkommandeur in den Kurdengebieten<br />

vom notwendigen „Gleichgewicht zwischen<br />

Sicherheitsbedürfnissen und Menschenrechten“<br />

– ein neuer Ton.<br />

Özel fällt den frommen Männern an<br />

der Macht auf. Er akzeptiert die Regierung<br />

der Zivilisten. Er ist Demokrat aus<br />

Einsicht. Bei der Sitzung des obersten Militärrats<br />

2010, einem Gremium, das jedes<br />

Jahr die Beförderungen der höchsten<br />

Generäle festlegt, sichern Erdoğan und<br />

Staatschef Abdullah Gül Özels Platz auf<br />

den <strong>letzte</strong>n Sprossen der Karriereleiter.<br />

Er wird Kommandeur der Gendarmerie.<br />

Seine Einheiten vereiteln einen Anschlag<br />

auf Erdoğans Konvoi während des Wahlkampfs<br />

im vergangenen Jahr. Einen Gendarmeriekommandanten,<br />

der seine Männer<br />

bei gewalttätigen Protesten während<br />

eines Wahlkampfauftritts des Regierungschefs<br />

zusehen lässt, setzt er ab. So etwas vergisst<br />

Erdoğan nicht. Als im Sommer 2011<br />

Armeechef IŞik Koşaner und die Kommandeure<br />

von Marine, Heer und Luftwaffe aus<br />

Protest gegen die Serie von Verhaftungen<br />

zurücktreten, schlägt Özels Stunde. Er ist<br />

der Einzige, der in der Stabsführung übrig<br />

bleibt. Erdoğan und Gül machen ihn<br />

zum Chef.<br />

Özel, ein Spezialist im Kampf gegen<br />

die PKK, ist einer der wenigen türkischen<br />

Generäle, die nie in Nato-Strukturen gearbeitet<br />

haben oder in den USA ausgebildet<br />

wurden. Zehn Monate lässt Özel sich nach<br />

seiner Ernennung zum Armeechef Zeit,<br />

bis er eine Einladung nach Washington<br />

annimmt. Der General schmeichle der Regierung<br />

und sei überfordert, heißt es jetzt<br />

in vielen Leitartikeln türkischer Zeitungen.<br />

„Das sind freche Bemerkungen“, grummelt<br />

Erdoğan. „In meinen zehn Jahren im Amt<br />

als Ministerpräsident haben wir nie willkürliche<br />

Ernennungen durchgeführt.“ Der<br />

Sultan und sein Pascha sind ein Team.<br />

Markus Bernath<br />

ist Türkei-Korrespondent der<br />

österreichischen Tageszeitung<br />

Der Standard und der Financial<br />

Times Deutschland<br />

Fotos: Picture Alliance/DPA, privat (Autor)<br />

68 <strong>Cicero</strong> 11.2012


„Wenn das<br />

weitergeht,<br />

werden<br />

wir noch<br />

heftiger, noch<br />

schlimmer<br />

reagieren”<br />

Generalstabschef Necdet Özel<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 69


| W e l t b ü h n e<br />

Im Namen Europas<br />

Als Richterin in Straßburg wacht Angelika Nußberger über die Einhaltung der Menschenrechte<br />

von Vanessa De L’ or<br />

S<br />

eit fast zwei Jahren hat Angelika<br />

Nußberger offiziell keine Meinung<br />

mehr. Dabei hätte die Völkerrechtlerin<br />

viel zu sagen. Zum Beispiel<br />

über die ukrainische Oppositionspolitikerin<br />

Julia Timoschenko oder über den einstigen<br />

russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski,<br />

die in ihrer jeweiligen Heimat<br />

im Gefängnis sitzen. Doch Richter am<br />

Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />

meiden öffentliche Debatten. Jede<br />

Äußerung könnte als Parteinahme ausgelegt<br />

werden.<br />

Gerade erst haben Nußberger und ihre<br />

Richterkollegen im Fall Timoschenko die<br />

Beteiligten zur Haft der ehemaligen Regierungschefin<br />

befragt. Jedes Jahr muss die<br />

49-jährige Slawistin weit mehr als 1000 Beschwerden<br />

prüfen. Damit habe sie noch<br />

mehr Pflichtlektüre zu bewältigen als<br />

früher in ihrer Zeit am Münchner Max-<br />

Planck-Institut für Sozialrecht, wo sie Anfang<br />

der neunziger Jahre forschte, und später<br />

am Kölner Institut für Ostrecht, das sie<br />

von 2002 an leitete, bis sie im Januar 2011<br />

nach Straßburg wechselte.<br />

Im Augenblick liest die Frau mit den<br />

lebhaften Augen ausnahmsweise nicht,<br />

sondern isst in der Kantine des futuristisch<br />

anmutenden Straßburger Justizpalasts. Allerdings<br />

scheint sie die Speisen kaum zu bemerken,<br />

so sehr ist sie ins Gespräch vertieft.<br />

Oft besprechen Richter hier ihre Fälle. Es<br />

sind 47 Männer und Frauen aus 47 Ländern,<br />

die über die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

wachen sollen. Die Hüter<br />

dieser Gesetze sind eine bunte Mischung<br />

aus Wissenschaftlern, Richtern, Anwälten<br />

und Menschenrechtlern zwischen 39 und<br />

70 Jahren. Die Kantine wirkt wie ein eigener<br />

Kosmos. Litauische, polnische, holländische<br />

und slowenische Worte schwirren<br />

umher. Es dominieren Französisch und<br />

Englisch, die Hauptsprachen des Hauses.<br />

Die gebürtige Münchnerin beherrscht<br />

beide, dazu noch Russisch. Eine ehemalige<br />

Mitarbeiterin Nußbergers aus Köln<br />

hat sie einmal als „teamfähig und diszipliniert“<br />

beschrieben. Das sollte in diesem<br />

kulturellen Potpourri helfen, zumal europäisch<br />

hier nicht Europäische Union bedeutet.<br />

Deren Gerichtshof befindet sich<br />

in Luxemburg. Europäisch bedeutet in<br />

Straßburg: alle Staaten, die die Europäische<br />

Menschenrechtskonvention unterschrieben<br />

haben. Das erweiterte Europa<br />

erstreckt sich mittlerweile bis nach Aserbaidschan.<br />

Mittendrin fehlen nur Weißrussland<br />

und der Vatikan.<br />

Zum Gespräch geht es in Nußbergers<br />

Büro im dritten Stock des Justizpalasts, in<br />

dem es beinahe so viele Gänge zu geben<br />

scheint wie Akten. Nach jeder Frage lässt<br />

die Juristin einige Sekunden verstreichen,<br />

wohl um in Ruhe zu überlegen, was sie sagen<br />

darf. Straßburg vergleicht sie mit dem<br />

Turm von Babel. „Nur ist es umgekehrt:<br />

Aus vielen Sprachen muss wieder eine werden.“<br />

Recht und Unrecht in diesem Europa<br />

gelte es immer genauer zu definieren,<br />

eine gemeinsame Sprache der Gerechtigkeit<br />

zu entwickeln. Grundlage aller Diskussionen<br />

ist die Europäische Menschenrechtskonvention.<br />

Wie beschreibt dieses<br />

Dokument die jeweiligen Rechte, sei es das<br />

Recht auf einen fairen Prozess oder das auf<br />

freie Meinungsäußerung? „Straßburg wird<br />

zum Orientierungspunkt für die nationalen<br />

Gerichte.“<br />

Tatsächlich sorgt dieses europäische<br />

Primat häufig für Verstimmung, auch in<br />

Deutschland. Der frühere Verfassungsrichter<br />

Hans-Jürgen Papier etwa warnte davor,<br />

sich in Fälle einzumischen, die nationale<br />

Gerichte besser lösen könnten. In Großbritannien<br />

dachte man im Regierungslager<br />

sogar laut darüber nach, die Konvention<br />

aufzukündigen. Das ist in der 53-jährigen<br />

Geschichte des Gerichts bisher nur einmal<br />

geschehen: Griechenland war 1970<br />

vorübergehend ausgestiegen. Für die Zukunft<br />

wünscht sich Nußberger, „dass der<br />

Gerichtshof als das bestehen bleibt, was<br />

er ist – ein Schrittmacher für europäische<br />

Werte“.<br />

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

hat das Gericht immer mehr Fälle<br />

aus Osteuropa zu bearbeiten. „Für viele<br />

Menschen in Osteuropa ist Straßburg mehr<br />

als ein Gericht. Es ist die <strong>letzte</strong> Hoffnung“,<br />

sagt Nußberger. Allerdings ist die Fülle an<br />

Klagen längst ein Problem für den Gerichtshof<br />

geworden. Mancher Kläger wartet<br />

derzeit fünf Jahre, bis sein Fall bearbeitet<br />

werden kann. Völkerrechtler sehen die<br />

Funktion des Gerichts durch seine Überlastung<br />

gefährdet. Eine richterliche Sisyphosaufgabe.<br />

Nußberger jedenfalls ist kein Verdruss<br />

über ihre Arbeit anzumerken. „Wir<br />

werden das schon schaffen“ – das klingt<br />

so unbefangen zuversichtlich, als spreche<br />

sie über die Wetterlage vor einem Picknick.<br />

Sie wünsche ihr, hatte Nußbergers<br />

Vorgängerin, die frühere Verfassungsrichterin<br />

Renate Jaeger gesagt, dass sie ihren<br />

„guten Mut“ und „ihre Fröhlichkeit …nicht<br />

verliert“. Davon scheint noch jede Menge<br />

vorhanden zu sein.<br />

Frühere Mitarbeiter erzählen, wie die<br />

Mutter von zwei mittlerweile erwachsenen<br />

Kindern jede Gelegenheit wahrnahm, um<br />

auch in entlegene Winkel Osteuropas zu reisen<br />

– und sei es in einer klapprigen Tupolew.<br />

Ist es nicht langweilig, nun so viele Akten<br />

wälzen zu müssen und kaum noch in<br />

der Welt herumzukommen? „Meine Arbeit<br />

jetzt liefert mir tiefe Einblicke in menschliche<br />

Schicksale und menschliches Leiden<br />

überall in Europa“, erwidert sie.<br />

Vanessa de l’Or<br />

ist freie Journalistin<br />

und lebt in Berlin<br />

Fotos: Andy Ridder, Andrej Dallmann (Autorin)<br />

70 <strong>Cicero</strong> 11.2012


„Meine Arbeit liefert<br />

mir tiefe Einblicke<br />

in menschliche<br />

Schicksale und<br />

menschliches Leiden<br />

überall in Europa“:<br />

Angelika Nußberger<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 71


| W e l t b ü h n e<br />

Der WEICHMACHER<br />

Reinhard Silberberg empfahl einst, die EU-Stabilitätsregeln zu lockern. Heute arbeitet er im Schuldenstaat Spanien<br />

von Andreas Rinke<br />

S<br />

trafversetzungen sehen anders<br />

aus. Draußen scheint die Sonne<br />

auch an diesem Oktobertag auf<br />

die Palmen am Eingang des üppigen Gartens.<br />

Im eleganten Empfangsraum der Residenz<br />

des deutschen Botschafters in Madrid<br />

herrscht angenehme Kühle. „Mir gefällt<br />

es hier sehr gut“, setzt Reinhard Silberberg<br />

an, nippt an einem Tonic-Wasser und<br />

schwärmt von den Menschen, dem Essen,<br />

auch dem Wein in Spanien. Der frühere<br />

europapolitische Berater von Altkanzler<br />

Gerhard Schröder ist mit sich im Reinen.<br />

Dabei gilt der Posten am Südwestrand<br />

Europas nicht gerade als klassische Karrierestation<br />

nach sieben Jahren Kanzleramt<br />

und vier Jahren als Europastaatssekretär<br />

im Außenministerium. Folgt man<br />

der Argumentation von Union und FDP,<br />

muss Silberberg nun ausbaden, was er als<br />

Leiter der Europaabteilung im Kanzleramt<br />

mit zu verantworten hatte. Denn die<br />

Schuldenkrise schwappt gerade mit Wucht<br />

nach Spanien. Und die rot-grüne Regierung<br />

hatte damals die Stabilitätskriterien<br />

aufgeweicht. Das wird heute von vielen als<br />

Sündenfall und tiefere Ursache für die Eurokrise<br />

angesehen, weil sich andere Staaten<br />

danach auch nicht mehr diesen Vorgaben<br />

verpflichtet fühlten. Den entscheidenden<br />

Rat bekam Gerhard Schröder damals von:<br />

Reinhard Silberberg.<br />

Aber so einfach ist die Geschichte nicht.<br />

Denn die spanischen Probleme stammen<br />

gerade nicht aus einem laxen Umgang mit<br />

der Haushaltsdisziplin, sondern aus einem<br />

unkontrollierten Immobilienboom.<br />

Reinhard Silberberg sagt, dass das Amt<br />

des Botschafters in Spanien sogar die Aufgabe<br />

seiner Wahl ist. Madrid, ein Abschiebeposten?<br />

Schon vor Jahren habe er von<br />

dieser Position geträumt, schon weil er seiner<br />

spanischen Frau die Rückkehr in ihr<br />

Land versprochen hatte.<br />

Sieben Zigaretten später wird der Kettenraucher<br />

ernster. „Man muss bei der Bewertung<br />

doch immer die besonderen damaligen<br />

Umstände sehen“, sagt er mit Blick<br />

auf die Zeit nach 2003. Schröders Regierung<br />

habe unter besonderem Druck gestanden.<br />

Innenpolitisch hatte der Kanzler<br />

gerade die „Agenda 2010“-Reformen angepackt.<br />

Die SPD-Anhänger tobten, die Arbeitslosenzahlen<br />

stiegen auf über fünf Millionen,<br />

die Sozialausgaben schossen in die<br />

Höhe. Dazu kamen steigende Überweisungen<br />

an die EU. Brüssel mahnte, Deutschland<br />

müsse mehr für Wachstum tun, und<br />

schickte gleichzeitig blaue Briefe wegen der<br />

Überschreitung des erlaubten Haushaltsdefizits.<br />

„Weil die EU-Kommission damals jeden<br />

Ermessensspielraum verweigerte, gab<br />

es kaum eine andere Wahl, als die Stabilitätspaktregeln<br />

etwas zu flexibilisieren“, sagt<br />

Silberberg heute.<br />

Auch sein damaliger Chef ist dieser<br />

Meinung. Er schwärmt von der Kompetenz<br />

seines einstigen Beraters, wenn er auf Silberberg<br />

angesprochen wird. „Die Vorwürfe<br />

sind natürlich Unsinn. Es wäre unmöglich<br />

gewesen, die Agenda 2010 durchzusetzen<br />

und gleichzeitig 20 Milliarden Euro zusätzlich<br />

im Bundesetat einzusparen“, sagt<br />

Schröder. „Weder die Krise in Spanien noch<br />

in Irland haben zudem etwas mit der damaligen<br />

Entscheidung zu tun.“<br />

Allzu tief will der Berufsdiplomat Silberberg<br />

gar nicht in die Vergangenheit und<br />

ihre politische Bewertung abtauchen. Nach<br />

bisher 34 Jahren im Dienste Deutschlands<br />

gilt der sozialdemokratische Beamte ohnehin<br />

als echter Grenzgänger. Mit der nach<br />

2009 regierenden CDU-Kanzlerin Merkel<br />

hat er jedenfalls als Sherpa in der EU-<br />

Ratspräsidentschaft 2007 auch aus dem<br />

SPD-geführten Außenministerium gut zusammengearbeitet,<br />

die Differenzen in der<br />

Europapolitik halten sich in Deutschland<br />

ohnehin in engen Grenzen. Und 2010 – zu<br />

Zeiten der schwarz-gelben Koalition – heftete<br />

ihm Bundespräsident Horst Köhler das<br />

Große Verdienstkreuz an die Brust.<br />

Dass der Tempowechsel nach mehr als<br />

70 EU-Gipfeln, der Organisation der EU-<br />

Erweiterung und der Rettung des Verfassungsvertrags<br />

nicht einfach war, deutet er<br />

trotz seiner Spanien-Begeisterung an. „Es<br />

war am Anfang in Madrid schon ungewohnt,<br />

wenn das Telefon plötzlich eine<br />

Stunde lang kein einziges Mal klingelt“,<br />

merkt er trocken an. Jetzt kümmert er sich<br />

im Notfall schon mal um die Bezahlung<br />

der Handwerker in seiner Residenz.<br />

Unwichtig findet er seine Arbeit als<br />

Botschafter aber nicht – im Gegenteil. Er<br />

ist zum Chefdeuter der komplizierten spanischen<br />

Politik mit ihren nationalen Empfindlichkeiten<br />

und regionalen Eigenheiten<br />

geworden. In Spanien erklärt er immer wieder<br />

die deutschen Positionen und wirbt um<br />

Verständnis. Im Hintergrund hilft er mit,<br />

dass sich beim Besuch der Kanzlerin in Madrid<br />

die Crème de la Crème der deutschen<br />

Wirtschaft einfindet, um ein Bekenntnis<br />

zum Standort Spanien abzulegen.<br />

„In Spanien habe ich zudem gemerkt,<br />

wie wichtig es ist, sein eigenes Land immer<br />

von außen zu sehen“, sagt Silberberg,<br />

der selbst nur elf Diplomatenjahre im Ausland<br />

verbrachte, die Hälfte davon in Bangladesch<br />

und Guatemala. Eines hat er im<br />

krisengeplagten Madrid gelernt: „Man<br />

braucht in Deutschland keinen Lautsprecher<br />

und kein Megafon mehr. Selbst ein<br />

Flüstern in Berlin wird heute deutlich<br />

wahrgenommen.“<br />

Andreas Rinke<br />

ist politischer Chefkorrespondent<br />

von Reuters in Berlin. Zuletzt<br />

erschien von ihm (mit Christian<br />

Schwägerl): „11 drohende Kriege“<br />

Fotos: Ofelia de Pablo & Javier Zurita/laif, Privat (Autor)<br />

72 <strong>Cicero</strong> 11.2012


„Weil die EU-Kommission<br />

damals jeden Ermessensspielraum<br />

verweigerte,<br />

gab es kaum eine<br />

andere Wahl, als die<br />

Stabilitätspaktregeln<br />

etwas zu flexibilisieren“<br />

Reinhard Silberberg, früher Kanzlerberater,<br />

heute Deutschlands Botschafter in Spanien<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 73


| W e l t b ü h n e | D i e n e u e S e e m a c h t<br />

74 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Herrscher<br />

der Meere<br />

Amerika ruft das pazifische Zeitalter aus. China<br />

schwingt sich zur regionalen Hegemonialmacht auf.<br />

Und in den asiatischen Nachbarländern wächst die<br />

Angst. In der Region verteilen sich die Kräfte neu<br />

von Oliver Radtke<br />

Illustration: Leif Heanzo<br />

E<br />

nde der siebziger Jahre bemühten<br />

sich China und Japan um den<br />

Abschluss eines Friedens- und<br />

Freundschaftsvertrags. Die Übereinkunft<br />

über die Diaoyu-Inseln,<br />

die schließlich unter dem damaligen Vizepremier<br />

Deng Xiaoping mit Japans Ministerpräsident<br />

Fukuda Takeo zustande kam,<br />

hatte geradezu salomonischen Charakter.<br />

„Es ist verständlich, dass beide Seiten unterschiedliche<br />

Auffassungen in der Frage der<br />

Inseln haben, die Ihr Senkaku-Inseln und<br />

wir Diaoyu-Inseln nennen. Es ist eine gute<br />

Entscheidung, dass wir diese Frage in unseren<br />

Verhandlungen nicht berühren. Die<br />

nächsten Generationen werden die Frage<br />

mit größerer Weisheit angehen. Wir sollten<br />

uns gegenwärtig darauf beschränken, die<br />

Lage ins Auge zu fassen.“ Mit diesen Worten<br />

schuf Deng am 25. Oktober 1978 die<br />

Grundlage für eine langfristige und pragmatische<br />

Sicht auf territoriale Streitigkeiten<br />

zwischen den beiden Ländern.<br />

Knapp 34 Jahre später scheint es mit<br />

der Weisheit nicht weit her zu sein. Am<br />

25. September lieferten sich Boote der japanischen<br />

Küstenwache mit taiwanesischen<br />

Hochseefischern ein feuchtes, alles andere<br />

als fröhliches Wasserkanonengefecht wenige<br />

Seemeilen von derselben Inselgruppe<br />

entfernt, die Deng drei Jahrzehnte zuvor<br />

zu seinem Ausspruch veranlasste.<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 75


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mehr als 30 Jahre wirtschaftliche,<br />

technische und militärische Entwicklung<br />

haben aus China eine andere Nation als<br />

1978 werden lassen. Die kommende Führungsgeneration<br />

ist die erste, die nicht von<br />

Deng Xiaoping handverlesen wurde, und<br />

sie hat eigene Vorstellungen von der Rolle<br />

Chinas in der Welt. Die Marschroute zu<br />

mehr Selbstbehauptung schlägt sich außenpolitisch<br />

nicht nur im Verhalten im UN-<br />

Sicherheitsrat nieder, sondern auch in stetig<br />

steigenden Militärausgaben (Lesen Sie<br />

dazu auch ab Seite 80) und wachsenden<br />

Machtansprüchen gegenüber den kleineren<br />

asiatischen Nachbarn, sei es gegenüber Vietnam,<br />

den Philippinen oder vor der Küste<br />

Taiwans, wo die Senkaku-Inseln liegen.<br />

China beansprucht längst nicht nur die<br />

Senkakus, sondern auch die Mehrheit der<br />

Inseln im Südchinesischen Meer. Es geht<br />

Peking insbesondere um die Inselgruppen<br />

der drei „Shas“: Xisha (Paracel), Zhongsha<br />

(Macclesfield Bank) und Nansha (Spratly).<br />

Sie machen fast zwei Drittel des 3,5 Millionen<br />

Quadratkilometer umfassenden Südchinesischen<br />

Meeres aus.<br />

Der Territorialstreit zwischen China<br />

und seinen südostasiatischen Nachbarländern<br />

konzentriert sich vor allem auf die<br />

Spratly-Inseln, die neben der Volksrepublik<br />

auch von den Philippinen, Vietnam, Malaysia,<br />

Taiwan und Brunei ganz oder teilweise<br />

beansprucht werden. Von den mehr<br />

als 100 weit verstreuten Riffs, Atollen und<br />

kleinen Inseln sind knapp die Hälfte mit<br />

Militärstützpunkten dieser Länder versehen<br />

(mit Ausnahme Bruneis). Vietnam unterhält<br />

die meisten Garnisonen, das vietnamesische<br />

Parlament hat darüber hinaus ein<br />

Seerecht verabschiedet, wonach sowohl die<br />

Paracel- als auch die Spratly-Inseln zu Vietnam<br />

gehören sollen. Peking protestierte<br />

umgehend. Vor allem aber mit den Philippinen<br />

liefert sich China immer wieder<br />

rhetorische Scharmützel über den Ausbau<br />

der militärischen Präsenz – Kutterkämpfe<br />

wie jüngst vor den Senkakus gehören zwischen<br />

diesen Protagonisten fast schon zum<br />

Alltag. Nach den jüngsten gemeinsamen<br />

Militärübungen der Philippinen mit den<br />

USA könnten bald weitere chinesische Sticheleien<br />

folgen.<br />

In beiden Meeren geht es nicht zuletzt<br />

auch um ökonomische Fragen.<br />

Die Inselgruppen liegen in von vielen<br />

Anrainerstaaten seit Jahrhunderten genutzten,<br />

ertragreichen Fischfanggebieten. Noch<br />

wichtiger aber dürfte das sein, was chinesische<br />

Wissenschaftler bereits in den neunziger<br />

Jahren als „zweiten Persischen Golf“ bezeichneten:<br />

In den Festlandsockeln vor den<br />

jeweiligen Inselgruppen wurden in den vergangenen<br />

Jahrzehnten riesige Erdöl- und<br />

Erdgasvorkommen im Wert von mehreren<br />

Billionen US-Dollar lokalisiert.<br />

Letztendlich aber geht es um die Vorherrschaft<br />

in der Region – und damit auch<br />

um eine geostrategische Frage. Das Südchinesische<br />

Meer gilt als der wichtigste Schifffahrtsweg<br />

von Asiens neuen Märkten hin<br />

zum Westen. Mehr als die Hälfte der globalen<br />

Handelsflotten passiert dieses Gebiet,<br />

80 Prozent des nordostasiatischen Öls, der<br />

Treibstoff des dortigen Wirtschaftswachstums,<br />

werden hier transportiert. Wer die<br />

Inseln im Südchinesischen Meer besitzt,<br />

hat die direkte Kontrolle über die meisten<br />

Seewege der Welt, die aus Westeuropa<br />

nach Ostasien führen.<br />

Während China hier auf bilaterale<br />

Verhandlungen besteht, setzen seine asiatischen<br />

Nachbarn auf internationale<br />

Vermittlung, insbesondere auf die Unterstützung<br />

der USA. Vorschläge des US-<br />

Außenministeriums, etwa einen Code of<br />

Conduct einzuführen, einen Verhaltenskodex<br />

für internationale Streitigkeiten, den<br />

alle Parteien unterzeichnen, lehnt China<br />

kategorisch ab. Auch das internationale<br />

Seerechtsabkommen von 1982, das die<br />

Grundlage für die Klärung territorialer<br />

Streitigkeiten hätte liefern können, verfehlte<br />

sein Ziel; in der Praxis führte es nur<br />

zu weiteren Überschneidungen der Gebietsansprüche.<br />

Daran haben auch bilaterale<br />

Abkommen sowohl zwischen den<br />

Philippinen und China als auch zwischen<br />

Vietnam und China kaum etwas ändern<br />

können. Und auch der Code of Conduct,<br />

den die Vereinigung der Südostasiatischen<br />

Nationen (Asean) im Jahr 2002 mit China<br />

geschlossen hat, hat sich in der Praxis als<br />

wirkungslos erwiesen. Was auch daran liegt,<br />

dass es unter den Asean-Ländern ebenfalls<br />

teilweise überlappende Ansprüche gibt,<br />

und dadurch die erhoffte gemeinsame Position<br />

gegenüber China bislang nicht zustande<br />

gekommen ist. Erst im Juli wurde<br />

der Ministergipfel des Verbunds konsenslos<br />

beendet, nachdem es über die heftiger<br />

werdenden Streitigkeiten im Südchinesischen<br />

Meer zu keiner Einigung kam. Zum<br />

76 <strong>Cicero</strong> 11.2012


D i e n e u e S e e m a c h t | W e l t b ü h n e |<br />

ersten Mal in der 45-jährigen Geschichte<br />

der Organisation gab es keine gemeinsame<br />

Abschlusserklärung.<br />

Zumindest in einem aber sind sich die<br />

asiatischen Anrainerstaaten einig: Sie wollen<br />

gute Beziehungen mit China und den<br />

USA; sie möchten am Wirtschaftswunder<br />

Pekings teilhaben und die bilateralen Beziehungen<br />

mit China entspannen, aber<br />

gleichzeitig auch Sicherheitsgarantien der<br />

USA, falls sich die Beziehungen zu China<br />

doch merklich verschlechtern.<br />

Zwar werden die<br />

amerikanischen<br />

Verteidigungsausgaben<br />

in den<br />

nächsten zehn<br />

Jahren um rund<br />

500 Milliarden<br />

Dollar gekürzt<br />

werden. Die<br />

Militärpräsenz<br />

aber wird<br />

sich – sehr zum<br />

Unmut Chinas –<br />

erhöhen<br />

Noch vor sechs Jahren führten Politiker<br />

und Thinktanks in China die wachsenden<br />

und expansionistischen Wirtschaftsmächte<br />

des 19. Jahrhunderts, Deutschland<br />

und Japan, als „negatives Beispiel“ an.<br />

Heute sprechen Thinktanks offensiv von<br />

einem neuen Platz Chinas auf der Weltkarte.<br />

In diesem Jahr, und ganz besonders<br />

deutlich vor dem 18. Parteitag der Kommunistischen<br />

Partei, präsentierte sich die<br />

Pekinger Führung als ostasiatische Nummer<br />

eins. Selbstbewusst erklärte sie die<br />

von den USA moderierten Gespräche mit<br />

Japan für gescheitert und signalisierte damit<br />

unverhohlen, keinen Wert auf Amerikas<br />

Vermittlung zu legen.<br />

Bislang bezeichnet die Führung weder<br />

das Ost- noch das Südchinesische Meer als<br />

„Kerninteressen“ („hexin liyi“) des Staates,<br />

die als nicht verhandelbar gelten und im<br />

Falle einer internationalen Einmischung<br />

direkte militärische und andere Konsequenzen<br />

nach sich zögen. In diese Kategorie<br />

fallen die drei bekanntesten Streitfragen:<br />

Taiwan, Tibet und die autonome Region<br />

Xinjiang im Westen des Landes. Das bedeutet<br />

aber nicht, dass das so bleiben muss.<br />

Im Ost- wie auch im Südchinesischen<br />

Meer treffen die alte Seemacht der USA<br />

und deren Alliierten unmittelbar auf die<br />

heranwachsende Seemacht der Volksrepublik<br />

China. Der Zwischenfall am 25. September<br />

dieses Jahres im Ostchinesischen<br />

Meer zwischen Schiffen aus Taiwan und<br />

aus Japan macht deutlich, wie strategisch<br />

Peking vorgeht und versucht, Etappensiege<br />

gegen Washingtons Strategie der Neuausrichtung<br />

seiner Streitkräfte im Asien-Pazifik-Raum<br />

zu erringen. Über die „Wasserkanonenschlacht“<br />

an jenem Tag wurde<br />

wohl berichtet, dass taiwanesische Fischerboote<br />

durch den Korridor der japanischen<br />

Küstenwache brachen und bis zu zwei Seemeilen<br />

an die Küste der umstrittenen Inselgruppe<br />

gelangten, um dann abzudrehen.<br />

Kaum erwähnt wurde jedoch, dass<br />

fünf Patrouillenboote der volksrepublikanischen<br />

Küstenwache den Vorgang im vorgeschriebenen<br />

Abstand von zwölf Seemeilen<br />

zur Küste der Inselgruppe beobachteten.<br />

Damit signalisierte die chinesische Marine<br />

nicht nur Unterstützung für die Aktion der<br />

Fischer. Es wurde vor allem auch der Eindruck<br />

erweckt, die taiwanesischen Schiffe<br />

stünden unter dem Schutz des chinesischen<br />

Festlands.<br />

Nicht um Taiwan geht es dabei, das auf<br />

einen solchen Schutz gar keinen Wert legt,<br />

weil es ja in Konkurrenz zu China und Japan<br />

selbst Ansprüche erhebt. Sondern darum,<br />

Washington wegen seiner Sicherheitsgarantien<br />

gegenüber Taiwan unter Druck<br />

zu setzen. Das Signal der Chinesen an die<br />

USA ist deutlich: In Zukunft darf Washington<br />

mit einer sehr viel selbstbewussteren<br />

Außenpolitik rechnen.<br />

Die Entwicklungen in der Asien-Pazifik-Region<br />

werden Einfluss auf die gesamte<br />

Staatengemeinschaft haben: Die<br />

derzeitigen Territorialkonflikte zeugen vom<br />

wachsenden Anspruch Chinas, in der Region<br />

die führende Rolle zu spielen. Das atomar<br />

bewaffnete Nordkorea bleibt ein Risikofaktor.<br />

Und mit welchem Erfolg die<br />

Asean-Staaten gemeinsame außenpolitische<br />

Positionen entwickeln können, wird auch<br />

darüber entscheiden, ob und wie intensiv<br />

Amerika als Mediator gefragt sein wird.<br />

Die USA werden in den kommenden Jahren<br />

ihre Streitkräfte neu ausrichten. Sind sie<br />

bislang hälftig auf Atlantik und Pazifik verteilt,<br />

sollen 60 Prozent der Streitkräfte bis<br />

zum Jahr 2020 in den Pazifik verlegt werden.<br />

Am Ende dieser Umverteilung werden<br />

sechs Flugzeugträger und die Mehrheit<br />

der Zerstörer, U-Boote und Kreuzer<br />

der US-Marine im Pazifik stationiert sein.<br />

Das Ziel ist, wenn nötig, die schnelle Bereitstellung<br />

von Streitkräften, um die Sicherheitsverpflichtungen<br />

der USA in der<br />

Region zu erfüllen.<br />

Die Neuorientierung der Vereinigten<br />

Staaten entspringt der wachsenden Sorge<br />

des Pentagons vor Chinas militärischer<br />

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Bahman Nirumands Appell an den<br />

Westen, seine Politik endlich an<br />

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11.2012 <strong>Cicero</strong> 77<br />

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| W e l t b ü h n e | d i e n e u e s e e m a c h t<br />

Modernisierung in allen Bereichen. Nach<br />

Angaben des Stockholm International<br />

Peace Research Institute (Sipri) stiegen<br />

Chinas Verteidigungsausgaben von<br />

30 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf<br />

etwa160 Milliarden Dollar im Jahr 2012.<br />

Dieser Zuwachs ist zwar deutlich, liegt aber<br />

nach wie vor weit hinter den USA mit Ausgaben<br />

in Höhe von 662 Milliarden Dollar.<br />

Jenseits der Zahlen sollte man zum einen<br />

nicht vergessen, dass die Größe des Militärs<br />

und der Umfang seiner militärischen<br />

Ausrüstung noch keine direkten Schlüsse<br />

auf seine Einsatzfähigkeit zulassen und<br />

zum anderen, dass Peking zunächst an der<br />

inneren Sicherheit des Landes interessiert<br />

ist, deren Gewährleistung eine beachtliche<br />

Menge an Personal bindet. Dazu kommt:<br />

Peking wünscht sich zwar eine modernere<br />

Armee, fürchtet aber gleichzeitig eine allzu<br />

unabhängige Militärmacht.<br />

Vor diesem Hintergrund liegt der Fokus<br />

der chinesischen Streitkräfte auf asymmetrischen<br />

Manövern, also einer effizienten<br />

Abwehr beziehungsweise Störung amerikanischer<br />

Streitkräfte entlang der „Ersten<br />

Inselkette“ vor China, darunter auch der<br />

nach wie vor hochsensible Streitfall Taiwan.<br />

Zwar werden die amerikanischen Verteidigungsausgaben<br />

– nach aktuellem<br />

Stand – in den nächsten zehn Jahren um<br />

rund 500 Milliarden Dollar gekürzt werden.<br />

Die Militärpräsenz aber wird sich –<br />

sehr zum Unmut Chinas – erhöhen. Im<br />

australischen Darwin sollen Soldaten, in<br />

Singapur mehrere Kriegsschiffe stationiert<br />

und auf den Philippinen ehemalige Stützpunkte<br />

wiederbelebt werden. Neue Militärbündnisse<br />

mit Australien, Japan und Südkorea<br />

verdeutlichen: Nicht nur die USA,<br />

auch Chinas unmittelbare Nachbarn beobachten<br />

die Rüstungs- und Militärpolitik<br />

des Landes ganz genau. Und sie reagieren<br />

darauf mit einer stärkeren Zusammenarbeit<br />

mit Amerika.<br />

Nur: In ihrer Hinwendung zum Pazifik<br />

sollten die USA auch einer tiefen Verunsicherung<br />

in China Rechnung tragen. Sie<br />

erfordert ein breit angelegtes Engagement<br />

Der Aufstieg neuer Mächte war stets<br />

begleitet von großen Spannungen<br />

oder kriegerischen Auseinandersetzungen,<br />

wenn die alten<br />

Mächte sich den notwendigen<br />

veränderungen und Anpassungen<br />

in der internationalen Ordnung<br />

widersetzten<br />

der Amerikaner, das sowohl die neue chinesische<br />

Führungsriege einschließt als auch<br />

Akademiker und militärische Strategen sowie<br />

eine enge Kooperation, wie es sie im zivilen<br />

Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit<br />

längst gibt.<br />

Dabei gilt es, auch den deutlich vernehmbaren<br />

chinesischen Nationalismus<br />

richtig einzuschätzen. Dass der frühere<br />

Politstar und ehemalige Chongqinger Parteichef<br />

Bo Xilai im Zuge des Mordprozesses<br />

gegen dessen Ehefrau aus der Kommunistischen<br />

Partei ausgeschlossen wurde<br />

(und seinerseits ein Strafverfahren zu erwarten<br />

hat), weist womöglich auf eine tiefer<br />

gehende Zersplitterung der Führungsriege<br />

hin, deren Folgen bislang noch gar<br />

nicht abzusehen sind. Das jüngste kollektive<br />

Japan-Bashing, die staatlich orchestrierten<br />

Proteste und Boykotte japanischer<br />

Produkte stellen notdürftig eine nationale<br />

Einheit wieder her, welche durch die immense<br />

Zahl an sozialen Unruhen längst<br />

fragil geworden ist. Wer den Tiger reitet,<br />

kann schwer absteigen (qi hu nan xia), besagt<br />

ein chinesisches Sprichwort aus der<br />

Ming-Dynastie, das in diesen Tagen gern<br />

zitiert wird. Die Regierung reitet den Tiger<br />

gerne, und solange er den Reiter nicht<br />

beißt oder abwirft, wird sie das weiter tun.<br />

Doch wie oft kann oder will sie ihn noch<br />

reiten?<br />

Der Aufstieg neuer Mächte war stets begleitet<br />

von großen Spannungen oder kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen, wenn die<br />

alten Mächte sich den notwendigen Veränderungen<br />

und Anpassungen in der internationalen<br />

Ordnung widersetzten. Ein<br />

bewaffneter Konflikt zwischen China und<br />

den USA wäre jedoch weder im Interesse<br />

Pekings noch Washingtons.<br />

Die USA haben es in der Hand, ihre<br />

Bündnispartner auf den Aufstieg Chinas<br />

einzustimmen. Gleichzeitig sollten sich<br />

die Vereinigten Staaten davor hüten, Erwartungshaltungen<br />

zu schüren, die sie im<br />

Ernstfall nicht erfüllen können. Ebenso<br />

muss sich die neue chinesische Führung,<br />

sofern sie stark genug sein wird, von einem<br />

überholten nationalstaatlichen Selbstverständnis<br />

verabschieden.<br />

China und Amerika werden nicht<br />

zwangsweise über eine normale Rivalität<br />

zweier Supermächte hinauswachsen, urteilte<br />

jüngst der ehemalige US-Außenminister<br />

Henry Kissinger. Aber sie schulden<br />

sich und der Welt zumindest den Versuch.<br />

Eine Möglichkeit wäre die Gründung einer<br />

Pazifischen Gemeinschaft, wie es das Atlantische<br />

Bündnis zwischen Europa und den<br />

USA bereits vorlebt. Diese Gemeinschaft<br />

könnte sich als gemeinsamer Entwicklungsprozess<br />

aller Anrainerstaaten verstehen<br />

und nicht als strategische Partnerschaft<br />

zwischen den beiden großen Mächten in<br />

Ost und West.<br />

Beinahe 35 Jahre sind seit Dengs Äußerungen<br />

über die Senkaku-Inseln vergangen.<br />

Zeit für einen Versuch, „die Weisheit<br />

der nächsten Generationen“ einem Praxistest<br />

zu unterziehen.<br />

Oliver Radtke leitet das<br />

China-Programm der Robert Bosch<br />

Stiftung. Zuletzt erschien von ihm<br />

„50 Mal Mund auf in China –<br />

was man gegessen haben muss“<br />

Foto: Privat<br />

78 <strong>Cicero</strong> 11.2012


| W e l t b ü h n e | C h i n a s M i l i t ä r<br />

Alle Mann an die Waffen<br />

China untermauert seine Weltmacht-Ambitionen und rüstet kräftig auf. In diesem<br />

Jahr investiert die Volksrepublik 72 Milliarden Euro in ihr Militär. Tendenz steigend<br />

von Christiane Kühl<br />

80 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Foto: ZHA CHUNMING/Picture Alliance/DPA<br />

