Prof. Dr. Heinz Schirp: "Wie 'lernt' unser Gehirn?" - Iserlohn
Prof. Dr. Heinz Schirp: "Wie 'lernt' unser Gehirn?" - Iserlohn
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<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Heinz</strong> <strong>Schirp</strong><br />
<strong>Iserlohn</strong> 26-06-2013 / Handout zum Vortrag<br />
„<strong>Wie</strong> ‘lernt‘ <strong>unser</strong> <strong>Gehirn</strong>?“<br />
Neurodidaktische Zugänge zur Lern- und Unterrichtsentwicklung<br />
Unser <strong>Gehirn</strong><br />
I. Neuronale Selbstorganisation<br />
1 ist arbeitsteilig organisiert! Es verarbeitet (enkodiert) und vernetzt Informationen; dies führt zu<br />
Repräsentationen im <strong>Gehirn</strong> in Form von neuronalen Netzwerken;<br />
2 ist auf Rückmeldung und Erfolg angewiesen, um aus Erfahrungen zu lernen und durch <strong>Wie</strong>derholungen<br />
erfolgversprechender Aktivitäten leistungsfähiger werden zu können;<br />
3 verarbeitet implizite und explizite Wahrnehmungen und vernetzt sie; entsprechend gibt es in<br />
<strong>unser</strong>en Gedächtnissen deklarative und nichtdeklarative „Wissensbestände“, auf die das <strong>Gehirn</strong><br />
beim Verarbeiten und Lernen zurückgreifen kann;<br />
4 unterdrückt bei der Verarbeitung von Eindrücken mehr Informationsanteile, als es sinnlich<br />
wahrnimmt. Auswahlprinzipien sind u.a. Neuigkeitswert, Relevanz und Sinnhaftigkeit;<br />
5 arbeitet im engen Verbund von Kognition und Emotion; Emotionen spielen eine ganz entscheidende<br />
Rolle bei Verarbeitungs-, Speicher- und Erinnerungsprozessen;<br />
6 ist nutzungsabhängig; es verarbeitet und strukturiert Wahrnehmungen u.a. auch nach der<br />
Häufigkeit ihres Auftretens und der Stärke ihrer neuronalen Repräsentation;<br />
7 generiert und konstruiert Zusammenhänge, Muster und Modelle durch Vernetzung und durch<br />
Abgleich mit bereits vorhandenen neuronalen Repräsentationen;<br />
8 ist bei nachhaltigen Speicherprozessen darauf angewiesen, dass die zu speichernden Inhalte<br />
Sinn und Relevanz ergeben und für die eigene Entwicklung bedeutsam und viabel sind;<br />
9 lernt „von frühesten Kindesbeine auf“ durch Bewegung und Bewegungskoordination. Beides<br />
ist Grundlage für Lernentwicklung, kognitive, emotionale und soziale Verstehensprozesse<br />
sowie für Orientierungsmuster in Raum und Zeit;<br />
10 ist ein soziales <strong>Gehirn</strong>. Soziale Interaktion und Kommunikation haben sich evolutionär als<br />
höchst wirkungsvoll für Lernen und Entwicklung erwiesen und gehören nach<br />
wie vor zu den effektivsten Bestandteilen gehirnfreundlicher Lernarrangements.<br />
Unser <strong>Gehirn</strong> ist ein sich selbst organisierendes System.<br />
Nachhaltige Lernentwicklung ist darauf angewiesen, dass<br />
Neugier und Aufmerksamkeit hergestellt, bestehende neuronale<br />
Bahnungen aktiviert und Lernprozesse als erfolgreich<br />
wahrgenommen werden können.<br />
---
<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Heinz</strong> <strong>Schirp</strong> Handout zum Vortrag (2)<br />
II. Neuronale Plastizität<br />
Unser <strong>Gehirn</strong> ist neuroplastisch; es lernt und entwickelt sich durch die Auseinandersetzung<br />
mit der Umwelt. Vier „Modi“ neuroplastischer Veränderung, die beim Lernen eine<br />
besondere Rolle spielen sind:<br />
„Expanding“: Bestehende neuronale Netze werden erweitert und mit anderen<br />
Netzstrukturen verbunden.<br />
<br />
„Tuning“: Es werden neue Zusammenhänge hergestellt; auf der Grundlage basaler<br />
Kenntnisse und Wissensbestände entstehen neue Einsichten und Verstehensprozesse.<br />
(Emergenz);.<br />
„Re-Constructing“: Alte kognitive und emotive Routinen, Einstellungen und<br />
Handlungsstrategien werden durch neue, bessere Muster ersetzt.<br />
„Pruning“: Neuronale Potentiale bilden sich zurück, Verbindungen und Zugänge<br />
zu Wissensbeständen verkümmern, „überwuchern“, werden etwa von konkurrierenden<br />
Verarbeitungsprozessen und deren Ergebnisse überlagert.<br />
Unser <strong>Gehirn</strong> ist neuroplastisch! Durch die Auseinandersetzung<br />
mit seiner Umwelt wird es zunehmend differenzierter<br />
und leistungsfähiger. Es ist dabei darauf angewiesen, dass<br />
bestehende sensorische Bahnungen und neuronale Netze<br />
genutzt und durch neue Kontexte ausgeweitet werden.
