208 Jtirgen Osterhammel <strong>Wirtschaftliche</strong> Elitenlmlturen <strong>im</strong> <strong>neuzeitlichen</strong> <strong>China</strong> 209 gerlicbes und konservatives Banausentum aus. 4 3 Dass man sich vielfach in der praktiscben, aber deutlich reduzierten Sprache des Pidgin-Englisch verstiindigte, unterstreicht die Distanz sowohl zur chinesischen wie zur westlichen Hochkultur die in der Zwischenzone der Vertragsbafen vorherrschte. Die viel wichtigere~ Agenten .kulturellen Transfers waren die Mission are und ihre chinesischen Schuler insbesondere in den groBen und oftmals auf hohem Nivcau arbeitenden M issions~ universitaten und medizinischen HochschuJen des frtihen 20. Jahrhunderts. Dane ~n spielten c~ines_ische returned students, die in den USA, Japan und Europa studiert batten, eme unmer groJ3ere Rolle. Das Mischmilieu der Treaty Ports verschwand mit dem <strong>im</strong> Dezember 1941 beginnenden Pazifischen Krieg. Wiihrend des Krieges wurden die rechtlichen Privilegien der Auslander, vor allem die Extraterritorialit:at, aufgehoben; nach dem Krieg versuchte niemand, sie wieder herzustellen. t:Jur in Hongkong iiberlebten Rud<strong>im</strong>ente. In der Volksrepublik <strong>China</strong> war die westhebe Geschaftsprasenz amEnde des Jahres 1952 vollk:ommen verschwunden; der westliche Kapitalismus war in dem neuen sozialistischen Staat radikal aetilgt worden.44 Spate~ tens 1958 gab es auch k<strong>eine</strong>rlei chinesisches Privateigent~m , an den Produktionsmitteln" mehr. Wichtiger fur die Folgezeit war <strong>eine</strong> Entwicklung, die <strong>im</strong> zweiten Jahrzehnt des 20_. Jahrhunderts einsetzte: das Aufkommen <strong>eine</strong>r kommerzieUen Mittelschicht jenselts des Kompradorentums. Ihr wichtigstes Element war <strong>eine</strong> chinesische Unterne~erschaft. die sich in fiinf Rereichen besonders erfolgrcich bct!itigtc: dcr Rccderel, dem Bankenwesen, der Leichtindustrie (Baumwolle, Zementfabriken, Miihlen, verarbeitete Agrarexporte, Tabak, Streichholzer, usw.), dem groBbetrieblichen Ei.nzelhandel (Warenhauser) und dem Presse- und Verlagswesen.45 Mit diesem Aufbliihen modern organ.isierter, den westlichen und japanischen Finnen oft konkurrenzfabig entgegentretender Geschaftszweige war die Verbreitung entsprechender Berufsrollen verbunden: des Managers, des Bankiers oder des aufWirtschaftsdinge spezialisierten An waits, der gleicherma£en das chinesische wie das westJiche Recht iiberblicken musste. 46 43 D~. betont besonders R~bert A. Bickers, Shanghailanders: The Formation and Identity of the Bnush SettlerCommunuy in Shanghai,1842-1937,in: Pa.~t & Present 159, 1998,S. l 6l-211; ders., Britain in <strong>China</strong>: Community, Culture and Colonia.lism 1900-1949, Manchester 1999. 44 Beverley Hooper, C hina Stands Up: Ending the Western Presence, 194&-1950, Sydney 1986. 45 Ji Zluwjin,A History of Modem Shanghai Banking: The Rise and Decline of <strong>China</strong>'s Fmance Capitalism, Annonk. 