Der Stolz der Nation:<br />

Der erste Flugzeugträger<br />

Chinas ist imposant,<br />

aber auf absehbare Zeit<br />

nicht einsatzfähig<br />

A<br />

dmiral Zhang Zheng steht in blütenweißer<br />

Uniform an Deck. Es<br />

ist sein erster Tag als Kapitän<br />

des ersten Flugzeugträgers Chinas.<br />

„Dies ist ein riesiges Schiff<br />

mit teurer Ausrüstung und einer großen<br />

Mannschaft“, sagt er in fließendem Englisch<br />

in die Kamera des internationalen<br />

Fernsehkanals vom Staatssender CCTV.<br />

„Der Betrieb wird eine große Herausforderung<br />

sein.“ Dies sei „ein Meilenstein<br />

in der Geschichte der Volksbefreiungsarmee<br />

(VBA)“, betont Ministerpräsident<br />

Wen Jiabao bei der Feier. „Der Träger verbessert<br />

unsere operativen Fähigkeiten und<br />

erhöht die strategische Abschreckung sowie<br />

die Fähigkeit zum Gegenangriff“, ergänzt<br />

Admiral Zhang nüchtern.<br />

Tatsächlich ist der Koloss vor allem ein<br />

Symbol. Bis Chinas Marine in der Lage<br />

sein wird, den Flugzeugträger „Liaoning“<br />

einsatzfähig zu machen, werden nach Ansicht<br />

von Experten noch Jahre vergehen.<br />

Vorerst unterstreicht das Riesenschiff Pekings<br />

Anspruch, militärisch in der ersten<br />

Liga der Weltmächte mitzuspielen. Schon<br />

lange hatte China nach einem eigenen<br />

Flugzeugträger gestrebt. Da es selbst keinen<br />

entwickeln konnte, kaufte die Marine<br />

1998 in der Ukraine den nur halbfertigen<br />

Träger „Varjag“ der sowjetischen<br />

Kusnezow-Klasse.<br />

Ohne Maschine und Navigationssysteme<br />

wurde der<br />

graue Gigant nach China<br />

geschleppt.<br />

Seit gut 20 Jahren modernisiert<br />

China seine Streitkräfte,<br />

um sie fit zu machen<br />

fürs 21. Jahrhundert.<br />

Die Kommunistische Partei<br />

hatte die Armee – die ihr bis<br />

heute formal unterstellt ist –<br />

1927 gegründet. Damals rekrutierte<br />

die Partei Bauern als<br />

Freiheitskämpfer und Guerilla.<br />

Auch nach der Gründung<br />

der Volksrepublik 1949 blieb das<br />

Militär lange Zeit unterentwickelt. Mit<br />

Beginn des Umbaus verschlankte China<br />

die Truppe und startete die Modernisierung<br />

der veralteten Waffenarsenale.<br />

Heute hat die Armee 2,3 Millionen<br />

Soldaten,1570 Kampfjets und 550 <strong>Bombe</strong>r,<br />

79 Zerstörer und Fregatten, gut<br />

50 U‐Boote und rund 7000 Panzer. Das<br />

Nukleararsenal besteht aus 50 bis 75 Interkontinentalraketen,<br />

die laut Chinas<br />

Atomdoktrin eine „minimale Abschreckung“<br />

garantieren sollen. Außerdem sind<br />

nach Angaben des Pentagons 1000 bis<br />

1200 Kurzstreckenraketen auf Taiwan gerichtet.<br />

Sie sollen verhindern, dass die von<br />

Peking als abtrünnige Provinz betrachtete<br />

Insel die formale Unabhängigkeit ausruft.<br />

China betont stets, dass sein Militär für<br />

niemanden eine Bedrohung darstelle – zuletzt<br />

bei der Präsentation der „Liaoning“.<br />

Über Rüstungsziele äußert sich Peking<br />

hingegen nur vage. China wolle sein Militär<br />

in die Lage versetzen, „lokale Kriege<br />

unter Bedingungen der Informatisierung“<br />

zu gewinnen, sagte Wen Jiabao in<br />

Chinas<br />

Militär agiert<br />

so intransparent,<br />

dass<br />

nur bekannt<br />

ist, was<br />

Experten auf<br />

Umwegen<br />

herausbekommen<br />

seiner Regierungserklärung im März. Damit<br />

meine er „intensive, informationszentrierte<br />

Operationen von kurzer Dauer“,<br />

erklärt das Pentagon in seinem diesjährigen<br />

China-Bericht. Weniger blumig ausgedrückt<br />

heißt das: Cyber-Kriegführung.<br />

Wie ernst es Peking mit seinem Militär<br />

meint, zeigen die Zahlen: Das Verteidigungsbudget<br />

stieg in den vergangenen<br />

20 Jahren jährlich zweistellig. 2012 legte<br />

es offiziell um 11,2 Prozent auf 670 Milliarden<br />

Yuan (72 Milliarden Euro) zu. Die<br />

tatsächlichen Ausgaben liegen allerdings<br />

nach Schätzungen des Stockholm International<br />

Peace Research Institute<br />

(Sipri) gut 50 Prozent<br />

über dem offiziellen Wert.<br />

Die Sipri-Experten gehen<br />

davon aus, dass Forschung<br />

und Entwicklung getrennt<br />

budgetiert werden.<br />

Genau weiß dies aber<br />

niemand. Chinas Militär<br />

agiert so intransparent, dass<br />

nur bekannt ist, was Experten<br />

auf Umwegen herausbekommen.<br />

So berichtet<br />

das Pentagon beispielsweise,<br />

dass China sein Raketenarsenal<br />

stetig modernisiert.<br />

Dazu stelle es in großer Zahl<br />

bodenbasierte Marschflugkörper her, die<br />

Präzisionsschläge ausführen können. Außerdem<br />

entwickle China „Dongfeng 21D“,<br />

ein auf den Beschuss von großen Schiffen<br />

spezialisiertes Raketensystem. Solche Informationen<br />

gelten generell als zuverlässig.<br />

China sorgt immer wieder für Überraschung<br />

und Besorgnis in Fachkreisen.<br />

Etwa als vor wenigen Jahren Satellitenbilder<br />

einer Marinebasis auf der Tropeninsel<br />

Hainan Tunneleingänge zeigten, die auf<br />

die Existenz von Atom‐U‐Booten hindeuten.<br />

Dass China solche atomgetriebenen<br />

U-Boote mit ballistischen Raketen<br />

der „Jin“‐Klasse baut, bestätigt inzwischen<br />

das US‐Verteidigungsministerium.<br />

Diese sollen in etwa zwei Jahren atomfähige<br />

Raketen mit einer Reichweite von<br />

bis zu 7400 Kilometern abfeuern können<br />

und somit China erstmals eine atomare<br />

Abschreckung auf See ermöglichen.<br />

„Viele Experten glauben, dass China dieses<br />

System eigens für Tiefseepatrouillen in<br />

umstrittenen Gewässern des Südchinesischen<br />

Meeres entwickelt“, schreiben die<br />

US-Militärexperten Michael Chase und<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 81


| W e l t b ü h n e | C h i n a s M i l i t ä r<br />

Chinas Volksbefreiungsarmee<br />

1 Flugzeugträger<br />

50 U-Boote<br />

79 Zerstörer und Fregatten<br />

1000–1200 Kurzstreckenraketen<br />

Infografik: Kristina Düllmann; Foto: Privat<br />

2,3 Millionen Soldaten<br />

7000 Panzer 1570 Kampfjets<br />

550 <strong>Bombe</strong>r<br />

50–75 Interkontinentalraketen<br />

Im Bau<br />

Tarnkappenbomber<br />

Atomgetriebene U-Boote<br />

Militärausgaben<br />

offiziell<br />

geschätzt<br />

72 Milliarden Euro 108 Milliarden Euro 509 Milliarden Euro<br />

Quelle: Annual Report to Congress, Military and Security Developments Involving the People’s Republic of China 2012, Sipri<br />

Benjamin Purser. Dort streitet sich China<br />

mit anderen Anrainerstaaten um mehrere<br />

Riffe und Inseln, unter denen Rohstoffe<br />

vermutet werden.<br />

Ein weiterer Fall: Ende 2010 und im<br />

Mai 2012 tauchten in Blogs Bilder eines<br />

pechschwarzen Flugzeugs auf. Sie zeigten<br />

Testflüge des J‐20, eines von China entwickelten<br />

Tarnkappenbombers. Nach einigem<br />

Zögern druckten auch staatliche<br />

chinesische Medien die Bilder. Weitere<br />

J‐20‐Prototypen seien in der Entwicklung,<br />

berichtete die Zeitung Global Times.<br />

Dass China vermehrt seine Waffen<br />

selbst herstellt, ist immerhin belegbar. Zwischen<br />

2007 und 2011 gingen Chinas Rüstungsimporte<br />

nach Daten des Sipri um<br />

58 Prozent zurück. Zuvor war die Volksrepublik<br />

jahrelang der weltgrößte Rüstungsimporteur<br />

gewesen. Vor allem aus Russland<br />

kaufte Peking Kampfjets, Kriegsschiffe oder<br />

U‐Boote. Aus Israel bezog China laut Sipri<br />

Elektronik und Raketentechnologie – bis<br />

die USA Tel Aviv zu einem Exportstopp<br />

drängten. Importe aus den USA und der<br />

EU sind Peking verwehrt: Beide hatten<br />

1989 nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung<br />

auf dem Tiananmen-Platz<br />

Waffenembargos gegen China verhängt.<br />

„China hat einen großen Sprung gemacht<br />

in den vergangenen 15 Jahren“, sagt<br />

Siemon Wezeman, Sipri-Experte für Waffenhandel.<br />

Die Qualität seiner selbst gebauten<br />

Ausrüstung nähere sich dem Niveau<br />

des Westens an. Chinas J‐10‐Kampfflugzeuge<br />

etwa ähneln nach Angaben der einflussreichen<br />

US‐Denkfabrik Rand Corporation<br />

den amerikanischen F‐16‐Jets.<br />

Allerdings basieren nach wie vor fast alle<br />

chinesischen Innovationen auf einstigen<br />

Importen, vor allem jenen aus Russland.<br />

„China ist der Weltmeister des Reverse Engineering“,<br />

sagt Emmanuel Puig vom Forschungsinstitut<br />

Asia Centre in Paris. „Der<br />

Vorteil dieser Art der Innovation ist, dass<br />

man schnell und relativ preiswert aufholen<br />

kann. Aber sie führt zu einer hohen<br />

Abhängigkeit und reduziert die Fähigkeiten<br />

zur Grundlagenforschung.“ Grundlegende<br />

Innovationen aber seien Voraussetzung<br />

für den Aufstieg eines Landes zur<br />

echten Großmacht.<br />

Chinas Armee ist also noch lange nicht<br />

am Ziel. Zwei Drittel der Kampfjets basieren<br />

nach Angaben der Rand Corporation<br />

immer noch auf uralten russischen<br />

MiG‐19- und MiG‐21‐Flugzeugen. Chinas<br />

Bodentruppen leiden nach Ansicht<br />

des Pentagons unter zu geringer Kampferfahrung<br />

und mangelnder Führungsstärke<br />

der leitenden Offiziere. Besseres Training<br />

gehört daher zu den Schwerpunkten der<br />

Armeereform.<br />

Auch die „Liaoning“ ist mit ihren<br />

58 800 Tonnen nicht wirklich konkurrenzfähig.<br />

Die amerikanischen Flugzeugträger<br />

der Nimitz-Klasse sind beinahe doppelt so<br />

groß. „Wir haben nicht genug Erfahrung<br />

mit dieser Art Schiff“, gibt Admiral Zhang<br />

denn auch freimütig zu. Man müsse erst<br />

mal Sicherheitsmaßnahmen und Managementmethoden<br />

entwickeln. Chinas künftige<br />

J‐15‐Trägerjets – gebaut auf Basis russischer<br />

Sukhoi S‐33‐Flugzeuge – sind zwar<br />

bereits von Land aus geflogen, aber noch<br />

nicht serienreif. Chinas Piloten sind für<br />

Landungen auf einem Träger nicht ausgebildet.<br />

Bei ersten Testfahrten der „Liaoning“<br />

waren daher nur Modelle der Flieger an<br />

Bord. Bis dort echte J‐15 landen, werden<br />

noch Jahre vergehen.<br />

Christiane Kühl<br />

lebt seit 2000 in China und<br />

erkundet von Peking aus als freie<br />

Korrespondentin das Land<br />

82 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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Wenn Bob Marley<br />

das Wüsste<br />

Das Wort<br />

der Priesterin<br />

„Daughter Baby I“<br />

hat in der Rastafari-<br />

Gemeinschaft<br />

Gewicht<br />

84 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Inmitten Äthiopiens ist eine kleine Gemeinschaft von Rastafaris entstanden. Die Menschen<br />

leben nach ganz eigenen Gesetzen, und manchmal verirren sich Deutsche dorthin<br />

von Philipp Hedemann<br />

Foto: Michael Tsegayes<br />

N<br />

och schnell einen Joint, dann<br />

hat Brother Moody Zeit, von seinen<br />

guten Freunden zu erzählen.<br />

Der eine ist ein Gott und Kaiser,<br />

der andere nur ein Musikgott.<br />

Sie heißen Haile Selassie und Bob Marley.<br />

Der 86 Jahre alte Brother Moody kannte<br />

beide gut. Sagt er. Der Mann mit den langen<br />

Dreadlocks und dem trotz Tausenden<br />

von Joints immer noch wachen Blick ist<br />

der älteste Bewohner Shashamanes, jener<br />

Rastafari-Siedlung im Süden Äthiopiens,<br />

die dem vor 37 Jahren verstorbenen Kaiser<br />

und seinem vor 31 Jahren verstorbenen<br />

musikalischen Propheten huldigt.<br />

„Haile Selassie und Bob, das waren<br />

zwei sehr anständige Männer. Ganz unterschiedliche<br />

Typen, aber beide sehr anständig.<br />

Sie haben uns hier in Shashamane besucht“,<br />

sagt Brother Moody, der auf einem<br />

Stuhl vor seinem bescheidenen Haus sitzt.<br />

Der Besuch ist fast 40 Jahre her. Doch in<br />

der 100 000-Einwohner-Stadt ist das ungleiche<br />

Duo noch immer allgegenwärtig.<br />

Bob Marleys Hymnen plärren überall aus<br />

schrammeligen Lautsprechern, kaum ein<br />

Bewohner der etwa 300-köpfigen Rastafari-<br />

Gemeinschaft, der nicht bisweilen seine<br />

Aussagen mit den abgedroschenen Phrasen<br />

aus Marleys Songs aufpeppt.<br />

Shashamane ist nicht schön. Eigentlich<br />

ist die vier Stunden südlich der äthiopischen<br />

Hauptstadt gelegene ehemalige<br />

Garnisonsstadt ziemlich hässlich. Während<br />

der Trockenzeit staubig, in der Regenzeit<br />

schlammig. Doch für mehrere Millionen<br />

Anhänger der Rastafari-Bewegung ist es das<br />

Paradies, das gelobte Land, der Ursprung<br />

und das Ziel. Und das kam so:<br />

„Schaut nach Afrika! Wenn sie dort einen<br />

schwarzen König krönen, dann ist der<br />

Tag der Befreiung nahe“, predigte Marcus<br />

Garvey 1920. Die Worte des radikalen<br />

jamaikanischen Panafrikanisten fielen bei<br />

den Nachfahren der aus Afrika verschleppten<br />

Sklaven in den Elendsvierteln der jamaikanischen<br />

Hauptstadt Kingston auf<br />

fruchtbaren Boden. Garveys Anhänger<br />

blickten nach Afrika, und zehn Jahre später<br />

sollten sie sehen, was ihnen prophezeit war:<br />

Am 2. November 1930 wurde Ras (Fürst)<br />

Tafari Makonnen in der äthiopischen<br />

Hauptstadt Addis Abeba als Haile Selassie<br />

(zu Deutsch: „Macht der Dreifaltigkeit“)<br />

zum Kaiser von Äthiopien gekrönt. Gleichzeitig<br />

fing es nach einer langen Dürre in<br />

Jamaika plötzlich an zu regnen. Garveys<br />

Jünger waren überzeugt, die Prophezeiung<br />

habe sich erfüllt. In Afrika hatte nicht nur<br />

ein weltlicher Herrscher, sondern auch der<br />

schwarze Messias den Thron bestiegen.<br />

In der Bibel hatten die Nachfahren der<br />

Sklaven die Geschichte der Gefangenschaft<br />

der Israeliten in Ägypten gelesen und sie<br />

mit ihrem Dasein in der Karibik gleichgesetzt.<br />

Im kleinen Kaiser aus Äthiopien sahen<br />

sie den schwarzen Moses, der sie in einem<br />

neuen Exodus, dem später von Bob<br />

Marley besungenen „Movement of Jah people“,<br />

aus dem Babylon des weißen Mannes<br />

zurück in ihre afrikanische Heimat führen<br />

sollte. Haile Selassie war den Rastafaris<br />

nicht nur der Neguse Negest („König der<br />

Könige“), sondern auch der König aus dem<br />

Hause Davids, der Auserwählte Gottes, der<br />

rechtmäßige Herrscher auf Erden, von dem<br />

schon Johannes in seiner Offenbarung gesprochen<br />

hatte. Mit dem 255. Nachfahren<br />

König Salomons und reichlich Geschichtsklitterung<br />

sollte das von Johannes<br />

verheißene tausendjährige Friedensreich<br />

beginnen.<br />

Doch zunächst kam es anders. Nur fünf<br />

Jahre nach der Krönung in Addis Abeba<br />

marschierte Mussolini in Äthiopien ein,<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 85


| W e l t b ü h n e | R a s t a f a r i s i n A f r i k a<br />

200 km<br />

SUDAN<br />

SÜD-<br />

SUDAN<br />

UGANDA<br />

führte mit Giftgas einen brutalen Eroberungskrieg<br />

gegen Abessinien, das heutige<br />

Äthiopien. Der Kaiser floh ins Exil nach<br />

England, während seine Landsleute unter<br />

den italienischen Imperialisten darbten.<br />

Erst als die Äthiopier mit britischer<br />

Hilfe Mussolini vertrieben hatten, kehrte<br />

der Herrscher 1941 nach Äthiopien zurück.<br />

Für die Rastafaris erfüllte sich damit der in<br />

der Offenbarung des Johannes<br />

angekündigte Sieg über Babylon.<br />

Als Dank für die Unterstützung<br />

der Schwarzen in<br />

aller Welt schenkte der zurückgekehrte<br />

Kaiser ihnen<br />

ein Stückchen Land in eben<br />

jenem Shashamane, der Stadt<br />

am transafrikanischen Highway<br />

Kairo-Kapstadt.<br />

Am 21. April 1966 reiste<br />

Haile Selassie schließlich zum<br />

Staatsbesuch in die jamaikanische<br />

Heimat Marcus Garveys,<br />

des Propheten, der sein Kommen<br />

46 Jahre zuvor angekündigt<br />

hatte. Tagelang hatte es<br />

auf der Karibikinsel heftig geregnet.<br />

Doch als die kaiserliche<br />

Maschine aufsetzte, brach<br />

plötzlich die Sonne durch die<br />

Wolken. Ein Wetterphänomen<br />

als Theophanie. „Ich bin<br />

nicht Gott. Ich bin kein Prophet.<br />

Ich bin ein Sklave Gottes“,<br />

erklärte Haile Selassie. Doch die Tausenden,<br />

die sich in Jamaika mittlerweile<br />

nach Ras Tafari Makonnen Rastafaris<br />

nannten, wollten das nicht hören. Für sie<br />

war der autokratische Herrscher nichts anderes<br />

als der prophezeite Messias. Endlich<br />

kam Schwung in die von Marcus Garvey<br />

„Deine Fragen<br />

sind so deutsch!<br />

Woher soll ich<br />

wissen, wo mein<br />

Gott mich in fünf<br />

Jahren braucht?“<br />

Free I<br />

Nil<br />

begründete „Black Zionism“-Bewegung,<br />

der Afrika als utopischer Ort für Tradition<br />

und Einheit galt. Das willkürliche neoreligiöse<br />

Konglomerat aus Legenden und mystischen<br />

Heilserwartungen materialisierte<br />

sich im real existierenden Shashamane.<br />

Brother Moody folgte dem Genius Loci<br />

Shashamanes und kam 1972 nach Äthiopien.<br />

„Der Kaiser kam hier regelmäßig mit<br />

ERITREA<br />

Blauer Nil<br />

KENIA<br />

R o t e s M e e r<br />

Addis Abeba<br />

Ä T H I O P I E N<br />

Shashamane<br />

SAUDI-ARABIEN<br />

JEMEN<br />

Golf von<br />

DSCHIBUTI Aden<br />

SOMALIA<br />

SOMALIA<br />

seinem Mercedes vorbei. Er wollte sich vergewissern,<br />

dass es seinen Leuten gut geht.<br />

Wenn es uns an etwas fehlte, mussten wir<br />

es ihm nur sagen, und er hat sich persönlich<br />

darum gekümmert“, erzählt Brother<br />

Moody. Wenn er spricht, hören sie in Shashamane<br />

ehrfurchtsvoll zu, schließlich ist er<br />

so etwas wie der Prophet des Propheten.<br />

Auch das Wort der Priesterin „Daughter<br />

Baby I“ hat in der Rastafari-Gemeinschaft<br />

Gewicht. Ihr Name steht in Kontrast<br />

zu ihrer äußeren Erscheinung. Eine<br />

große, schwere Frau mit einem langen<br />

weißen Kinnbart schleppt sich in breiten<br />

Schuhen an mir vorbei. Als ich sie frage, ob<br />

sie mir einige Fragen beantworten könne,<br />

entgegnet sie: „You have money?“ Ganz<br />

so schlimm finden die Rastafaris den Materialismus<br />

scheinbar doch nicht. Als die<br />

Priesterin wieder auftaucht, fragt sie erneut:<br />

„You have money?“, und geht, ohne die<br />

Antwort abzuwarten. „Was willst du von<br />

meiner Mutter?“, faucht ein Rastamann.<br />

„Mit ihr sprechen“, erwidere ich. „Listen!<br />

I tell you what, brother“, leitet der Rastamann<br />

die meisten seiner folgenden Sätze<br />

ein. Schließlich erklärt er, dass seine Mutter<br />

nur für Geld sprechen werde. Da sie auch<br />

das Wissen von zwei weiteren weisen Priestern<br />

offenbaren könne, müsse sie drei Interviews<br />

in Rechnung stellen. Widerwillig<br />

entrichte ich die geforderte Summe.<br />

Kurz darauf erscheint<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

„Daughter Baby I“, begegnet<br />

mir jetzt schon freundlicher<br />

mit dem Gruß der Rastafaris,<br />

den zum Herz geformten<br />

Daumen und Zeigefingern<br />

der rechten und linken Hand<br />

und einem lang gezogenen<br />

„Rastafareiiiii“. „Wir feiern<br />

heute den Geburtstag seiner<br />

Majestät. Er ist der Schöpfer<br />

des Lebens“, sagt die Frau<br />

über den Despoten, unter<br />

dessen Herrschaft Hunderttausende<br />

verhungerten, während<br />

Haile Selassie in seinem<br />

Palast Bankette gab. Auf diesen<br />

Einwand erwidert sie: „Er<br />

ist der König.“ Schließlich hat<br />

Bob Marley in „Black Man<br />

Redemption“ über den Äthiopier<br />

bereits gesungen: „Coming<br />

from the root of King<br />

David, through to the line of<br />

Solomon, His Imperial Majesty<br />

is the Power of Authority“ (Aus dem<br />

Hause König Davids stammend, in direkter<br />

Linie von König Salomon, hat seine kaiserliche<br />

Majestät die Macht der Autorität).<br />

Das hat in Shashamane bis heute Gültigkeit.<br />

Kritik an dem Mann, der ihnen ein<br />

Stück Land schenkte, ist nicht erlaubt.<br />

Schnell wechselt „Daughter Baby I“<br />

das Thema. „Die Marihuana-Pfeife muss<br />

brennen. Das Kraut ist die Heilung für<br />

unser Volk“, sagt die 69-Jährige, die unter<br />

Asthma leidet und jeden Tag mindestens einen<br />

Joint raucht. Natürlich nur, um ihrem<br />

Gott nahe zu sein. Kiffen als heiliges Sakrament.<br />

Je öfter, desto frommer. Ob hier<br />

eine Sucht zur religiösen Pflicht uminterpretiert<br />

wird oder ob die religiöse Pflicht<br />

zur Sucht wird, bleibt unklar.<br />

„Ganja ist unsere spirituelle Nahrung<br />

und unsere spirituelle Reinigung. So wie<br />

du dir die Hände wäschst, bevor du isst, so<br />

reinigen wir unseren Geist mit Marihuana,<br />

Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

86 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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bevor wir zu Jah beten. Steht schon in der<br />

Bibel“, sagt Brother Moody und zitiert<br />

aus Matthäus, Kapitel 12, Vers 20. „Das<br />

geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,<br />

und den glimmenden Docht wird er nicht<br />

auslöschen.“<br />

Als ich einwerfe, dass ich mir nicht<br />

sicher bin, ob der Evangelist damit das<br />

Kiffen rechtfertigen wollte, legt Brother<br />

Moody mit der Offenbarung des Johannes<br />

(„und die Blätter der Bäume dienen zur<br />

Heilung der Völker“) und dem 18. Psalm<br />

nach. „Rauch stieg aus seiner Nase auf, aus<br />

seinem Mund kam verzehrendes Feuer“,<br />

heißt es dort über den Herrn. Für Brother<br />

Moody, für den auch das in der Schöpfungsgeschichte<br />

erwähnte „Kraut“ das<br />

Kraut ist, das er mehrmals täglich raucht,<br />

ist die Sache damit klar. Ich mache den<br />

gleichen Einwand wie bei Matthäus. Da<br />

dreht der Rastafari den argumentativen<br />

Spieß um. „Schon viele sogenannte Christen<br />

wollten uns erzählen, dass man nicht<br />

Marihuana rauchen soll. Ich habe sie gefragt,<br />

wo das in der Bibel geschrieben steht.<br />

Bislang hat es mir niemand zeigen können.“<br />

Während Brother Moody den spirituellen<br />

Nutzen des Marihuanas in den Vordergrund<br />

stellt, versucht „Daughter Baby I“s<br />

Kingman, ihr Ehemann, eine Krankheit<br />

mit dem heiligen Kraut zu heilen. Als Bob<br />

Marley sich 1977 beim Fußballspielen den<br />

Fuß ver<strong>letzte</strong>, versuchte auch er, die Verletzung<br />

mit dem heilenden Kraut zu kurieren.<br />

Geklappt hat es nicht, doch „Daughter<br />

Baby I“s Kingman will der Homöopathie<br />

eine weitere Chance geben.<br />

Bevor die Priesterin aufsteht, um nach<br />

dem Kranken zu schauen, fragt sie: „Wo ist<br />

mein Geld?“ Ich sage, dass ich bereits bei<br />

ihrem Sohn gezahlt habe, damit er mich<br />

an ihrem Wissen teilhaben lässt. „Meine<br />

Söhne sind auf Jamaika“, erwidert die<br />

Priesterin. Der selbst ernannte Sohn und<br />

Pressesprecher hat es mit der Wahrheit offensichtlich<br />

nicht so genau genommen.<br />

Mir fallen Bob Marleys Worte ein: „You<br />

can fool some people sometimes, but you<br />

can’t fool all the people all the time“ (Man<br />

kann manchmal einige Menschen täuschen,<br />

aber man kann nicht ständig dem<br />

ganzen Volk etwas vormachen). Mit den<br />

Worten des Meisters lässt sich in Shashamane<br />

fast alles erklären. Und darum hätten<br />

die Bewohner ihren Bob auch so gerne<br />

bei sich. Als seine Witwe Rita in einem<br />

„So wie du dir die<br />

Hände wäschst,<br />

bevor du isst,<br />

so reinigen wir<br />

unseren Geist mit<br />

Marihuana, bevor<br />

wir zu Jah beten“<br />

Brother Moody<br />

Interview anlässlich des 60. Geburtstags<br />

ihres verstorbenen Ex-Mannes dessen Exhumierung<br />

in Jamaika und Beisetzung in<br />

Shashamane ins Gespräch brachte, war die<br />

Aufregung auf beiden Seiten des Atlantiks<br />

groß. In Jamaika, wo mit der disneyesken<br />

Ruhestätte ordentlich Geld gemacht wird,<br />

gab es heftige Proteste, in Äthiopien hofften<br />

die Rastafaris, dass Brother Bobs <strong>letzte</strong>r<br />

Wille endlich erfüllt würde. Der Leichnam<br />

blieb in Jamaika, Rita Marley sagte später,<br />

sie sei falsch verstanden worden.<br />

Während Bob Marley es – abgesehen<br />

von einem Besuch in Shashamane – im<br />

warmen Jamaika beim Besingen der spirituellen<br />

Heimat beließ, ging Sonja (Name<br />

geändert) aus Weiden in der kalten Oberpfalz<br />

einen Schritt weiter. „Achter Monat“,<br />

sagt sie, als sie sich die Hand auf den kugelrunden<br />

Bauch legt und am Joint zieht,<br />

den ihr Mann Samuel (Name geändert) aus<br />

Trinidad ihr reicht. Die werdende Mutter<br />

sieht erschöpft aus. Körperlich und psychisch.<br />

Mit ihrem halbwüchsigen Sohn aus<br />

einer vorherigen Beziehung, ihrem Mann<br />

und der gemeinsamen kleinen Tochter lebt<br />

sie in einem einfachen Haus.<br />

Warum ist sie nach Shashamane gekommen?<br />

Sie schaut mich an, als hätte sie<br />

gerade die dümmste Frage ihres Lebens gehört.<br />

„Na, um dem second death zu entgehen“,<br />

antwortet sie. Was ist der second<br />

death? Wieder der gleiche Blick. „Das ist<br />

der spirituelle Tod. Der erste, der fleischliche,<br />

ist ja nicht so schlimm, aber wenn<br />

du auch den second death gestorben bist,<br />

dann ist es wirklich aus. Das kannst du<br />

als Rastafari nur vermeiden, wenn du nach<br />

Shashamane ziehst“, erklärt die Frau mit<br />

den langen blonden Dreadlocks. Dann<br />

verliert sich ihr leerer Blick irgendwo im<br />

Raum, während der Blick ihres deutlich älteren<br />

Mannes sich ganz ungeniert auf dem<br />

Po einer deutlich jüngeren Frau festheftet.<br />

„Die hätte ich früher klargemacht“, prahlt<br />

der Rastamann.<br />

Sonja scheint das nicht zu stören, sie ist<br />

die Machosprüche ihres Mannes offenbar<br />

gewohnt. Ein Schicksal, das sie mit vielen<br />

ihrer Rasta-Sisters teilt. Auf niederträchtige<br />

Art hatten die Plantagenbesitzer<br />

in Jamaika versucht, ihren steten Bedarf<br />

an Arbeitskräften zu stillen. Sie förderten<br />

die Promiskuität unter ihren Sklaven,<br />

denn für sie waren die Sklavinnen nicht<br />

nur Arbeiterinnen, sondern auch Gebärmaschinen.<br />

Manche Soziologen sehen daran<br />

bis heute eine der Ursachen des bei<br />

den Rastafaris stark ausgeprägten Machotums.<br />

Auch wenn die Männer ihre Frauen<br />

„Sister“ oder „Queen“ nennen: Die Rastagesellschaft<br />

wird von Männern dominiert,<br />

das musste auch Sonja nach ihrem Exodus<br />

aus Weiden schnell begreifen. Ihrem<br />

Mann gilt der Gehorsam der Frau als von<br />

Gott geboten, andersrum müsse man es da<br />

nicht so genau nehmen, schließlich hatte<br />

Bob Marley auch mehr als eine Frau. Bis<br />

zu 46 Kinder werden ihm zugeschrieben,<br />

alleine während seiner Ehe mit Rita Marley<br />

sollen sieben uneheliche Marleys zur Welt<br />

gekommen sein – und was Bob getan hat,<br />

kann so falsch nicht gewesen sein.<br />

Auch „Free I“ ist dem Ruf nach Äthiopien<br />

gefolgt. Dabei hätte er sich eigentlich<br />

gar nicht angesprochen fühlen sollen,<br />

zumindest, wenn es nach Marcus Garvey<br />

88 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Fotos: Michael Tsegayes, privat (Autor)<br />

gegangen wäre. Denn dem Begründer der<br />

Rastafari-Bewegung, der mit dem Ku-<br />

Klux-Klan kooperierte, weil ihm offene<br />

Feinde der Schwarzen lieber waren als vermeintliche<br />

Freunde, war ein strenger Befürworter<br />

der Rassentrennung. Doch „Free I“,<br />

der seinen bürgerlichen Namen schon vor<br />

langem abgelegt hat, ist weiß, ziemlich<br />

blass sogar. In Shashamane leben mittlerweile<br />

Rastafaris aller Hautfarben. „Äthiopien<br />

ist Jah-Country. Ich habe gespürt, dass<br />

ich hierher gehöre, auch wenn das Leben<br />

hier nicht immer einfach ist. Aber life is<br />

struggle“, sagt der Physiotherapeut aus<br />

Norddeutschland. Will er für immer bleiben?<br />

„Deine Fragen sind so deutsch! Woher<br />

soll ich wissen, wo mein Gott mich in<br />

fünf Jahren braucht?“ Wozu er ihn gerade<br />

jetzt hier braucht, bleibt unklar, denn weitere<br />

Fragen will „Free I“ nicht beantworten.<br />

Er möchte in der offenen Rundkirche lieber<br />

mit Haile-Selassie-Gesängen dem „rechtmäßigen<br />

Herrscher auf Erden“ huldigen.<br />

Zu Ehren des Kaisers hat der Priester Marihuana<br />

auf den Altar gelegt, an dem alle sich<br />

kostenlos bedienen dürfen. „Heute hat der<br />

Lord of Lords Geburtstag. Zur Feier des Tages<br />

darf sie auch schon mal“, sagt ein junger<br />

Mann und haucht seinem Baby in der<br />

Kirche Rauch seines Joints ein. Die Mutter<br />

schaut wohlwollend zu, das Baby fängt<br />

an zu weinen.<br />

Einige Stunden und unzählige Joints<br />

später soll der Höhepunkt des Festes steigen:<br />

ein Reggae-Konzert zu Ehren des<br />

Kaisers. Auf einer Bühne haben sich zwölf<br />

Priester in langen Gewändern vor den Bildern<br />

des Jubilars aufgebaut. „Wir haben<br />

uns hier versammelt, um den Geburtstag<br />

des Königs der Könige zu feiern. Also benehmt<br />

euch. Der Lord of Lords will keine<br />

Gewalt!“, mahnen sie immer wieder. Zwei<br />

Polizisten in blauen Tarnfleck-Kampfanzügen<br />

und Kalaschnikows haben sich mittlerweile<br />

eingefunden, um den Worten<br />

der Gottesmänner Nachdruck zu verleihen.<br />

Obwohl die Rastafaris eigentlich keinen<br />

Alkohol trinken, sind viele der jungen<br />

Männer sturzbetrunken, nicht alle hat das<br />

Marihuana friedlicher gemacht oder ihrem<br />

Gott nähergebracht.<br />

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lebt als freier Journalist in<br />

der äthiopischen Hauptstadt<br />

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| W e l t b ü h n e | K o m m e n t a r<br />

Habt euch wieder lieb!<br />

Die deutsch-französischen Beziehungen sind so unterkühlt wie<br />

lange nicht mehr. Ein Zustand, den Europa sich nicht leisten darf<br />

Von KLAUS HARPPRECHT<br />

E<br />

ine Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach<br />

konstatierte noch Mitte März dieses Jahres, dass<br />

50 Prozent der Deutschen von den Franzosen sagten:<br />

„Ich mag sie.“ Wie kann es dann sein, dass das französische<br />

Meinungsforschungsinstitut Ifop wenige Monate später zu der<br />

alarmierenden Feststellung gelangte, nur noch 18 Prozent der<br />

Deutschen sähen in den Franzosen die „bevorzugten Partner“<br />

und nur noch 31 Prozent der Franzosen in den Deutschen? Dazwischen<br />

die Wahl von François Hollande zum Staatschef, den<br />

Madame Merkel nicht empfangen hatte, als er noch im Wahlkampf<br />

war.<br />

Hollande zeigte keinen Groll, als er schließlich seinen obligaten<br />

Antrittsbesuch im Kanzleramt absolvierte. Allerdings war<br />

unübersehbar, wie fremd sich die beiden waren, als sie wie die<br />

Ölgötzen in der Kathedrale von Reims nebeneinandersaßen, um<br />

den 50. Jahrestag der großen Versöhnungsgeste zwischen Charles<br />

de Gaulle und Konrad Adenauer zu feiern. Hollande hat sich<br />

wohl auch nicht für den Spruch des Linksaufsteigers Arnaud<br />

Montebourg entschuldigt, die Kanzlerin sei die Wiedergeburt<br />

Bismarcks und wolle – mit anderen Mitteln – die Vorherrschaft<br />

der Deutschen in Europa etablieren. Der Maulheld wurde vielmehr<br />

mit dem Industrieministerium belohnt.<br />

Merkel unter der Pickelhaube: eine Steilvorlage für die Karikaturisten.<br />

Das Paar „Merkozy“ ist vergessen, samt der Bewunderung<br />

für das „deutsche Modell“. Mit dem Wechsel im<br />

Élysée scheint unversehens das Misstrauen gegen den hyperpotenten<br />

Nachbarn alle guten Erfahrungen der „Vernunftehe“ zu<br />

verscheuchen. Die Schwüre, auch das sozialistische Frankreich<br />

werde an der engen Partnerschaft festhalten – allerdings „nicht<br />

exklusiv“, wie Hollande betonte –, konnten die Vorbehalte<br />

kaum dämpfen, sosehr sich auch die sozialdemokratische Troika<br />

bei ihrem Besuch im Élysée-Palast um einen Ausgleich bemühte.<br />

Die bitterste Folge: So heftig wie seit langem nicht mehr regen<br />

sich die alten Nationalismen in einigen der neuen Mitgliedsländer.<br />

In Ungarn versucht die Rechtsregierung, den unseligen<br />

Vertrag von Trianon (aus dem Jahre 1919, wonach zwei Drittel<br />

des Königreichs Österreich-Ungarn Nachbar- und Nachfolgestaaten<br />

zufielen) durch Verfügungen zu revidieren, die den ungarischen<br />

Minderheiten in Rumänien, der Slowakei, in Kroatien<br />

und Serbien die gleichen Rechte wie den Bürgern des ungarischen<br />

Staates zuerkennen, samt Pass und Wahlrecht. Im Inneren<br />

beschneidet Budapest die Freiheit der Medien wie auch die Unabhängigkeit<br />

des Richterstands – ganz zu schweigen vom zunehmenden<br />

Antisemitismus und dem Hass gegen Roma, der sich<br />

im Nachbarland Rumänien nicht minder gewalttätig äußert. In<br />

Bukarest wurde durch den Machtkampf zwischen dem Präsidenten<br />

und dem Premierminister die Demokratie de facto außer<br />

Kraft gesetzt.<br />

Durch die Eurokrise, die nur kraft einer Einigung Frankreichs<br />

und Deutschlands gebannt werden kann, schien auch<br />

Brüssel partiell paralysiert zu sein. Die Nationaltrommler in<br />

den Medien und die Profiteure der Ängste vom Schlage eines<br />

Thilo Sarrazin sagen schon lange den Untergang des Euro voraus.<br />

Welt-Autor Alan Posener etwa präsentierte die Uraltlegende,<br />

dass die Vereinigung Europas von Beginn an nichts als die Konstruktion<br />

einer Allianz zur Zementierung des französischen Weltmachtanspruchs<br />

(als Ausgleich für das verlorene Kolonialreich)<br />

gewesen sei – angefangen mit der Montanunion, die nur den<br />

Zugriff auf die deutsche Kohle tarnen sollte.<br />

In der Tat war die europäische Planung des genialen Jean<br />

Monnet von der Einsicht geprägt, dass eine wirksame Kontrolle<br />

Deutschlands nur möglich sei, wenn sich die Partner der<br />

europäischen Gemeinschaften selber den Regeln unterstellten,<br />

die für die Deutschen gelten sollten. Kein zweites Versailles!<br />

Der Koloss in der Mitte Europas, der immer wieder das innere<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

90 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Gleichgewicht des Kontinents erschütterte, sollte durch seine<br />