<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Heinz</strong> <strong>Schirp</strong> Handout zum Vortrag (3)<br />
III. Das soziale <strong>Gehirn</strong><br />
Unser <strong>Gehirn</strong> ist ein soziales <strong>Gehirn</strong>. Unsere Fähigkeiten zur EMPATHIE, zur SOLIDA-<br />
RITÄT mit eigenen und fremden Gruppen, zur Entwicklung von sozialen REGELN,<br />
NORMEN und WERTORIENTIERUNGEN basieren auf evolutionär bewährten Mustern<br />
und den damit verbundenen neuronalen Prozessen und Strukturen (z.B. „Spiegelneurone“).<br />
Louis COZOLINO vergleicht in seinem Konzept der interpersonalen Neurobiologie<br />
neuronale Netzwerke mit sozialen Netzwerken.<br />
Die Anzahl (Konnektivität) der Verbindungen, ihre Stärke und Nachhaltigkeit (Verbindungsstärke),<br />
die Nutzungshäufigkeit (Verbindungshäufigkeit) sowie die parallele Aktivierung<br />
und Vernetztheit (Synchronizität) von vorhandenen Kontakten sind sowohl für<br />
soziale wie für neuronale Netzwerke von entscheidender und überlebenswichtiger Bedeutung.<br />
(Vgl. dazu etwa: COZOLINO, L. Die Neurobiologie menschlicher Beziehungen, Kirchzarten<br />
bei Freiburg 2007, (VAK)<br />
• Konnektivität<br />
• Verbindungsstärke<br />
• Verbindungshäufigkeit<br />
• Synchronizität<br />
Interaktion, Kooperation und soziale Integration sind basale<br />
neuronale und soziale Lernzugänge. Dabei sind Heterogenität<br />
und Verschiedenheit wichtige Ausgangspunkte und Voraussetzungen<br />
für Lernentwicklung. Unterschiedliche Wahrnehmungen,<br />
Meinungen, Anregungen, Ideen, Begabungen,<br />
… können in Lerngruppen zu besonders effizienten Impulsen<br />
zur Lernentwicklung werden.
<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Heinz</strong> <strong>Schirp</strong> Handout zum Vortrag (4)<br />
Ein Ausblick - „Das Ende der Exklusion?“<br />
Zunehmend wird sowohl aus Sicht der Neurowissenschaften als auch aus Sicht der empirischen<br />
Schul- und Unterrichtsforschung deutlich, wie wichtig integrative Schul- und<br />
Lernkonzepte für die Leistungsförderung aller Kinder und Jugendliche sind.<br />
Die jüngste Studie (Mai 2013) dazu stammt von William Mathis, dem Direktor des National<br />
Education Policy Center (NEPC), an der Universität Boulder, Colorado. 1)<br />
In der Auswertung zahlreicher empirischer, die sich auf die Effekte von Schulformen und<br />
Schulgliederungen beziehen, in denen Schüler/-innen nach jeweils unterschiedlichen<br />
Kriterien getrennten Schulsystemen und Bildungsgängen zugeordnet werden („tracking“)<br />
kommt Mathis zu folgenden Ergebnissen: (Zusammenfassung H. Sch.)<br />
Nach jahrelanger Forschung muss man feststellen, dass ein Schulsystem, das die<br />
Schülern/-innen etwa nach ethnischen, leistungsbezogenen oder sozialen Kriterien<br />
trennt, für Kinder mit geringeren Leistungsfähigkeiten deutlich erkennbar abträglich ist,<br />
andererseits aber auch keine oder nur geringe Vorteile für Schüler/-innen mit höherer<br />
Leistungsfähigkeit aufweist.<br />
Kinder und Jugendliche, die schon in ihrem familialen und außerschulischen Umfeld<br />
geringe Lernanregungen, -anreize und -angebote haben, erfahren in gegliederten und<br />
nicht integrativen Schulformen und Bildungsgängen ebenfalls nur geringe und wenig<br />
förderliche Anregungen für ihre individuelle Lern- und Leistungsentwicklung.<br />
Die schulische Sortierung nach exkludierenden Kriterien ist wohl einer der schwersten<br />
Fehler, die Bildungspolitik und Schulen machen können, wenn sie sich darum bemühen,<br />
Leistungsunterschiede zwischen unterschiedlichen sozialen, ethnischen und/oder<br />
„begabungsspezifischen“ Schülerpopulationen zu kompensieren.<br />
1) Vgl. dazu: Mathis, William J.: Research Overwhelmingly Counsels End of Tracking<br />
Research-Based Options for Education Policymaking NEPC, Boulder CO May 30, 2013;<br />
http://tinyurl.com/qa6cof3<br />
Texte zum Vortrag, die Sie im Internet abrufen können.<br />
In den u. a. Texten und Aufsätzen finden Sie weitere Literaturhinweise.<br />
<strong>Schirp</strong>. H.: Neurowissenschaften und Lernen (DDS 3/2003)<br />
www.schulinfos.de/i2f01/anla2/anla2.html pdf<br />
ders.: Dem Lernen auf der Spur (Stuttgart 2006)<br />
studsem.san.hrz.unisiegen.de/downloads/demlernenaufderspur.<br />
ders.: <strong>Wie</strong> lernt <strong>unser</strong> <strong>Gehirn</strong> Werte und soziale Orientierungen? (Weinheim<br />
2006)<br />
www.learnline.de/angebote/p21/nrw/publ/hs_gehirn.pdf<br />
ders.: „<strong>Wie</strong> die Fischer im Mahlstrom“. Wirkungen von zentralen Tests in<br />
den USA (DDS 4/2006)<br />
www.lfi.bremerhaven.de/aktuelles/schirp_mahlstrom.pdf<br />
Rückmeldungen, Kritik, Anregungen etc. bitte an<br />
heinz.schirp@gmx.de