2003; Cheng Linsun, Banking in Modem <strong>China</strong>: Entrepreneurs, Profes- SIOnals and the Development of Chinese Banks, 1897- 1937, Cambridge, Mass. 2003; Evan Erlanson, Domestic Banks in P..conomic Development: Marketing Networks and FiurulciaJ Technologies in Prewar <strong>China</strong>, in: Twentieth-Century <strong>China</strong> 24, 1998, S. 67-118; Chao Kcmg, The Developmeut of Co non Textile Production in <strong>China</strong>, Cambridge, Mass. 1977; Christopher A. Reed, Gutenberg in Shanghai: Chinese Print Capitalism, t876-1937, Honolulu 2004; Sherman G. Cochran , Big Business in <strong>China</strong>: Sino-Foreign Rivalry in the Cigarette Industry, 1890- 1930, ~ambndge , Mass. 1980; ders., Three Roads into Shanghai's Market: Japanese, Western, and Chlllese Companies in the Match Trade, 1895-1937, in: Wakeman/~h (Hrsg.), Shanghai Sojoumers,S. 35-75. 46 Xu Xiaojun, Chinese Professionals and the Republican State: The Rise of Professional Associations in Shanghai, 19l:Z...l937, Cambridge 2001; ders., Between State and Society, Between Die hobe Zeit dieser Entwicklung ticgt zwischen etwa 1915 und 1937, <strong>eine</strong> Periode, die man , das goldene Zeitalter dcr chinesischen Bourgeoisie" genannt hat.47 Das Anfangsdatum ist nicht leicht aufs Jabr genau zu best<strong>im</strong>men. Vieles spricht auch dafiir, 1904, als das erste chinesische Untemehmensgeset-z. (gongsifa) erlassen wurde und damit erstmals Kapitalgese11schaften <strong>eine</strong> juristische Regelung etfuhren, als Wendepunkt zu deuten. Die Bedeutung dieser Neuregelung kann nicht tiberschlitzt werden, denn erst durcb sie wurde ein altes Problem grundsatzlich losbar: wie sich Kapital von (anonymen) Fremden anziehen und damit die Unternehmensfinanzierung auf <strong>eine</strong> breitere Basis als die der ingroaps von Verwandten und Co-Provinzlem stelleo lie8. 48 Das Enddatum ist durch den Beginn der japanischen Invasion Clrinas, die samtliche der groBen Treaty Ports erfasste, eindeutiger marlciert. Einige chinesische Geschaftsleute konnten tatig bleiben, aber unter stark eingeschriinkten Bedingungen und der Notweodigkeit zu weitgehender Anpassung an die Besatzungsmacht.'~9 Auf der Flucht vor den Japanem wurden Vennogen unbekannten AusmaBes nach Hongkong, teilweise wohl auch nacb Stidostasien und in die USA, transferiert. Eine zweite Fluchtwelle von , Kapitalisten" begann, als sich wlihrend des Btirgerkrieges (1946-49) der Sieg der Kommunisten abzeichnete. Vermogen, die unter der Herrschaft von Jiang Kaisheks Guomindang auf dem Festland (1927- 1948/49) in staatsnahen Bereicben (von Kritikern ,btirokratischer Kapitalismus" genannt) angehliuft worden waren, wanderten mit der entmachteten Staatspartci :1uf die Inscl Taiwan. In den chinesischen Vertragshafen der zwanziger und dreiBiger Jahre entstand k<strong>eine</strong> homogene Elitenkultur, die derjenigen des konfuzianischen , allen" <strong>China</strong> entsprochen hatte. Klar ist aber, dass insbesondere in Shanghai Teile der stadtiscben Bevolkerung das Programm <strong>eine</strong>r westlichen Modeme mit chinesiscbem Antlitz ftir sich enlwickelten und realisierten, etwa auf den Gebieten der Untemehmcnsorganisation und der Konsumkultur. Nebeo dem weiteren Ausbau des 1904 begriindeten Wirtschaftsrechts (<strong>eine</strong>m Prozess, der bis heute andauert) begannen in dieser Zeit zum Beispiel die Einflihrung wissenschaftlicher Buchhaltungs- und Bilanzierungsmethoden, die Modemisierung des einhe<strong>im</strong>ischen Banlcwesens, das