Europäisierung ein für allemal gezähmt werden. Auch Charles<br />

de Gaulle akzeptierte schließlich die Logik dieses Konzepts. Er<br />

sorgte dafür, dass die Deutschen – kraft ihres wirtschaftlichen<br />

und technischen Potenzials – zur zweiten Macht in der Gemeinschaft<br />

aufstiegen, als Frankreichs wichtigster Partner.<br />

Aber stand, wie in der Welt behauptet, die Unterzeichnung<br />

der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

in unmittelbarem Zusammenhang mit dem<br />

Scheitern des französisch-britisch-israelischen Krieges um den<br />

Sueskanal im Sommer 1956? Die Intervention Präsident Dwight<br />

D. Eisenhowers war nicht zuletzt durch den Aufstand in Ungarn,<br />

sein tragisches Ende und die sowjetische Kriegsdrohung<br />

bestimmt. Die Römischen Verträge aber waren zu jenem Zeitpunkt<br />

längst ausgearbeitet. Europa war für Frankreich nicht der<br />

„Plan B“.<br />

Der damals amtierende französische Ministerpräsident Guy<br />

Mollet war kein passionierter Europäer, sondern – wie so viele<br />

französische Sozialisten – tief im Nationalbewusstsein der Großen<br />

Revolution verwurzelt. Es gab nur wenige Sozialisten, die anders<br />

dachten, etwa Premierminister Michel Rocard, Kommissionspräsident<br />

Jacques Delors (in seinem Herzen ein Christdemokrat)<br />

und Präsident François Mitterrand (ein Kalkül-Sozialist, der die<br />

Partei als Vehikel für die Eroberung der Präsidentschaft brauchte).<br />

Die deutsche Wiedervereinigung wäre vermutlich an seinem Veto,<br />

dem der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher, dem der<br />

Polen und Tschechen gescheitert, hätten sie daran gezweifelt, dass<br />

auch das größere Deutschland in die Europäische Union (und<br />

die Nato) eingebunden bleiben würde. Mitterrand verlangte als<br />

entscheidende Garantie die gemeinsame Währung. Der Europäer<br />

Kohl akzeptierte. Der kleine Fuchs in Paris und der große in<br />

Bonn wussten, dass der Euro nur lebensfähig sein würde, wenn er<br />

von einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftspolitik getragen<br />

würde. Er sollte die politische Union erzwingen.<br />

Indes, die Euroländer drückten sich an der Konsequenz<br />

vorbei. Bis heute, da Griechenland, Irland, Portugal und Spanien<br />

vom Bankrott bedroht sind (und sich Italien der Gefahrenzone<br />

nähert). Die Solidarität 1 der 09.10.12 Großen, 16:26 die für Seite Hunderte 1 taz_geldzurueck_cicero_210x94_4c_Layout von<br />

Foto: Picture Alliance/DPA<br />

Milliarden bürgen, fordert zwingend eine gemeinsame Kontrolle<br />

der Staatsfinanzen und der Banken, kurz: ein Finanzministerium<br />

der Euroländer, der entscheidende Schritt zur politischen<br />

Union. Mit kühler Bestimmtheit verlangt die Kanzlerin<br />

den institutionellen Fortschritt, ehe Deutschland zu weiteren<br />

Leistungen bereit ist. Dafür hatte sie dem bisherigen französischen<br />

Präsidenten, Nicolas Sarkozy, die prinzipielle Zustimmung<br />

abgerungen. Wohl wissend, dass die Widerstände im eigenen<br />

Land gegen die Aufgabe weiterer „Souveränitätsrechte“<br />

beträchtlich sein würden. Der neue Hausherr im Élysée-Palast<br />

ist hingegen von der national-etatistischen Tradition der Sozialisten<br />

geprägt. Hatte Hollande nicht verkündet, keine französische<br />

Regierung werde das nationale Budget von einer fremden<br />

Instanz kontrollieren lassen?<br />

Eine gemeinsame Finanzpolitik aber fordert gleiche Regeln<br />

für alle. Erst dann ist ein organisierter Ausgleich zwischen Reich<br />

und Arm denkbar, durch Eurobonds oder eine Ordnung, die<br />

sich am Finanzausgleich der deutschen Länder orientiert.<br />

Das Ziel ist, wie von Jean Monnet abgesteckt, die Auflösung<br />

der „deutschen Frage“ durch die Einbindung in den europäischen<br />

Bundesstaat – zunächst aber in die Föderation der Euroländer.<br />

In Deutschland mag dieser Schritt ein Referendum<br />

verlangen (obwohl die Vereinigung Europas im Grundgesetz<br />

verankert ist). Die französischen Sozialisten, für die der Glaube<br />

an den republikanischen Nationalstaat eine ersatzreligiöse Bedeutung<br />

hat, ist der Verzicht auf weitere „Souveränitätsrechte“<br />

schwierig (so ausgehöhlt sie auch sind). Aber wer mit dem Euro<br />

A gesagt hat, muss den Mut zu B haben. Präsident Hollande<br />

muss sich zu Europa bekennen. Die Kanzlerin, die Mehrheit ihrer<br />

Partei, die Sozialdemokraten und Grünen werden es nicht<br />

zulassen, dass Europa aus Feigheit oder Kurzsichtigkeit hinter<br />

das Jahr 1914 zurücktreibt.<br />

Klaus harpprecht<br />

wirkte von 1972 bis 1974 als Redenschreiber<br />

im Bundeskanzleramt. Zuletzt erschien von<br />

ihm: „Arletty und ihr deutscher Offizier“<br />

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| K a p i t a l<br />

Europas Vorstopper<br />

Bieder, aber einflussreich – der Start des ESM gibt EU-Währungskommissar Olli Rehn noch mehr Macht<br />

von Eric Bonse<br />

S<br />

chütteres graues Haar, biedere<br />

Brille von der Stange, ein ausweichender,<br />

unsicherer Blick. Sieht<br />

so etwa Europas erster Finanzminister aus?<br />

Olli Rehn hat so gar nichts von der beißenden<br />

Strenge eines Wolfgang Schäuble,<br />

auch die geschmeidige Art von IWF‐Chefin<br />

Christine Lagarde geht ihm ab. Doch<br />

der EU-Währungskommissar aus der finnischen<br />

Provinz ist schon jetzt einer der<br />

mächtigsten Politiker Europas.<br />

Das gilt erst recht, seitdem der dauerhafte<br />

Europäische Stabilitätsmechanismus<br />

Anfang Oktober seine Arbeit aufgenommen<br />

hat. Denn auf Grundlage der Länderberichte<br />

aus Rehns Generaldirektion<br />

entscheidet der ESM, unter welchen Bedingungen<br />

er seine Mittel an die Krisenländer<br />

vergibt.<br />

Wenn Rehn eine Rede hält, ist ihm<br />

höchste Aufmerksamkeit sicher. Seine<br />

Worte bewegen die Märkte, Reporter verfolgen<br />

ihn auf Schritt und Tritt. Dabei<br />

muss man verdammt aufpassen, wenn man<br />

ihm folgen will. Rehn nuschelt, er räuspert<br />

sich, ganze Sätze bringt er nur stockend<br />

hervor. Klare Botschaften oder gar<br />

Pointen darf man von ihm nicht erwarten,<br />

im Gegenteil.<br />

„Der Kommissar beherrscht die hohe<br />

Kunst der Beruhigung durch Einschläferung“,<br />

sagt der Grünen-Europaabgeordnete<br />

Sven Giegold, Rehns Gegenspieler im<br />

Wirtschaftsausschuss. Er rede nicht nur in<br />

einem ermüdenden Ton, sondern weiche<br />

auch in der Sache immer wieder aus. „Rehn<br />

nimmt jeder politischen Veranstaltung die<br />

Energie“, klagt der Finanzexperte. Doch<br />

genau das ist es, was ihn aus Sicht der Euroretter<br />

zu einer Idealbesetzung in Brüssel<br />

macht.<br />

Denn Krise ist schon genug in Europa.<br />

Gebraucht wird ein Verteidiger – kein<br />

Stürmer, schon gar kein Libero. Und genau<br />

diese Rolle füllt Rehn perfekt aus. Genau<br />

wie früher als Vorstopper im örtlichen<br />

Fußballclub in Mikkeli, seiner Heimat,<br />

kümmert er sich jetzt im Berlaymont, dem<br />

Sitz der EU‐Kommission, darum, dass<br />

nichts anbrennt. Rehn wacht über die Einhaltung<br />

der Defizitkriterien, er kontrolliert<br />

die Umsetzung von Reformauflagen und<br />

warnt, wenn eine Schieflage droht.<br />

Er ist der Buchhalter des Euro und der<br />

Diplomat der Währungsunion. Wenn andere<br />

poltern und drohen, feilt er an den<br />

Zahlen und Fakten. Rehn entscheidet, ob<br />

seine 550 Mitarbeiter in der Generaldirektion<br />

Wirtschaft und Finanzen den Daumen<br />

über Krisenländer heben oder senken.<br />

Wenn er will, verhängt er harte Spardiktate,<br />

wie in Griechenland – oder gewährt<br />

ein Jahr Aufschub, wie zuletzt in Spanien<br />

und Portugal.<br />

Dem promovierten Politologen mit Vorlieben<br />

für „politische Ökonomie, Lesen,<br />

Rock und Jazz“ (Rehn über Rehn) ist dieser<br />

Job wie auf den Leib geschneidert. Bevor<br />

er EU‐Kommissar wurde, diente er<br />

dem finnischen Premier als Berater – und<br />

half, die Bankenkrise des Landes zu lösen.<br />

Als überzeugter Liberaler setzte er auf den<br />

Markt, nicht auf den Staat.<br />

In der Griechenland-Krise sprach sich<br />

Rehn für harte Sparmaßnahmen aus. In<br />

Berlin hörte man dies ebenso gern wie seine<br />

Einschätzung, der Euro lasse sich nicht allein<br />

mit Gemeinschaftsanleihen retten.<br />

Zwar fordert die EU‐Kommission weiter<br />

unverdrossen die Einführung sogenannter<br />

Eurobonds – doch der Währungskommissar<br />

warnt, ohne „genuine Stabilitätskultur“<br />

sei die Krise nicht zu meistern.<br />

Ganz so akribisch, wie er sich gerne<br />

gibt, ist Rehn dann doch nicht. Vor seinem<br />

Job als Währungskommissar war er für<br />

die EU‐Erweiterung zuständig – und holte<br />

die korrupten und wirtschaftlich unterentwickelten<br />

Balkanländer Bulgarien und Rumänien<br />

in die Union. Im Fall des Schuldensünders<br />

Ungarn drückte er beide Augen<br />

zu, um den ungarischen EU‐Vorsitz Anfang<br />

2011 nicht zu stören. Auch Deutschland<br />

und Frankreich hat er geschont. Paris<br />

ließ bis vor kurzem unbehelligt das Budgetdefizit<br />

schleifen. Für Deutschland formulierte<br />

Rehn die neuen EU-Regeln gegen<br />

„wirtschaftliche Ungleichgewichte“ sogar<br />

extra so, dass Deutschland weiter fleißig<br />

in die Defizitländer der Eurozone exportieren<br />

kann, ohne eine amtliche Überprüfung<br />

oder gar Strafen fürchten zu müssen.<br />

Anfang dieses Jahres geriet Rehn kurz<br />

selbst in die Schusslinie: Ein Pressebriefing<br />

in der Sauna der EU-Behörde sorgte<br />

für Wirbel in Brüssel. Denn zum Hintergrundgespräch<br />

im Dampfbad waren nur<br />

Männer eingeladen. „Altherrenschwitze“<br />

nannte das die Süddeutsche, und ein italienischer<br />

Korrespondent fragte nach dem<br />

Dresscode.<br />

Rehn ließ erklären, er treffe Journalisten<br />

„in verschiedenen Kontexten“ und<br />

freue sich über das rege Interesse. Geschadet<br />

hat es ihm nicht. Im Gegenteil: Sein<br />

Name fällt immer wieder, wenn es um Zukunftspläne<br />

wie den ersten Euro-Finanzminister<br />

geht. EU‐Kommissionschef José<br />

Manuel Barroso weist seinem Vertrauten<br />

ständig neue Aufgaben zu, Ratspräsident<br />

Herman Van Rompuy möchte ihm sogar<br />

ein eigenes Budget geben.<br />

Im Europaparlament hat Rehn weniger<br />

Fans. Er sei nicht gewählt und müsse erst<br />

einmal beweisen, dass er es ernst meine mit<br />

der Stabilitätskultur, heißt es. Unter ihm<br />

und seinen Vorgängern seien die Maastricht‐Kriterien<br />

86 Mal gebrochen worden,<br />

kritisiert der Grüne Giegold: „Ich<br />

wünschte mir in der Position eine stärkere<br />

Persönlichkeit.“<br />

Eric Bonse, Weltbürger<br />

und überzeugter Europäer<br />

aus Düsseldorf, beobachtet seit<br />

2004 das Raumschiff Brüssel<br />

als Korrespondent<br />

Fotos: Photoshot, privat (Autor)<br />

92 <strong>Cicero</strong> 11.2012


„Der<br />

Kommissar<br />

beherrscht<br />

die hohe<br />

Kunst der<br />

Beruhigung<br />

durch<br />

Einschläfern“<br />

Sven Giegold, Europaparlamentarier,<br />

über EU-Kommissar Olli Rehn<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 93


| K a p i t a l<br />

Freude am Anschlag<br />

Früher reparierte er Trabis, heute panzert Fred Stoof die Staatskarossen des afghanischen Präsidenten<br />

von Steffen Uhlmann<br />

I<br />

n Borkheide bei Potsdam ist die<br />

Gefahr, in seinem Auto unter Kalaschnikow-Dauerfeuer<br />

zu geraten,<br />

eher gering. Auch Minen- und Sprengstoffanschläge<br />

hat es hier noch nicht gegeben.<br />

Und es ist auch einem Zufall zu verdanken,<br />

dass Fred Stoof mit seinem in Borkheide<br />

ansässigen Unternehmen Stoof International<br />

zum Weltmarktführer für gepanzerte<br />

Fahrzeuge aufgestiegen ist. Seine Kunden<br />

sitzen dagegen ganz woanders: Erst vor wenigen<br />

Wochen hat Stoof 30 Geländewagen<br />

per Luftfracht nach Damaskus transportieren<br />

lassen und dort in der syrischen Hauptstadt<br />

an UN-Mitarbeiter übergeben. „Für<br />

uns ein <strong>Bombe</strong>ngeschäft“, sagt er und nickt<br />

dann fast verschämt, „wir sind ganz eindeutig<br />

Krisengewinnler.“<br />

Stoof ist 51, und man sieht ihm immer<br />

noch an, dass er früher Gewichtheber<br />

war. Heute steckt er denselben Ehrgeiz in<br />

sein Unternehmen: Fast 250 Wagen unterschiedlichster<br />

Bauart bekommen pro Jahr<br />

von seinen 170 Mitarbeitern in aufwendiger<br />

Kleinarbeit ein Schutzschild aus Spezialstahl<br />

und -glas verpasst. Hinzu kommen<br />

jede Menge Elektronik und Mechanik, die<br />

so einen Wagen erst zum mobilen Sicherheitstrakt<br />

machen. Millionenschwere Besitzer<br />

gepanzerter Luxuskarossen müssen auch<br />

auf die gewohnten Extras nicht verzichten:<br />

Bar nebst Kühlschrank, feinste Lederpolsterung<br />

oder Flachbildschirm und schnelles<br />

Internet. „Wir haben bislang noch jeden<br />

bizarren Wunsch erfüllt“, sagt Stoof.<br />

Ein Scheich habe bei ihm mal zwei gepanzerte<br />

Mercedes-S-Klassen bestellt, weil er<br />

sich nicht festlegen konnte, ob er türkise<br />

oder kanariengelbe Lederbezüge bevorzugt.<br />

Beim Stückpreis von 400 000 Euro<br />

eine kostspielige Entscheidungsschwäche.<br />

Stoof zuckt mit den Achseln: „Uns ist das<br />

recht, wir leben gut davon.“<br />

Mindestens genauso „bizarr“ wie ein Teil<br />

seiner Kunden ist Stoofs Geschichte. Aufgewachsen<br />

ist er im märkischen Busendorf.<br />

Das Familienunternehmen gibt es seit fünf<br />

Generationen. Anfangs, im 19. Jahrhundert,<br />

bauten die Stoofs Fuhrwerke aus Holz.<br />

Später entstand eine kleine Speditionsfirma<br />

und schließlich ein Karosseriebetrieb für<br />

Wartburg und Trabant. Fred<br />

Stoof, der den Betrieb von<br />

seinem Vater übernommen<br />

hat, legte schon zu DDR-<br />

Zeiten großen Wert darauf,<br />

selbstständig zu bleiben.<br />

Der Wechsel in die Marktwirtschaft<br />

fiel dem Karosseriebaumeister<br />

und Möbeltischler<br />

trotzdem nicht leicht.<br />

Zuerst importierte Stoof Gebrauchtwagen<br />

aus dem Westen.<br />

Später versuchte er sich<br />

mehr schlecht als recht als<br />

Autovermieter.<br />

Nebenbei reparierte er<br />

weiter Autos und wartete die<br />

Fahrzeuge einer Geldtransportfirma.<br />

Für einen beschädigten<br />

Transporter benötigte<br />

er 1991 Panzerstahl, den er<br />

von einem bayerischen Unternehmer<br />

geliefert bekam –<br />

mit einem hämischen Ratschlag<br />

gratis dazu: Lass die Finger davon,<br />

Ihr Ossis seid für solche Spezialaufträge<br />

einfach zu „dumm“.<br />

Stoof hat das nur angespornt – und<br />

er hatte Erfolg: „Der Kunde war hochzufrieden<br />

mit unserer Arbeit. Wir haben<br />

von ihm weitere Aufträge erhalten und<br />

waren plötzlich drin im Sicherheitsgeschäft.“<br />

Und wie: Schon zwei Jahre später<br />

war Stoof International erstmalig auf<br />

der Essener Sicherheitsmesse mit einem<br />

selbst gebauten Geldtransporter vertreten.<br />

„15 Quadratmeter belegten wir damals“, erinnert<br />

sich der Firmengründer, -chef und<br />

-eigner. Heute braucht er mindestens das<br />

Zehnfache. Viel wichtiger als die Standgröße<br />

ist aber die inzwischen stattliche<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt jetzt<br />

auch der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu Jain.<br />

<strong>Cicero</strong> weiß das schon<br />

länger und stellt den<br />

Mittelstand in einer<br />

Serie vor. Die bereits<br />

erschienenen Porträts<br />

gibt es unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Kundenliste. Seine Geldtransporter, von<br />

denen er pro Jahr mindestens 130 Stück<br />

baut, sind für die libysche Zentralbank<br />

genauso unterwegs wie für die Bank von<br />

England. Außerdem kurven weit mehr als<br />

500 gepanzerte Geländewagen<br />

aus dem Hause Stoof<br />

Diplomaten, Minister und<br />

Staatschefs durch internationale<br />

Krisengebiete. Allein<br />

an den afghanischen Präsidenten<br />

Hamid Karsai hat<br />

das Brandenburger Unternehmen<br />

sieben Toyota-Spezialgeländewagen<br />

geliefert.<br />

2004 ist Stoof von Busendorf<br />

in das benachbarte<br />

Borkheide umgezogen und<br />

hat sich dort einen komplett<br />

neuen Betrieb hinbauen<br />

lassen. Die Auftragsbücher<br />

sind voll, weswegen<br />

der Chef schon über einen<br />

neuen Ausbau nachdenkt:<br />

„Wir werden weiter wachsen<br />

– mit Sicherheit.“<br />

In der Montagehalle<br />

wird gerade ein Hyundai<br />

Equus bis aufs Gerippe<br />

zerlegt. Für das Luxusmobil haben Stoofs<br />

Ingenieure Fahrgestell und Bremssystem<br />

komplett neu entwickelt, damit der Fahrer<br />

das dank Panzerung bald tonnenschwere<br />

Fahrzeug sicher auf der Straße<br />

halten kann. „Der südkoreanische Autohersteller<br />

arbeitet bei gepanzerten Fahrzeugen<br />

exklusiv mit uns zusammen“, erzählt<br />

Stoof. Der künftige Fahrgast des<br />

Equus stehe auch schon fest: UN‐Generalsekretär<br />

Ban Ki‐moon.<br />

Steffen Uhlmann<br />

schreibt als freier Journalist für<br />

die Süddeutsche Zeitung. Er lebt<br />

und arbeitet in Berlin<br />

Fotos: Götz Schleser, privat (Autor)<br />

94 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Fred Stoofs Autos schützen gegen<br />

Kalaschnikow‐Feuer und Sprengsätze.<br />

„Ein <strong>Bombe</strong>ngeschäft“, sagt er<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 95


| K a p i t a l<br />

„Die haben keinen<br />

blassen Schimmer!“<br />

Bestsellerautor Rolf Dobelli über Irrtümer, den Goldstandard und die Überforderung des Politikergehirns<br />

H<br />

err Dobelli, Sie sind Experte für<br />

falsches Denken. Was sind die<br />

einschlägigen Denkfehler, die in<br />

Wirtschaft und Politik begangen werden?<br />

Es sind viele. Am häufigsten ist wohl der<br />

Planungsirrtum – also das systematische<br />

Überschätzen der Fähigkeiten bei der Planung<br />

großer Projekte – sei es beim Umbau<br />

eines Bahnhofs oder der Regulierung<br />

des Finanzmarkts.<br />

Sie sagen: Nicht an Dingen festhalten, nur<br />

weil man schon viel in sie investiert hat.<br />

Klingt nach Griechenland.<br />

Das ist die „Sunk Cost Fallacy“. Wir tendieren<br />

dazu, bei neuen Entscheidungen<br />

verlorene und unwiederbringlich ausgegebene<br />

Gelder in Betracht zu ziehen. Ein<br />

fataler Fehler. Es wird argumentiert: Jetzt<br />

haben wir schon so viel investiert in die<br />

Rettung Griechenlands oder in den Bestand<br />

des Euro, jetzt müssen wir weitermachen.<br />

So darf man das aber nicht sehen.<br />

Die Frage muss lauten – unabhängig<br />

davon, wie viel wir schon reingesteckt haben,<br />

ob einen Euro oder eine Trillion: Wie<br />

sieht die Situation heute aus? Ist es das<br />

wert, weiterhin den Euro zu verteidigen<br />

oder Griechenland in der EU zu halten?<br />

Was man schon reingebuttert hat, darf bei<br />

der Entscheidung keine Rolle spielen.<br />

Machen es sich Bestsellerautoren und<br />

Leitartikler nicht vielleicht ein bisschen<br />

leicht und übersehen die Bedingungen,<br />

unter denen Politik abläuft?<br />

Sie haben in einem Punkt recht mit<br />

der Frage: Politische Prozesse sind im<br />

Grunde viel zu komplex für unser Hirn.<br />

Unser Hirn ist für eine Umgebung unserer<br />

evolutionären Vergangenheit gebaut,<br />

die sehr einfach war: 50 Menschen in einer<br />

Kleingruppe, Jäger und Sammler, davon<br />

etwa die Hälfte Kinder, darunter ein<br />

paar Alte. Vielleicht 20 wirklich produktive<br />

Erwachsene, zehn Frauen und zehn<br />

Männer. Immer die gleiche Umgebung,<br />

ein kleiner Bewegungsradius von vielleicht<br />

zehn Kilometern. Und jetzt haben<br />

wir uns eine Welt geschaffen, die viel zu<br />

komplex ist. Unser Hirn ist dafür nicht<br />

geschaffen. Wir verstehen diese Dinge<br />

nicht, auch wenn wir es wollen. Die Welt<br />

mit ihren Handlungsfeldern, wie Politik<br />

oder Finanzmarkt, sind zu komplex geworden.<br />

Deshalb darf man Politikern keinen<br />

Vorwurf machen. Sie haben einen<br />

unmöglichen Job. Ich habe größten Respekt<br />

vor ihnen. Wie auch vor Vorstandschefs<br />

großer Firmen, die stecken genau in<br />

der gleichen Situation.<br />

Wieso soll uns das nicht fit für die neue<br />

Welt gemacht haben? Survival of the<br />

fittest …<br />

Die biologische Evolution hatte gar keine<br />

Zeit, unser Hirn an so etwas wie „globale<br />

Finanzmärkte“ anzupassen. Darum laufen<br />

wir heute mit einer Menge systematischer<br />

Denkfehler durch die Welt. Zum<br />

Beispiel war es seinerzeit in der Steppe<br />

sinnvoll, das Verhalten der anderen zu<br />

kopieren. Raschelte es in den Büschen<br />

und rannten die anderen davon, lohnte<br />

es sich, den anderen hinterherzurennen<br />

und nicht lange zu grübeln. So haben wir<br />

überlebt. Darum gibt es die menschliche<br />

Rasse, darum gibt es dieses Hotel, gibt es<br />

die Stadt Berlin. Menschen, die den anderen<br />

nicht hinterhergerannt sind, haben<br />

nicht überlebt, die sind aus dem Genpool<br />

verschwunden. Wir sind die Nachfolger<br />

jener, die das Verhalten der anderen kopiert<br />

haben.<br />

Wo ist das Problem dabei?<br />

In der heutigen Zeit brauchen wir diesen<br />

Herdentrieb nicht mehr. Er ist sogar<br />

Rolf Dobelli, 46, steht seit<br />

Monaten mit seinen beiden<br />

Sachbüchern „Die Kunst des<br />

klugen Denkens“ und „Die Kunst<br />

des klugen Handelns“, die im<br />

Hanser-Verlag erschienen sind,<br />

weit vorne auf den Sachbuch-<br />

Bestsellerlisten. Nach seinem<br />

BWL-Studium und anschließender<br />

Promotion in St. Gallen<br />

arbeitete er als Geschäftsführer<br />

verschiedener Tochterfirmen<br />

der Swissair. Später gründete er<br />

„get abstract“, den mittlerweile<br />

größten Anbieter für komprimierte<br />

Wirtschaftsliteratur. Obwohl er<br />

selbst Nachrichtenkonsum ablehnt,<br />

erscheinen seine Texte regelmäßig<br />

in der FAZ, der Zeit, im Wall<br />

Street Journal und dem Economist<br />

Foto: Herbert Zimmermann/13 Photo<br />

96 <strong>Cicero</strong> 11.2012


11.2012 <strong>Cicero</strong> 97


| K a p i t a l<br />

schädlich. Besonders am Finanzmarkt,<br />

in der Wirtschaft generell, lohnt es sich,<br />

selbstständig zu denken und zu handeln.<br />

Natürlich, es gibt Fälle, in denen<br />

man unter Druck gerät. Nicht dass ich<br />

es möchte, aber ich kann jetzt hier nicht<br />

meine Kleider ausziehen und splitternackt<br />

durch die Lobby laufen, da muss<br />

ich mich auch anpassen an die Konvention.<br />

Aber es lohnt sich, viel öfter selbstständig<br />

zu denken, als es früher der Fall<br />

gewesen war.<br />

Weil Sie gerade die Finanzmärkte ansprechen.<br />

Sie beziehen sich in Ihren Büchern<br />

oft auf prominente Akteure an den<br />

Finanzplätzen, die Sie offenbar gut kennen.<br />

Lachen diese Leute sich eigentlich kaputt<br />

über die Ahnungslosigkeit der Politik, was<br />

die Finanzwelt anlangt?<br />

Sie lachen sich tot! Weil die Politik keinen<br />

Schimmer hat, was abgeht. Die<br />

Geldmenge zum Beispiel. Wir denken<br />

immer, die Geldmenge wird von der<br />

Zentralbank festgesetzt. Aber das stimmt<br />

nicht. Die Geldmenge wird nur zu vielleicht<br />

20 Prozent von den Notenbanken<br />

geschaffen, zu 80 Prozent aber durch die<br />

Geschäftsbanken. Natürlich nicht über<br />

physisches Notendrucken, sondern über<br />

elektronische Einträge in den Computersystemen<br />

– was auf das Gleiche hinausläuft.<br />

Geschäftsbanken vergeben Kredite.<br />

Das ist nichts anderes als eine elektronische<br />

Buchung auf das Konto des Kreditnehmers.<br />

Doch die Geschäftsbanken<br />

müssen das Geld für diese Kredite nicht<br />

wirklich besitzen.<br />

Wo kommt es dann her?<br />

Sie können Geld aus dem Nichts schöpfen,<br />

und damit machen sie unheimliche<br />

Gewinne und schanzen sich Boni zu. Bevor<br />

sich das zusätzliche Geld über die anbahnende<br />

Inflation bemerkbar macht,<br />

haben sie sich schon lauter schöne<br />

Sachen davon gekauft. Die Banken, die<br />

Geld schöpfen, und die Banker, die es<br />

als erste persönlich abschöpfen, profitieren<br />

von diesem System – und sie werden<br />

es mit allen Mitteln verteidigen. Und<br />

die Gesellschaft guckt in die Röhre. Seit<br />

wir den Goldstandard abgeschafft haben,<br />

1971, lachen die sich schlapp und bereichern<br />

sich an diesem System, ohne dass<br />

es ein Politiker merkt. Sie machen Kasse,<br />

und die Politik, die Staaten kommen für<br />

die Risiken auf.<br />

„Unser Hirn will immer noch<br />

Herdentrieb, aber wir sollten<br />

viel öfter selbständig denken“<br />

Hat die Politik überhaupt eine Chance, die<br />

Sache wieder in den Griff zu kriegen?<br />

Na klar. Es gibt eine Lösung. In dem Fall<br />

sogar eine ganz einfache: Wir müssen zurück<br />

zum Goldstandard. Sobald wir wieder<br />

den Goldstandard haben, ist dieser<br />

Zauber vorbei. Das wäre das Ende<br />

der Selbstbereicherung durch die Banker.<br />

Sie wären wieder ganz einfache Angestellte,<br />

die einen ganz normalen Job machen:<br />

Ah, der will ein Häuschen bauen,<br />

ist er kreditwürdig, ja oder nein. Also<br />

dieses ganz einfache Bankengeschäft im<br />

Dienste des Kunden. Die Welt wäre langweilig,<br />

aber es herrschte wieder Ordnung.<br />

Die alte 3-6-3-Regel fürs Banking käme<br />

wieder zum Tragen: „Du gibst den Sparern<br />

3 Prozent Zins. Du vergibst darauf<br />

Kredite für 6 Prozent. Und um 3 Uhr<br />

nachmittags stehst du schon auf dem<br />

Golfplatz.“<br />

Die Repubikaner in den USA wollen zurück<br />

zum Goldstandard.<br />

Ach ja? Habe ich noch gar nicht gehört.<br />

Ich konsumiere keine News.<br />

Wie bitte?<br />

News-Konsum ist Zeitverschwendung.<br />

Das meiste ist Nachrichtenmüll. Was<br />

habe ich davon zu wissen, dass hier ein<br />

Flugzeug abgestürzt ist oder dort ein Senator<br />

fremdgeht? Überlegen Sie doch<br />

mal: Sie konsumieren vielleicht 30 Nachrichten<br />

pro Tag. Das sind ungefähr<br />

10 000 pro Jahr. Sagen Sie mir eine einzige,<br />

die es Ihnen erlaubt hätte, eine bessere<br />

Entscheidung zu treffen – für Ihr Leben<br />

oder für Ihren Beruf –, als wenn Sie<br />

diese Nachrichten nicht gehabt hätten.<br />

Bei mir gab es mal eine: Ich fuhr zum<br />

Flughafen, und dann war der Flug abgesagt,<br />

weil eine Aschewolke von diesem isländischen<br />

Vulkan in der Luft lag. Die<br />

Zeit hätte ich mir sparen können, wenn<br />

ich die Zeitung gelesen hätte. Aber das ist<br />

das Einzige, sonst habe ich eine Menge<br />

Zeit gespart, eine Menge Zeit, etwa einen<br />

halben Arbeitstag pro Woche locker,<br />

sieben Stunden. Das zweite Problem ist,<br />

wenn Sie News konsumieren, laufen Sie<br />

mit einer falschen Risikokarte durch die<br />

Welt.<br />

Was heißt das?<br />

Zeitungen, Radio, Fernsehen und<br />

News‐Portale im Internet müssen ja die<br />

Aufmerksamkeit des Lesers erheischen,<br />

damit sie Werbung verkaufen können.<br />

Das geht aber nur mit Storys, die laut<br />

sind, grell sind, sensationell, zugespitzt.<br />

Also halten Sie als News-Konsument<br />

Flugzeugabstürze und Terroranschläge für<br />

viel wahrscheinlicher, als sie in Wahrheit<br />

sind. Sie haben eine völlig falsche Risikokarte<br />

im Kopf und treffen dann auch falsche<br />

Entscheidungen, sowohl privat als<br />

auch in Ihrem Berufsleben, weil Sie Gefahren<br />

falsch einschätzen.<br />

Aber entgeht Ihnen auf diese Weise nicht<br />

eine Menge?<br />

Es passieren vermutlich schlimme Dinge<br />

auf anderen Planeten, aber wir finden es<br />

total okay, nichts davon zu wissen. Offenbar<br />

funktioniert es da, aber wenn irgendein<br />

Flugzeug in Sibirien abstürzt<br />

und wir das nicht wissen, dann fühlen<br />

wir uns unterinformiert. Und noch etwas:<br />

Wenn der Nachrichtenkonsum tatsächlich<br />

einen Wettbewerbsvorteil verschaffen<br />

würde, wären Journalisten die<br />

reichsten Menschen auf diesem Planeten.<br />

Dem ist nachweislich nicht so. Ich<br />

jedenfalls habe mir die Nachrichtenhetze<br />

erfolgreich abgewöhnt. Ich fühle mich<br />

besser seither und treffe die besseren Entscheidungen.<br />

Das Gespräch führte Christoph Schwennicke<br />

98 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Wir sind das<br />

in<br />

orgsmarienhütte,<br />

weil wir die Chancen des Unternehmens erkannt<br />

und es zukunftsfähig gemacht haben.<br />

Als Teil eines der größten Technologiekonzerne der Welt versteht GE Capital seine Kunden oft besser<br />

und kann ihnen so optimale Lösungen für Leasing, Factoring und Fuhrparkmanagement bieten.<br />

Wie der Georgsmarienhütte Gruppe, einem der führenden Edelbaustahl-Hersteller Europas, mit dem<br />

wir seit fast 20 Jahren zusammenarbeiten.<br />

Wir gestalten Deutschland: www.ge.com/de<br />

Wir sind das in rmany.


| K a p i t a l | E u r o f i g h t e r<br />

SUPERVOGELs<br />

Sinkflug<br />

Im Kalten Krieg brauchte Deutschland ein Jagdflugzeug.<br />

Lobbyisten und Politiker pumpten das Waffensystem<br />

zum teuersten Rüstungsprojekt der Bundesrepublik<br />

auf. Jetzt werden sie den Kampfjet nicht los<br />

von Constantin Magnis und Thomas Wiegold<br />

E<br />

S muss an der feilgebotenen Ware<br />

liegen, an der Kombination aus<br />

milliardenschwerer Hightech<br />

und tödlichem Kriegsgerät, dass<br />

es auf der Farnborough Fair in<br />

Südengland, der größten Flug- und Rüstungsmesse<br />

der Welt, nur so wimmelt von<br />

Männern, die auf dicke Hose machen.<br />

Breitbeinig stehen die Manager der Waffenkonzerne<br />

vor den VIP‐Chalets, Zigarre<br />

in der einen, Champagnerglas in der anderen<br />

Hand, und betrachten die Kampfjets,<br />

die über ihnen durch den Himmel brüllen.<br />

Und breitbeinig sitzen ihre Kunden, Generäle<br />

aus aller Welt, mit goldbehängten<br />

Schultern in den Golfbuggys, mit denen sie<br />

über die Flugfelder chauffiert werden. Das<br />

Geschehen im Security-gesicherten Pavillon<br />

des Kampfjets Eurofighter erinnert an<br />

diesem Morgen ein wenig an Action-Thriller<br />

aus den Neunzigern. An der Wand stehen,<br />

olivgrün aufgereiht, vier Piloten, die<br />

Brust herausgedrückt. Auf dem mannshohen<br />

Wandbildschirm läuft stumm ein<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

