Heft 3 / 2013 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
Heft 3 / 2013 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
Heft 3 / 2013 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
PROSA<br />
Meinung dieses Experten noch älter als das<br />
berühmte Inka-Reich gewesen sein, denn als<br />
diese Burschen, die Inkas meine ich, dort das<br />
Sagen übernahmen, hatte die alte Metropole<br />
bereits komplett in Trümmern gelegen. Das<br />
haben sie jedenfalls den Spaniern erzählt, als<br />
die rüberkamen, um sie auszurotten.<br />
Soweit also die Vorgeschichte. Aber nun wird<br />
es wirklich interessant. Die Grabungsarbeiten,<br />
Untersuchungen und deren Auswertungen<br />
brachten keine entscheidend neuen Erkenntnisse<br />
über die prähistorischen Vorgänge,<br />
sodass man aufgeben wollte. Der Grabungsleiter<br />
ließ schon alles wieder zusammenpacken,<br />
als mein Besucher kurz vor der Abreise<br />
einen Traum hatte, der ihm wie eine Vision<br />
vorkam, die von ihm Besitz ergriff. Darin sei<br />
er selbst ein kleiner Junge des bolivianischen<br />
Stammes der Aymara gewesen, die sich für die<br />
Nachfahren der Ureinwohner von Tiahuanaco<br />
halten. Stell dir vor, er sieht und erlebt sich als<br />
ein Eingeborener Aymara-Junge, aber – und<br />
dies hält er für das Entscheidende – nicht in<br />
der gegenwärtigen Zeit, sondern vor mehr als<br />
zehntausend Jahren. Woher er das weiß? Keine<br />
Ahnung, aber er ist davon völlig überzeugt,<br />
weil er in dieser Vision die alte Kulturmetropole<br />
völlig unzerstört und voller Leben wahrnimmt.<br />
Der Träumende erfährt sich nun als ungefähr<br />
Zehnjährigen, der verbotenerweise und<br />
von niemandem beobachtet auf das Dach<br />
eines großen Tempels geklettert ist. Dort<br />
oben nun kann er durch ein größeres Loch in<br />
der Dachkonstruktion in das Tempelinnere<br />
schauen, wo gerade eine heilige und geheime<br />
Zeremonie stattfindet. Die dort unten versammelten<br />
Priester veranstalten mit seltsamen unbekannten<br />
Instrumenten einen betäubenden<br />
Lärm, dessen Schallwellen und damit ausgelösten<br />
Vibrationen dem Jungen fast unerträgliche<br />
Schmerzen verursachen. Als er es kaum<br />
noch aushalten kann und sich anschickt hinunterzuklettern,<br />
entdeckt er, dass sich einige<br />
der schweren Steinplatten knirschend verschieben<br />
und plötzlich große Risse bekommen. Das<br />
Tempelgebäude, ohne Mörtel und von kundiger<br />
Steinmetzhand zusammengesetzt, beginnt<br />
in ihrem Gefüge instabil zu werden.<br />
Der Junge, also unser Archäologe sozusagen,<br />
entdeckt, dass der Tempel gerade dabei ist, die<br />
versammelte Priesterschaft – auch sein Vater ist<br />
unter ihnen – in kürzester Zeit zu erschlagen<br />
und unter sich zu begraben, ausgelöst durch<br />
die infernalischen Schwingungen der unerträglichen<br />
Musik, wenn man diesen Krach noch so<br />
bezeichnen will.<br />
Was meinst du, was der Bub jetzt macht? Er klettert<br />
eiligst wieder hinunter, rennt nachhause,<br />
schildert in großer Hast seinem alten Großvater<br />
die Beobachtung und die Gefahr und macht ihn<br />
mit seinem Rettungsplan, den er sich in aller Eile<br />
zurechtgelegt hat, bekannt: Da kein Sterblicher<br />
die heilige Zeremonie stören darf, kann nur ein<br />
ungewöhnlicher Vorgang die Versammlung<br />
aus dem Tempel locken, bevor dieser zusammenfällt.<br />
Der Junge erklärt dem Alten, dass eine<br />
Tabu-Verletzung unerhörten Ausmaßes her<br />
muss. Der Großvater solle gewaltsam in den<br />
Tempel eindringen und die Priester davon unterrichten,<br />
dass der Enkel soeben in die Heilige<br />
Höhle gestiegen ist, wo nach alter Tradition die<br />
betagten Priester sich hineinbegeben, wenn sie<br />
merken, dass ihre letzte Stunde naht, also in eine<br />
unantastbare Sterbehöhle gehen. Aus der Höhle<br />
ist noch keiner wieder zurückgekommen, und<br />
niemand weiß daher, wie der Innenraum aussieht.<br />
Der Junge ist nun überzeugt, dass ein solcher<br />
Frevel, den er auch auszuführen gedenkt,<br />
die Versammlung augenblicklich aufzulösen<br />
vermag. Und so geschieht es. Der Großvater<br />
scheucht mit seiner aufregenden Mitteilung an<br />
die Priester diese aus dem Tempel; alle wollen<br />
nun zu der Höhle, um das Ungeheuerliche noch<br />
zu verhindern. Kaum ist der Letzte aus dem<br />
Tempel gerannt, da stürzt dieser mit Getöse in<br />
sich zusammen. Entsetzt halten alle Beteiligten<br />
inne und erkennen, dass sie durch ein Wunder<br />
gerettet worden sind; keiner ist zu Schaden<br />
gekommen.<br />
Der Junge ist in der Zwischenzeit in das verbotene<br />
Heiligtum eingedrungen, irrt durch die<br />
dunklen Gänge und findet den Ausgang nicht<br />
IGdA aktuell, <strong>Heft</strong> 3 (<strong>2013</strong>) Seite 12