nun erstmals umfangrcichc Industrie- und Infrastrukturfinanzierungen zu schuJtem <strong>im</strong>stande war, und die institutionelle Festigung des Borsenwesens. Damals wurdenjene kapitalistischen Einrichtungen und Praktiken bcgriindet, die <strong>im</strong> nacbmaoistischen <strong>China</strong> weitbin neu ,erfunden" werden mussten. Fiir die Entfaltung und Festigung <strong>eine</strong>r wirtschaftsbiirgerlichen Elitenkultur war allerdings die Zeit zu kurz. Professionalism and Politics: Tite Sbanghui Bar Association in Republican <strong>China</strong>, 1.912-1937, in: Twentieth Century <strong>China</strong> 24, 1998, S. 1- 29. 47 Marie-Claire Bergere, L'age d'or deJa bourgeoisie chinoise 1911-1937, Paris 1986 (diese groBe Expertin diagnostiziert das Verwelken dieser BlOtezeit <strong>im</strong> Grunde schon 1927 mit dem Machtantritt der Guomindang); vgl. auch dies., Capitalisme et capitalistes en Chine, Paris 2007. 48 David Faure, <strong>China</strong> and Capitalism. A History of Business Enterprise in Modem <strong>China</strong>, Hongkong 2006, S. 43, 46. 49 Parks M. Coble, Chinese Capitalists in Japan·s New Order. The Occupied Lower Yangzi, 1937- 1945. Berkeley 2003.
210 Jiirgen Osterhammel Wenn heute von ,multiplen Modernen" die Rede ist, wird mit Recht irnmer wieder auf das Shanghai jener Zeit verwiesen. Die personalen Riickbindungen an diese Epoche sind aus heutiger Sicht allerdings eher diirftig. Krieg, Biirgerktieg und revolutionare Machteroberung zerstiirten die meisten der damaligen Neubildungen. Nur wenige der groBen privatwirtschaftlichen Vermogen wurden wenigstens teilweise gerettet und in der nachmaoistischen Reformperiode (seit 1978) wieder aktiviert; auch manche untemehmerische Erfahrung wurde biographisch konserviert. Wenn dies geschah, dann auf dem Umweg tiber das Ausland, denn <strong>im</strong> sozialistischen <strong>China</strong> fehlten die Institutionen zur Thesaurierung und Investition von chinesischem- und selbstverstiindlich auch ausliindischem, damals als ,<strong>im</strong>perialistisch" attackiertem - Privatkapital; ebenso wurden biirgerliche Denkweisen und Lebensformen rabiat unterdriickt. Von den literarisch vielfach dokumentierten Erfahrungen der Vorkriegszeit, gewissermaBen dem Mythos Shanghai, blieb vor allem die Erinnerung an <strong>eine</strong> Zeit der Offnung und des Exper<strong>im</strong>ents, die zweifellos auf <strong>eine</strong>n sehr kl<strong>eine</strong>n Teil der Bev6lkerung der Metropole beschriinkt war. Der heutige Wille zur Hypermodernitat, des sen ehrgeizigstes Ziel es ist, New York durch Shanghai als globalen Trendsetter des 21. Jahrhnnderts zu ersetzen, kuiipft an jene zwanziger Jahre an, in denen neben der Elite <strong>eine</strong>r erwerbstiichtigen und konsurnfreudigen Geschaftsbourgeoisie auchjene Gegenelite entstand, die dieser einstweilen den Garaus machen sollte: die intellektuelle Kadertruppe der Kommunistischen Partei. Was an dieser explizitcn Ziticrung von Shanghais ,Erstcr ~1odcrnc" Mythos ist, was Ankniipfung an dokumentierbare Reali tat, ware ein anderes Problem. Die Genealogie der heutigen chinesischen middle class bleibt noch zu schreiben: <strong>eine</strong> riesige Herausforderung an Sozialgeschichte und Soziologie.