100 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Werbefilm, ein computeranimierter Eurofighter<br />

saust über digitale Wüsten und<br />

nimmt Fabrikhallen ins blinkende Fadenkreuz.<br />

Davor sitzt Enzo Casolini mit lakonischem<br />

Blick. Der hagere Italiener ist<br />

der CEO der Eurofighter GmbH und hält<br />

eine flammende Laudatio auf sein Waffensystem.<br />

Es sei schlichtweg, erklärt er, das<br />

„beste Flugzeug seiner Art“. In seinem Rücken<br />

lösen sich <strong>Bombe</strong>n aus der Flügelhalterung<br />

und kreisen in Zeitlupe auf eine<br />

Halle zu. „Nirgendwo auf der Welt“, bilanziert<br />

Casolini, „werden Sie Vergleichbares<br />

finden.“ Flammen schlagen aus dem<br />

Wellblechdach, eine Explosion macht das<br />

Gebäude dem Wüstenboden gleich. Eine<br />

Machtdemonstration ganz im Sinne des<br />

Firmenslogans: „Eurofighter Typhoon –<br />

Nothing comes close.“<br />

Wieder mal so ein Punkt, an dem der Eurofighter<br />

höher geredet wird, als er fliegen<br />

kann. Je trüber, je schwieriger die<br />

Zukunftsaussichten für das europäische<br />

Rüstungsprojekt, desto greller wird es in<br />

Szene gesetzt, wie schon so oft in seiner<br />

turbulenten Geschichte. Und Probleme hat<br />

das Vier-Nationen-Herstellerkonsortium<br />

aus Deutschland, Großbritannien, Spanien<br />

und Italien derzeit genug: Der europäische<br />

Rüstungsmarkt liegt als Folge der Finanzkrise<br />

am Boden, noch ist unklar, ob die<br />

klammen Staaten die <strong>letzte</strong> Tranche der Jets<br />

überhaupt abnehmen werden. Zum boomenden<br />

Exportgeschäft der Schwellenländer<br />

findet der Eurofighter ebenfalls keinen<br />

Zugang. Nach verlorenen Ausschreibungen<br />

von Singapur bis Japan scheiterte kürzlich<br />

auch der wichtigste angestrebte Rüstungsdeal<br />

des Konsortiums: der rund 20-Millarden-Dollar<br />

schwere Auftrag aus Indien für<br />

126 Kampfjets, der dringend nötige Befreiungsschlag.<br />

Zu allem Überfluss verhinderte<br />

die Politik nun auch noch die geplante Fusion<br />

der beiden Rüstungsfirmen EADS<br />

und der britischen BAE Systems – unter<br />

dem Dach der beiden agniert die Eurofighter<br />

GmbH. Der Zusammenschluss hätte<br />

Eurofighter<br />

Entwicklung: Der Eurofighter wurde<br />

zunächst als Jagdflugzeug geplant und<br />

dann zum Mehrzweckkampfflugzeug<br />

weiterentwickelt. Beteiligt sind EADS<br />

(Deutschland, Spanien), BAE Systems<br />

(Großbritannien) und Alenia Aeronautica<br />

(Italien). In Dienst seit 2003<br />

Daten: Länge 15,96 Meter, maximale<br />

Zuladung 7500 kg, maximale<br />

Geschwindigkeit Mach 2,35 (2400 km/h),<br />

maximale Flughöhe 19 812 m<br />

Nutzer: Deutschland, Großbritannien,<br />

Spanien, Italien, Österreich, Saudi‐Arabien<br />

Stärken: Exzellent im Luftkampf,<br />

Einsatzerfahrung in Libyen<br />

Probleme: Recht teuer in Anschaffung<br />

und Betrieb, bislang nur wenige Waffen für<br />

Bodenziele integriert<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 101


| K a p i t a l | E u r o f i g h t e r<br />

nicht nur den größten Waffenkonzern der<br />

Welt hervorgebracht, sondern auch ein<br />

krisenfesteres Umfeld für den Eurofighter.<br />

Stattdessen kämpft das Projekt inzwischen<br />

nicht mehr nur um sein Image. Bis 2018 ist<br />

die Produktion noch gesichert. Doch wenn<br />

nicht bald weitere Flugzeuge bestellt werden<br />

oder neue Kunden dazukommen, wird<br />

sie eingestellt. Dann wäre das größte Rüstungsprojekt<br />

in der Geschichte der Bundesrepublik<br />

vorzeitig am Ende. 26 Milliarden<br />

Euro an Steuergeldern – und dann geht es<br />

nicht weiter. Der Absturz eines Supervogels.<br />

Der Mann, bei dem dieses Projekt ursprünglich<br />

seinen Anfang nahm, trägt<br />

heute Rentnerweste und akkuraten Silberscheitel.<br />

Eberhard Eimler, General a. D.,<br />

blickt in den Himmel über Rheinbach, seinem<br />

Wohnort im Bonner Hinterland. Als<br />

er Chef der Luftwaffe war, hieß die Hauptstadt<br />

noch Bonn, die Anschaffung des Eurofighters<br />

fiel in seine Amtszeit. „Ich wollte<br />

damals nur preisgünstig das Dach über<br />

Deutschland abdichten“, sagt er, und formt<br />

dabei ein Schirmchen mit den Händen. Im<br />

Kalten Krieg war mit russischen Luftangriffen<br />

zu rechnen, Eimler hielt die deutsche<br />

Abwehr für lückenhaft und bat Helmut<br />

Kohl 1983 um Unterstützung für ein<br />

neues Jagdflugzeug. Er bekam sie.<br />

Noch mehr Begeisterung löste Eimlers<br />

Vorschlag bei der bayerischen Waffenschmiede<br />

MBB aus. Seit den Siebzigern<br />

hatte das Unternehmen, das später im<br />

EADS-Konzern aufging, an einem Flugzeug<br />

getüftelt, Arbeitstitel: Taktisches<br />

Kampfflugzeug, kurz: TKF. Es galt, sich<br />

vorausschauend Folgeaufträge für die in<br />

den Neunzigern auslaufende Tornado-<br />

Produktion zu sichern. Doch am damaligen<br />

SPD-Verteidigungsminister Hans<br />

Apel hatte sich die bayerische Lobby die<br />

Zähne ausgebissen. Gerade erst waren<br />

Phantom-Jäger aus den USA angeschafft<br />

worden, das neue Projekt schien Apel<br />

„Die Deutschen können aus dem Projekt<br />

nicht mehr aussteigen, Thatcher würde<br />

Kohl zu Tode prügeln“<br />

Aus dem Branchenblatt Aviation Weekly, 1988<br />

weder notwendig noch bezahlbar: „Das<br />

TKF wird es nicht geben.“<br />

Dann kam Kohl. Und mit ihm kam<br />

auch Franz Josef Strauß, CSU-Chef, Airbus-Aufsichtsrat<br />

und alter MBB-Amigo.<br />

Inzwischen hatten sich die Luftwaffen<br />

Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und<br />

Spaniens vorgenommen, gemeinsam mit<br />

Deutschland ein neues Kampfflugzeug zu<br />

planen, um Kosten zu sparen und größere<br />

Stückzahlen bauen zu können. „Jäger 90“<br />

sollte es heißen – sprachlich eine perfekte<br />

Symbiose aus Fortschrittsglaube und dem<br />

Sound der Bonner Republik. Eimler hatte<br />

dafür plädiert, nur Karosserie und Elektronik<br />

neu fertigen zu lassen, aber Triebwerke<br />

und Radargeräte der USA zu nutzen, um<br />

„exotische, teure Lösungen“ zu vermeiden.<br />

Dass aus Eimlers zweckmäßigem Anliegen<br />

30 Jahre später der Luftferrari des Enzo<br />

Casolini wurde, ist nur durch die Gemengelage<br />

aus bayerischer Lobbyarbeit und<br />

europäischer Politik zu erklären, die rasch<br />

eine Eigendynamik entwickelte. Aus simpler<br />

Bedarfsdeckung wurde ein internationales<br />

Prestigeprojekt. Je mehr Industrielle<br />

und Politiker involviert wurden, erinnert<br />

sich Eimler, desto teurer und komplizierter<br />

wurde es.<br />

Bereits 1985, Frankreich hat das Projekt<br />

inzwischen verlassen, soll jede Schraube<br />

von der europäischen Industrie neu erfunden<br />

werden. Mit den Anforderungen des<br />

Militärs hat das bald nichts mehr zu tun.<br />

1987 kommt es trotz öffentlicher Proteste<br />

zu einer „unverbindlichen“ Festlegung der<br />

geplanten Stückzahlen: je 250 für die Bundesrepublik<br />

und Großbritannien, 160 für<br />

Italien, 100 für Spanien – das ist praktisch<br />

ein Kaufversprechen, Jahrzehnte vor der<br />

Serienreife des Produkts. Für die Rüstungsindustrie<br />

ist das normal, gar überlebensnotwendig<br />

– setzt aber gleichzeitig Marktmechanismen<br />

außer Kraft, die mancher<br />

bald schmerzlich vermisst. CDU-Verteidigungsexperte<br />

Willy Wimmer bilanziert<br />

damals trocken: „Die Abgeordneten hatten<br />

keine Chance, den Jäger 90 zu verhindern,<br />

nachdem sich die Exekutive mit Franz Josef<br />

Strauß und MBB einig war.“ Oder, wie das<br />

Branchenblatt Aviation Weekly einen britischen<br />

Industriellen zitiert: „Wir sind inzwischen<br />

zu weit, als dass die Deutschen<br />

noch aussteigen könnten. Maggie Thatcher<br />

würde Helmut Kohl zu Tode prügeln.“<br />

Als Verteidigungsminister Manfred Wörner<br />

1988 schließlich den Vertrag zur voraussichtlich<br />

sieben Milliarden D‐Mark teuren<br />

Entwicklung des Jäger 90 unterschreibt,<br />

war er „nicht in Hochstimmung“, wie er<br />

sich später erinnert.<br />

1990 fällt die Mauer, der Warschauer<br />

Pakt bricht zusammen, der Bundeshaushalt<br />

ächzt unter der Wiedervereinigung. Eigentlich<br />

ein günstiger Moment, das Projekt<br />

abzublasen, dessen Grundlage die Gefahr<br />

aus dem Osten gewesen war. Tatsächlich<br />

fordern genau das auch immer mehr Mitglieder<br />

der Regierungsfraktionen, aber das<br />

Industrieargument, ein Ausstieg sei teurer<br />

als die Fertigstellung, hält sie vorerst<br />

im Zaum. Der Preis pro Flugzeug ist inzwischen<br />

von rund 65 auf 134 Millionen<br />

D‐Mark gestiegen.<br />

Volker Rühe, ab 1992 Verteidigungsminister,<br />

bezweifelt, dass man „angesichts<br />

der veränderten sicherheitspolitischen<br />

Lage diesen Supervogel braucht“, und<br />

urteilt dann: „Der Jäger 90 ist tot.“ Die<br />

Presse feiert seinen Widerstand gegen die<br />

Rüstungslobby – zu früh. Aus der Industrie<br />

und Großbritannien geht ein Kampagnensturm<br />

über Deutschland nieder, der<br />

Gefahren für Arbeitsmarkt, Hochtechnologie<br />

und wehrtechnische Potenz des Landes<br />

beschwört, und als sich die Ausstiegskosten<br />

als wirklich unerschwinglich entpuppen,<br />

knickt Rühe ein. Kleinlaut fordert<br />

er nun eine Sparversion des Jäger 90. Das<br />

Ergebnis: neuer Liefertermin, neuer Preis,<br />

neuer Name. Für 2002, fünf Jahre später<br />

als geplant, wird nun der „Eurofighter“ angekündigt<br />

– ein Name wie die Verheißung<br />

einer Vision, wie das Europa von übermorgen.<br />

Und der Supervogel, der nun nicht<br />

mehr zu stoppen ist, wird wieder großgeredet:<br />

„Die Luftwaffe braucht das neue<br />

Flugzeug dringend“, erklärt Rühe 1996.<br />

Ein Jahr später winkt der Bundestag den<br />

Produktionsvertrag durch. 620 der Kampfjets<br />

sollen nun für alle vier Partnerländer<br />

gebaut werden, davon 180 für Deutschland,<br />

das Stück für 128,7 Millionen Mark.<br />

102 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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Rafale Gripen F-35<br />

Entwicklung: Leichtes, national<br />

entwickeltes Mehrzweckkampfflugzeug<br />

des französischen Herstellers Dassault<br />

Aviation. Inbetriebnahme: 2000<br />

Daten: Länge 15,27 m, maximale<br />

Zuladung 9500 kg, maximale<br />

Geschwindigkeit Mach über 1,97<br />

(2125 km/h), maximale Flughöhe circa<br />

16 800 m<br />

Nutzer: Frankreich, künftig eventuell<br />

Indien (Vertragsverhandlungen)<br />

Stärken: Kleiner, leichter und etwas<br />

günstiger als der Eurofighter, etwas<br />

geringere Fähigkeiten, Luft-Boden-<br />

Bewaffnung integriert<br />

Probleme: Bislang kein Export; falls<br />

der Indien-Auftrag (10 bis 20 Milliarden<br />

US-Dollar) scheitert, steht das Projekt vor<br />

dem Aus<br />

Entwicklung: Schwedisches<br />

Mehrzweckkampfflugzeug aus dem<br />

Hause Saab, wird in weiter entwickelter<br />

Form als Gripen NG angeboten,<br />

Inbetriebnahme: 1996<br />

Daten: Länge 14,10 m, maximale<br />

Zuladung 4200 kg, maximale<br />

Geschwindigkeit Mach 2 (2200 km/h),<br />

maximale Flughöhe circa 18 000 m<br />

Nutzer: Schweden, Großbritannien,<br />

Südafrika, Ungarn, Tschechien, Thailand<br />

Stärken: Niedrige Anschaffungs- und<br />

Wartungskosten, sehr zuverlässig, Luft-<br />

Boden-Bewaffnung integriert<br />

Probleme: Nur ein Triebwerk, Technik<br />

und Leistung sind der Konkurrenz<br />

unterlegen, Weiterentwicklung zur Version<br />

NG noch nicht gesichert<br />

Entwicklung: Das Mehrzweckkampfflugzeug<br />

F-35 wird in drei Versionen<br />

in den USA unter Führung von Lockheed<br />

und unter Beteiligung von acht Nationen<br />

entwickelt<br />

Daten: Länge 15,67 m, Waffenlast<br />

8165 kg, maximale Geschwindigkeit<br />

Mach 1,6 (1700 km/h)<br />

An Nutzung interessierte Länder: USA,<br />

Italien, Großbritannien, Niederlande, Türkei,<br />

Australien, Norwegen, Dänemark, Kanada,<br />

Japan, Israel, Singapur<br />

Stärken: Erstes Kampfflugzeug der<br />

5. Generation, erstes voll digitalisiertes<br />

Kampfflugzeug<br />

Probleme: Die Entwicklungskosten<br />

explodieren, das Flugzeug könnte deutlich<br />

teurer werden als der Eurofighter und<br />

technische Entwicklungsziele verfehlen<br />

Natürlich dauert am Ende alles länger<br />

als geplant. Erst 2004 wird das 1983<br />

bei Kohl bestellte Flugzeug in Dienst genommen,<br />

von Eberhard Eimlers Nach-<br />

Nach-Nach-Nach-Nach-Nachfolger,<br />

Luftwaffeninspekteur Klaus-Peter Stieglitz,<br />

heute ein durchtrainierter Pensionär<br />

mit eisgrauem Stoppelhaar und Fliegerabzeichen<br />

am Jackett. Wenn Stieglitz<br />

von dem kalten Februarmorgen erzählt,<br />

an dem er 2005 bei Rostock das erste<br />

„Der Eurofighter ist in Europa<br />

konkurrenzlos und neben der F-22 das<br />

beste Flugzeug, das es momentan gibt“<br />

Klaus-Peter Stieglitz, ehemaliger Luftwaffeninspekteur der Bundeswehr<br />

Mal den brandneuen Eurofighter getestet<br />

hat, bewegen sich seine buschigen Augenbrauen<br />

wie Eulenflügel. Stieglitz hat<br />

fast alle Kampfjets schon geflogen, von der<br />

MIG bis zur F‐16. Schon beim Einsteigen<br />

imponiert ihm das erhabene Sitzgefühl,<br />

das ungewohnt geräumige Cockpit.<br />

Nach allen Sicherheitschecks setzt der General<br />

die Sauerstoffmaske auf, der Techniker<br />

entfernt die Bremse unter dem Reifen,<br />

die Sonne scheint durch die offenen<br />

Hallentore, und Stieglitz rollt langsam auf<br />

die Startbahn. Er schaltet den Nachbrenner<br />

ein, gibt Gas, zieht den Steuerknüppel<br />

nach hinten. Er beschleunigt so rasch,<br />

dass er in den Sitz gepresst wird, innerhalb<br />

von zehn Sekunden hebt sich die<br />

Nase der Maschine, und sie donnert mit<br />

250 Kilometer pro Stunde durch die Luft.<br />

Über die Bordbildschirme flimmern Zahlen<br />

und Graphen, Stieglitz beschleunigt<br />

auf 450 Kilometer pro Stunde, notfalls<br />

schaffen die Triebwerke doppelte Schallgeschwindigkeit.<br />

Er weiß noch, wie die<br />

Winterlandschaft aus den Seitenfenstern<br />

verschwindet, bis um ihn herum nur noch<br />

Himmel ist und sanftes Dröhnen in den<br />

Kopfhörern. Stieglitz entspannt total.<br />

Anders als bei anderen Kampfjets<br />

muss er den Kurs nicht nachsteuern, einmal<br />

per Joystick programmiert, fliegt<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

104 <strong>Cicero</strong> 11.2012


der Eurofighter wie auf Schienen. Etwa<br />

5000 Meter über den glitzernden Flüssen<br />

des Havellands fliegt Stieglitz aerodynamische<br />

Manöver. Als er eine Stunde später<br />

landet, ist er beeindruckt. Ergonomie,<br />

Triebwerke, Cockpit, Radar, Manövrierbarkeit:<br />

„Der Eurofighter“, bilanziert er,<br />

„ist in Europa konkurrenzlos und neben<br />

der F‐22 das beste Flugzeug, das es momentan<br />

auf der Welt gibt.“<br />

Doch große Teile der Welt sehen das<br />

immer wieder anders. Zuerst, weil den Eurofighter<br />

heftige Kinderkrankheiten plagen:<br />

Triebwerke zünden nicht, Tankanzeigen<br />

fallen aus, Bordkanonen klemmen, Computerbildschirme<br />

streiken während des Fluges.<br />

Und durch das fieberhafte Nachbessern<br />

in den Fabrikhallen steigen die Kosten<br />

derart, dass London und Rom versuchen,<br />

die bestellte Fliegerzahl zu reduzieren.<br />

Mit den nachbestellten Systemen hat sich<br />

der Preis von 1998 nun mehr als verdoppelt:<br />

Auf 138,5 Millionen Euro und über<br />

80 000 Euro pro Flugstunde. Der Eurofighter,<br />

schreibt Rüdiger Wolff, Staatssekretär<br />

im Verteidigungsministerium, 2008 „in<br />

tiefster Sorge“ an seine europäischen Amtskollegen,<br />

sei in einer „kritischen Lage“.<br />

Kritisch steht es bald auch um das von<br />

EADS versprochene „sehr gute Exportpotenzial“<br />

des Eurofighters. Schlimm genug,<br />

dass der Eurofighter in Fernost keinen einzigen<br />

Käufer findet. Indonesien, Malaysia<br />

und Vietnam bestellen lieber die russischen<br />

Suchois, Japan, Singapur und Südkorea<br />

kaufen bei der pazifischen Schutzmacht<br />

USA, Thailand kommt gar mit den<br />

Schweden ins Geschäft.<br />

Kurios auch, dass dort, wo schließlich<br />

erfolgreich Exportverträge geschlossen<br />

wurden, schnell Ungereimtheiten auftauchen.<br />

Nachdem 2003 Österreich 18 Eurofighter<br />

bestellt hatte, stolpert ein Untersuchungsausschuss<br />

über dubiose Geldflüsse<br />

zwischen EADS-Lobby und einem Luftwaffenfunktionär,<br />

über den späteren Beratervertrag<br />

des damaligen Verteidigungsministers<br />

sowie mehrere Millionen Euro, die<br />

von EADS an die PR-Firma des Ex-Generalsekretärs<br />

der damaligen Regierungspartei<br />

FPÖ geflossen sein sollen. Auch<br />

der zweite Exporterfolg stinkt. 2005 bestellte<br />

Saudi-Arabien 72 Eurofighter. Dem<br />

EADS-Partner BAE Systems wurde später<br />

vorgeworfen, Mitglieder des saudischen<br />

Königshauses geschmiert zu haben. Für<br />

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eine Millionenzahlung wurde das Verfahren<br />

schließlich eingestellt.<br />

Am peinlichsten sind jedoch die<br />

Schlappen vor der eigenen Türe. Aus erhofften<br />

Deals mit den Nato-Partnern Griechenland,<br />

Norwegen oder den Niederlanden<br />

wird nie etwas, seit vergangenem Jahr<br />

scheint auch der lukrative Auftrag für<br />

22 Flugzeuge in der Schweiz verloren. Laut<br />

einem an die Presse durchgesickerten Auswertungsbericht<br />

genügten den Eidgenossen<br />

die technischen Anforderungen nicht.<br />

Und der Schweizer Luftwaffenchef Markus<br />

Gygax erklärte dem Branchenblatt Shownews<br />

später: „Selbst wenn wir den Eurofighter<br />

gewollt hätten, wir hätten ihn uns<br />

nicht leisten können.“<br />

Das alles wäre im Rückblick egal gewesen,<br />

hätten die Eurofighter-Verantwortlichen<br />

den Indien-Deal erfolgreich über die<br />

Bühne gebracht. 126 neue Kampfflugzeuge<br />

für insgesamt rund 20 Milliarden<br />

US‐Dollar wollen die Inder in ihre Luftstreitkräfte<br />

eingliedern – Ausschreibungen<br />

dieser Größe sind in der Branche ein<br />

Jahrhundertereignis. Kein Wunder, dass<br />

es ab 2009 zum Showdown fast aller großen<br />

Hersteller kommt, zwischen den traditionellen<br />

Lieferanten USA und Russland<br />

ebenso wie zwischen den Westeuropäern<br />

mit ihren drei konkurrierenden Modellen<br />

Eurofighter, der französischen Rafale und<br />

der Gripen aus Schweden.<br />

Anders als beim Vertrag mit Saudi-Arabien<br />

hatten in Indien die Deutschen die<br />

Federführung. Grund genug für die Bundeswehr,<br />

den Herstellern freundlich auszuhelfen.<br />

Und das durchaus auch aus Eigeninteresse:<br />

Die Anzahl der <strong>letzte</strong>n, noch<br />

an Deutschland zu liefernden Eurofighter<br />

soll laut Koalitionsvertrag mit künftigen<br />

Exporten verrechnet werden – im Erfolgsfall<br />

also eine enorme Ersparnis für<br />

den Verteidigungshaushalt. Dafür verlegte<br />

die Bundeswehr 2009 mit einem<br />

Millionenaufwand gleich vier Jets samt<br />

Tankflugzeugen, Begleitpersonal und Technik<br />

nach Indien, um auf der „Aero India<br />

2009“ der Bieterschlacht neuen Schwung<br />

zu verleihen. Sogar die Bundeskanzlerin<br />

griff in die staatliche Verkaufsförderung<br />

ein: Ende vergangenen Jahres rühmte sie<br />

in einem Brief an Indiens Premier Manmohan<br />

Singh das Flugzeug in höchsten Tönen<br />

und bot Indien an, als „fünfte Partnernation“<br />

in das Herstellerkonsortium<br />

einzusteigen.<br />

In den kommenden zwei Jahrzehnten<br />

werden weltweit 800 neue Kampfjets<br />

verkauft. 200 davon sollen Eurofighter<br />

sein – ein sehr ehrgeiziges Ziel<br />

Doch Anfang 2012 entscheiden sich<br />

die Inder für den kostengünstigeren Eurofighter-Konkurrenten<br />

Rafale des französischen<br />

Dassault-Konzerns. Frankreich, damals<br />

noch unter Präsident Nicolas Sarkozy,<br />

hatte sich aggressiv für den Export des bislang<br />

noch an kein Land verkauften französischen<br />

Kampfjets eingesetzt. Ob die Franzosen<br />

einen Preisnachlass gewährten oder<br />

den Rüstungsexport geschickt mit anderen<br />

Deals koppelten, lässt sich nur vermuten.<br />

Immerhin waren französische Unternehmen<br />

zuvor schon mit Neu-Delhi über<br />

die Lieferung von Atomkraftwerken und<br />

konventionellen U-Booten handelseinig<br />

geworden.<br />

Dass der Vier-Nationen-Kampfjet –<br />

wie zuvor schon in der Schweiz – zu teuer<br />

angeboten wurde, mag beim Hersteller<br />

EADS niemand hören. Und ob der Preis<br />

wirklich den Ausschlag gab, bleibt vorerst<br />

das Geheimnis der Inder. Kein Geheimnis<br />

ist dagegen, dass der einst als reines Jagdflugzeug<br />

begonnene Eurofighter auch acht<br />

Jahre nach seiner Inbetriebnahme weit davon<br />

entfernt ist, ein modernes Mehrzweckkampfflugzeug<br />

zu sein. Denn bisher sind<br />

seine Fähigkeiten, Bodenziele zu bekämpfen,<br />

äußerst beschränkt, erst langsam wird<br />

nachgerüstet. So schafften es die Briten<br />

nur mit massivem finanziellen Aufwand,<br />

ihre Maschinen für die demonstrative Bekämpfung<br />

von Bodenzielen in Libyen fit<br />

zu machen.<br />

Die Arbeiten an der Weiterentwicklung<br />

des Eurofighters zu einem Jagdbomber<br />

laufen zwar in den beteiligten<br />

Nationen auf Hochtouren, doch „work<br />

in progress“ ist gegenüber potenziellen<br />

Kunden ein schwaches Verkaufsargument.<br />

Denn in den zwei Jahrzehnten seit Ende<br />

des Kalten Krieges hat sich herausgestellt,<br />

dass es zwar immer noch Bedarf an Jagdflugzeugen<br />

gibt, die die Luftüberlegenheit<br />

sichern. Strategisch weitaus wichtiger sind<br />

aber Kampfjets, die Ziele am Boden angreifen<br />

können – möglichst exakt und<br />

ohne Kollateralschäden.<br />

Auf der Messe in Farnborough gucken<br />

die beiden Testpiloten vor dem Eurofighter-Stand<br />

etwas betrübt, als General Juniti<br />

Saito, Chef der brasilianischen Luftwaffe,<br />

vorbeimarschiert, ohne auch nur ein<br />

einziges Mal sein schlohweiß gescheiteltes<br />

Haupt zu wenden. Der 69-Jährige wird<br />

von seinem Stab eskortiert, Offiziere mit<br />

Sonnenbrillen, mächtigen Schnurrbärten<br />

und braun gebrannten Glatzen. Seit Jahren<br />

plant Brasilien, 36 neue Kampfflugzeuge<br />

zu kaufen, kann sich aber für kein Modell<br />

entscheiden.Wo Juniti Saito auftaucht,<br />

blinken deshalb Dollarzeichen in den Augen<br />

der Waffenhersteller. Das Ziel der Delegation<br />

steht funkelnd in der Sonne: Es<br />

ist die schwedische Gripen, das Discountangebot<br />

unter den Kampfjets. Technisch<br />

gilt er seiner Konkurrenz als weit unterlegen,<br />

doch insbesondere Flugstunden und<br />

Wartung sind im Vergleich spottbillig, die<br />

Gripen ist das Prinzip Ikea auf dem Flugzeugmarkt,<br />

der Anti-Eurofighter. Südafrika<br />

fliegt sie schon, Tschechien, Thailand, Ungarn,<br />

bald auch die Schweiz.<br />

Die Brasilianer legen die Köpfe schief,<br />

betrachten kritisch das Fahrwerk, zücken<br />

ihre Handykameras, Saitos Hand streicht<br />

zärtlich über den Seitenflügel. Ob sie<br />

sich nicht auch mal den Eurofighter anschauen<br />

wollen? „Pah“, macht Saitos Adjutant,<br />

winkt ab und schiebt sich ein neues<br />

Kaugummi in den Mund.<br />

Dabei kommt es in Zukunft auf die<br />

Schwellenländer an. Denn während die<br />

Rüstungsbudgets der Nato-Partnerstaaten<br />

schrumpfen, boomt der Markt in der<br />

Ferne: Um 22 Prozent will Brasilien seinen<br />

Verteidigungshaushalt bis 2015 erhöhen,<br />

Indien stockt auf 27 Prozent auf,<br />

Saudi-Arabien um fast 40 Prozent. Prognosen<br />

erkennen für die kommenden<br />

106 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Fotos: Andrea Bienert, privat<br />

zwei Jahrzehnte eine Nachfrage nach 800<br />

neuen Kampfflugzeugen. 200 Stück davon<br />

will die Eurofighter GmbH verkaufen,<br />

das ist das erklärte Ziel. Mindestens<br />

sechs Kampagnen führt sie dafür gerade<br />

rund um den Globus, von Malaysia bis Katar,<br />

nicht ohne Aussicht. Der Eurofighter<br />

mag vielen zu teuer sein, doch noch immer<br />

gilt er der europäischen Konkurrenz<br />

als technisch überlegen. Die Indien-Erfahrung<br />

hat das Team Eurofighter wach gerüttelt.<br />

Regierungen und Industrie arbeiten<br />

an allen Fronten, um nicht endgültig<br />

abgehängt zu werden. Längst fällige Upgrades<br />

wie der elektronische AESA-Radar<br />

sollen nun eilig integriert werden, und bei<br />

EADS rollen inzwischen Köpfe. Diverse<br />

Wechsel im Vorstand der Rüstungssparte<br />

„Cassidian“ wurden angekündigt, Spartenchef<br />

Stefan Zoller ging bereits, auch wegen<br />

der Eurofighter-Pleiten, heißt es. Weitere<br />

Rückschläge kann sich das Konsortium<br />

auch nicht leisten, denn aus Übersee drängen<br />

bereits Kampfflugzeuge der nächsten<br />

Generation auf den Markt, allen voran die<br />

amerikanische F‐35, die laut einer Studie<br />

des britischen Institute of Strategic Studies<br />

bald den europäischen Flugzeugmarkt beherrschen<br />

soll. Und schon Ende der Dekade<br />

könnte die russisch-indische Suchoi<br />

T‐50 exportfähig sein und den Mitbewerbern<br />

gefährlich werden. Die Uhr tickt, das<br />

Zeitfenster schließt sich allmählich.<br />

Das alles kümmert Bob Smith nicht,<br />

als er in Farnborough Ausschau nach seinem<br />

Baby hält. Der Eurofighter-Chefingenieur<br />

bei BAE Systems sieht aus wie<br />

Rod Stewart mit seiner Matte und der getönten<br />

Brille. Er zeigt auf den schwarzen<br />

Punkt, der am Horizont aus den Wolken<br />

bricht, rasch näher kommt, erst zum Keil<br />

wird und schließlich zum rasenden Dreieck<br />

mit blinkendem Bauch. Erst klingt der<br />

Eurofighter wie ein angezündetes Deospray,<br />

dann wie der tiefe Bass eines Flammenwerfers,<br />

die Erschütterung kitzelt unangenehm<br />

in den Backenzähnen. Über den<br />

Köpfen der Zuschauer dreht er eine qualmende<br />

Kurve. „Wenn Sie sehen könnten,<br />

wie Kunden gucken, nachdem sie das erste<br />

Mal den Eurofighter geflogen sind“, ruft<br />

Bob Smith. „Diese Gesichter!“ Er blickt<br />

mit leichtem Pathos in den Himmel. „Ich<br />

nenne es das Eurofighter-Lächeln.“ Über<br />

die Jahre haben sich die Mitarbeiter des<br />

Eurofighter-Projekts offenbar angewöhnt,<br />

immer dann ein fast schon demonstratives<br />

Selbstbewusstsein an den Tag zu legen,<br />

wenn es heftig kriselt. Bob Smith ist da<br />

keine Ausnahme. Über ihm dreht sich der<br />

Kampfjet jetzt mehrmals um die eigene<br />

Achse, um dann senkrecht aufzusteigen, bis<br />

die rot flammenden Triebwerke wie zwei<br />

Zigarettenstummel im Nebel verschwinden.<br />

„Ganz ehrlich“, sagt das Eurofighter-<br />

Pressefräulein neben ihm, „wenn ich da<br />

drinsäße: Ich würde kotzen.“<br />

Thomas Wiegold<br />

arbeitet als freier Journalist<br />

im Bereich Verteidigungs- und<br />

Sicherheitspolitik<br />

Constantin Magnis<br />

ist Reporter bei <strong>Cicero</strong><br />

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Ein Interessengemälde<br />

Per Wahlkampfspende sichern die US-Banken ihre Macht, allen voran Goldman Sachs<br />

D<br />

As Duell Obama gegen Romney hat beide Parteien etwa 2,5 Milliarden<br />

US-Dollar gekostet – der teuerste Wahlkampf der Geschichte. Traditionell<br />

mit Millionenspenden dabei ist der amerikanische Finanzsektor. Ein Blick<br />

hinter die Kulissen zeigt, welch enge Verstrickung der amerikanischen Politik mit<br />

den großen Wall-Street-Institutionen daraus erwachsen ist. Besonders engmaschig<br />

und gleichzeitig weit verzweigt ist das Netzwerk von Goldman Sachs, einer der erfolgreichsten<br />

Investmentbanken der Welt. Ehemalige Goldmänner waren Finanzminister<br />

unter Bush und Clinton, stehen aktuell an der Spitze der Europäischen<br />

Zentralbank und der Bank of Canada oder kontrollieren die mächtige New Yorker<br />

Notenbank. Da ist es fast egal, wer unter Goldman im Oval Office sitzt?<br />

Wall Street<br />

CITIGROUP<br />

SANFORD I. WEILL<br />

Ehemaliger Vorstandschef der<br />

Citigroup, wollte Timothy<br />

Geithner als CEO zur<br />

Citigroup holen.<br />

JP MORGAN<br />

JAMIE DIMON<br />

CEO der Investmentbank<br />

JP Morgan und Board Member<br />

der New Yorker Federal Reserve<br />

seit 2007. Mithilfe eines 30-<br />

Milliarden-Dollar-Kredits der<br />

US-Notenbank übernahm<br />

JP Morgan 2008 den kriselnden<br />

Konkurrenten Bear Sterns.<br />

Timothy Geithner war als<br />

Präsident der New Yorker Fed<br />

in die Entscheidung über die<br />

Kreditvergabe direkt involviert.<br />

Größte Wahlkampfspender<br />

BARACK OBAMA<br />

University of California $ 706 931<br />

Microsoft $ 544 445<br />

Google $ 526 009<br />

Harvard University $ 433 860<br />

Regierungsmitarbeiter $ 389 100<br />

MITT ROMNEY<br />

Goldman Sachs $ 891 140<br />

Bank of America $ 668 139<br />

JP Morgan $ 663 219<br />

Morgan Stanley $ 649 847<br />

Credit Suisse Group $ 554 066<br />

Spenden nach Branchen in Millionen US-Dollar:<br />

Finanzsektor<br />

Anwälte, Lobbyisten<br />

Gesundheit<br />

Medien, Internet<br />

Energie<br />

0 10 20 30 40 50 60 70<br />

Demokraten Republikaner<br />

US - Politik<br />

Legende:<br />

= arbeitet für<br />

= hat gearbeitet für<br />

= ein Vorgänger von<br />

= Berater/Aufseher<br />

= hat ernannt<br />

HENRY PAULSON<br />

Vorgänger von Timothy Geithner<br />

als US-Finanzminister von 2006<br />

bis 2009 unter George W. Bush.<br />

Von 1999 bis 2006 CEO der<br />

Investmentbank Goldman<br />

Sachs. Lehman Brothers<br />

verweigerte er als Minister<br />

staatliche Unterstützung und<br />

ließ den Goldman-Konkurrenten<br />

pleitegehen.<br />

GEORGE W. BUSH<br />

US-Präsident von 2000 bis 2008.<br />

MARK PATTERSON<br />

arbeitet als Chief of Staff von<br />

Timothy Geithner im<br />

US‐Finanzministerium. Vorher<br />

war er von 2004 bis 2008 als<br />

Lobbyist für Goldman Sachs in<br />

Washington D.C. tätig.<br />

ROBERT RUBIN<br />

US-Finanzminister unter Bill<br />

Clinton von 1995 bis 1999. In<br />

seine Amtszeit fiel die<br />

Aufhebung des Glass‐Steagall-<br />

Act, der eine strikte Trennung<br />

von Investment- und<br />

Geschäftsbanken vorsah.<br />

Es kam zu einer Welle von<br />

Großfusionen. Nach seinem<br />

Rückzug aus der Politik<br />

wechselte er zur Citigroup.<br />

Bis 2009 bekleidete<br />

er dort verschiedene<br />

Managementpositionen<br />

und erhielt für seine Tätigkeiten<br />

insgesamt 126 Millionen Dollar.<br />

Rubin war vor seinem Wechsel<br />

in die Politik 26 Jahre bei<br />

Goldman Sachs beschäftigt.<br />

Im Wahlkampf 2008 beriet er<br />

Barack Obama.<br />

MITT ROMNEY<br />

Obamas Herausforderer verfügt<br />

als Gründer des Private-Equity-<br />

Unternehmens Bain Capital<br />

über beste Beziehungen zur<br />

US-Finanzindustrie, die zu seinen<br />

wichtigsten Unterstützern und<br />

Spendern im Wahlkampf gehört<br />

(siehe Grafiken links).<br />

108 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Notenbanken &<br />

Aufsichtsbehörden<br />

LLOYD BLANKFEIN<br />

CEO von Goldman Sachs seit<br />

2006, als Nachfolger von Henry<br />

Paulson. Bei der drohenden<br />

Insolvenz des US-Versicherungsriesen<br />

AIG 2009 empfahl<br />

Blankfein seinem alten Chef<br />

Henry Paulson, die Versicherung<br />

mit Steuergeldern zu retten. AIG<br />

war einer von Goldmans<br />

wichtigsten Kunden. Die<br />

Investmentbank erhielt bei der<br />

Rettung der Versicherung<br />

13 Milliarden US-Dollar aus der<br />

Staatskasse.<br />

EDWARD CORRIGAN<br />

Partner und Managing Director<br />

bei Goldman. Begann 1968 seine<br />

Karriere bei der New Yorker<br />

Federal Exchange, arbeitete dort<br />

zeitweilig als Assistent für den<br />

damaligen US-Notenbankchef<br />

Paul Volcker. Von 1985 bis 1993<br />

war Corrigan Präsident der New<br />

Yorker Fed.<br />

Goldman Sachs<br />

JOHN THAIN<br />

Heute CEO der Mittelstandsbank<br />

CIT Group. Vorher bekleidete er<br />

Vorstandsposten beim<br />

Börsenbetreiber NYSE und bei<br />

den Investmentbanken<br />

Merrill Lynch und Goldman Sachs.<br />

Beriet Finanzminister Geithner<br />

zu Beginn von dessen Amtszeit.<br />

STEPHEN FRIEDMAN<br />

arbeitete 28 Jahre bei Goldman<br />

Sachs, von 1992 bis 1994 als<br />

Vorstandschef. Er war von 2006<br />

bis 2008 Geheimdienstberater<br />

von Präsident George W. Bush.<br />

US-NOTENBANK<br />

Die wichtigste Zentralbank<br />

der Welt ist ein Hybrid einer<br />

staatlich-privaten Institution:<br />

Ihr Direktorium wird vom US-<br />

Präsidenten ernannt, gehört aber<br />

den privaten Mitgliedsbanken des<br />

Federal Reserve Systems.<br />

BEN BERNANKE<br />

US-Notenbankpräsident seit<br />

Februar 2006, wurde von<br />

George W. Bush vorgeschlagen.<br />

Vorher zwei Jahre Vorsitzender<br />

des Council of Economic<br />

Advisors, dem wichtigsten<br />

wirtschaftspolitischen<br />

Ratgebergremium der<br />

US-Regierung.<br />

Überschwemmt die Märkte<br />

seit dem Ausbruch der<br />

Krise regelmäßig mit Geld,<br />

damit die US-Wirtschaft<br />

kreditfinanziert aus der Krise<br />

wachsen kann. Will die Zinsen<br />

bis mindestens 2014 bei<br />

0 Prozent belassen.<br />

NEW YORK<br />

FEDERAL RESERVE<br />

Die wichtigste der zwöllf<br />

regionalen Notenbanken. Da<br />

sie den in New York ansässigen<br />

privaten Banken gehört, wird ihr<br />

traditionell eine zu große Nähe<br />

zur Wall Street nachgesagt.<br />

WILLIAM C. DUDLEY<br />

Präsident der New Yorker Federal<br />

Reserve als Nachfolger von<br />

Timothy Geithner. Mitglied des<br />

Federal Open Market Committee<br />

der US-Notenbank, das die<br />

Zinssätze festlegt. Bevor er 2007<br />

zur New Yorker Fed kam, war er<br />

Partner und Managing Director<br />

bei Goldman Sachs.<br />

EZB<br />

MARIO DRAGHI<br />

Der Präsident der EZB arbeitete<br />

2004/2005 für Goldman<br />

Sachs in London.<br />

SEC<br />

ADAM STORCH<br />

CEO der Vollzugsabteilung<br />

der amerikanischen Börsenaufsicht<br />

SEC, vorher Managing<br />

Director bei Goldman Sachs.<br />

PAUL VOLCKER<br />

Ehemaliger US-Notenbankchef<br />

unter Carter und Reagan.<br />

Beriet Präsident Obama in<br />

der Finanzkrise. Die nach ihm<br />

benannte Volcker-Rule soll den<br />

Banken den Eigenhandel mit<br />

Wertpapieren untersagen.<br />

TIMOTHY GEITHNER<br />

Obama machte ihn 2008 zum<br />

US-Finanzminister. Vorher, von<br />

2003 bis 2008 Präsident der<br />

New Yorker Federal Exchange und<br />

als solcher ständiges Mitglied des<br />

Federal Open Market Committee<br />

der US-Notenbank, das die<br />

Zinssätze festlegt.<br />

BARACK OBAMA<br />

Die Gunst der Finanzindustrie<br />

hat Obama in vier Jahren fast<br />

vollständig verloren, obwohl sich<br />

auch in seinem Beraterstab und<br />

im Kabinett zahlreiche Experten<br />

aus der Finanzwelt tummelten.<br />

ROBERT ZOELLICK<br />

war bis Juni 2012 Chef der<br />

Weltbank, berät jetzt Mitt<br />

Romney in außenpolitischen<br />

Fragen. Arbeitete 2006/2007<br />

als Berater von Goldman Sachs.<br />

BANK OF CANADA<br />

MARK CARNEY<br />

Seit 2008 Chef der Bank of<br />

Canada, seit 2011 gleichzeitig<br />

Vorsitzender des Financial<br />

Stability Boards (FSB) der<br />

G 20 als Nachfolger von Mario<br />

Draghi. Hauptaufgabe des FSB:<br />

Vorschläge zu einer besseren<br />

Regulierung des Finanzsektors<br />

erarbeiten. Vor seinem Wechsel<br />

in den öffentlichen Dienst war<br />

Carney 13 Jahre bei Goldman<br />

Sachs tätig.<br />

Grafik: Olaf Simon; Fotos: Getty Images (2), Corbis (2), Picture Alliance/DPA (12), Archiv (2), DDP Images/AP, Treasury.gov<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 109


| K a p i t a l | M o h n s s ü S S e R a c h e<br />

Liz Mohn, die Bertelsmann-Matriarchin, will die Familie Jahr aus ihrem Verlag am Hamburger Baumwall herauskaufen<br />

Sekretärin vertreibt<br />

Chefredakteurin<br />

Der Kampf um die Macht bei Gruner und Jahr ist ein Duell zwischen Liz Mohn und Angelika<br />

Jahr, zwischen westfälischer Provinz und hanseatischem Verlagsadel. Nach jahrelanger<br />

Demütigung steht die Bertelsmann-Erbin nun kurz vor einem ihrer größten Triumphe<br />

von Thomas Schuler<br />

Fotos: Werner Bartsch/Agentur Focus, Anna Mutter/Fotogloria, Breuel-Bild<br />

110 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Angelika Jahr wehrte sich jahrzehntelang gegen Übernahmeversuche aus Gütersloh, ihr Einfluss scheint aber zu schwinden<br />

A<br />

Uf langen Tafeln lagen rote<br />

Schokoherzen und rote Rosen.<br />

Es gab Sushi, das Dessert hatte<br />

sich der Küchenchef der Zeitschrift<br />

Essen und Trinken ausgedacht.<br />

TV‐Koch Tim Mälzer präsentierte<br />

eine Feinschmecker-Show. Die verlagsinterne<br />

Allstar-Band sang zum Wechsel von<br />

Angelika Jahr-Stilcken vom Gruner-und-<br />

Jahr-Vorstand in den Aufsichtsrat im April<br />

2008 den Rolling-Stones-Hit „Angie“,<br />

und Stern-Redakteure überreichten ihr eine<br />

Sonderausgabe. Für den emotionalen Höhepunkt<br />

sorgte die sonst eher zurückhaltende<br />

Tochter des Verlagsgründers John Jahr senior<br />

aber selber, als sie im schwarzen Hosenanzug<br />

in der Hamburger Fischauktionshalle<br />

vor 700 Gästen auf die Bühne trat und ein<br />

Bekenntnis zu ihrem Verlag aussprach, das<br />

in den Worten gipfelte: „Es ist Liebe.“<br />

Auf dem vermeintlichen Ehrenplatz ihr<br />

gegenüber saß Liz Mohn, deren Familie<br />

den Medienkonzern Bertelsmann kontrolliert,<br />

zu dem auch 74,9 Prozent von Gruner<br />

und Jahr (G+J) gehören. Jeder in der<br />

Halle wusste, dass Liz Mohn und Bertelsmann<br />

den Jahrs ihre Sperrminorität gerne<br />

entreißen würden, um den Verlag endlich<br />

ganz für sich alleine zu haben. Für Liz<br />

Mohn waren Jahrs Worte eine Kampfansage.<br />

Die Platzierung an ihrem Tisch erschien<br />

plötzlich nicht mehr als Ehrenplatz,<br />

sondern als sorgfältig geplanter Affront, der<br />

ihr zeigen sollte, wer die eigentliche Chefin<br />

bei G+J ist. Teilnehmer erinnern sich,<br />

dass Liz Mohn das Fest mit ihrem Gefolge<br />

vorzeitig verließ.<br />

Es ist die Kernfrage, die seit Jahren immer<br />

wieder am Hamburger Baumwall gestellt<br />

wird: Übernimmt Bertelsmann die<br />

Macht bei G+J komplett und kauft die<br />

alt eingesessene hanseatische Verlegerfamilie<br />

heraus? Was lange Zeit undenkbar<br />

schien, das ist jetzt, gut vier Jahre nach<br />

dem Liebesversprechen in der Fischauktionshalle,<br />

für Liz Mohn und Bertelsmann<br />

in greifbare Nähe gerückt. Gleichzeitig<br />

schwindet der Einfluss von Angelika Jahr-<br />

Stilcken in der eigenen Familie. Bertelsmann<br />

hat selbst bestätigt, dass Deutschlands<br />

größter Medienkonzern und die<br />

Jahr-Holding, in der die Beteiligungen der<br />

Familie gebündelt sind, über eine vollständige<br />

Übernahme von G+J durch Bertelsmann<br />

verhandeln. Noch ist nichts entschieden,<br />

aber noch nie sprach so viel für einen<br />

Verkauf oder Anteilstausch.<br />

Bis es so weit kam, haben sich beide Seiten<br />

nichts geschenkt. Bertelsmann und die<br />

Jahrs haben zwei ihrer Vorstandsvorsitzenden<br />

zermürbt, indem sie sich blockierten<br />

und notwendige Investitionen versäumten.<br />

Im September erst trat der Verlagschef<br />

Bernd Buchholz entnervt und enttäuscht<br />

zurück, weil ihm keiner seiner Gesellschafter<br />

von den Verkaufsverhandlungen erzählt<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 111


| K a p i t a l | M o h n s s ü S S e R a c h e<br />

hatte. Er erfuhr es aus dem Manager Magazin,<br />

an dem Gruner und Jahr beteiligt ist,<br />

und musste in dem Artikel zudem lesen,<br />

dass er seiner Aufgabe nicht gewachsen sei.<br />

In Gütersloh, dem Stammsitz von Bertelsmann,<br />

hielt man es nicht mal für nötig, einen<br />

neuen G+J-Vorstandschef zu ernennen.<br />

Die Belegschaft in Hamburg ist verunsichert.<br />

Bisher waren es die G+J-Mitarbeiter<br />

gewohnt, dass jedes Übernahmeansinnen<br />

aus Gütersloh von Angelika<br />

Jahr-Stilcken im Keim erstickt wurde. So<br />

war es 2001, als der damalige Bertelsmann-<br />

Chef Thomas Middelhoff im Spiegel sein<br />

Interesse am Kauf der Jahr-Anteile bekundete.<br />

Sofort hielt ihm Angelika Jahr in einem<br />

Zeitungsinterview entgegen: „Wir<br />

tauschen nicht und wir verkaufen nicht.“<br />

Wenn angeblich, wie kolportiert, eine Investmentbank<br />

im Auftrag von Bertelsmann<br />

den Wert der Jahr-Beteiligung am Verlag<br />

errechne, sei das „unnötig“, sagte sie: „Zu<br />

keinem Preis sind wir gewillt zu verkaufen.“<br />

Bei den vier Familienstämmen gebe es „keinerlei<br />

Dissens“. Jeder Angriff werde „ins<br />

Leere“ laufen. So war es auch 2008, als Jahr<br />

vom Vorstand in den Aufsichtsrat wechselte<br />

und in der Fischauktionshalle sagte:<br />

„Der Jahr-Clan wächst, und er hält zusammen<br />

wie Pech und Schwefel. Und wenn<br />

es wirklich einmal so weit kommen sollte<br />

mit dem Verkauf, dann werden wir zu Gruner<br />

und Jahr stehen, denn wie ich schon<br />

sagte, es ist Liebe, und dies ist ein Versprechen.“<br />

Mit anderen Worten: Eher würde<br />

der Mehrheitsgesellschafter Bertelsmann<br />

seine Anteile zu Geld machen als dass die<br />

Jahrs jemals aussteigen würden. Das war<br />

das große Versprechen. Gilt es viereinhalb<br />

Jahre später noch?<br />

Der Wert des Verlags sinkt, Gruner und<br />

Jahr verliert gegenüber Burda, Springer<br />

und Bauer Marktanteile. Im immer wichtigeren<br />

Digitalgeschäft drohen Stern, Brigitte<br />

und Geo den Anschluss zu verlieren,<br />

weil die Gesellschafter die Entwicklung in<br />

den vergangenen zehn Jahren verschlafen<br />

haben. Vor allem Bertelsmann drängte G+J,<br />

jährlich im Schnitt 200 Millionen Euro<br />

an beide Gesellschafter auszuzahlen, um<br />

Schulden zu begleichen. Diese Schulden,<br />

darin liegt eine Ironie, waren entstanden,<br />

weil Bertelsmann einen fremden Investor<br />

rausgekauft hatte. Die Jahrs mussten also<br />

zusehen, wie die Gütersloher den Verlag<br />

auspressten, weil der Mitgesellschafter im<br />

eigenen Haus keine fremde Mitsprache<br />

duldete. Im Hamburger Verlagshaus aber<br />

Der Wert des Verlags sinkt, Gruner und Jahr<br />

verliert weiter Marktanteile und droht den<br />

Anschluss an die Konkurrenz zu verpassen<br />

Bertelsmann-CEO Thomas Rabe braucht Geld für den von ihm<br />

geplanten Konzernumbau – ein Argument für die Zerschlagung von G+J<br />

fehlte diese Milliardensumme, sodass über<br />

Jahre notwendige Investitionen unterblieben.<br />

Den Jahrs selber waren die Hände gebunden,<br />

da sie mit ihrer Sperrminorität nur<br />

verhindern, aber nichts durchsetzen können<br />

– und andererseits haben auch sie die<br />

jährlichen Ausschüttungen gerne genommen,<br />

um in Immobilien, Spielbanken und<br />

andere Projekte zu investieren.<br />

Überhaupt muss man inzwischen am<br />

von Angelika Jahr beschworenen Zusammenhalt<br />

der Familie zweifeln. Die ihr nachfolgende<br />

zweite Erben-Generation arbeitet<br />

nicht mehr im Verlag und hat kaum Interesse<br />

am Journalismus. In der Jahr-Holding<br />

hat seit 2011 Winfried Steeger als<br />

Geschäftsführer das Sagen, der sich gut<br />

mit Bertelsmann-Chef Thomas Rabe versteht.<br />

Zu den aktuellen Entwicklungen bei<br />

G+J schweigen die Jahrs. Als der NDR jetzt<br />

Angelika Jahr an ihr Versprechen von 2008<br />

erinnerte, sagte sie, es sei „nicht der richtige<br />

Zeitpunkt für Spekulationen“. Dass sie<br />

ihr Versprechen, die Familie stehe zu G+J,<br />

nicht erneuerte, verunsicherte ihre Mitarbeiter<br />

erst recht.<br />

Angelika Jahr ist eine journalistische Autorität<br />

bei Gruner und Jahr, und sie hat sich<br />

diese Position erarbeitet. Die 71-Jährige studierte<br />

Psychologie, Germanistik und Philosophie,<br />

absolvierte ein Volontariat bei der<br />

Welt. Sie arbeitete in den USA bei Glamour,<br />

Vogue und Time Magazine und stieg in den<br />

väterlichen Verlag als stellvertretende Chefredakteurin<br />

der Petra und Schöner Wohnen<br />

ein, der Einrichtungsfibel für Besserverdienende.<br />

1972 entwickelte sie mit essen & trinken<br />

das erste Magazin dieser Art in Deutschland.<br />

1988 übernahm sie die Chefredaktion<br />

von Schöner Wohnen, fungierte als Herausgeberin<br />

weiterer Titel und leitete schließlich<br />

bis 2008 acht Hochglanztitel in der Verlagsgruppe<br />

G+J-Life als Geschäftsführerin. Angelika<br />

Jahr spielte zwei Rollen: Sie war angestellte<br />

Chefredakteurin und zugleich das<br />

wachsame Auge der Besitzer als Wahrerin<br />

der Familientradition.<br />

Foto: Michael Jungblut/Laif<br />

112 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Anzeige<br />

Ihre Gefühle gegenüber Liz Mohn<br />

und Bertelsmann versteht man nur vor<br />

dem Hintergrund, dass schon ihr Vater<br />

John Jahr die Gütersloher von Anfang<br />

an als ungeliebte Eindringlinge empfand.<br />

Der ehemalige Sportreporter und Anzeigenvertreter<br />

hatte einst einen Verlag mit<br />

Axel Springer gegründet, jahrelang hielt<br />

er 50 Prozent an Rudolf Augsteins Spiegel,<br />

die er wegen dessen politischer Ausrichtung<br />

wieder verkaufte. 1965 gründete<br />

John Jahr gemeinsam mit dem Verlegerkollegen<br />

Gerd Bucerius und dem Drucker<br />

Richard Gruner den Verlag Gruner und<br />

Jahr. Gruner verkaufte an Reinhard Mohn.<br />

Als Bucerius ebenfalls verkaufen wollte, bekundete<br />

John Jahr Interesse, um für seine<br />

Kinder eine Mehrheit zu erstehen. Doch<br />

Bertelsmann-Chef Reinhard Mohn kam<br />

ihm zuvor, indem er Bucerius anbot, dessen<br />

Verlagsanteil gegen eine Beteiligung bei<br />

Bertelsmann zu tauschen. Seitdem sitzen<br />

die Vorbehalte gegen Bertelsmann in der<br />

Familie Jahr tief und gehören zur Verlagskultur<br />

von G+J. An seinem 80. Geburtstag<br />

sagte Jahr, er habe mehrfach frustriert einen<br />

Verkauf erwogen, aber seine vier Kinder<br />

hätten ihn davon abgebracht. Das war<br />

1980. Alle vier arbeiteten damals im Verlag,<br />

und er kommandierte sie auch im erwachsenen<br />

Alter noch vor Angestellten herum.<br />

Die ererbte Skepsis prägte auch die Rollenverteilung<br />

zwischen Angelika Jahr und<br />

Liz Mohn: Hier die Tochter des angesehenen<br />

Hamburger Verlegers, die sich souverän<br />

und sicher in ihren Kreisen bewegt.<br />

Auf der anderen Seite die Tochter einer armen<br />

Hutmacherin, die als Telefonistin bei<br />

Bertelsmann anfing, als Geliebte des verheirateten<br />

Unternehmenschefs Reinhard<br />

Mohn drei Kinder von ihm bekam, aber<br />

lange Zeit gezwungen war, in einer Scheinehe<br />

mit einem anderen leitenden Bertelsmann-Angestellten<br />

zu leben. Sie arbeitete<br />

in Mohns Büro, stand ihm in der Position<br />

einer Schülerin an der Seite – bis sie als<br />

Witwe die Macht im größten Medienkonzern<br />

Europas erbte und endlich so auftreten<br />

konnte, wie sie sich eine (erfolg-)reiche<br />

Unternehmerin vorstellte.<br />

Angelika Jahr hat Bücher über Innenarchitektur<br />

herausgegeben. Liz Mohn hat<br />

zwei Bücher über ihr Leben unter Prominenten<br />

und ihr gemeinnütziges Engagement<br />

verfassen lassen: 2001 „Liebe<br />

öffnet Herzen“ und zehn Jahre später<br />

„Schlüsselmomente“. Beide wurden von<br />

Ghostwriterinnen geschrieben. Beide sind<br />

PR in eigener Sache. Liz Mohn hetze von<br />

Termin zu Termin, von Feier zu Feier, sagen<br />

Mitarbeiter. Sie delegiere alles. Interviews<br />

werden nach Prawda-Manier von Beratern<br />

geschrieben, Reden, Beiträge ebenso. Ihre<br />

Mitarbeiter sind sich nicht sicher, ob sie je<br />

einen Text selbst verfasst hat. „Der publizistische<br />

Anspruch von Liz Mohn ist gleich<br />

null“, sagt ein ehemaliges Vorstandsmitglied<br />

von Bertelsmann. Wenn das stimmt,<br />

macht das aus ihr keinen schlechten Menschen.<br />

Aber für die Chefin des weltgrößten<br />

Buchverlags ist es zumindest ungewöhnlich.<br />

Das Verhältnis von Angelika Jahr und<br />

Liz Mohn sei geprägt von „aufgesetzten<br />

Freundlichkeiten“, sagt ein ehemaliges<br />

Mitglied des Vorstands, das beide bei<br />

zahlreichen Begegnungen beobachtete.<br />

Sie wüssten nichts miteinander anzufangen.<br />

Auf beiden Seiten sei „freundliche Distanz“<br />

bis zu „tiefer Missachtung“ zu spüren.<br />

Sie gingen sich aus dem Weg, hätten<br />

sich nichts zu sagen. Ein kühler Händedruck;<br />

formale Freundlichkeit – man will<br />

im Grunde nichts voneinander wissen. „Liz<br />

Mohn und Angelika Jahr könnten unterschiedlicher<br />

nicht sein.“ Der Widerspruch<br />

zwischen beiden sei augenfällig, sagen Mitarbeiter<br />

in Gütersloh und Hamburg. Dass<br />

der Verlag G+J auch in Glanzzeiten hinsichtlich<br />

Umsatz und Gewinn nur die kleinere<br />

Tochter des großen Medienkonzerns<br />

Bertelsmann war, das habe man am Auftreten<br />

der beiden nicht bemerkt. Angelika<br />

Jahr fühlte sich der unsicher wirkenden Liz<br />

Mohn stets überlegen.<br />

Gerne würde man Angelika Jahr fragen,<br />

ob ihre Treueschwüre von 2001 und<br />

2008 noch Geltung haben. Man würde<br />

gerne wissen, ob es vielleicht nicht so weit<br />

gekommen wäre, wenn sie und Liz Mohn<br />

wirklich miteinander gesprochen hätten;<br />

vielleicht hätten sich die beiden Gesellschafterfamilien<br />

dann nicht gegenseitig<br />

blockiert. Aber sie und die anderen Mitglieder<br />

ihrer Familie schweigen und lassen<br />

ihre Mitarbeiter mit Gerüchten und Spekulationen<br />

alleine.<br />

Fest steht, dass die komplette Übernahme<br />

von G+J für Bertelsmann nicht billig<br />

wird. Im Gespräch ist ein Anteilstausch,<br />

bei dem die Jahrs am Ende mit 4 bis<br />

5 Prozent an Bertelsmann beteiligt werden.<br />

Familie Jahr erhält bisher eine Garantiedividende<br />

und würde wohl auch als<br />

Bertelsmann-Gesellschafter Sonderrechte<br />

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11.2012 <strong>Cicero</strong> 113


| K a p i t a l | M o h n s s ü S S e R a c h e<br />

Fotos: Julia Zimmermann/Laif, Barbara Dombrowski/Laif, privat (Autor)<br />

Bernd Buchholz trat im September entnervt zurück, nachdem er<br />

von den Übernahmeverhandlungen aus den Medien erfahren hatte<br />

Julia Jäkel ist in den Vorstand aufgerückt. Hält Bertelsmann an<br />

G+J fest, könnte Jäkel die neue, starke Frau im Verlag werden<br />

beanspruchen. Aber wie sehen die strategischen<br />

Konsequenzen aus, wenn Bertelsmann<br />

100 Prozent von G+J gehören? Hätten<br />

die neuen Herren Interesse am Ausbau<br />

des Magazingeschäfts und würden die Redaktionen<br />

personell verstärken? Eher nicht.<br />

Wird Bertelsmann die Braut nur schön<br />

schminken, damit sie teuer verkauft werden<br />

kann? Davor haben sie in Hamburg<br />

trotz gegenteiliger Versicherungen Angst.<br />

Denkbar ist, dass Bertelsmann zunächst<br />

einen Kernbereich von G+J aus Stern, Brigitte<br />

und Geo behält und den Rest aufteilt<br />

und verkauft. Denn Liz Mohn versteht<br />

vielleicht nichts vom Journalismus,<br />

aber sie weiß, wie man sich Macht und<br />

Relevanz verschafft. Dass ihre Beteiligungen<br />

am Stern und Spiegel ihr Bedeutung<br />

in Berlin verschaffen, und vor allem auch<br />

dem Ruf ihrer Stiftung nutzen, steht für<br />

sie außer Frage.<br />

In ihrer Rede 2008 sprach Angelika<br />

Jahr in der Fischauktionshalle davon, dass<br />

die Jahrs in Hamburg anders seien als „die“<br />

im Süden und zum Verlag stehen werden<br />

und nicht ihr Wort brechen. Die Gäste<br />

aus Gütersloh betrachteten sich in Hamburg<br />

als „die im Süden“ – ihre Feierlaune<br />

war angeblich schlagartig vorbei. Sie verstanden<br />

Angelika Jahrs Worte als weitere<br />

Breitseite, obwohl diese – wie in Hamburg<br />

später versichert wurde – gar nicht Bertelsmann<br />

gemeint hatte. Das „die im Süden“<br />

habe sich auf die SPD-Politikerin Ypsilanti<br />

in Hessen bezogen, die trotz gegenteiliger<br />

Wahlkampfankündigung eine Koalition<br />

mit der PDS anstrebte. Gesagt hat sie es<br />

aber nicht. Jedenfalls klärte Angelika Jahr<br />

das Missverständnis nach der Feier gegenüber<br />

Hartmut Ostrowski, dem Vorgänger<br />

von Thomas Rabe, auf.<br />

Kürzlich gab es wieder eine Abschiedsfeier<br />

bei Bertelsmann, diesmal für Bernd<br />

Buchholz, der angeblich eine Abfindung<br />

in Millionenhöhe erhielt. Zurück blieben<br />

Mitarbeiter, die ihren Glauben an den Arbeitgeber<br />

verloren haben. Als Buchholz<br />

sich in der Kantine verabschiedete, kamen<br />

600 Gäste, die minutenlang applaudierten,<br />

als er auf die Bühne ging – nicht, weil er<br />

ging, sondern weil er gegen Bertelsmann<br />

aufgestanden war.<br />

Von Buchholz sprechen sie, als gehe mit<br />

ihm der <strong>letzte</strong> echte Vorstandsvorsitzende<br />

von Gruner und Jahr. Das neue Vorstands-<br />

Trio mit Julia Jäkel, Torsten-Jörn Klein und<br />

Achim Twardy wird im Verlag als Beleidigung<br />

angesehen. Sie klagen: Nicht mal einen<br />

echten Vorstandsvorsitzenden installieren<br />

die Miteigentümer aus Gütersloh<br />

noch, als würden sie den Verkauf abwarten.<br />

Vielleicht seien die drei aber doch eine<br />

dauerhafte Lösung, sagen andere. Alle waren<br />

verunsichert. Es flossen Tränen.<br />

Und wieder standen, wie bei Angelika<br />

Jahrs Abschied, die 20 Mitglieder der G+J-<br />

Allstar-Band auf der Bühne – zum <strong>letzte</strong>n<br />

Mal mit Buchholz an der Gitarre.<br />

Nach den Reden betrat plötzlich Angelika<br />

Jahr den Raum und erklomm die Bühne.<br />

Sie umarmte Buchholz. Sie hielt keine Rede,<br />

sagte nichts zu den Verhandlungen, wechselte<br />

nur ein paar Sätze mit Buchholz, den<br />

sie hat ziehen lassen, ohne ihm den Rücken<br />

zu stärken. Es wirkte wie ein verzweifeltes<br />

Eingeständnis Angelika Jahrs, die den<br />

Kampf gegen Liz Mohn und Bertelsmann<br />

verloren zu haben glaubt und auch keine<br />

allzu großen Hoffnungen mehr in den eigenen<br />

Clan setzt. Die Stimmung schwankte<br />

zwischen Betretenheit und Sentimentalität.<br />

Angelika Jahr ging, und Buchholz feierte mit<br />

seiner Frau, seiner Band und seinen Mitarbeitern<br />

weiter bis um 2 Uhr morgens. Es<br />

könnte für längere Zeit die <strong>letzte</strong> Gelegenheit<br />

für eine Verlagsparty gewesen sein.<br />

Thomas Schuler ist freier<br />

Medienjournalist. Seine Bücher<br />

„Die Mohns“ und „Bertelsmannrepublik<br />

Deutschland“ sind bei<br />

Campus erschienen<br />

114 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Energiewende. Wir fördern das.<br />

Fokussierung auf erneuerbare Energien, Klimawandel, Ressourcenschonung und Risikominimierung – es gibt viele Motive für die Energiewende.<br />

Die KfW hat den Umwelt- und Klimaschutz im ersten Halbjahr 2012 bereits mit mehr als 12 Mrd. EUR gefördert und somit<br />

vielen Einzelnen ermöglicht, einen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Ganz gleich, ob Sie die Steigerung der Energieeffizienz Ihres Hauses<br />

anstreben oder Ihr Beitrag im Bau einer Offshore-Anlage besteht: Wir fördern das.<br />

Mehr Informationen erhalten Sie unter www.kfw.de<br />

Bank aus Verantwortung


| K a p i t a l | K o m m e n t a r<br />

Grenzen der Anpassung<br />

In einer eng vernetzten Welt ist der Kampf gegen den<br />

Klimawandel konkreter Selbstschutz und keine Entwicklungshilfe<br />

Von Anders Levermann<br />

A<br />

usgerechnet Katar. Der Reichtum<br />

des kleinen Staates auf der arabischen<br />

Halbinsel gründet fast ausschließlich<br />

auf dem Verkauf fossiler Brennstoffe,<br />

die maßgeblich sind für den Anstieg des<br />

weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen.<br />

Und gerade hier findet nun Ende November<br />

der Weltklimagipfel statt. Tausende<br />

Delegierte treffen sich bereits<br />

zum 18. Mal. Voran geht kaum etwas.<br />

Der internationale Politikbetrieb hat andere<br />

Prioritäten – und der durchschnittliche<br />

deutsche Fernsehzuschauer auch.<br />

Zu Unrecht.<br />

Sollten die Treibhausgase weiter<br />

ansteigen wie bisher, wird unsere<br />

Erde Ende dieses Jahrhunderts im Mittel etwa fünf Grad wärmer<br />

sein als vor Beginn der Industrialisierung. Das entspricht<br />

der Temperaturdifferenz zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit,<br />

freilich mit einem feinen Unterschied: Die Natur lässt sich<br />

für einen solchen Übergang ein paar Tausend Jahre Zeit. Die<br />

Menschheit ist dabei, die gleiche Erwärmung um das 50- bis<br />

100-Fache schneller zu erreichen. Da wir uns erdgeschichtlich<br />

bereits in einer Warmzeit befinden, sind wir jetzt also entsprechend<br />

auf dem Weg in eine Heißzeit. Dergleichen hat es seit Beginn<br />

der menschlichen Zivilisation noch nie gegeben.<br />

Die Politik kann auf Dauer die Realität der Physik nicht ignorieren.<br />

Wir Menschen verbrennen fossile Energieträger in<br />

Fabriken, Autos, Heizanlagen, und das dabei freigesetzte CO2<br />

führt als Treibhausgas zur Erwärmung unseres Planeten. Der<br />

Weltklimarat IPCC erarbeitet derzeit den nur alle sieben Jahre<br />

erscheinenden großen Sachstandsbericht. Zum fünften Mal<br />

wird darin der Wissensstand zum Klimawandel zusammengefasst.<br />

Die hierfür von Instituten weltweit erstellten Klimasimulationen<br />

stehen bereits allen Wissenschaftlern zur Verfügung und<br />

werden derzeit analysiert. Neu ist dabei, dass viele Modelle nicht<br />

mehr im Jahr 2100 stoppen, sondern bis 2300 weiterrechnen.<br />

Die Ergebnisse des höchsten Erwärmungs-Szenarios – und auf<br />

diesem Pfad befinden wir uns – lassen aufhorchen. Denn sie zeigen,<br />

dass im Inneren der Erde genügend Kohlenstoff lagert, um<br />

die Temperaturen bis 2200 um mehr als zehn Grad zu erhöhen.<br />

Der Blick auf die vergangenen Jahre mag veranschaulichen,<br />

wie bereits jetzt, bei einer globalen<br />

Erwärmung um 0,7 Grad, das Erdsystem zu<br />

reagieren beginnt. Wir haben zuletzt eine verblüffende<br />

Häufung von Wetterextremen beobachtet:<br />

2010 eine wochenlange Dürre in Russland<br />

mit verheerenden Bränden und<br />

einem daraus resultierenden Exportverbot<br />

für Weizen, gleichzeitig Extremniederschläge<br />

in Pakistan, die vorübergehend<br />

den größten Süßwassersee der Erde<br />

entstehen ließen und großes menschliches<br />

Leid verursachten. Ebenfalls 2010<br />

wurden die australischen Kohlefördergebiete<br />

in Queensland erst überschwemmt<br />

und gleich darauf vom Wirbelsturm<br />

Yasi getroffen. Europa hat in den vergangenen Jahren<br />

extrem kalte und schneereiche Winter erlebt; anders, als viele<br />

denken, ist dies kein Widerspruch zur Erderwärmung, sondern<br />

ist sogar mit dieser zu erklären, weil sie das arktische Meereis<br />

schrumpfen lässt und damit das Hereinsaugen arktischer Luft<br />

nach Europa begünstigt. Dieses Jahr erlebten wir einen weiteren<br />

Schmelzrekord am Nordpol mit 23 Prozent weniger Eisbedeckung<br />

als beim vorherigen Rekord 2007. Von der Öffentlichkeit<br />

weitgehend unbemerkt, vor allem aber von den Medien fast<br />

vollständig ignoriert, hat sich das Schmelzgebiet auf dem grönländischen<br />

Eisschild in diesem Jahr schlagartig (und glücklicherweise<br />

nur kurzzeitig) von normalerweise 50 Prozent auf 97 Prozent<br />

fast verdoppelt. Die Dürre in den USA sorgte für einen<br />

weltweiten Anstieg des Sojapreises.<br />

Diese Entwicklungen zeigen, dass wir den eingeschlagenen<br />

Pfad nicht bis zum Ende gehen können. Die rasante Veränderung<br />

der Temperaturen trifft auf eine extrem verwundbare, weil<br />

hochvernetzte Weltwirtschaft. Schon 2010 ist zweimal in einem<br />

Jahr das Verkehrssystem in Deutschland zusammengebrochen.<br />

Lufthansa hat viel Geld verloren, nur weil ein isländischer<br />

Vulkan für zwei Wochen den Luftverkehr lahmgelegt hat. Nach<br />

dem Tsunami 2004 gab es bei uns zeitweilig keine Festplatten<br />

mehr, weil die Produktionsstätten in Thailand zerstört waren.<br />

Firmen in Deutschland bekamen nach der Katastrophe von Fukushima<br />

keine dringend benötigten Einzelteile mehr aus Japan.<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

116 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Foto: Karkow<br />

Keines dieser Ereignisse kann auf den Klimawandel zurückgeführt<br />

werden. Aber sie illustrieren die Verletzlichkeit unserer<br />

Zivilisation – eine Verletzlichkeit, die eine Anpassung an den<br />

Klimawandel nur mindern, nicht aber beseitigen kann. Klar erscheint,<br />

dass wir in einer sich rasant und ungebremst erwärmenden<br />

Welt an die Grenzen unserer Anpassungsfähigkeit gelangen<br />

werden. Die vermeintlich größten Gefahren infolge der Erderwärmung<br />

gehen von Kipppunkten im Klimasystem aus. Regionen<br />

wie das westantarktische Eisschild könnten bereits durch<br />

relativ kleine äußere Störungen ins Kippen geraten, also ihren<br />

derzeitig stabilen Zustand dauerhaft ändern. Dies würde<br />

langfristig einen Meeresspiegelanstieg verursachen, an den sich<br />

Hamburg, Schanghai oder Kalkutta nicht mehr anpassen könnten.<br />

Welche Erwärmung dafür nötig ist, kann man nur abschätzen.<br />

Für den kilometerdicken Eispanzer auf Grönland, der ein<br />

Potenzial von mehreren Metern Meeresspiegelanstieg birgt, liegt<br />

die jüngste Abschätzung bei 0,8 bis 3,2 Grad.<br />

Irgendwann werden wir entlang des Pfades, auf dem wir uns<br />

derzeit befinden, aufhören müssen, den Klimawandel als Luxusproblem<br />

zu behandeln, wie wir es derzeit tun. Wir reden dann<br />

nicht mehr über den Verlust des Lebensraums von Eisbären.<br />

Dann geht es an die Substanz. Was geschieht, wenn ein Bombardement<br />

von Extremereignissen auf ein hocheffektives Produktionsnetzwerk<br />

trifft? Was geschieht, wenn auf eine Oderflut direkt<br />

eine Sturmflut an der Nordseeküste folgt – und die Sturmflutopfer<br />

nur unzureichende Unterstützung erfahren, weil die Ressourcen<br />

für die Oderflutopfer benötigt werden? Wenn dann der<br />

folgende Sommer eine Hitzewelle wie die von 2003 bringt und<br />

der Winter extreme Kälte? Die gemeinhin verwendete Definition<br />

von Risiko als Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schadenshöhe<br />

wird ad absurdum geführt, wenn es um Schäden geht, die<br />

eine Gesellschaft zum Kippen bringen können.<br />

Das alles ist wissenschaftlich bislang kaum untersucht. Wir<br />

wissen noch nicht genau, wie stark die Extreme in der Zukunft<br />

zunehmen. Wir haben noch keine Simulationen für die genaue<br />

ökonomische Antwort unseres global verzweigten Netzwerks.<br />

Und daher ist es auch nicht sicher, dass wir uns auf solch drastische<br />

Szenarien einstellen müssen. Aber es gehört zu den Aufgaben<br />

von Wissenschaft und Gesellschaft, die richtigen Fragen zu<br />

stellen; abzuwägen, welche Folgen man für erträglich hält und<br />

welche nicht.<br />

Die Fähigkeit zur Anpassung setzt Wissen voraus. Es ist<br />

möglich, unser globales Versorgungsnetz umzustellen von Effektivität<br />

auf Widerstandsfähigkeit, sofern wir den Firmen die notwendigen<br />

Informationen zur Verfügung stellen und sie das Problem<br />

ernst nehmen. In jedem Fall aber muss der Klimawandel in<br />

handhabbaren Grenzen gehalten werden – und dafür brauchen<br />

wir auch weiterhin Klimakonferenzen wie die in Katar.<br />

Anders Levermann ist Koleiter des Forschungsbereichs<br />

„Nachhaltige Lösungsstrategien“ am Potsdam-Institut<br />

für Klimafolgenforschung, Professor für Physik an<br />

der Universität Potsdam und einer der Leitautoren im<br />

nächsten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC<br />

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Die deutsche Industrie.<br />

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100 Jahre mussten<br />

wir warten<br />

Mark Twain verfügte, dass seine Autobiographie erst<br />

100 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden darf.<br />

Jetzt erstmals auf Deutsch: sein <strong>letzte</strong>s, größtes Werk.<br />

Meine geheime<br />

Autobiographie –<br />

»so frank und<br />

frei und schamlos<br />

wie ein Liebesbrief«.<br />

MARK<br />

TWAIN<br />

Foto: Albert Bigelow Paine (1906)


Fotos: Mark Twain House and Museum, Hartford (oben), Herbert Tomlinson (Mitte), Albert Bigelow Paine (unten)<br />

Das Buch, fast 800 Seiten<br />

stark und rund 2 Kilogramm<br />

schwer, landete<br />

sofort an der Spitze der<br />

amerikanischen Bestsellerlisten.<br />

Bislang wurden<br />

über eine halbe Million<br />

Exemplare verkauft.<br />

Als Mark Twain seine<br />

Autobiographie im Dezember 1909<br />

fertiggestellt hatte, sollte die Öffentlichkeit<br />

sie auf keinen Fall zu Gesicht<br />

bekommen. »Ich teile die weitverbreitete<br />

Angewohnheit, in vertrauten<br />

Gesprächen mit Freunden meine<br />

privatesten Ansichten über Politik,<br />

Religion und die Menschheit zu<br />

verkünden, es würde mir aber nicht<br />

im Traum einfallen, je eine davon<br />

drucken zu lassen.« Erst die Entscheidung,<br />

sein Werk 100 Jahre unter<br />

Verschluss zu halten, ermöglichte<br />

ihm, kein Blatt mehr vor den Mund<br />

nehmen zu müssen. »Ein Buch, das<br />

ein Jahrhundert nicht veröffentlicht<br />

werden darf, gewährt dem Autor<br />

Freiheiten, die er auf keinem anderen<br />

Weg erreichen kann. Es ermöglicht<br />

ihm, Menschen so zu beschreiben,<br />

wie er sie kennt, ohne sich Sorgen<br />

machen zu müssen, ihre Gefühle<br />

oder die ihrer Söhne oder Enkel zu<br />

verletzen.« mark twain<br />

Leidenschaftlich<br />

und radikal<br />

Sein ungewöhnlicher Entschluss<br />

verschaffte ihm eine Freiheit von<br />

völlig neuer Qualität. Zwar kannte<br />

man Twain schon zu Lebzeiten als<br />

scharfzüngigen Kritiker – wenn er<br />

durch das Land reiste, um die Leute<br />

mit seiner Gesellschaftskritik zu<br />

unterhalten, hieß es etwa auf den<br />

Plakaten: »Einlass ab 7:30.<br />

Der Ärger beginnt um 8.«<br />

Erst hier aber schuf er<br />

sich ein neues Publikum,<br />

die Nachwelt, zu dem<br />

er frei und offen sprechen<br />

konnte wie sonst höchstens<br />

im engsten Kreis<br />

seiner Freunde. Wenn er<br />

Im Arbeitszimmer der Quarry<br />

Farm, Elmira, N. Y., 1903<br />

die Außenpolitik, die<br />

skrupellosen Geldsäcke,<br />

die Gier der Wall Street<br />

und den Steuerhinterzieher<br />

Rockefeller<br />

an den Pranger stellt,<br />

klingt es, als kritisierte<br />

er die aktuellen Ereignisse,<br />

die uns<br />

heute mehr denn je bewegen.<br />

Aber auch lustig, liebevoll, mit<br />

großen Gefühlen erzählt er<br />

von seiner Familie und von<br />

Schicksalsschlägen, von skurrilen<br />

Begegnungen mit den<br />

Großen und mit den verachtenswerten<br />

»Zwergen« seiner<br />

Zeit. Er gewährt Einblicke in<br />

die unglaubliche Phantasie,<br />

mit der er schon als kleiner<br />

Junge die Welt sah und seinen<br />

Schabernack trieb. Er schwärmt vom<br />

Essen jener Tage und ermutigt zu<br />

mehr Lebensfreude: »Ich finde es<br />

bedauerlich, dass die Welt so viele<br />

gute Dinge ablehnt, nur weil sie<br />

ungesund sind. Ich bezweifle, dass<br />

Gott uns irgendetwas geschenkt hat,<br />

was, in Maßen genossen, ungesund<br />

ist, ausgenommen Mikroben.«<br />

Mark Twain<br />

erfand Amerika<br />

Mark Twain erreichte schon zu Lebzeiten<br />

Weltruhm. Er war es, der mit<br />

»Tom Sawyer« und »Huckleberry<br />

Finn« Amerika erfunden hatte, der<br />

als Erster über die einfachen Leute<br />

schrieb. Er war zudem der Reiseschriftsteller,<br />

der mit »Bummel<br />

durch Europa« internationale Erfolge<br />

feierte. Die Reihen seiner Bewunderer<br />

sind endlos, sie umfassen Autoren<br />

wie Ernest Hemingway oder Stephen<br />

King, Jonathan Franzen oder J. K.<br />

Rowling. Jede neue Generation entdeckt<br />

»ihren« Twain<br />

– kaum ein Schriftsteller<br />

der Weltliteratur hat<br />

eine derartige Nachwirkung<br />

erreicht.<br />

1906, nachdem Mark<br />

Twain über 35 Jahre<br />

In seiner Wohnung, New York,<br />

1906<br />

vergeblich versucht hatte, seine<br />

Memoiren zu schreiben, wusste er<br />

endlich, wie es ihm gelingen könnte:<br />

nicht chronologisch, sondern einzig<br />

dem aktuellen Erzählinteresse folgend<br />

und daher Textformen vorwegnehmend,<br />

die erst im Internet allge mein üblich<br />

wurden. Er fing an, fast täglich einer<br />

Stenographin<br />

Erinnerungs stücke<br />

zu diktieren.<br />

Außerdem prüfte<br />

er seine früheren<br />

Versuche und<br />

ent schied, was<br />

davon er übernehmen<br />

wollte. So<br />

kamen bis Dezember<br />

1909 mehr als<br />

1 500 Seiten zusammen,<br />

und Twain konnte das Werk<br />

für vollendet erklären. Vier Monate<br />

später starb er.<br />

Vor dem Haus seiner Kindheit<br />

in Hannibal, Missouri, 1902<br />

Ein Bestseller<br />

für die Nachwelt<br />

Schon als 40-Jähriger hatte Twain<br />

verkündet, dass er eine Autobiographie<br />

schreiben werde, um sie der Nachwelt<br />

zu hinterlassen. Den lachenden Einwurf<br />

seiner Frau Livy, sie werde die<br />

anstößigen Passagen streichen, hatte<br />

er damals ernsthaft zurück gewiesen:<br />

»Sie soll so erscheinen, wie sie geschrieben<br />

wird, die ganze Geschichte<br />

so wahrheitsgetreu erzählt, wie es mir<br />

möglich ist.«<br />

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| S a l o n<br />

„Nicht wegjodeln lassen“<br />

Als Komponistin muss sich Olga Neuwirth immer wieder in einer männlich dominierten Kunstsparte behaupten<br />

von irene bazinger<br />

W<br />

ohl kaum jemand findet es ungewöhnlich,<br />

wenn eine Frau von<br />

Berufs wegen singt oder Klavier<br />

spielt. Aber wenn sie zu komponieren beginnt,<br />

wird es meistens schwierig. Denn<br />

Musik, sagt Olga Neuwirth, ist eigentlich<br />

immer noch eine Männerdomäne: „Frauen<br />

können reproduzierende Künstler sein,<br />

doch sobald sie sich das quasi väterliche<br />

Prinzip aneignen und selbst etwas erschaffen<br />

wollen, kriegen sie ernsthafte Probleme.“<br />

Die Österreicherin weiß nur zu gut,<br />

wovon sie spricht. Bereits am Anfang ihres<br />

Studiums in Wien hat sie sich für elektronische<br />

Musik interessiert und später auch<br />

am renommierten Pariser Forschungsinstitut<br />

für Akustik/Musik „Ircam“ gearbeitet.<br />

Begeistert von den Möglichkeiten der<br />

modernen Klangmaschinen, schrieb sie<br />

Werke mit komplizierter Live-Elektronik –<br />

und musste feststellen, dass sie sich deswegen<br />

häufig vor Konzertveranstaltern und<br />

Intendanten rechtfertigen musste. Was bei<br />

einem komponierenden Mann als künstlerische<br />

Setzung akzeptiert wird, hat sie erkannt,<br />

wird nicht direkt auf eine Frau übertragen.<br />

Inzwischen beschränkt sich Olga<br />

Neuwirth „eh schon brav“ lieber auf vorproduzierte<br />

Samples und sonstige Zuspielungen.<br />

Zwischendurch musste sie eine<br />

längere Schaffenspause einlegen, weil sie<br />

einfach nicht mehr konnte. Ob sie manchmal<br />

daran dachte, zu kapitulieren und mit<br />

dem Komponieren aufzuhören? „Oh, öfter!<br />

Aber ich wollte mich nicht unterkriegen<br />

lassen wie viele meiner Kolleginnen,<br />

die den Druck nicht aushielten. Traurigerweise<br />

gibt es viele Frauen, die plötzlich verschwunden<br />

sind, selbst wenn sie noch so<br />

begabt waren.“<br />

Die kosmopolitische Olga Neuwirth,<br />

1968 in Graz geboren, ist bei aller schmalen<br />

Mädchenhaftigkeit eine starke Persönlichkeit.<br />

Trotz ihrer Jahre in New York, San<br />

Francisco, Paris, Berlin und Venedig hört<br />

man ihr die österreichische Herkunft an,<br />

wenn sie auf ihre weiche, melodische Art<br />

erzählt. Zum Beispiel davon, dass sie als<br />

Tochter des Jazzpianisten Harry Neuwirth<br />

ursprünglich „ein weiblicher Miles Davis<br />

mit roter Trompete“ werden wollte. Doch<br />

bei einem Autounfall erlitt sie schwere<br />

Kieferverletzungen, die alle Trompetenpläne<br />

unmöglich machten. Deshalb beschloss<br />

Olga Neuwirth, Komponistin zu<br />

werden – und sich dabei mindestens so<br />

frei, kühn und zeitgenössisch auszudrücken<br />

wie „The Man with the Horn“. Heute<br />

zählt sie zu den bedeutendsten Komponisten<br />

der jüngeren Generation. Ihre Vokalund<br />

Instrumentalwerke werden weltweit<br />

aufgeführt, ihre Musiktheaterstücke waren<br />

beim Steirischen Herbst, an der Hamburgischen<br />

Staatsoper oder der English<br />

National Opera zu hören. In tollkühnen<br />

Crossover-Projekten widmete sie sich dem<br />

Pop-Countertenor Klaus Nomi, dem Filmregisseur<br />

David Lynch („Lost Highway“)<br />

oder zeigte in einer filmischen Klanginstallation<br />

auf der Documenta 2007, wie sie<br />

Note um Note aufs Papier schreibt, denn<br />

„ich kann meine Musik nur durch meine eigene<br />

Handschrift wirklich erkennen“.<br />

Aufsehen erregte sie sogar mit nicht<br />

realisierten Projekten, wie 2004 mit der<br />

Oper „Der Fall Hans W.“ über einen wahren<br />

Fall von Kindesmissbrauch. Das Libretto<br />

zu diesem Auftragswerk der Salzburger<br />

Festspiele stammte von ihrer Freundin<br />

Elfriede Jelinek, die – empört über die<br />

Umstände der Absage – mit Oper nichts<br />

mehr zu tun haben wollte. Das hat Olga<br />

Neuwirth nicht verwunden: „Man spricht<br />

immer von der wunderbaren Zusammenarbeit<br />

zwischen Schriftstellern und<br />

Komponisten, wie Hugo von Hofmannsthal<br />

und Richard Strauss. Aber unsere erfreuliche<br />

Zusammenarbeit wurde zerstört!<br />

Warum dürfen nicht zwei Frauen ein kongeniales<br />

Paket bilden?“<br />

In der Berliner Hotellobby, wo wir uns<br />

treffen, weil es von dort nahe zur Komischen<br />

Oper ist, an der Ende September ihre<br />

Oper „American Lulu“ uraufgeführt wurde,<br />

erscheint Olga Neuwirth nicht bloß wegen<br />

der intensiven Proben erschöpft. Sie<br />

musste sich auch gegen den Vorwurf des<br />

Ideenklaus wehren, den der Videokünstler<br />

Stan Douglas kurz vor der Premiere gegen<br />

sie erhoben hatte, der jedoch vom Landgericht<br />

Berlin eindeutig abgewiesen wurde.<br />

Auf die Frage, wie man das schafft, fantasievoll<br />

und kreativ zu bleiben und trotzdem<br />

gegen das ganze, nicht eben frauenfreundliche<br />

Musikbetriebssystem zu kämpfen, antwortet<br />

sie gefasst: „Da muss man sehr stark<br />

sein und wissen, was man wirklich will, um<br />

sich nicht irritieren, nicht zerbrechen zu<br />

lassen.“ So ist überdies das Verhältnis zu ihrem<br />

Heimatland Österreich, das sich gern<br />

mit Künstlern schmückt, ohne sie tatsächlich<br />

zu unterstützen, nicht ungetrübt, obwohl<br />

sie 2010 den Großen Staatspreis erhielt<br />

– als erste Frau in der Sparte Musik.<br />

Beim Festival „Wien modern“ ist sie im<br />

November mit einem eigenen Schwerpunkt<br />

vertreten, der einen Querschnitt durch ihr<br />

Oeuvre präsentiert. Eine Genugtuung für<br />

Olga Neuwirth, die der einstige FPÖ-Obmann<br />

Jörg Haider auch gemeint hatte, als<br />

er die Neue Musik als „Weltkatzenmusik“<br />

verunglimpfte. Auf einer Großdemonstration<br />

im Jahr 2000 wehrte sie sich dann mit<br />

den für sie bis heute gültigen Worten: „Ich<br />

weiß, dass man mit Kunst nichts ändern<br />

kann, aber Kunst kann Erstarrtes aufzeigen<br />

und den desolaten Zustand von Gesellschaft<br />

und Politik sichtbar machen. Ich will<br />

mich nicht wegjodeln lassen.“<br />

Irene Bazinger<br />

ist Theaterkritikerin und<br />

veröffentlichte Bücher über die<br />

Regisseurinnen Andrea Breth<br />

und Ruth Berghaus<br />

Fotos: Markus Wächter, Max Lautenschläger (Autorin)<br />

120 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Als Tochter des<br />

Jazzpianisten Harry<br />

Neuwirth wollte sie<br />

ursprünglich ein<br />

„weiblicher Miles<br />

Davis“ werden<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 121


| S a l o n<br />

Politische Sprechblasen<br />

Der Zeichner Christophe Blain reüssiert mit einem Comic über den ehemaligen französischen Außenminister<br />

von Matthias Heine<br />

A<br />

ls der französische Comiczeichner<br />

Christophe Blain vor zwei<br />

Jahren den ersten Teil eines realistisch-satirischen<br />

Comicromans über die<br />

Vorgänge hinter den Kulissen des Pariser<br />

Außenministeriums am „Quai d’Orsay“<br />

veröffentlichte, war das ein spektakulärer<br />

Wechsel des Genres – vergleichbar dem<br />

Neuanfang, den Joanne K. Rowling nach<br />

acht „Harry Potter“-Romanen mit ihrem<br />

ersten sozialkritischen Gesellschaftsroman<br />

wagte, aber künstlerisch erfolgreicher.<br />

Denn während Rowling von den Kritikern<br />

zerrissen wurde, feierte man „Quai<br />

d’Orsay“, das jetzt im Verlag Reprodukt<br />

auf Deutsch erschienen ist, in Frankreich<br />

als Offenbarung, als einen Meilenstein der<br />

satirischen Darstellung großer Politik.<br />

Zuvor hatte Blain vor allem im Abenteuergenre<br />

Aufsehen erregt. Seine bekanntesten<br />

Schöpfungen sind das mehrteilige<br />

Seeräuberepos „Isaak der Pirat“ und die komische<br />

Cowboy-Serie „Gus“. In die Sphäre<br />

der Politik katapultierte den 42‐jährigen<br />

Blain die Begegnung mit Abel Lanzac.<br />

Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich<br />

ein Pariser Intellektueller, der als junger<br />

Mann Anfang der Nullerjahre zum Berater<br />

und Redenschreiber des Außenministers<br />

Dominique de Villepin berufen wurde.<br />

„Quai d’Orsay“ beruht auf den Erlebnissen<br />

Lanzacs (in der Graphic Novel heißt<br />

er Arthur Vlaminck) in jener bewegten<br />

Zeit, als Villepin bestrebt war, den Krieg<br />

der USA gegen den Irak zu verhindern. In<br />

Frankreich ist es ganz selbstverständlich,<br />

dass in Comics politische Vorgänge dargestellt<br />

werden: „Quai d’Orsay“ stand auf<br />

den Bestsellerlisten direkt neben „Sarkozy<br />

et les Riches“, in dem Nicolas Sarkozy als<br />

Schoßhündchen der französischen Superreichen<br />

dargestellt wird.<br />

Der Außenminister heißt im Comic<br />

Alexandre Taillard de Vorms: „Wir haben<br />

die Figur nicht ,Dominique de Villepin‘ genannt,<br />

weil es uns darum ging, eine gewisse<br />

künstlerische Freiheit zu bewahren“,<br />

berichtet Blain. „Aber alles Erzählte ist<br />

wahr, mit der kleinen Einschränkung, dass<br />

es in Wirklichkeit viel mehr Berater mit<br />

viel komplexeren Verzweigungen im Amt<br />

gibt. Einige Figuren sind also die Synthese<br />

aus mehreren real existierenden Personen.“<br />

Nur die Person des Ministers selbst und<br />

der Beauftragte für den Nahen Osten seien<br />

„chemisch rein“.<br />

Das Storygerüst, das Blain normalerweise<br />

selbst schreibt, verfasste er diesmal<br />

zusammen mit Abel Lanzac. Der holte sich<br />

die Erlaubnis seines ehemaligen Arbeitgebers:<br />

„Villepin sagte nur: ,Macht, was ihr<br />

wollt, ich bin nicht so leicht kaputt zu kriegen‘“,<br />

erzählt Blain. Mittlerweile signiert<br />

Villepin die „Quai d’Orsay“-Bände sogar,<br />

und „manchmal schreibt er Widmungen<br />

in das Buch“, hat Blain erfahren. Dabei<br />

wird Alexandre Taillard de Vorms in dem<br />

Comic keineswegs ein Denkmal errichtet:<br />

Der Minister ist als ein sprunghafter, von<br />

Eingebungen getriebener, intellektueller<br />

Blender dargestellt, der mit Lektürefundstücken<br />

um sich wirft. Aber eben auch als<br />

ein faszinierender Charismatiker mit großem<br />

persönlichen Mut. Einmal bringt er<br />

in Afrika einen wütenden Mob dazu, den<br />

Weg zum Flughafen frei zu geben, indem er<br />

sich direkt unter die Leute begibt und mit<br />

ihnen redet – während seine Bodyguards<br />

nervös schwitzen.<br />

Zum Comiczeichnen kam Christophe Blain<br />

nach einem Kunststudium in Cherbourg,<br />

als er Ende der neunziger Jahre in Paris der<br />

Gruppe um die Zeichner Lewis Trondheim,<br />

Joann Sfar, David B. und Emile Bravo begegnete.<br />

An der Fantasy-Parodie „Donjon“<br />

arbeitete er gemeinsam mit Trondheim<br />

und Sfar. Mit der kafkaesken Geschichte<br />

„Das Getriebe“ über drei seekranke Matrosen<br />

auf einem Schlachtschiff verarbeitete<br />

er seine eigene Militärzeit auf der<br />

Fregatte „Tourville“. 2002 bekam er den<br />

großen Preis des Festivals in Angoulême<br />

für den ersten Band von „Isaak der Pirat“.<br />

Spätestens damit war er als einer der Erneuerer<br />

der französischen „Bandes dessinées“<br />

etabliert.<br />

„Quai d’Orsay“ ist Blains größter kommerzieller<br />

Erfolg geworden. Die beiden<br />

Bände verkauften sich in Frankreich mehrere<br />

100 000 Mal. Kenner des dortigen Literaturbetriebs<br />

erklären sich das nicht nur<br />

mit der Qualität des Werkes, sondern auch<br />

mit der Seelenlage der Nation: In der Endphase<br />

der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys<br />

habe es eine nostalgische Sehnsucht<br />

nach nobleren Politikern gegeben. Bei allem<br />

Spott, den Blain und Lanzac über den<br />

Minister ausgießen, sei doch auch dessen<br />

Kampf vor der Uno gegen den Irakkrieg<br />

gewürdigt worden. Sarkozy selbst kommt<br />

im Buch zwar nicht vor, obwohl er als Innenminister<br />

ja Villepins Kabinettskollege<br />

war. Dafür hat der deutsche Außenminister<br />

Joschka Fischer einen kurzen Auftritt<br />

als Redner vor der Uno-Vollversammlung,<br />

und Italiens Ministerpräsident wird<br />

ganz lebensgetreu als Satyr gezeichnet: „Es<br />

stimmt tatsächlich, dass er die Frau von<br />

Abel Lanzac im Fahrstuhl angebaggert hat“,<br />

amüsiert sich Blain.<br />

Gemeinsam mit Lanzac arbeitet er<br />

nun an einem Drehbuch für den „Quai<br />

d’Orsay“-Film, den Bertrand Tavernier<br />

drehen will. Danach planen die beiden<br />

möglicherweise eine Art Fortsetzung unter<br />

dem Arbeitstitel „Matignon“ – benannt<br />

nach dem Hôtel de Matignon in Paris, wo<br />

Villepin 2005 bis 2007 als Premierminister<br />

amtierte: „Das politische Milieu ist<br />

wie eine Droge. Wer einmal dazugehörte,<br />

hat Schwierigkeiten, sich davon loszumachen“,<br />

kommentiert der Zeichner. Das gilt<br />

für Villepin genauso wie für Blains Partner<br />

Lanzac.<br />

Matthias Heine<br />

ist Redakteur im Feuilleton der<br />

Tageszeitung Die Welt<br />

Fotos: Eric Fougere/VIP Images/Corbis, Privat (Autor)<br />

122 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Christophe Blain ist einer der<br />

Erneuerer der französischen<br />

„Bandes dessinées“. Sein<br />

„Quai d’Orsay“ war auch<br />

kommerziell ein Riesenerfolg<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 123


| S a l o n<br />

Babylons Ehrenrettung<br />

Gemeinsam mit Peter Sloterdijk hat Jörg Widmann eine Oper über die sagenhafte Stadt der Sünde geschrieben<br />

von Eva Gesine Baur<br />

J<br />

örg Widmann sitzt an einem<br />

Münchner Kaffeehaustisch, vor<br />

ihm liegt gebunden ein Drittel<br />

der Partitur zu seiner neuen Oper. Sie hat<br />

das Format eines Serviertabletts. Widmann<br />

streicht über den dunkelroten Band und<br />

schlägt ihn auf. „Wie schön das ist, rein<br />

grafisch. Und was da passiert in der Vertikalen!“<br />

Für die meisten seiner Zeitgenossen<br />

ist das, was in der Vertikalen passiert,<br />

ein Rätsel. „Ja, ich weiß“, sagt er, „Komponist<br />

gilt als mysteriöser Beruf.“ Vor allem,<br />

wenn er im 21. Jahrhundert wie Jörg<br />

Widmann Streichquartette, Violinkonzerte,<br />

Messen oder Opern komponiert. Hört sich<br />

unzeitgemäß an, und Widmann ist das<br />

auch. Internet, Facebook, Tonsatzsoftware?<br />

„Keine Ahnung, kein Interesse.“ Von Hand<br />

schreibt er jedes Werk, Note für Note.<br />

Die Oper „Babylon“ wird am 27. Oktober<br />

an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt.<br />

Drei Stunden wird sie dauern,<br />

seine Oper nach einem Libretto des Philosophen<br />

Peter Sloterdijk. Seit anderthalb<br />

Jahren arbeitet Widmann daran. Seit Kent<br />

Nagano, scheidender Chefdirigent der Bayerischen<br />

Staatsoper, ihn gefragt hatte, ob<br />

er nicht für München ein Bühnenwerk<br />

schreiben wolle. Und seit er selbst Peter<br />

Sloterdijk gefragt hatte, ob er für ihn das<br />

Libretto dazu verfassen könne. „Das war<br />

eine Lebensentscheidung. Nicht für ein<br />

vertontes Philosophieseminar. Sondern für<br />

ein Thema, das in seiner Vielstimmigkeit<br />

bedrängend gegenwärtig ist.“<br />

Jörg Widmann hatte wohl immer<br />

schon eine andere Lebenstemperatur als<br />

die Menschen um ihn herum. Die meisten<br />

kühlen ab, wenn sie für die Schule Heinrich<br />

Heines Ballade von Belsazar auswendig<br />

lernen müssen. Jörg Widmann stand in<br />

Flammen, als er die Zeilen hörte und sich<br />

vorstellte, wie auf nackter Wand die warnenden<br />

Worte aus Feuer erscheinen. Viele<br />

haben Bruegels Bild vom babylonischen<br />

Turmbau irgendwo einmal gesehen. Doch<br />

ihm hat es sich eingebrannt. Seither trieb<br />

ihn die Frage um: Kann das so gewesen<br />

sein, wie es die Bibel beschreibt? Kann es<br />

sein, dass Babylon nur schlimm, die Babylonier<br />

nur schlecht, ihre Kultur nur verderbt<br />

war? „Uns“, sagt er, „geht es um die<br />

Ehrenrettung von Babylon.“<br />

Mit sieben Jahren hatte Jörg Widmann<br />

Klarinette gelernt und darauf improvisiert.<br />

„Am nächsten Tag wusste ich nicht mehr,<br />

was. Also wollte ich lernen, es aufzuschreiben.<br />

Damals hieß für mich Komponieren<br />

nur, das Improvisierte festzuhalten.“ Mit<br />

elf begann der Unterricht in Komposition.<br />

Sein erstes Werk? Er kichert. „Ein Walzer<br />

in F-Dur, der mit einem Auftakt anfängt.“<br />

Entscheidend waren für den 13-Jährigen<br />

„Schockerlebnisse im positiven Sinn“: Live<br />

erlebte er Pierre Boulez mit seinem Werk<br />

„Dialogue de l’ombre double“, ein Konzert<br />

für Klarinette und Tonband, auf dem derselbe<br />

Klarinettist die andere Stimme eingespielt<br />

hat, und ein Jazzkonzert mit Miles<br />

Davis. „Das sind für mich gleichberechtigte<br />

Götter am Firmament. Unerreichbar.“<br />

Die Arbeit an seiner neuen Oper, sagt<br />

der 39-Jährige, habe ihn „an den Rand<br />

gebracht“. Nicht nur, weil sie ihm so viel<br />

Ausdauer abforderte und den Nachtarbeiter<br />

auch noch tagsüber an den Schreibtisch<br />

jagte. Nicht nur, weil seine Schreibhand<br />

müde wurde und schmerzte. Nicht<br />

nur, weil er „auf einmal rechnen musste“.<br />

Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater Physiker<br />

für Mikroelektronik, der Sohn nach<br />

eigenen Angaben „in Physik und Mathematik<br />

schrecklich schlecht“. Was ihn an<br />

die Klippe trieb, war zum einen das Stück<br />

selbst, das ihm viele Vorsätze zunichtemachte.<br />

„Die Figuren haben eine gewaltige<br />

Eigenmächtigkeit entwickelt. Und ich gab<br />

nach. Denn sie hatten recht.“ Das andere,<br />

was ihm zusetzte, war der Text. Da gibt<br />

es zwar das Lied der Liebesgöttin Inanna.<br />

„Das ist ein Popsong, den jeder nachsingen<br />

kann.“ Ein Lied auf den Text von Ruth<br />

aus der Bibel: Wo du hingehst, da will ich<br />

auch hingehen. Aber da gibt es auch Stellen<br />

wie die: Tochter Babel, du Zerstörerin.<br />

Wohl dem, der dir heimzahlt, was du getan.<br />

Wohl dem, der deine Kinder packt und sie<br />

am Felsen zerschmettert. „Als ich das vertont<br />

hatte, musste ich mich krank ins Bett<br />

legen.“ Sein Librettist Sloterdijk sagte nur:<br />

„Krank wärst du, wenn du danach nicht<br />

krank geworden wärst.“<br />

Widmann hat sich nach dem Kaffee<br />

noch eine Cola bestellt. Wie hielt er<br />

durch? „Durch den Rausch, den erhellenden<br />

Rausch im Sinn von Baudelaire.“ Man<br />

muss immer trunken sein. Das ist alles: das<br />

einzige Geheimnis. Um die schreckliche Last<br />

nicht zu spüren, die deine Schultern zerbricht.<br />

So beginnt eines von Baudelaires Prosagedichten.<br />

Nur in diesem Ausnahmezustand,<br />

sagt Widmann, sei er imstande, „Pflöcke in<br />

den Sumpf des Unmäßigen zu schlagen“.<br />

Nur dann könne er die hereinbrechende<br />

Ideenflut kanalisieren und steuern.<br />

Babylon ist eine Oper der Extreme geworden.<br />

Zwischen leisem Liebeslied und jener<br />

Hymne auf die Rache für 94 Choristen,<br />

54 Streicher, 13 Blechbläser, 16 Holzbläser,<br />

zwei Harfen, eine Celesta, ein Akkordeon<br />

und drei Schlagzeuge. Extrem inszeniert<br />

von einem anarchischen Fantasten, Carlus<br />

Padrissa von der katalanischen Theatergruppe<br />

„La Fura dels Baus“. Sie wird<br />

erschüttern, begeistern und den Ruf nach<br />

der nächsten Oper laut werden lassen. Einer<br />

ähnlichen? Jörg Widmann schüttelt<br />

den Kopf. „Ich bleibe mir nur treu, wenn<br />

ich mich verändere.“<br />

Eva Gesine Baur<br />

schreibt Biografien und<br />

Romane, die von Musik handeln.<br />

Zuletzt erschien ihr Buch über<br />

„Emanuel Schikaneder“<br />

Fotos: Marco Borggreve, Privat (Autorin)<br />

124 <strong>Cicero</strong> 11.2012


„Als ich das<br />

vertont hatte,<br />

musste ich<br />

mich krank<br />

ins Bett legen“<br />

Jörg Widmann über eine Stelle<br />

aus seiner Babylon-Oper<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 125


| S a l o n | s p u r e n s u c h e i n i s r a e l<br />

Die Heimkehr<br />

Familiengeschichte aus den Wirren der Kriege: Ein in Südafrika geborener Schriftsteller<br />

kommt bei Tel Aviv zum ersten Mal an das Grab seines Vaters, den er nie gekannt hat<br />

von Christopher Hope<br />

M<br />

ein Vater verschwand aus<br />

meinem Leben, bevor ich<br />

ihn kennenlernte. Als 1939<br />

der Zweite Weltkrieg ausbrach,<br />

meldete er sich für den<br />

Kampfeinsatz, was in Südafrika, wo niemand<br />

zum Militärdienst verpflichtet war,<br />

einen politischen Akt bedeutete. Vor allem<br />

Angehörige der englischsprachigen Bevölkerung<br />

meldeten sich freiwillig; die meisten<br />

Afrikaner, noch immer verbittert wegen<br />

des Todes so vieler Frauen und Kinder<br />

in den Konzentrationslagern, die die Briten<br />

im Burenkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

errichtet hatten, solidarisierten sich<br />

mit Deutschland und blieben daheim.<br />

Mein Vater wurde zum Jagdflieger ausgebildet,<br />

doch meine Tante, die wusste,<br />

dass die Lebenserwartung von Jagdfliegern<br />

sehr gering war, überredete ihn, zu<br />

den <strong>Bombe</strong>rn zu wechseln. Ein gut gemeinter<br />

Versuch. Eine Zeit lang flog er Boston<br />

Marauders, einen Kampfflugzeugtyp,<br />

der sich so zuverlässig abwürgen ließ, dass<br />

man ihn „Witwenmacher“ nannte. Dann<br />

stieg er auf Wellington um, und eines Tages,<br />

kurz nach dem Abflug, ein paar Kilometer<br />

südlich des Luftwaffenstützpunkts der Royal<br />

Airforce in Aqir, stürzte sein Flugzeug<br />

ab und riss ihn, seinen Steuermann und<br />

seinen Kanonier in den Tod. Er war 25,<br />

als er an jenem Ort starb, der damals Britisch-Palästina<br />

hieß und heute Israel heißt,<br />

ganz in der Nähe der Stadt, die man damals<br />

Ramleh nannte. Es war ein schlimmer<br />

Schicksalsschlag für meine Mutter, die<br />

schon vorher während des Krieges mit einem<br />

Jagdflieger verlobt gewesen war. Sie<br />

und mein Vater waren noch nicht lange<br />

verheiratet, und ich war sechs Monate alt.<br />

Meine Mutter sprach nie von meinem<br />

Christopher Hope mit seinem Sohn Daniel an der Grabstätte<br />

seines Vaters Dennis Hubert Tully in Ramla, Israel<br />

Vater, doch ich besaß eine kleine Sammlung<br />

Schwarz-Weiß-Fotografien von ihm in<br />

Airforce-Uniform, als er ungefähr 23 Jahre<br />

alt gewesen sein musste. Mit diesen Fotos<br />

schuf ich mir eine eigene Vorstellung von<br />

meinem Vater. Ich hatte die Angewohnheit,<br />

mich zu fragen, was er wohl getan<br />

hätte, wenn er an meiner Stelle gewesen<br />

wäre. Der Mann, den ich erfand, war der<br />

Freund an meiner Seite, der Kompagnon,<br />

der mich nicht enttäuschte. Ich habe aber<br />

nie wirklich daran geglaubt, dass mein Bild<br />

von ihm der Wahrheit entspricht.<br />

Ich wusste insgesamt nur vier oder<br />

fünf Dinge über ihn: Sein Name war<br />

Dennis Hubert Tully; er sang gern, und<br />

seine Freunde gaben ihm den Spitznamen<br />

„Bing“. Kurz nachdem ich geboren war,<br />

wurde ich sehr krank und benötigte Bluttransfusionen,<br />

und da nur der Bluttyp meines<br />

Vaters passte, bekam er aus familiären<br />

Gründen die Erlaubnis, von Palästina nach<br />

Johannesburg zurückzufliegen. Ich überlebte,<br />

doch meiner Tante erzählte er, dass<br />

er, auch wenn mein Leben gerettet worden<br />

war, das Gefühl hatte, er würde sein eigenes<br />

verlieren.<br />

Es gab Piloten aus dem Krieg, einige<br />

von ihnen in meine Familie eingeheiratet,<br />

die meinen Vater gekannt hatten, und ich<br />

erinnere mich, dass sie mir – sicherlich aus<br />

Rücksichtnahme – erzählten, er habe „die<br />

Farm gekauft“ (to buy the farm: den Löffel<br />

abgeben, Anmerkung der Übersetzerin).<br />

Foto: Eddie Gerald/Laif<br />

126 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Foto: Live Books (Autor)<br />

Der Ausdruck verwirrte mich; ich fragte<br />

mich, um was für eine Farm es sich wohl<br />

handeln mochte. Es dauerte eine ganze<br />

Weile, bis ich begriff, dass sie seinen Absturz<br />

und seinen Tod meinten. Die Fotos,<br />

die ich aufhob, waren am Tag seiner Beisetzung<br />

auf einem viel genutzten Friedhof<br />

in Ramleh aufgenommen worden. Sie zeigten,<br />

dass sein Nachname, Tully, falsch geschrieben<br />

worden war. Ich habe mich darüber<br />

immer geärgert, weil es wichtig ist,<br />

dass der Name stimmt.<br />

Wie sich später herausstellte, war die<br />

Tatsache, dass mein Vater niemals zurückkehrte,<br />

auch eine Art Gnade. Viele derjenigen,<br />

die überlebt hatten und nach Südafrika<br />

zurückkehrten, mussten feststellen,<br />

dass diejenigen, die Hitler unterstützt<br />

hatten, nun das Land regierten; sie griffen<br />

dabei auf das Modell der Nazis, auf<br />

ihren Traum von Rassenhygiene zurück<br />

und betrieben dieses Experiment<br />

während der kommenden<br />

50 Jahre. Manchmal bin<br />

ich froh – manchmal auch<br />

nicht –, dass meine Söhne<br />

nicht den gleichen Hintergrund<br />

haben wie ich, dass<br />

sie nicht die gleichen Erinnerungen<br />

an einen hysterischen<br />

Nationalismus mit sich herumtragen,<br />

der die Menschen<br />

in die engen Schranken von<br />

Rasse und Hautfarbe verweist; ein Lebensstil,<br />

den man als geisteskrank bezeichnen<br />

könnte, der aber im alten Südafrika als<br />

ziemlich normal galt.<br />

Andererseits lässt manche Menschen<br />

ihre Familiengeschichte nicht los. Als ich<br />

zum ersten Mal zurückkehrte, um das<br />

Grab meines Vaters zu besuchen, hatte<br />

ich das Glück, mit meinem Sohn Daniel<br />

zu reisen. Auf meiner Seite der Familie ist<br />

Daniel irischer, katholischer, südafrikanischer<br />

Abstammung. Mütterlicherseits ist<br />

er der Enkel von jüdischen Deutschen,<br />

die in den dreißiger Jahren aus Berlin und<br />

Wien nach Südafrika flohen. Wir waren<br />

beide fasziniert – und zuweilen abgestoßen<br />

– von den Menschen und Orten, die<br />

aus uns das gemacht haben, was wir sind,<br />

der Reichtum und die Merkwürdigkeit eines<br />

Familienstammbaums.<br />

Als wir am Flughafen in Tel Aviv ankamen<br />

und uns die Beamtin an der Passkontrolle<br />

fragte, warum wir gekommen seien<br />

und wohin wir wollten, gab ich offenbar<br />

Der Mann,<br />

den ich<br />

erfand, war<br />

der Freund<br />

an meiner<br />

Seite<br />

die falsche Antwort: „Um das Grab meines<br />

Vaters zu sehen. In Ramallah.“<br />

Sie korrigierte mich: „Sie meinen<br />

Ramla. Die Namen sind wichtig hier. Ein<br />

paar Buchstaben können einen großen Unterschied<br />

ausmachen.“<br />

Ja, das können sie in der Tat. Ramallah<br />

ist die palästinensische Stadt in der West<br />

Bank. Mein Vater dagegen liegt in Ramleh<br />

begraben, dessen Name an die von den<br />

Arabern gegründete und später von den<br />

Mamelucken, Kreuzfahrern und Türken<br />

und zuletzt von Israelis umgebaute Stadt<br />

erinnert. Ramleh heißt heute Ramla und<br />

liegt in der Nähe von Tel Aviv.<br />

Der Gefallenenfriedhof Ramleh hat seinen<br />

alten Namen behalten; hier liegen Soldaten,<br />

Piloten, Rettungssanitäter und Polizisten<br />

aller Seiten, aus beiden Weltkriegen,<br />

sowie die Opfer anderer Kriege, die seither<br />

noch geführt wurden. Es ist eine außergewöhnliche<br />

Mischung von<br />

Gefallenen: Ägypter, Deutsche,<br />

Juden, Moslems, Inder,<br />

Türken, Palästinenser, Neuseeländer,<br />

Australier, Polen<br />

und Südafrikaner liegen hier<br />

beisammen. Viele der Gräber<br />

stammen aus dem Zweiten<br />

Weltkrieg, doch auch<br />

Soldaten haben hier ihre<br />

<strong>letzte</strong> Ruhestätte, die getötet<br />

wurden, als er schon vorbei<br />

war, als zionistische Kämpfer britische<br />

Ziele angriffen. Darunter befinden sich<br />

auch die Gräber zweier britischer Stabsoffiziere,<br />

die von der zionistischen Untergrundorganisation<br />

Irgun gehängt wurden,<br />

als Vergeltung für ihre von den Briten getöteten<br />

Mitglieder. In Ramleh wurde auch –<br />

offenbar wegen der entsprechenden Einrichtung<br />

– Adolf Eichmann gehängt.<br />

Das Grab meines Vaters ist gepflegter<br />

als auf meinem Foto, das eine kleine<br />

Aufschüttung von Erde und ein paar zerzauste<br />

Blumen zeigt, unter einem hölzernen<br />

Kreuz, am Tag seines Begräbnisses,<br />

damals im August 1944. Weit vorgebeugt,<br />

um die Inschrift zu lesen, bin ich überrascht<br />

über meine Trauer um einen Vater,<br />

den ich nie gekannt habe, und um die jungen<br />

Soldaten, die gleich neben ihm begraben<br />

liegen. Ich bin aber auch merkwürdig<br />

erleichtert. Es ist, als begänne ich durch<br />

den Anblick des väterlichen Grabes zu fühlen,<br />

dass er real und nicht nur eine schattenhafte<br />

Figur ist, die ich ersonnen habe, so<br />

wie ich mein Leben lang in meinen Romanen<br />

Charaktere erfunden habe. Die Grabinschrift<br />

ist schlicht: „Dennis Hubert Tully,<br />

Pilot, 12. August 1944“. Eingraviert auf<br />

dem Sockel des Grabsteins stehen die Zeilen:<br />

„In stolzer und liebender Erinnerung<br />

an Dennis – Ehemann von Kay. Greater<br />

Love Has No Man.“ Ich komme nicht umhin<br />

zu bemerken, dass „Tully“ inzwischen<br />

zwar richtig geschrieben ist, nun aber ein<br />

„n“ in „Dennis“ fehlt.<br />

„Die Namen sind wichtig hier …“<br />

Dieser Friedhof mit seinen auffälligen<br />

Grabsteinen und seinem wunderschönen<br />

gepflegten Rasen, auf dem Tauben herumflattern,<br />

lässt einen die Tatsache vergessen,<br />

dass Krieg nicht wie ein Gefallenenfriedhof<br />

ist. Die Schlachtfelder, die ich gesehen<br />

habe, in der Explosion, die Jugoslawien<br />

in Stücke gerissen hat, waren ein großes<br />

Durcheinander: Sie hatten keine Konturen,<br />

keinen Sinn und keine Form. Das ist<br />

etwas, das nur in Hollywood geschieht:<br />

Man dekoriert den Schauplatz, formt die<br />

Geschichte – doch der Krieg ist konturlos,<br />

ein ständiges Sich-Überschlagen unerwarteter<br />

Ereignisse.<br />

Man braucht nicht weit zu schauen,<br />

um zu sehen, dass sich ein solcher Krieg im<br />

Hier und Jetzt ereignet. Über dem Friedhof<br />

von Ramleh erhebt sich eine riesige Fabrik,<br />

nachts erleuchtet wie ein Jahrmarkt,<br />

die einen Großteil des Zements für die Sicherheitsmauer<br />

produziert hat, die die Israelis<br />

quer durch das Land gebaut haben,<br />

um dafür zu sorgen, dass niemand mehr<br />

Ramla mit Ramallah oder Israel mit Palästina<br />

verwechseln kann.<br />

Als wir vom Ben-Gurion-Flughafen<br />

wieder abfliegen, fragt mich der Beamte<br />

an der Passkontrolle unerwartet, ob ich<br />

einen israelischen Pass besitze. Ich nehme<br />

an, dass er den Eintrag von meiner Begegnung<br />

mit seiner Kollegin bei meiner Einreise<br />

bemerkt hat; das Wissen, dass mein<br />

Vater in Israel begraben liegt, hat wohl zu<br />

seiner Frage geführt. Ich habe keinen israelischen<br />

Pass, aber vielleicht sollte ich einen<br />

haben. Immerhin liegt ein großer Teil<br />

von mir dort.<br />

Aus dem Englischen von Luisa Seeling<br />

Christopher Hope<br />

ist Schriftsteller und Dichter. Der<br />

gebürtige Südafrikaner, Vater<br />

des Violinisten Daniel Hope, lebt<br />

inzwischen in Südfrankreich<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 127


| S a l o n | z e i t g e s c h i c h t e<br />

Protokoll eines<br />

kommenden weltkriegs<br />

Vor 75 Jahren sprach Adolf Hitler auf einer Geheimkonferenz vom „Anrecht auf größeren<br />

Lebensraum“ – der Wehrmachtsadjutant Friedrich Hoßbach hat sie der Nachwelt überliefert<br />

von Konstantin Sakkas<br />

Friedrich Hoßbach, Oberst im Generalstab,<br />

war am 5. November 1937 als Protokollant<br />

der einzige Statist in der Geheimbesprechung,<br />

die Hitler mit seinen führenden Militärs<br />

abhielt. Hoßbachs Niederschrift diente<br />

bei den Nürnberger Prozessen als eines<br />

der wichtigsten Zeugnisse der Anklage<br />

B<br />

erlin, Reichskanzlei, am 5. November<br />

1937. Die Spitzen der<br />

deutschen Reichsregierung und<br />

der Wehrmacht sind zu einer Geheimbesprechung<br />

zusammengekommen.<br />

Den Vorsitz hat der Führer und<br />

Reichskanzler Adolf Hitler. Neben ihm<br />

sind anwesend: der Reichsminister des<br />

Auswärtigen, Konstantin Freiherr von<br />

Neurath, der Reichskriegsminister und<br />

Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Generalfeldmarschall<br />

Werner von Blomberg,<br />

sowie die ihm unterstellten Oberbefehlshaber<br />

der drei Wehrmachtteile: Generaloberst<br />

Werner Freiherr von Fritsch (Heer),<br />

Generaladmiral Erich Raeder (Kriegsmarine)<br />

und Generaloberst Hermann Göring<br />

(Luftwaffe), der zugleich Preußischer<br />

Ministerpräsident, Reichsluftfahrtminister<br />

und Beauftragter für den Vierjahresplan<br />

ist. Der einzige Statist in dieser Personnage:<br />

Oberst im Generalstab Friedrich<br />

Hoßbach, Wehrmachtsadjutant des Führers,<br />

der das Kriegsende acht Jahre später<br />

als Vollgeneral und Oberbefehlshaber der<br />

4. Armee erleben wird. Überliefert wird die<br />

Besprechung durch seine Aufzeichnungen:<br />

die Hoßbach-Niederschrift. Im Nürnberger<br />

Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher<br />

1945/46 wird sie eines der wichtigsten<br />

Zeugnisse der Anklage sein.<br />

Das Jahr 1937 gilt in der NS-Forschung<br />

als „ruhiges Jahr“. Es gehört in<br />

den Abschnitt zwischen der Zeit der ersten<br />

Gewaltmaßnahmen, mit denen die<br />

Diktatur sich zwischen 1933 und 1934<br />

im Innern etablierte, und dem Aktionismus<br />

der Jahre 1938 und 1939, als Hitler<br />

zielgenau und durch kein Zugeständnis<br />

beirrt auf den Kriegsausbruch zusteuerte.<br />

Selbst der Terror, den das Regime gegen<br />

seine – wahren und vermeintlichen – Gegner<br />

ausübte, erreichte in diesem Jahr einen<br />

formellen Tiefststand: Mit 7500 Menschen<br />

waren so wenige NS‐Opfer wie niemals<br />

sonst in den sechs Konzentrationslagern<br />

inhaftiert, die die SS damals in Deutschland<br />

unterhielt. Die Olympischen Spiele<br />

1936 hatten dem nationalsozialistisch regierten<br />

Deutschland internationalen Glamour<br />

verliehen (und die Machthaber zu<br />

einer gewissen Zurückhaltung gegenüber<br />

Foto: BPK/Bayerische Staatsbibliothek/Archiv Heinrich, BPK<br />

128 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Generalfeldmarschall Werner von Blomberg, Generaloberst Hermann Göring, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch<br />

und Adolf Hitler (v. l. n. r.) im September 1937 auf der Ehrentribüne beim „Reichsparteitag der Arbeit“ in Nürnberg<br />

ihren Opfern gezwungen); mit der Wiedergewinnung<br />

des Saarlands 1935 und der Remilitarisierung<br />

des Rheinlands 1936 hatte<br />

Hitler glänzende außenpolitische Triumphe<br />

gefeiert. Deutschland zahlte keine<br />

Kriegsentschädigungen mehr, und die<br />

Wiederaufrüstung war eine beschlossene<br />

und vom Ausland (wenn auch zähneknirschend)<br />

anerkannte Tatsache. Seit 1935<br />

galt im Deutschen Reich wieder die allgemeine<br />

Wehrpflicht, und ein Flottenabkommen<br />

mit Großbritannien aus demselben<br />

Jahr manifestierte die behutsame Wiederaufnahme<br />

Deutschlands in den Kreis der<br />

europäischen Großmächte. Adolf Hitler<br />

hätte sich zufrieden zurücklehnen können.<br />

Doch Hitler wäre nicht Hitler gewesen,<br />

hätte er nicht erneut die Eskalation<br />

gesucht, die Entzweiung mit ganz Europa.<br />

Das große Drama, auf das seine Politik zusteuerte,<br />

der Weltkrieg, stand noch bevor.<br />

Bereits im Februar 1933, wenige Tage nach<br />

seiner Ernennung zum Reichskanzler, hatte<br />

Hitler in einer vertraulichen Besprechung<br />

die damalige Reichswehrführung auf die<br />

Ziele Aufrüstung und Krieg eingeschworen.<br />

Das erste Ziel war erreicht; nun galt es, das<br />

konkrete Kriegsszenario zu planen; darum<br />

sollte es in der Besprechung vom November<br />

1937 gehen – und zugleich darum, ob<br />

er sich hierbei auf seine militärische und diplomatische<br />

Elite verlassen konnte.<br />

Gegenstand der Besprechung war offiziell<br />

die Rüstungslage des Reiches. Doch<br />

Hitler lenkte die Konferenz<br />

schnell auf das eigentliche,<br />

sein Thema: „Das Ziel der<br />

deutschen Politik“, so resümiert<br />

Hoßbach in seiner einige<br />

Tage später ohne dienstlichen<br />

Auftrag angefertigten<br />

Niederschrift <strong>Hitlers</strong> Eröffnungsvortrag,<br />

„sei die Sicherung<br />

und die Erhaltung<br />

der Volksmasse und deren<br />

Vermehrung. Somit handele<br />

es sich um das Problem des<br />

Raumes.“ Das deutsche Volk mit seinen<br />

85 Millionen Angehörigen – die Bevölkerung<br />

des bis dahin immer noch selbstständigen<br />

Österreich wird hier geflissentlich<br />

mitgezählt – stelle „in Europa einen in<br />

Besprochen<br />

wurde offiziell<br />

die Rüstungslage.<br />

Doch Hitler lenkte<br />

schnell auf sein<br />

eigentliches Thema<br />

sich so fest geschlossenen Rassekern [dar],<br />

wie er in keinem anderen Land wieder anzutreffen<br />

sei und wie er andererseits das<br />

Anrecht auf größeren Lebensraum mehr<br />

als bei anderen Völkern in sich schlösse.<br />

Wenn kein dem deutschen Rassekern entsprechendes<br />

politisches Ergebnis auf dem<br />

Gebiet des Raumes vorläge, so sei das eine<br />

Folge mehrhundertjähriger<br />

historischer Entwicklung<br />

und bei Fortdauer dieses<br />

politischen Zustandes die<br />

größte Gefahr für die Erhaltung<br />

des deutschen Volkstums<br />

auf seiner jetzigen<br />

Höhe.“<br />

Die Deutschen als „Volk<br />

ohne Raum“ – Hitler greift<br />

hier zeitgenössische Topoi<br />

auf, die bei Konservativen<br />

aller Couleur durchaus gängig<br />

waren: das Denken in einer deutschnationalen<br />

„longe durée“, die beim glorreichen<br />

Hochmittelalter mit seinem<br />

(angeblichen) deutsch-staufischen Großreich<br />

beginnt, im Dreißigjährigen Krieg, in<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 129


| S a l o n | z e i t g e s c h i c h t e<br />

dem Deutschland als Spielball auswärtiger<br />

Mächte auftritt, ihren Tiefpunkt erreicht<br />

und mit Bismarcks Reichsgründung 1871<br />

ihren Wiederaufschwung nimmt, dessen<br />

Vollendung nach dem verlorenen Weltkrieg<br />

freilich noch aussteht. Das Zerreißen<br />

des „Diktats von Versailles“, das Hitler in<br />

unzähligen Reden beschwor, war nur ein<br />

Nahziel gewesen; tatsächlich, so der Tenor<br />

seines Vortrags, gehe es um 1648, um die<br />

Revision des Westfälischen Friedens,<br />

und zwar unter rassischen<br />

Gesichtspunkten: Die deutschen<br />

Minderheiten in ganz Europa<br />

sollten peu à peu „heim ins Reich“<br />

überführt werden – allen voran<br />

ganz Österreich sowie das Sudetenland,<br />

der nordwestliche Zipfel<br />

der Tschechoslowakei, 1918 aus<br />

der Konkursmasse dreier habsburgischer<br />

Kronländer entstanden<br />

und der Stachel im Fleische<br />

aller Deutschnationalen.<br />

Darum geht es Hitler in seinem wie<br />

immer weitschweifigen, aber erstaunlich<br />

sachlichen (von Judentum ist gar nicht,<br />

vom Bolschewismus nur einmal, ganz am<br />

Rande die Rede) Referat; die Wirtschaftslage<br />

dient ihm nur als pragmatischer Aufhänger:<br />

Dass nach dem Aufschwung der<br />

zurückliegenden Jahre Deutschlands Rüstungsvorsprung<br />

gegenüber seinen Feinden<br />

nur noch schrumpfen könne, ist<br />

<strong>Hitlers</strong> Argument für ein rasches militärisches<br />

Vorgehen. Deutschland müsse spätestens<br />

1943 handeln, doch dann sei es<br />

womöglich schon zu spät. Auch die, zur<br />

Bedarfsdeckung angeblich benötigten, zusätzlichen<br />

„Rohstoffgebiete seien zweckmäßiger<br />

im unmittelbaren Anschluss<br />

an das Reich in Europa“ zu suchen als<br />

in Übersee. Unter günstigen Bedingungen<br />

– einer Verschärfung des Gegensatzes<br />

zwischen Mussolinis Italien, Deutschlands<br />

Verbündetem, und Frankreich –, so<br />

Hitler, sei auch an ein Losschlagen gegen<br />

Österreich und Tschechien bereits 1938<br />

zu denken. Wie sich zeigen wird, wird es<br />

genau darauf hinauslaufen. Das eigentliche<br />

Hauptthema der Konferenz, die Wirtschaftslage,<br />

wird nach hinten verschoben:<br />

„Der zweite Teil der Besprechungen“, heißt<br />

es nüchtern, „befasste sich mit materiellen<br />

Rüstungsfragen.“ Mit diesem Satz enden<br />

Hoßbachs Notizen.<br />

Dem Oberst im Generalstab war die<br />

Bedeutungslosigkeit der ökonomischen<br />

Hitler war außer<br />

sich: Wenn<br />

ein deutscher<br />

Feldmarschall<br />

eine Hure heirate,<br />

sei alles möglich<br />

Werner von Blomberg mit seiner zweiten Frau Luise Margarethe Gruhn<br />

wenige Tage nach der Hochzeit bei einem Spaziergang in Leipzig<br />

Details vor dem Panorama von <strong>Hitlers</strong> Eroberungs-<br />

und Raumfantasien offensichtlich<br />

klar. Weniger klar dürften ihm die<br />

personellen Konsequenzen gewesen sein,<br />

welche die Besprechung haben sollte.<br />

Hitler selbst charakterisierte sein Verhältnis<br />

zur militärischen Führungsebene<br />

Jahre später bei einem Frontbesuch im<br />

Osten so: „Als ich noch nicht Reichskanzler<br />

war, habe ich gemeint, der Generalstab<br />

gleiche einem Fleischerhund, den man fest<br />

am Halsband haben müsse, weil er sonst<br />

jeden anderen Menschen anzufallen drohe.<br />

Nachdem ich Reichskanzler geworden war,<br />

habe ich feststellen müssen, dass der deutsche<br />

Generalstab nichts weniger als ein<br />

Fleischerhund ist. Dieser Generalstab hat<br />

mich immer gehindert, das zu tun, was ich<br />

für nötig halte. Ich bin es, der diesen Fleischerhund<br />

immer erst antreiben muss.“<br />

Tatsächlich, so hält Hoßbach es in<br />

seiner Niederschrift fest, fanden sich die<br />

größten Bedenkenträger in <strong>Hitlers</strong> unmittelbarem<br />

Umfeld; besonders die beiden<br />

Spitzenmänner der Wehrmacht, Blomberg<br />

und Fritsch, äußern mehrmals in<br />

der Besprechung Zweifel an der Realisierbarkeit<br />

von <strong>Hitlers</strong> Plänen und mahnen<br />

zur Vorsicht. Sie werden mit stereotypen<br />

Beschwichtigungen abgebügelt:<br />

„Zu den seitens des Feldmarschalls von<br />

Blomberg und des Generalobersten von<br />

Fritsch hinsichtlich des Verhaltens Englands<br />

und Frankreichs angestellten Überlegungen<br />

äußerte der Führer in Wiederholung<br />

seiner bisherigen Ausführungen,<br />

dass er von der Nichtbeteiligung Englands<br />

überzeugt sei und daher an eine kriegerische<br />

Aktion Frankreichs gegen Deutschland<br />

nicht glaube.“<br />

Foto: Ullstein Bild<br />

130 <strong>Cicero</strong> 11.2012


I m p r e s s u m<br />

Nach der Novemberbesprechung ist<br />

Hitler klar: Mit diesen beiden Militärs alter<br />

Schule kann er seine Feldzüge nicht<br />

führen. So kommt es am 4. Februar zum<br />

großen Frühjahrsrevirement, das auch als<br />

Blomberg-Fritsch-Krise bekannt wird: Der<br />

Reichskriegsminister und sein Heereschef<br />

werden durch eine Intrige gestürzt.<br />

Blomberg, frisch verliebt in die 24-jährige<br />

Luise Margarethe Gruhn, Sekretärin<br />

im „Reichsnährstand“, hatte sich vertrauensvoll<br />

und vertrauensselig an Göring gewandt<br />

und um Akzeptanz für seine Angebetete<br />

geworben, die nicht nur keine<br />

standesgemäße Braut für einen adeligen<br />

Generalfeldmarschall war, sondern auch<br />

eine „Frau mit Vergangenheit“ (unter anderem<br />

als Pornodarstellerin in einschlägigen<br />

Publikationen). Göring, ganz der joviale<br />

Generalskamerad, hatte den leicht<br />

beeinflussbaren Blomberg seiner Unterstützung<br />

versichert – mit dem Standesdünkel<br />

sei im Nationalsozialismus ja nun gerade<br />

Schluss! – und gleich noch hilfsbereit<br />

einen Luftwaffenoffizier, der ebenfalls für<br />

Fräulein Gruhn schwärmte, auf eine lange<br />

Dienstreise nach Südamerika wegbefördert.<br />

Doch kaum war die Trauung vollzogen, lief<br />

der Luftwaffenchef, auf einmal gar nicht<br />

mehr loyal, zu Hitler, unterm Arm die Kriminalakte<br />

der nunmehrigen Frau Feldmarschall<br />

(inklusive anschaulichen Bildmaterials<br />

aus dem Archiv der Sittenpolizei). Der<br />

Führer gerät außer sich, im engsten Kreis<br />

erklärt er laut und nachdrücklich: Wenn<br />

ein deutscher Feldmarschall eine Hure heirate,<br />

sei in der Welt alles möglich, und zeigt<br />

sich noch hysterisch indigniert darüber,<br />

dass er „dieser Person“ die Hand geküsst<br />

habe. Das Ergebnis: Blomberg muss gehen.<br />

Anschließend trifft es Fritsch. Der<br />

Reichsführer-SS Heinrich Himmler, dem<br />

die konservative Heeresgeneralität stets<br />

ein Dorn im Auge ist, streut das Gerücht,<br />

Fritsch, der nur mit seinem Beruf verheiratet<br />

ist, sei homosexuell – was nicht nur mit<br />

dem Ehrenkodex des Offizierstands unvereinbar<br />

ist, sondern auch mit dem Strafgesetz.<br />

Fingierte Beweise und unwahre, teils<br />

durch die Gestapo erpresste Zeugenaussagen<br />

bringen Fritsch, der wacker seine<br />

Unschuld verteidigt, in die Bredouille –<br />

schließlich nimmt auch er, gezwungenermaßen,<br />

seinen Abschied. (Monate später<br />

wird der Vorwurf offiziell entkräftet und<br />

Fritsch von Hitler „rehabilitiert“ – doch<br />

abgeschoben bleibt abgeschoben.)<br />

verleger Michael Ringier<br />

chefredakteur Christoph Schwennicke (V.i.S.d.P.)<br />

Stellvertreter des chefredakteurs<br />

Alexander Marguier<br />

Redaktion<br />

Textchef Georg Löwisch<br />

Ressortleiter Judith Hart (Weltbühne), Til Knipper<br />

(Kapital), Daniel Schreiber (Salon), Constantin Magnis<br />

(Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />

Assistenz der Chefredaktion Ulrike Gutewort<br />

Publizistischer Beirat, Heiko Gebhardt,<br />

Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />

Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

Art director Kerstin Schröer<br />

Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

Produktion Utz Zimmermann<br />

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11.2012 <strong>Cicero</strong> 131


| S a l o n | z e i t g e s c h i c h t e<br />

Damit ist der Weg frei für die von<br />

Hitler ersehnte Umgliederung der Wehrmachtspitze.<br />

Das Reichskriegsministerium<br />

wird gestrichen, oberster Befehlshaber der<br />

Wehrmacht (und damit Inhaber nicht nur<br />

der formellen Befehls-, sondern auch der<br />

ungleich wichtigeren Kommandogewalt)<br />

wird der „Führer“ selbst; ihm unterstellt<br />

ist das neu geschaffene „Oberkommando<br />

der Wehrmacht“ unter seinem Chef, dem<br />

General der Artillerie Wilhelm Keitel: niedersächsisches<br />

Großbürgertum, eine „fantasielose<br />

Null“ (Will Berthold), aber genau<br />

der Typ Bürovorsteher, den Hitler für dieses<br />

dienstbare Amt braucht; sein Spitzname<br />

wird bald „Lakaitel“ sein.<br />

Neuer Oberbefehlshaber des Heeres anstelle<br />

des geschassten Fritsch wird Generaloberst<br />

Walther von Brauchitsch. Auch<br />

er preußischer Schwertadel, auch er wie<br />

Blomberg zahnlos und gefügig, unter anderem<br />

durch die 80 000 Reichsmark, die<br />

ihm Hitler zur Abfindung seiner Frau –<br />

noch ein frisch Geschiedener im zweiten<br />

Frühling – hat zukommen lassen. Marine<br />

und Luftwaffe behalten ihre Oberbefehlshaber;<br />

der geschmeidige, notorisch faule<br />

und prunkliebende Göring, dem Hitler<br />

insgeheim nicht einmal eine vernünftige<br />

Truppenvisite zutraut, wird für sein hilfreiches<br />

Zuträgertum mit dem Feldmarschallsrang<br />

belohnt. Außenminister Konstantin<br />

von Neurath, ein alter Deutschnationaler<br />

und Relikt des „Kabinetts der Barone“<br />

von 1932, der auf der Hoßbach-Konferenz<br />

ebenfalls Bedenken geäußert hatte, wird<br />

durch Joachim von Ribbentrop ersetzt,<br />

„<strong>Hitlers</strong> Papagei“, der schon als Botschafter<br />

in London durch den völligen Mangel<br />

an diplomatischer Qualifikation glänzte, es<br />

dafür aber liebt, in seiner Uniform als SS-<br />

Obergruppenführer ehrenhalber im Auswärtigen<br />

Amt herumzustolzieren.<br />

Mit dieser Mannschaft kann Hitler den<br />

Griff nach den Nachbarn seines Reiches<br />

wagen. Noch im März 1938 annektiert er<br />

im Handstreich Österreich; im Oktober<br />

folgt, nach entwürdigendem Gezerre, das<br />

Sudetenland. Die „Hassgegner England<br />

und Frankreich“, denen „ein starker deutscher<br />

Koloss inmitten Europas ein Dorn<br />

im Auge“ hätte sein müssen, geben klein<br />

bei und erfüllen unwissend, was Hitler auf<br />

der Novemberkonferenz – durchaus ohne<br />

seine skeptischen Generäle zu überzeugen<br />

– orakelt hatte: „An sich glaube der<br />

Führer, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

England, voraussichtlich aber auch Frankreich<br />

die Tschechen bereits im Stillen abgeschrieben<br />

und sich damit abgefunden<br />

hätten, dass diese Frage eines Tages durch<br />

Deutschland bereinigt würde. Die Schwierigkeiten<br />

des Empire und die Aussicht, in<br />

Nach der Besprechung ist<br />

Hitler klar, dass er neue<br />

Militärs braucht, um<br />

seine Feldzüge zu führen<br />

einen lang währenden europäischen Krieg<br />

erneut verwickelt zu werden, seien bestimmend<br />

für eine Nichtbeteiligung Englands<br />

an einem Kriege gegen Deutschland. Die<br />

englische Haltung werde gewiss nicht ohne<br />

Einfluss auf die Frankreichs sein.“<br />

Hitler behielt recht: Auf der Münchner<br />

Konferenz im Oktober 1938 wurde<br />

ihm das deutsch besiedelte Sudetenland<br />

zugesprochen; die Annexion der „Rest-<br />

Tschechei“ im folgenden März war zwar<br />

offen vertrags- und versprechungswidrig<br />

(„Deutschland ist gesättigt“) und wurde<br />

von den Westmächten entsprechend missbilligt;<br />

aber auch diesmal griff niemand<br />

ein, und die Standfotos vom deutschen<br />

Einmarsch in Prag überliefern die zornigen<br />

Gesichter tschechischer Passanten, in<br />

deren Hass auf die Invasoren sich Wut<br />

über die Nichtintervention der westlichen<br />

Schutzmächte mischen mochte. Ein <strong>letzte</strong>s<br />

Mal hatte Hitler auf volles Risiko gespielt<br />

und gewonnen.<br />

Doch auch diesmal war er nicht saturiert.<br />

Er wollte weitermarschieren, wenn<br />

auch alles in Scherben fiel, wie schon seine<br />

Pimpfe und Jungmädel auf den Heimabenden<br />

sangen. In der Novemberbesprechung<br />

mimte er, wie später noch oft, noch in den<br />

Tagen des Zusammenbruchs, den souveränen<br />

Spieler am Pokertisch der Macht; der<br />

Nihilist setzte die Maske des Machiavellisten<br />

auf, der zwar nicht die Moral, wohl<br />

aber – wenigstens – die Vernunft als Ratgeberin<br />

achtet; in Wahrheit achtete er weder<br />

die eine noch die andere. Er war der „Revolutionär<br />

des Nihilismus“, als den Hermann<br />

Rauschning, einst nationalsozialistischer<br />

Senatspräsident in Danzig, der<br />

sich früh vom Regime losgesagt hatte, in<br />

einem damals (im Exil) erschienenen Buch<br />

beschrieb.<br />

Und so war der Diktator auch nach<br />

der Annexion Tschechiens, dem er in der<br />

Rechtsform des „Reichsprotektorats Böhmen<br />

und Mähren“ ein brutales Besatzungsregime<br />

oktroyierte, nicht mit seinem Raub<br />

zufrieden. Schon liefen die Planspiele für<br />

den Überfall auf Polen. Doch diesmal<br />

sollten die Garantiemächte England und<br />

Frankreich (das faschistische Italien war<br />

mittlerweile offizieller Verbündeter des<br />

Deutschen Reiches) Wort halten: Am<br />

3. September 1939, zwei Tage nach dem<br />

Überfall, gingen, nach fristlos verstrichenem<br />

Ultimatum, die Kriegserklärungen<br />

beider Mächte in der Reichskanzlei ein.<br />

Bis zuletzt hatte Hitler gehofft, England<br />

würde neutral bleiben; doch diese Illusion<br />

erfüllte sich nicht.<br />

Ihm, dem Nihilisten und „Vollstrecker<br />

des Bösen“ – so nannte ihn Graf Berthold<br />

Stauffenberg, der nach dem Attentatsversuch<br />

auf Hitler vom 20. Juli 1944 seinem<br />

Bruder auf dem Schafott folgte –, dürfte<br />

diese Enttäuschung letztlich gleichgültig<br />

gewesen sein; er hatte nun, was er wollte<br />

und was er auf der Hoßbach-Konferenz,<br />

wenngleich unter taktischen Klauseln verborgen,<br />

als sein eigentliches Ziel skizziert<br />

hatte: den europäischen Krieg, den er mit<br />

dem gleichen fatalen Zielbewusstsein zur<br />

europäischen Katastrophe machen sollte,<br />

vor deren Grausamkeit selbst die Düsternis<br />

von 1648, der Schrecken des Dreißigjährigen<br />

Krieges, verblassen würde.<br />

Konstantin Sakkas<br />

ist freier Autor und Historiker.<br />

Er schreibt Essays und<br />

Reportagen für Presse und<br />

Rundfunk<br />

Fotos: Bundesarchiv, Privat (Autor)<br />

132 <strong>Cicero</strong> 11.2012


WeLT.De/neu<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die nicht lang fackeln,<br />

sondern für was brennen.<br />

Die WeLT gehörT Denen, Die neu Denken.


| S a l o n | B e n o t e t<br />

Requiem für<br />

Dennis<br />

Unser Autor reist an das Grab seines Großvaters<br />

nach Israel und lässt dort seine Geige sprechen<br />

Von Daniel Hope<br />

A<br />

ls ich vor einigen jahren mein erstes Buch „Familienstücke“<br />

schrieb, begab ich mich auf eine Spurensuche<br />

durch meinen Stammbaum. Mütterlicherseits hatte ich<br />

eine starke deutsche Komponente in meiner Vorgeschichte entdeckt,<br />

überschattet freilich vom unheilvollen Ende, das die meisten<br />

Familien jüdischer Abstammung fanden. Die Familie väterlicherseits<br />

war für mich aber nicht minder interessant. Kurz vor Ausbruch<br />

des Zweiten Burenkriegs 1899 wurde der britische Oberst<br />

Robert Baden-Powell zusammen mit einer Handvoll Offiziere in<br />

die Kapregion nach Südafrika geschickt, um die Mafeking-Provinz<br />

zu schützen. Am 12. Oktober 1899 brachen die Kampfhandlungen<br />

aus. Die Buren marschierten in die Kapkolonie und Natal ein<br />

und belagerten die britischen Garnisonen Ladysmith, Kimberley<br />

und Mafeking. Um seine wenigen Soldaten zu entlasten, stellte<br />

Baden-Powell ein Korps von elf- bis 16-jährigen Jungen zusammen,<br />

die als Boten, Signalgeber und Sanitäter dienten – einer dieser<br />

Jungen war Daniel McKenna, mein irisch-katholischer Urgroßvater,<br />

nach dem ich benannt wurde. Gegen eine Übermacht von<br />

9000 Buren gelang es Baden-Powell schließlich, mit nur knapp<br />

1000 Mann und viel List der Belagerung, die 217 Tage dauerte,<br />

standzuhalten und Mafeking zu verteidigen.<br />

Als 1944 mein Vater, der Schriftsteller Christopher Hope, in<br />

Südafrika auf die Welt kam, wütete ein anderer Krieg. Sein Vater,<br />

Dennis Tully, hatte sich im August 1940 freiwillig zur britischen<br />

Luftwaffe gemeldet. Bald wurde er nach Kairo versetzt, Rommels<br />

Armee rückte auf die Stadt vor. Als Dennis’ Sohn – mein<br />

Vater – zu früh geboren wurde, durfte Dennis nach Hause reisen.<br />

Das Baby litt unter schweren Blutungen. Mein Großvater hatte<br />

dieselbe Blutgruppe, er spendete sein Blut und saß drei Tage vor<br />

dem Zimmer seines Sohnes. Als sich die Gesundheit meines Vaters<br />

besserte, sagte Dennis: „Gott hat das Leben meines Sohnes<br />

gerettet, dafür wird er meines nehmen.“ An einem Sonntag flog<br />

er wieder in Richtung Norden. Am Sonnabend darauf war er tot:<br />

Abgestürzt im Flugzeug, die Ursache wurde nie bekannt.<br />

Während der Recherche für das Buch besuchte ich meinen<br />

Vater in Südfrankreich, wo er heute lebt. Plötzlich fing er an, von<br />

seinem Vater zu sprechen. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo Dennis<br />

begraben sei. Nein, in der Familie heiße es immer nur: „irgendwo<br />

in Nordafrika“. Als ich am Abend wieder zu Hause in London war,<br />

suchte ich im Internet nach Spuren. Zuerst erfolglos, aber schließlich<br />

stieß ich auf eine Webseite der „Commonwealth War Graves<br />

Commission“. Ich gab seinen Namen und das Jahr seines Todes in<br />

die Suchmaske ein. Einige Sekunden später las ich: „Dennis Hubert<br />

Tully Lieutenant, Son of William and Mary Tully; Husband<br />

of Kathleen Tully, of Johannesburg, Transvaal, South Africa. Remembered<br />

with honour.“ Nur einen Mausklick weiter ein Foto:<br />

das Grab meines Großvaters. Dennis Tully starb am 12. August<br />

1944, begraben wurde er in Ramla, einer kleinen Stadt in Palästina,<br />

heute Israel. Er war 25 Jahre alt. Ich sah auf die Datumsanzeige<br />

meiner Uhr: Es war der 12. August 2004 – auf den Tag<br />

genau 60 Jahre danach. Als ich meinem Vater berichten konnte,<br />

wann genau sein Vater gestorben sei, war das ein bewegender Moment<br />

für uns beide.<br />

Erst in diesem Sommer ist es mir jedoch gelungen, einen gemeinsamen<br />

Besuch mit meinem Vater nach Israel zu organisieren<br />

(siehe den Bericht auf Seite 126). Bis zu den Kreuzzügen im<br />

11. Jahrhundert war Ramla die Hauptstadt Palästinas, berühmt<br />

für seine extravaganten Moscheen und Paläste. Heute ist Ramla<br />

eine eher nüchterne Industriestadt unweit des Flughafens Tel Aviv.<br />

Zwischen einer Autobahn und einem Fabrikgelände liegt ein britischer<br />

Friedhof mit grünem, perfekt getrimmtem Rasen.<br />

Das Grab meines Großvaters haben wir sofort gefunden. Es<br />

liegt gegenüber einem wunderschönen Baum, umringt von den<br />

Kriegsgräbern Tausender anderer Männer, die alle um die 20 Jahre<br />

alt waren, als sie fielen. Nachdem mein Vater fast sieben Jahrzehnte<br />

nach dessen Tod Abschied von seinem Vater nehmen konnte, saß<br />

er schweigsam unter dem Baum, zückte seinen Füller und ein Notizblatt<br />

und fing an, seine Gedanken niederzuschreiben. Und ich<br />

tat das, was ein Musiker in einem solchen Moment am besten tun<br />

kann: Ich spielte ein Stück auf meiner Geige, ein Stück für meinen<br />

Großvater Dennis. Musik schien für mich in diesem Moment<br />

das einzig Richtige. Schweigen konnte ich nie. Vielleicht bin ich<br />

auch deshalb Musiker geworden: „Die Musik drückt das aus, was<br />

nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich<br />

ist.“ Das ist ein Satz von Victor Hugo, der mir immer gefallen hat.<br />

Und so klingen die Stücke meiner Familie nun nach.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />

toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />

CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

134 <strong>Cicero</strong> 11.2012


WeLT.De/neu<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die ausbrechen,<br />

statt einzuknicken.<br />

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136 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Der Dionysos von Basel<br />

Das Porträt als memento mori: Arnold Böcklins<br />

„Selbstbildnis mit fiedelndem Tod“ aus dem Jahr 1872<br />

versteht sich als Testament für die Nachgeborenen<br />

Von Beat Wyss<br />

Fotos: Jörg P. Anders/BPK/Nationalgalerie SMB, artiamo (Autor)<br />

W<br />

enden wir uns im Totenmonat<br />

November einem Gemälde<br />

zu, das vom Tod zu handeln<br />

scheint. Arnold Böcklin malt sich im<br />

Moment, da er sich im Spiegel betrachtet,<br />

dessen Reflex er mit Pinsel und Palette<br />

auf die Leinwand überträgt: „So hat<br />

mein Schöpfer im Alter von 45 Jahren<br />

ausgesehen“, soll sein Gemälde uns sagen,<br />

uns, die wir wissen, dass Böcklin schon<br />

111 Jahre tot ist.<br />

Jedes Porträt ist memento mori. Das<br />

abgemalte Gesicht versteht sich als Testament<br />

an die Nachgeborenen. In diesem<br />

Sinne schaut Böcklin die Betrachtenden<br />

an, als wollte er prüfen, ob wir<br />

seiner, des großen Malers, auch gebührend<br />

gedenken. Um das Todesträchtige<br />

in seinem Bildnis zu untermalen, lässt er<br />

den Tod hinter seinem Rücken auftreten.<br />

Er malt ihn auf herkömmliche Art<br />

als grinsenden Spielmann mit der Fiedel.<br />

So kennt ihn die Kunstgeschichte aus<br />

den Totentänzen des 15. Jahrhunderts:<br />

den großen Gleichmacher, der die Menschen<br />

aller Stände, von Kaiser und Papst<br />

über Mönch und Lebemann bis hin zur<br />

Dirne und zum Tagelöhner alle mit gleicher<br />

Melodie heimholt. Der Totentanz<br />

erinnert an den Massentod der Pest, der<br />

damals in den überfüllten, florierenden<br />

Städten des Spätmittelalters reiche Ernte<br />

einfuhr. Einer der Berühmtesten zierte<br />

einst die Friedhofsmauer der Predigerkirche<br />

zu Basel, Böcklins Heimatstadt. Der<br />

Bürger und das standesbewusste Patriziat<br />

identifizierten sich gern mit einer Darstellung,<br />

die von der gerechten Natur des<br />

Todes handelt. Er war einer, der auch vor<br />

den Pfaffen nicht haltmachte.<br />

Bleiben wir jetzt aber bei dieser besinnlichen<br />

Betrachtung über das Unabänderliche<br />

im Leben stehen, so haben<br />

wir das Gemälde nicht ganz verstanden.<br />

Schauen wir dem Maler noch einmal genau<br />

in die Augen: Sieht er sich denn überhaupt<br />

an im Spiegel? Oder unterbricht er<br />

nicht vielmehr gerade jetzt seinen prüfenden<br />

Blick auf sich selbst? Ja, er vergisst in<br />

diesem Moment sein Geschäft des Sehens,<br />

weil er der Melodie des fiedelnden Todes<br />

lauscht. Und diese Melodie mag ihn an<br />

eine Textstelle in Jean Pauls „Vorschule der<br />

Ästhetik“ erinnert haben, die das Genie<br />

mit der Saite einer Windharfe vergleicht,<br />

die von der Eingebung berührt wird. Der<br />

knochige Fiedler ist nichts anderes als jener<br />

„überirdische Engel des inneren Lebens“,<br />

der den Künstler antreibt, „Todesengel<br />

des Weltlichen im Menschen“ zu<br />

spielen: jenen Genius, der uns in ein Jenseits<br />

alltäglicher Banalität entführt. Böcklins<br />

Tod verkörpert die Inspiration.<br />

Diese Idee ist weit entfernt von den<br />

makabren Totentänzen des Mittelalters.<br />

Modern ist die Umwertung des Todes als<br />

Leben. Böcklins Selbstbildnis mit Tod<br />

stammt von 1872, dem Erscheinungsjahr<br />

von der „Geburt der Tragödie“, verfasst<br />

von Friedrich Nietzsche, dem Basler<br />

Dionysos. Zu gering war die Verbreitung<br />

von dessen Erstauflage, als dass der Künstler<br />

das Buch gekannt hätte. Doch Ideen<br />

haben ihre Fahrpläne. Die einschlägigen<br />

Stichworte einer Epoche raunt die Zeitgenossenschaft<br />

ihren Agenten direkt zu.<br />

Böcklin porträtiert sich als apollinischen<br />

Helden, der der dionysischen<br />

Melodie von Urlust und Urleiden bleibende<br />

Gestalt abringt. Dass im Wollen<br />

immer auch das Vergehen-Wollen enthalten<br />

sei, hat Arthur Schopenhauer gelehrt.<br />

Sigmund Freud wird die gemeinsame<br />

Wurzel von Eros und Thanatos das<br />

Nirvanaprinzip nennen, nach dem Ort,<br />

wo höchste Selbstvergessenheit ist. Der<br />

Rausch, die Liebe, der Schlaf sind die<br />

kleinen Tode vor der Rückkehr zum großen.<br />

Sie alle enthalten das schmeichelnde<br />

Versprechen, auf das der Künstler jetzt<br />

hinhorcht: Er weiß sich verführbar, aber<br />

er will wach bleiben! Der malende Zeitgenosse<br />

Nietzsches versteht sein Schaffen<br />

als ein Bannen des tödlichen Sirenengesangs.<br />

Kunstgenuss sei, wie Traum und<br />

Liebe, ein kleiner Tod, der durch das dauerhafte<br />

Werk immer wieder gefahrlos und<br />

mit heilender Wirkung wiederholt werden<br />

kann.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 137


| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />

Keine schlechte<br />

Nummer<br />

138 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Geduldiges Warten –<br />

einer der täglich etwa<br />

500 Kunden bei der<br />

KFZ‐Zulassungsstelle<br />

Kreuzberg<br />

Neuerdings können<br />

Kunden Termine auch<br />

vorab vereinbaren. Alle<br />

anderen müssen etwas<br />

Zeit mitbringen<br />

Momentaufnahme<br />

KFZ-Meldestelle<br />

Die tumultartigen Aufstände wartender<br />

Kunden sind inzwischen unter Kontrolle, die<br />

Autokennzeichen-Dealer und ihre Kleinkriege auf<br />

der Straße noch nicht: Eine Fotoreportage von Anne<br />

Schönharting und Julian Röder aus dem größten<br />

KFZ-Amt der Bundesrepublik in Berlin-Kreuzberg<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 139


| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />

Tumulte gibt es hier keine<br />

mehr – Eingangshalle<br />

der KFZ-Behörde<br />

Geraucht wird trotzdem –<br />

das Ex‐Kasernengebäude<br />

als Trutzburg wider<br />

den Zeitgeist<br />

140 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Strandromantik –<br />

ein Sachbearbeiter<br />

macht das Beste<br />

aus seinem Büro<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 141


| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />

Zack, der Nächste bitte –<br />

einer von 120 Mitarbeitern<br />

bei der Arbeit<br />

142 <strong>Cicero</strong> 11.2012


H<br />

m, hm! der Herr aus der Abteilungsleitung<br />

weiß nicht so genau,<br />

er wiegt nachdenklich<br />

den Kopf. Sein Gesicht sagt: „Au Backe,<br />

Presse, jetzt geht das Ganze von vorne<br />

los.“ Tatsächlich sagt er: „Wir wollen<br />

gerne helfen, nur haben wir gewisse Bedenken.<br />

Wir haben auch Erfahrungen gemacht,<br />

die nicht so gut waren.“<br />

Man versteht, dass das Personal der<br />

KFZ‐Zulassungsstelle in Berlin-Kreuzberg<br />

nicht sofort in Jubel ausbricht, als<br />

wir für eine Fotoreportage anfragen. Die<br />

größte der 440 bundesweiten Zulassungsbehörden,<br />

untergebracht in einer baufälligen<br />

Ex-Kaserne an der Jüterboger Straße,<br />

war lange das Lieblingshassobjekt der Lokalpresse.<br />

„Ein ganz großer Albtraum“,<br />

schrieben sie, „ein Haus, das verrückt<br />

macht“, um dann mit fasziniertem Grausen<br />

chaotische Zustände in einer Großbehörde<br />

zu beschreiben. Von ausgelaugten<br />

Mitarbeitern war die Rede, von Warteschlangen<br />

bis auf den Bürgersteig und<br />

Kunden, die vor lauter Warterei erst ins<br />

apathische Wachkoma verfallen sein sollen<br />

und dann regelrechte Tumulte veranstaltet<br />

haben sollen, vor den verrammelten<br />

Türen des verängstigten Personals.<br />

Heute können wir berichten: So<br />

schlimm ist es nicht. Im Gegenteil. In einer<br />

Stadt, die allenthalben über die sogenannte<br />

Gentrifizierung ihrer Kieze klagt<br />

und über die sogenannte Disneyisierung<br />

ihrer Mitte, ist das Kreuzberger KFZ‐Amt<br />

eine Insel der Authentizität. Zugegeben,<br />

der stacheldrahtumzäunte Backsteinkomplex<br />

mit den vergitterten Fenstern<br />

und teils zellenartigen Amtsstuben irritiert<br />

erst mal. Aber im Grunde ist das hier<br />

keine schlechte Attraktion, nicht so rausgeputzt<br />

wie das Brandenburger Tor und<br />

auch nicht so abgelatscht wie der Checkpoint<br />

Charly.<br />

Im KFZ-Amt gibt es was zu sehen.<br />

Täglich werden hier etwa 500 Kunden<br />

und rund 1500 Meldevorgänge<br />

Warteschlange auf den Amtsfluren – immerhin nicht mehr bis auf den Bürgersteig<br />

Trost im tristen Behördenalltag – Zimmerpflanze, Radio, Ventilator<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 143


| S a l o n | B e h ö r d e n a l l t a g<br />

„Wir bedauern ausdrücklich …“ – die Behörde entschuldigt<br />

sich für das Treiben vor ihren Türen<br />

Fachlektüre im Wartesaal – irgendwie muss man die Zeit ja herumbekommen<br />

abgefertigt von 120 Mitarbeitern, die Unterlagen<br />

prüfen, Daten erfassen, Papiere<br />

ausfertigen, Kennzeichen versiegeln und<br />

Einzahlungsquittungen prüfen. Der Bildung<br />

zorniger Warteschlangenmobs versucht<br />

das Amt seit über einem Jahr vorzubeugen,<br />

indem es Termine im Voraus<br />

anbietet. Über 40 Prozent der Kunden<br />

nutzen den Service heute, den Publikumsverkehr<br />

hat das entzerrt.<br />

Noch nicht so ganz gelöst dagegen ist<br />

das Problem vor den Türen. „Hey, Kollege,<br />

hier, brauchst du Hilfe? Psst!“, flüstert<br />

ein Mann im Kapuzenpullover vor<br />

dem Haupteingang. „Komm zu uns, ich<br />

mach dir den besten Preis“, ruft ein anderer<br />

vom Straßenrand. „60 für zwei.“ Was<br />

die Männer feilbieten, sind Nummernschilder.<br />

Weil das KFZ‐Amt selber keine<br />

anfertigt, haben sich Dutzende Schilderpräger<br />

in angemieteten, bunten Bürocontainern<br />

auf der Jüterboger Straße niedergelassen.<br />

Sie buhlen um Kundschaft mit<br />

einer Entschlossenheit, die man nur von<br />

den Eis- und Schmuckverkäufern an Mittelmeerstränden<br />

kennt. Aus den Fenstern<br />

der Behörde beobachtet man das Treiben<br />

auf der Straße mit Argwohn. Nicht nur,<br />

weil die Preise im Stundenrhythmus zwischen<br />

Schnäppchen und Wucher schwanken<br />

und das aggressive Werben die Amtsbesucher<br />

verschreckt, sondern auch, weil<br />

unter den Händlern seit Jahren ein Kleinkrieg<br />

schwelt, der bestenfalls in gegenseitigen<br />

Anzeigen ausartet.<br />

Noch ist unklar, ob all das in Kreuzberg<br />

eine Zukunft hat. Der Senat steht<br />

vor der Entscheidung, das denkmalgeschützte<br />

Gebäude zu sanieren oder<br />

die Behörde woanders unterzubringen.<br />

Erst 2008 scheiterte der Plan, in ein<br />

Auto‐Service‐Zentrum in Charlottenburg<br />

umzuziehen, am Widerstand der<br />

Abgeordneten von SPD und Linkspartei.<br />

Ansonsten wäre Berlin schon ärmer,<br />

um eine seiner eigentlichen Attraktionen.<br />

<br />

Constantin Magnis<br />

144 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Verkaufsmeile auf der<br />

Jüterboger Straße – Dutzende<br />

Budenbesitzer handeln<br />

mit Autokennzeichen<br />

„Komm zu uns, ich mach<br />

dir den besten Preis“ –<br />

Autokennzeichendealer<br />

buhlen um Kundschaft<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 145


| S a l o n | K ü c h e n k a b i n e t t<br />

Sushi Bolognese<br />

Der Speiseplan als Objekt der Sozialforschung:<br />

Was bedeutet es eigentlich für den Zusammenhalt<br />

unserer Gesellschaft, wenn gutbürgerliche<br />

Küche nicht mehr als Lebensart gilt, sondern<br />

als gastronomisches Kuriositätenkabinett?<br />

Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />

W<br />

er weiss noch, was hunger ist? Der Berliner Spitzenkoch<br />

Tim Raue behauptet schon im Titel seiner Autobiografie,<br />

in Kindertagen Opfer einer armutsbedingten Unterernährung<br />

geworden zu sein – als handelte es sich bei seinem<br />

Heimatbezirk Kreuzberg um eine Favela, die von den Sozialleistungen<br />

des deutschen Gemeinwesens links liegen gelassen wurde.<br />

Tatsächlich haben Wachstum, sozialer Ausgleich und vor allem die<br />

industrielle Produktion von Lebensmitteln die verfügbare Kalorienmenge<br />

als Maßstab für Arm und Reich entwertet. Trotzdem<br />

lässt sich auch weiterhin die soziale Zugehörigkeit an Speisen ablesen<br />

– es geht aber eher um die Qualität der Nahrungsmittel und<br />

ihre Zubereitung. Ärmliche Verhältnisse sind nicht mehr durch<br />

den Mangel an Fleisch charakterisiert – ganz im Gegenteil: Würste,<br />

Fleischsalat und Grillhähnchen bilden die Nahrungsgrundlage der<br />

Unterschicht. Wer sich auf der sozialen Skala nach oben geboxt<br />

hat, ist skrupulöser, wenn es um den massenhaften Tod von Tieren<br />

für das eigene Wohlbefinden geht; in Familien höheren Standes<br />

finden sich oft vegane Mitglieder.<br />

Die Differenzierung der Bevölkerungsschichten anhand von<br />

Speiseplänen und Rezepten ist ein wenig beackertes Feld der Sozialforschung.<br />

Dabei lässt sich vieles aus Koch- und Haushaltsbüchern<br />

ablesen. Die gutbürgerliche Küche zum Beispiel hat seit<br />

dem Biedermeier eine Lebensart definiert, die zum Leitbild des<br />

gesamten Gemeinwesens wurde. Man denkt an Rouladen mit<br />

Salzkartoffeln, an Gulasch, Königsberger Klopse und Mischgemüse<br />

oder Schweinebraten, Kassler und Sauerkraut: Traditionsgerichte,<br />

die mit viel Bratensoße und Kartoffeln Sättigung versprechen.<br />

Als Würzmittel reichen meist Pfeffer und Salz; höchstens<br />

noch Lorbeer, Muskat und manchmal Paprika runden die Speisen<br />

ab. Diese aufs Fleisch konzentrierte Küche stellte früher den<br />

Alltag der Mittelschicht dar. Der Sonntagsbraten war das Kennzeichen<br />

eines Standes, mit dem sich ganze Familien ihrer gesellschaftlichen<br />

Stellung versicherten. Solange man sich diesen Höhepunkt<br />

der kulinarischen Woche noch leisten konnte, schienen<br />

die Dinge im Lot. Dabei spiegelte die Ausgestaltung des Menüs<br />

die materiellen Verhältnisse und den Bildungsstand wider. In<br />

der oberen Mittelschicht ging etwa noch eine Rindsbrühe mit<br />

Markklößchen voraus und ein Dessert beschloss das Mittagsmahl.<br />

Weiter unten auf der gesellschaftlichen Leiter blieb es zum Beispiel<br />

bei einem Hackbraten ohne Vorspeise und Nachtisch. Ritual<br />

und Rezeptur dieser deutschesten aller Küchen waren aber<br />

überall gleich und stifteten einen Zusammenhalt, der über Kriege<br />

und Krisen hinweg Bestand hatte – als Ideal eines stetig wachsenden<br />

Bürgertums.<br />

Doch jetzt scheint es fast zum Schreckbild einer Generation<br />

geworden zu sein, die ihre Inspirationen aus der ganzen Welt bezieht.<br />

Für jemanden, der mit Pizza, Sushi und Burger groß geworden<br />

ist, stellt das Angebot eines Ratskellers, von dem man die<br />

Traditionsküche seit jeher in Vollendung erwartet, ein nachgerade<br />

abstoßendes Kuriositätenkabinett dar. Deutschlands Mensen<br />

können mit Hühnerfrikassee und Krautwickeln allenfalls noch<br />

das Personal beköstigen – die Studenten bedienen sich aus einem<br />

Mix asiatischer und mediterraner Spezialitäten, zunehmend auch<br />

in vegetarischer Ausprägung. Vor unseren Gaumen entsteht eine<br />

Patchworkküche, die das als eintönig empfundene Gutbürgerliche<br />

mit einer Mobilisierung aller Geschmackssinne beantwortet.<br />

Dieses Sammelsurium aus der Weltküche lässt allerdings einen<br />

übergreifenden Gedanken vermissen. Der Kanon der deftigen<br />

bürgerlichen Küche hat auch für Zusammenhalt gesorgt, nicht<br />

nur am Mittagstisch. Stattdessen steht jetzt eine Beliebigkeit auf<br />

dem Menü, die zwar Weltläufigkeit suggeriert, aber eine Identität<br />

vermissen lässt.<br />

Es ist diese Identität des Bürgerlichen, auf die die großen Volksparteien<br />

immer gesetzt haben – und für die Zukunft dieser Parteien<br />

ist der Niedergang der traditionellen deutschen Küche ein<br />

Menetekel: Wenn es schon über den Speisezettel keine Einigkeit<br />

mehr gibt, werden die Bürger auch in der Wahlkabine à la carte<br />

bestellen.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

146 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Jaguar und Spiegelei<br />

Der Kölner Mediziner Reiner Speck hortet nicht nur zeitgenössische Kunst, sondern auch Bücher –<br />

speziell über Proust und Petrarca. Ein Bibliotheksbesuch bei einem manischen Sammler<br />

Von Claudia Rammin<br />

148 <strong>Cicero</strong> 11.2012


Foto: Marcus Gloger<br />

Als Sammler ist Reiner Speck wie<br />

Petrarca „sein eigener Bibliothekar<br />

oder Museumswärter“: Bildnis<br />

des Hausherrn mit Hunden<br />

K<br />

eine Hausnummer, kein Namensschild an der Klingel,<br />

auch nicht am von Efeu umwucherten Briefkasten neben<br />

dem Gartentor. Offenbar ist bekannt, wer in der stillen<br />

Straße im noblen Kölner Stadtteil Lindenthal wohnt.<br />

Reiner Speck öffnet die Pforte, an der früher „Dr. Jekyll<br />

und Mr. Hyde“ zu lesen war. Das habe jedoch zu Irritationen und<br />

der Vermutung geführt, hier verberge sich ein Arzt mit obskuren<br />

Obsessionen. Speck entfernte das Schild. Das ironische Spiel mit<br />

Bezügen und Querverbindungen scheint ihm Spaß zu machen:<br />

„Proust nahm im Hotel immer das <strong>letzte</strong> Zimmer links, unser Haus<br />

ist das <strong>letzte</strong> auf der linken Seite.“ Gleich hinter der stattlichen Villa<br />

aus den zwanziger Jahren liegt der Stadtwald und beginnt die von<br />

Speck initiierte „Marcel-Proust-Promenade“, die erste nach dem<br />

Schriftsteller benannte Straße in Deutschland.<br />

Specks kokette Idolatrie für den Franzosen geht so weit, dass<br />

auf seinem Briefpapier statt der Kontonummer „Je hais les correspondances<br />

– Marcel Proust“ steht. Er hasse Briefwechsel, schrieb<br />

der Romancier im Frühjahr 1916 an seinen Freund Lucien Daudet.<br />

Ungeachtet dessen verfasste Proust manisch und atemlos Briefe,<br />

schrieb wie besessen an seiner „Recherche“. Urologe Speck, dessen<br />

Tochter Laura in der fünften Generation die medizinische Tradition<br />

der Familie fortsetzt, ist missionarischer Vorsitzender der<br />

1982 in Köln gegründeten Proust-Gesellschaft. Er produziert ebenfalls<br />

einen nicht abreißenden Strom von Rezensionen, Vorträgen,<br />

Kritiken und Essays über Kunst, Medizin, Literatur. Er hat Bücher<br />

herausgebracht wie „Proust für Gestresste“ – eine Art Hausapotheke<br />

für spezielle Seelenlagen. Seit Jahrzehnten jagt der von<br />

Joseph Beuys im „Dr. Speck Multiple“ Verewigte wie ein Süchtiger<br />

nach allem, was er über den Proust’schen Romangiganten<br />

finden kann. Der 71-Jährige beruft sich dabei auf Goethe: „Und<br />

so liebe ich den Besitz nicht der besessenen Sache, sondern meiner<br />

Bildung wegen.“<br />

Das zweite Objekt seiner Sammel- und Wissensleidenschaft<br />

ist der italienische Humanist und Dichter Francesco Petrarca, der<br />

als einer der ersten obsessiven Bibliophilen schlechthin gilt. Zwischen<br />

Proust und Petrarca liegen Welten und Jahrhunderte, aber<br />

beide „sind in ihrer Zeitzeugenschaft so genial und allumfassend,<br />

dass sie Epochen überragen und überleben“, sagt Speck. Beide<br />

seien Künstler par excellence gewesen, was die Anlage ihres Werkes,<br />

deren Formvollendung, die Selbstreflexion und ihren Ruhm<br />

betreffe. Ein auch heute noch beachtliches Werk sei beispielsweise<br />

Petrarcas „De remediis utriusque fortunae“, von den Heilmitteln<br />

gegen gutes und böses Schicksal, ein Nachschlagewerk mit Zitaten<br />

und einschlägigen Beispielen. Der Enthusiast Reiner Speck<br />

besitzt die erste deutsche Übersetzung von 1532 und freut sich<br />

über sein Beuteglück.<br />

Auf allen Reisen führt ihn der erste Weg ins Antiquariat und<br />

dann erst ins Hotel. Auch „Petrarca pflegte wie ein witternder<br />

Hund vom Weg abzuweichen, sobald er von einem Kloster und<br />

dessen Bücherschatz erfuhr“, erzählt Speck. Heute besucht er Antiquariatsmessen<br />

und ist in Fachkreisen so bekannt, dass vieles an<br />

ihn herangetragen wird – Inkunabeln wie Probleme der Forschung.<br />

Zunächst ist es die Kunst, die den Besucher beim Betreten<br />

des Speck’schen Domizils gleich hinter der Tür in großen Formaten<br />

empfängt: Cy Twombly, der Exlibris für die Büchersammlung<br />

schuf, Sigmar Polke, Marcel Broodthaers. Im anschließenden<br />

Raum keine Bilder mehr, nur noch Bücher, raumfüllend und<br />

deckenhoch in kontorähnlichen dunklen Holzregalen aufgereiht.<br />

Parkettboden, nichts Überflüssiges oder Nebensächliches, lediglich<br />

ein englischer Sekretär – eine Empfangs- und Lesebibliothek<br />

mit Blick in einen parkähnlichen Garten.<br />

Hier stehen die Zeitgenossen, das 19. Jahrhundert und die<br />

klassische Moderne, hier manifestiert sich Specks Literaturbesessenheit<br />

und sein enzyklopädisches Wissen: Bernanos, Bataille,<br />

Houellebecq, Ponge, Roussel, Walser, Wieland. Dazwischen<br />

die erste 1964 erschienene graufarbene Taschenbuch-Werkausgabe<br />

von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Sie<br />

ist gespickt mit weißen Zetteln, die alle medizinischen Stellen<br />

markieren. Dieses „l’univers medical bei Proust ist unglaublich.<br />

Die ‚Recherche‘ bietet das narrative medizinische Wissen und<br />

wird zu Recht von Walter Benjamin als ‚Wissen eines Gelehrten‘<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 149


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Links: eine Trionfi-Handschrift von Petrarca aus dem Jahre 1472; das Bild im Regal zeigt sechs toskanische<br />

Dichter, im Vordergrund Dante und Petrarca, eine Kopie nach Giorgio Vasari um 1570<br />

Mitte: Reiner Speck im Vortragsraum seiner Petrarca-Bibliothek im ehemaligen Wohnhaus des Stararchitekten O. M. Ungers<br />

Rechts: Originalmanuskript von Marcel Proust aus „Im Schatten junger Mädchenblüte“, circa 1914<br />

bezeichnet“, sagt Dr. Speck, der abwechselnd lateinisch, englisch<br />

oder französisch zitiert.<br />

Die Bibliothek ist längst nicht mehr alphabetisch geordnet,<br />

vieles sogar in Dreierreihen hintereinander verstaut. „Irgendwann<br />

einmal musste ich die Bücher den Formaten entsprechend sortieren.<br />

Ich weiß, was ich habe, aber ich weiß nicht, wo es steht“,<br />

sagt Speck. Denn jedes Zimmer des großen Hauses ist bis unters<br />

Dach eine eigenständige Bibliothek. So auch im ersten Stock: Hier<br />

reihen sich umfangreiche Konvolute von Erstausgaben und Autografen<br />

von Louis-Ferdinand Céline neben Gottfried Benn, Alfred<br />

Döblin und Oskar Panizza, dessen „Liebeskonzil“ sogar in der<br />

Originalhandschrift – sämtlich geschätzte Schriftstellerärzte, über<br />

die Speck selbst publiziert hat. Neben einem antiken Bett, in dem<br />

er seit seinem vierten Lebensjahr schläft, türmen sich „manchmal<br />

für die Nacht bis zu 50 Bücher, und am nächsten Morgen ist<br />

doch vieles ungelesen“, sagt Speck resigniert, der sich selbst als<br />

„Bücherfresser“ bezeichnet. Ein einziger Raum ist ohne Buch: das<br />

Esszimmer. Dort hängen ausschließlich sieben großformatige Bilder<br />

mit erotischem Sujet von Pierre Klossowski – <strong>letzte</strong>n Endes<br />

doch nur wieder gemalte Literatur, wie der Gastgeber beinahe<br />

entschuldigend bemerkt.<br />

Schon als Schüler habe er davon geträumt, eine Universalbibliothek<br />

zu haben, die es einem erspart, in öffentliche Bibliotheken<br />

zu gehen. In seinem Zimmer in der elterlichen Villa hatte der<br />

Sohn der als Ärzte tätigen Eltern nicht nur drei, vier Regale an der<br />

Wand, sondern bereits raumhohe Bücherschränke. Es sollte ein<br />

Studiolo sein, ein Bücherspeicher mit der Aura einer Bibliothek.<br />

Die Sammelsucht begann später, schleichend. Als 20-Jähriger stöberte<br />

Speck zu Hause in den Regalen und stieß auf Prousts siebenbändige<br />

Ausgabe; dann blätterte er lustlos in „Tage der Freuden“.<br />

Aber erst bei „Tage des Lesens“ war es um ihn geschehen, und er<br />

wurde zum Proust-Leser und -Sammler. Eine Sternstunde sei der<br />

Moment gewesen, in dem er den Avant-Text, das Originalmanuskript<br />

„Sur la Lecture“, in Paris erwerben konnte.<br />

Die Bibliothek mit schätzungsweise 40 000 Büchern sei ein<br />

„Zeugnis der Kontextualität und Komparatistik, denen ich immer<br />

hinterher bin und die lebenslang meine Lesegewohnheiten<br />

bestimmt haben“. Aus Platzmangel „transplantierte“ Speck Anfang<br />

des Jahres die beiden Herzkammern seiner Bibliothek, die<br />

monomanisch aufgebaute „Bibliotheca Proustiana“ und die weltweit<br />

größte private „Bibliotheca Petrarchesca“, in die Casa senza<br />

qualità im nahe gelegenen Stadtteil Müngersdorf. Es handelt sich<br />

hierbei um das „architektonische Manifest“ des Kölner Stararchitekten<br />

O. M. Ungers, das dieser selbst bis zu seinem Tod bewohnte.<br />

Mehr als hundert Proust-Briefe, zahlreiche Manuskripte, private<br />

Dokumente und bibliophile Kostbarkeiten, illuminierte<br />

Handschriften auf Papier und Pergament, Frühdrucke berühmter<br />

Vorbesitzer haben am zweiten Standort der Speck’schen Bibliothek<br />

ein Refugium gefunden. Doch so etwas gehe nicht ohne<br />

Opfer. Das größte sei der Verzicht darauf, jedes Buch immer und<br />

sofort greifbar zu haben. Erworben hat Speck das Haus, auch Sitz<br />

der „Dr. Speck Literaturstiftung“, um darin „die Einmaligkeit meiner<br />

Obsession für die Nachwelt zu konservieren“, gleichzeitig betonend,<br />

diese Diktion entspreche nicht seiner Bescheidenheit. Ironische<br />

Distanz gegenüber sich selbst scheint bei Speck auch immer<br />

auf Erhöhung der Distinktion angelegt.<br />

Überhaupt, wie hat er sein Sammeln finanziert? Der freudige<br />

Verzicht auf die als banal eingeschätzten Begehrlichkeiten habe<br />

sein ganzes Leben geprägt. Der Arztberuf habe ihn zur „inneren<br />

und äußeren Disziplin“ gezwungen. „Ich bin kein Restaurantläufer,<br />

Luxushotels langweilen mich. Ich fahre immer zweiter Klasse<br />

und seit Jahrzehnten mit dem Fahrrad, selbst Hausbesuche habe<br />

ich damit gemacht.“ Und der Jaguar vor der Tür? „Ich habe immer<br />

alte, längst überholte Modelle.“ Der Wagen sei eine fahrende<br />

Hundehütte für Dobermann und Weimaraner. Ein feines, süffisantes<br />

Lächeln umspielt seine Lippen, als Speck sagt: „Meine Lebensformel<br />

ist eben Jaguar und Spiegelei.“ Seine Obsession sei ein<br />

<strong>letzte</strong>s Aufbegehren gegen den Verlust der Aura einer Bibliothek,<br />

die die Summe alles je von ihm Gelesenen ist. Und am Ende sei<br />

er als Sammler – wie von Proust vorgeschlagen – nicht Leser seiner<br />

selbst, sondern wie Petrarca „sein eigener Bibliothekar oder<br />

Museumswärter“.<br />

Claudia Rammin<br />

lebt als freie Journalistin in Hamburg<br />

Fotos: Marcus Gloger, Privat (Autorin)<br />

150 <strong>Cicero</strong> 11.2012


leine? los!<br />

Es gibt ein Leben nach der Cebit und vor der Hannover-Messe: dann präsentiert Hannover der Welt keine Produkte, sondern sich selbst.<br />

Niedersachsens Hauptstadt gehört zu den grünsten Städten Deutschlands, und ein Juwel unter den europäischen Parkanlagen sind<br />

die Herrenhäuser Gärten. Dort wird in Kürze auch das Herrenhäuser Schloss, die<br />

Sommerresidenz der Welfen, neu erstanden sein. Sehenswert auch die backsteingotische<br />

Marktkirche, das Alte Rathaus, der Erlebnis-Zoo. Außerdem stellt MERIAN die Kestner-<br />

Gesellschaft vor. im guten buch- und zeitschriftenhandel. per telefon<br />

unter 0 40/87 97 35 40 oder www.meranshop.de


| S a l o n | D a s S c h w a r z e s i n d d i e B u c h s t a b e n<br />

So ist das<br />

Auch die Beschreibung der Trostlosigkeit tröstet: ein Film und<br />

drei Bücher über den Tod und die rettende Kraft des Erzählens<br />

Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />

E<br />

s ist November, und es ist düster.<br />

Da können wir auch gleich über<br />

den Tod nachdenken. Vielleicht<br />

ändert sich gerade etwas an unserer Art,<br />

das zu tun. Vielleicht haben wir das Michael<br />

Haneke zu verdanken und seinem<br />

großen Film „Liebe“, der vom Ende einer<br />

Liebe durch Eintritt des Todes handelt.<br />

Diesen Film muss man gesehen haben.<br />

Was wir uns ansehen dürfen, darüber<br />

können wir reden. Worüber man reden<br />

kann, das muss man nicht mehr verdrängen.<br />

Bei Haneke darf man sich das hässliche<br />

Alter in seiner ganzen Würde ansehen.<br />

Die Bilder sind statisch: Die Kamera<br />

tut uns nicht den Gefallen wegzublicken.<br />

Wir werden nicht abgeschoben ins Jugendzentrum<br />

der wackelnden Handkamera, die<br />

uns unter Empathiezwang setzt, wir dürfen<br />

selber hinsehen. Auch uns lässt man<br />

so unsere Würde.<br />

Bei Hanser Berlin ist das schöne Buch<br />

zum Film erschienen. Es enthält Szenenfotos,<br />

das Drehbuch, Faksimiles von dessen<br />

Drehfassung und einen geradezu endgültig<br />

klugen Essay von Georg Seeßlen.<br />

Der Umschlag ist leicht, das Papier schwer<br />

und teuer (Michael Haneke: „Liebe – Das<br />

Buch“; Hanser Berlin, Berlin 2012; 208 Seiten,<br />

19,90 Euro). Man kann jetzt also noch<br />

einmal nachsehen und nachlesen. Und<br />

auch bei diesem zweiten Durchgang auf Papier<br />

beeindruckt der Stoizismus des alten<br />

Mannes, der seine sterbende Frau pflegt,<br />

besonders. Die Tochter rebelliert gegen den<br />

Tod, sie will nicht von der Mutter verlassen<br />

werden, es muss doch etwas geben, was man<br />

tun kann! Der Vater, Georg, weiß, dass man<br />

nichts machen kann als aushalten. Jeder seiner<br />

Blicke sagt: So ist das eben. Und dann<br />

sagt er: „Können wir jetzt von etwas anderem<br />

reden?“ Darin liegt seine ganze Würde<br />

und die seiner Frau. Und um den Schutz<br />

dieser Würde geht es, vor den Zudringlichkeiten<br />

der Jüngeren, die da pflegen und waschen<br />

und putzen kommen wollen, damit<br />

sie sich besser fühlen, und die dann sagen:<br />

„Willst du nicht noch einen anderen Arzt<br />

zu Rate ziehen?“<br />

Die <strong>letzte</strong> Szene schenkt Haneke der<br />

Tochter, Eva. Sie streift allein durch die verlassene<br />

Wohnung der Eltern. Sie setzt sich.<br />

Sie sitzt da. Mehr ist nicht mehr zu tun. So<br />

ist das eben. Es braucht eigentlich keinen<br />

anderen Satz als diesen, um uns von unserem<br />

bizarren Umgang mit dem Tod zu heilen.<br />

Wir verkitschen so gern! Und wie unter<br />

Zwang schieben wir dann die Alten ins<br />

Pflegeheim ab, um ihn weiter verdrängen<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

152 <strong>Cicero</strong> 11.2012


foto: Loredana Fritsch<br />

zu dürfen, so als wollten wir sie in Folterknästen<br />

dafür bestrafen, dass sie uns an das<br />

Ende erinnern. Nur um dieses „So ist das<br />

eben“ nicht hören zu müssen.<br />

Einmal denkt man, der Film „Liebe“<br />

könnte doch noch von etwas anderem<br />

handeln als von Liebe und Tod, nämlich<br />

vom Leben. Die <strong>letzte</strong> Geschichte aus seiner<br />

Kindheit, die Georg seiner gelähmten<br />

Frau Anna erzählt (denn vom Geschichtenerzählen<br />

handelt dieser Film natürlich<br />

auch), ist eine von der Trostlosigkeit des<br />

Lebens. Der kleine Georg ist im Ferienlager,<br />

und er ist sehr unglücklich. In einer<br />

Revolte seines Körpers gegen sein Unglück<br />

wird er schwer krank. Als die Mutter endlich<br />

kommt, um ihn zu erlösen, kann sie<br />

nicht zu ihm: Man hat ihn ins Krankenhaus<br />

gebracht, auf die Isolierstation, und<br />

sie darf nicht zu ihm. Das Leben ist ein Gefängnis,<br />

man bleibt allein. Es gibt keine Erlösung.<br />

Dann greift Georg zum Kissen, um<br />

Anna zu erlösen.<br />

***<br />

Édouard Levés Buch „Selbstmord“ ist ein<br />

eisklares Werk über die Trostlosigkeit des<br />

Lebens (Édouard Levé: „Selbstmord“; aus<br />

dem Französischen von Claudia Hamm,<br />

Matthes & Seitz, Berlin 2012; 112 Seiten,<br />

17,90 Euro; als E‐Book 9,99 Euro). Es ist<br />

eine Hommage an einen Jugendfreund<br />

des Autors, der sich mit 25 Jahren umgebracht<br />

hat, und nach der Fertigstellung<br />

hat er sich selbst das Leben genommen.<br />

Das ist der Horrormoment, den man bei<br />

der Lektüre des Klappentexts erleidet. Bei<br />

Haneke gehören die Hauptfiguren noch<br />

zu „uns“, man kann sie verstehen und sich<br />

in sie einfühlen. Levé beschreibt eine Störung,<br />

einen Menschen, den Depression<br />

und vielleicht auch ein Hauch von Autismus<br />

unheilbar von seiner Umwelt trennen.<br />

Er ist zur Fremdheit verurteilt. „Vielleicht<br />

warst du … eine Zufallserscheinung<br />

der Evolution. Eine kurzzeitige Anomalie,<br />

die nicht dazu bestimmt war, noch einmal<br />

aufzutreten.“<br />

Vielleicht. Ein Rätsel. Wenn man sich<br />

darauf einlässt, ist es von großer Schönheit.<br />

Auch das Herrische, das in der Entscheidung<br />

des Selbstmörders liegt, die Eitelkeit,<br />

die hier so klassisch französisch auf<br />

herrische Weise gefeiert wird, ist natürlich<br />

schön. Levés Erzählung stilisiert das Leid<br />

der Hauptfigur zum Ausdruck einer unbarmherzigen,<br />

heroischen Haltung: „Du<br />

bist gestorben, weil du das Glück suchtest –<br />

auf die Gefahr hin, die Leere vorzufinden.“<br />

Uns erlaubt diese Geschichte den süßen<br />

Schauder der Frage, ob „wir“, die Gemeinschaft<br />

derer, die sich für lebensfähig halten<br />

und das einander tagein, tagaus sportlich<br />

beweisen, wirklich so anders sind als dieses<br />

verlorene, gestörte Wesen und sein selbstmörderischer<br />

Erfinder. Ob wir uns nicht<br />

alle das erlösende „Wir“ immer wieder nur<br />

einbilden und am Abgrund des völligen<br />

Abgetrenntseins vorbeischrammen. Wieder<br />

ist es das Aussprechen und Beschreiben,<br />

das uns Trost spendet und Halt gibt.<br />

Auch die Beschreibung der Trostlosigkeit<br />

tröstet. Erzählen rettet. Nur den Erzähler<br />

selbst in diesem Fall nicht.<br />

***<br />

Der alte und beinahe vergessene König<br />

Mansolin ist todkrank. In seiner kupfernen<br />

Burg in den kupfernen Bergen hat er nur<br />

noch einen Diener, den Hasen. Der Wunderdoktor<br />

muss die richtige Medizin holen<br />

gehen. Und bis er wiederkommt, gibt<br />

es nur einen Weg, den König am Leben zu<br />

erhalten: Die Tiere müssen ihm Geschichten<br />

erzählen. So steht es in einem Kinderbuch<br />

von Paul Biegel (Paul Biegel: „Eine<br />

Geschichte für den König“; aus dem Niederländischen<br />

von Lotte Schaukal, mit Illustrationen<br />

von Linde Faas; Verlag Urachhaus,<br />

Stuttgart 2012; 158 Seiten, 14,90 Euro).<br />

In Büchern für Kinder, die natürlich alles<br />

über Trostlosigkeit wissen, ist das Trösten<br />

ja ganz offen erlaubt. Deshalb sind sie<br />

oft so schön. In diesem werden von den<br />

Tieren viele kleine Lebensweisheiten in die<br />

Geschichten eingeschmuggelt (die Giraffe<br />

will dem Eichhörnchen zum Beispiel nicht<br />

helfen, den verlorenen Sohn zu finden,<br />

und muss also ausgetrickst werden). Und<br />

wenn die Illustrationen nicht ganz so verschnarcht<br />

wären, dann wäre dies bestimmt<br />

das schönste Buch des Winters. Aber man<br />

kann nicht alles haben, liebe Kinder! „So<br />

ist das“, würde Georg in Michael Hanekes<br />

Film vielleicht sagen. Wir leben und erzählen<br />

einander Geschichten. Dann sterben<br />

wir. Können wir jetzt von etwas anderem<br />

reden?<br />

Robin Detje<br />

lebt als Autor, Übersetzer und<br />

Performancekünstler in Berlin<br />

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uns sehen<br />

Manchmal kennen uns andere<br />

Menschen besser als wir uns<br />

selbst. Unsere Selbsterkenntnis<br />

hat ihre Grenzen. Wie können<br />

wir Selbstbild und Fremdbild<br />

in Übereinstimmung bringen?<br />

+ Wie traumatisch sind<br />

Beschneidungen?<br />

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11.2012 <strong>Cicero</strong> 153<br />

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154 <strong>Cicero</strong> 11.2012


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

Lauter <strong>letzte</strong> Lieder<br />

Er glaubt nicht ans Paradies. Deswegen feiert Rainald Grebe das<br />

Leben am Ende „mit allen Poren und Ableitungen“<br />

Foto: Christoph Busse<br />

I<br />

ch habe mal ein Lied geschrieben,<br />

in dem jemand einen Brief<br />

bekommt, in dem steht: Das ist<br />

dein <strong>letzte</strong>r Tag. So eine Nachricht erwischt<br />

einen immer kalt, und man fragt<br />

sich: Mache ich jetzt so weiter wie bisher?<br />

Zahnarzt? Online-Banking? Sofa waschen?<br />

Oder will ich jetzt all das nachholen,<br />

was ich versäumt habe? Koks?<br />

Nutten? Baum pflanzen? Das würde ja<br />

heißen, dass alles bisher falsch war. Über<br />

so etwas denke ich eigentlich ständig<br />

nach: was uns zum Glück fehlt oder zum<br />

guten Leben. Ich suche und sammle und<br />

knalle mein Bilderbuch voll mit extremen<br />

Momenten. Haben, Haben, Haben! Vielleicht<br />

liegt darunter ja auch die Angst vor<br />

dem Nichts. Entspannen, wie das andere<br />

immer erzählen, kann ich nicht. Da fühle<br />

ich mich nicht wohl.<br />

Der <strong>letzte</strong> Tag beginnt eigentlich mit<br />

der Nacht davor. Da war ich lange weg<br />

mit Freunden und stehe dann verkatert<br />

auf. Ich bin auf dem Land, in Brandenburg,<br />

es ist ein erstaunlich warmer Spätsommertag<br />

mit Wespen und Spinnweben.<br />

Ich trinke Kaffee und rauche, wie<br />

ich es immer zum Frühstück tue. Aber<br />

intensiver, sauge mich an den Objekten<br />

richtig fest und herze sie, weil sie mich<br />

bald nicht mehr haben. Mit einem dicken<br />

Brunch oder Frühstücksbuffet brauche<br />

ich jetzt auch nicht mehr anzufangen.<br />

In seine Bühnenshows packt der<br />

Theaterregisseur und Liedermacher<br />

Rainald Grebe, 41, gern so viel<br />

Leben wie möglich. Er sammelt<br />

manisch alles Menschliche<br />

und Alltägliche und tackert es<br />

dadaistisch zusammen. Mitte<br />

Oktober erscheint sein neues<br />

Album „Das Rainald Grebe Konzert“<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

Draußen sitzen meine Leute und erinnern<br />

sich an die wilde Nacht, wie schön<br />

es doch war und wie betrunken alle waren<br />

und wer mit wem in der Kiste war.<br />

Ich habe mein altes Grammofon aufgebaut<br />

und lege Platten von Maria Callas,<br />

Enrico Caruso und Hans Albers auf.<br />

Später dann Jimmy Hendrix, Billy Joel<br />

und ein paar alte Sachen von Elton John.<br />

Neue Deutsche Welle vielleicht noch<br />

und natürlich „Bakerman“ – das kann<br />

ich eigentlich immer hören. Wir würden<br />

dann alle am Frühstückstisch tanzen und<br />

mitgrölen.<br />

Irgendjemand hätte Pilze dabei, die<br />

wir uns einfahren und die mir einen Vorgeschmack<br />

auf das geben, was nach dem<br />

Ende nicht kommt: das Paradies. Wir gehen<br />

auf eine Art von Reise, an die ich<br />

schöne Erinnerungen habe. Alle Farben<br />

der Natur leuchten, und die Zeit steht.<br />

Wir schwimmen und haben Sex und liegen<br />

im Schilf, bis wir keine Lust mehr auf<br />

diese ganze Stille haben. Dann steigen<br />

wir in drei Helikopter und fliegen in die<br />

Hauptstadt der Gefühle. Große Pose, das<br />

muss schon sein. Wir kreisen über Berlin,<br />

über der Waldbühne. Da stehen schon<br />

die Massen und warten auf den <strong>letzte</strong>n<br />

Akt. Alle wissen Bescheid. Ich singe meine<br />

Lieder mit all den Leuten, mit denen ich<br />

gern gespielt habe. Das Gefühl, dass etwas<br />

Einmaliges, Letztmaliges passiert, schwebt<br />

in der Luft, aber niemand sagt es. Bei<br />

meinem Atheisten-Ende wird das Leben<br />

mit allen Poren und Ableitungen gefeiert,<br />

denn danach ist das Nichts. Ich springe in<br />

die Menge, lasse mich tragen, verbrenne<br />

mich an Wunderkerzen und Feuerzeugen.<br />

Es riecht nach Schweiß und Verschwendung.<br />

Aber das macht alles nichts mehr,<br />

denn es ist sowieso gleich vorbei.<br />

Und dann sind alle plötzlich weg.<br />

Leere Bühne, alter Whisky, eine <strong>letzte</strong><br />

Zigarette. Ich habe alles noch einmal<br />

gefühlt, alle noch einmal gesehen, ich<br />

habe alle Leuchtstäbe noch einmal abgebrannt.<br />

Und dann, erst dann, fühlt sich<br />

die Einsamkeit auch schön an, nach dem<br />

Inferno.<br />

Aufgezeichnet von Greta Taubert<br />

11.2012 <strong>Cicero</strong> 155


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

So nicht, Brüder!<br />

Von Alexander Marguier<br />

M<br />

al ganz ehrlich, wie war Ihre erste Reaktion auf die<br />

Bekanntgabe des diesjährigen Friedensnobelpreisträgers?<br />

Kopfschütteln? Hohngelächter? Ein zynischer<br />

Kommentar? Ich vermute, kein EU-Bürger hat vor Freude einen<br />

Luftsprung gemacht, als die Nachricht ihn erreichte. Eher beschlich<br />

einen doch das Gefühl, so etwas wie die <strong>letzte</strong> Salbung<br />

zu erleben: Drei Kreuze und ein Halleluja, möge der Patient in<br />

Frieden ruhen. De mortuis nil nisi bene. In der Tat mutet es einigermaßen<br />

grotesk an, dass ausgerechnet ein Komitee aus ehemaligen<br />

norwegischen Spitzenpolitikern diese Auszeichnung an<br />

eine Gemeinschaft vergibt, zu der zu gehören die eigene Bevölkerung<br />

zwei Mal abgelehnt hat. Und wenn in Norwegen morgen<br />

ein drittes Referendum über einen EU-Beitritt abgehalten<br />

würde, bekäme die Nein-Fraktion unter Garantie noch deutlich<br />

mehr Zulauf als beim <strong>letzte</strong>n Versuch: 52,2 Prozent waren es im<br />

Jahr 1994 – wohlgemerkt zu einer Zeit, da kein Wölkchen den<br />

Himmel über der Europäischen Union zu trüben schien. (Wie<br />

die Deutschen in dieser Frage abstimmen würden, wenn man<br />

sie denn ließe, darüber wollen wir an dieser Stelle ohnehin besser<br />

schweigen.)<br />

Und dann auch noch die aberwitzig scheinende Begründung,<br />

die uns der Osloer Rat der Friedensfreunde über die Grenze hinweg<br />

zuruft: „Die Arbeit der EU repräsentiert eine Bruderschaft<br />

zwischen den Nationen“, heißt es da zum Beispiel. Schon klar,<br />

wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.<br />

Oder meinen die das ernsthaft so? Dann wären wir und unsere<br />

mediterranen Brüder (und Schwestern) zumindest ein interessanter<br />

Fall für die gerade in Norwegen mit besonderer Überzeugung<br />

praktizierte Familientherapie.<br />

In dieser Art und Weise könnte ich jetzt noch seitenlang weiterschreiben<br />

– eine verächtliche Passage an die nächste reihen,<br />

garniert mit den ubiquitären Empörungsschlagworten wie „Bürokratiemonster“,<br />

„Regulierungswahn“, „Schuldenunion“ oder<br />

„Demokratiedefizit“. In Wahrheit ist es eine Schande, dass den<br />

meisten von uns, für die „Krieg zwischen Deutschland und<br />

Frankreich undenkbar“ ist, wie das Nobelpreiskomitee völlig zu<br />

Recht feststellt, der Defätismus ganz besonders leicht fällt, wenn<br />

von den europäischen Institutionen die Rede ist. Das geht auch<br />

mir so und funktioniert besonders prächtig in meiner Branche,<br />

dem Journalismus. Es soll nichts beschönigt werden, wo es<br />

nichts schönzureden gibt – aber warum eigentlich war selbst seriösen<br />

Medien über viele Jahre hinweg die berühmt-berüchtigte<br />

(und längst abgeschaffte) Vorschrift zum Krümmungsgrad von<br />

Gurken wichtiger als eine kontinuierliche Berichterstattung über<br />

die vielen von der EU in Gang gesetzten Reformen? Weil das<br />

Spiel mit der Empörung aber offenbar so gut funktioniert, spielen<br />

auch Politiker in den Mitgliedstaaten eifrig dabei mit – und<br />

schieben nur allzu gern „Brüssel“ den Schwarzen Peter zu, um<br />

von eigenen Versäumnissen abzulenken.<br />

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat es mit<br />

seinem unlängst erschienenen Buch „Der europäische Landbote“<br />

auf sich genommen, gängige Vorurteile gegenüber der EU und<br />

ihren Behörden zu hinterfragen und geradezurücken. In den<br />

Amazon-Verkaufscharts steht er damit irgendwo um Platz 1000.<br />

Thilo Sarrazins Titel „Europa braucht den Euro nicht“ hingegen<br />

war selbstredend ein Bestseller.<br />

Keine Frage, der Friedensnobelpreis für die EU ist etwas anderes<br />

als ein Meistertitel bei der EM: Große Emotionen weckt diese<br />

Trophäe trotz der vom Komitee beschworenen „Bruderschaft zwischen<br />

den Nationen“ nicht. Aber vielleicht sollten wir bei Gelegenheit<br />

einmal darüber nachdenken, warum uns die Fußballnationalmannschaft<br />

wichtiger ist als ein Europa ohne Krieg.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

156 <strong>Cicero</strong> 11.2012


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MONARCHIE Die Residenz der Preußen-Könige<br />

INDUSTRIE Aufstieg der Arbeiterbewegung<br />

OST-BERLIN Honeckers Streben nach „Weltniveau“<br />

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