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Tschaikowski pur (42.9 KB) - der Jenaer Philharmonie

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Mittwoch, 17. April 2013<br />

20 Uhr, Volkshaus<br />

8. Philharmonisches Konzert Reihe A<br />

<strong>Tschaikowski</strong> <strong>pur</strong><br />

Peter <strong>Tschaikowski</strong> (1840-1893)<br />

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 G-Dur op. 44<br />

Allegro brillante<br />

Andante ma non troppo<br />

Allegro con fuoco<br />

Pause<br />

Peter <strong>Tschaikowski</strong> (1840-1893)<br />

Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 "Pathétique"<br />

Adagio – Allegro non troppo<br />

Allegro con grazia<br />

Allegro molto vivace<br />

Finale. Adagio lamentoso<br />

Dirigent: GMD Marc Tardue<br />

Klavier: Bernd Glemser<br />

1


Der Dirigent<br />

Marc Tardue wurde als Sohn franko-italienischer Eltern in Amerika geboren. Er absolvierte<br />

das Peabody Conservatory in Baltimore und studierte anschließend Klavier und Dirigieren,<br />

darüber hinaus ist er ausgebildeter Gesangslehrer und Klavierbegleiter. Schon kurz nach<br />

Beendigung seiner Studien erhielt er von amerikanischen Choral-, Sinfonie- und<br />

Opernensembles Engagements als musikalischer Leiter und Chefdirigent. Von 1982 bis 1984<br />

war Marc Tardue Chefdirigent <strong>der</strong> National Opera von Reykjavik, 1984 gewann er den<br />

internationalen Dirigentenwettbewerb „Concours International d’Execution Musicale Ernest<br />

Ansermet“ (CIEM). 1985 übernahm er kurzfristig beim „Ensemble Instrumentale de<br />

Grenoble“ Aufführungen <strong>der</strong> 9. Sinfonie von Beethoven und wurde sowohl vom Publikum<br />

wie auch den Musikern <strong>der</strong>maßen umjubelt, dass das Orchester ihn umgehend zum<br />

Musikdirektor wählte. Unter seiner Leitung wurde das Repertoire des Klangkörpers um große<br />

Sinfonien sowie Chor- und Opernwerke erweitert. Zwischen 1991 bis 2002 war Marc Tardue<br />

Chefdirigent des Sinfonieorchesters des Theaters Biel (Schweiz), von 1999 bis 2007 des<br />

Orquestra Nacional do Porto (Portugal). Seit 2010 ist er künstlerischer Leiter und<br />

Musikdirektor <strong>der</strong> „Oper Schenkenberg“ (Schweiz). Als gern gesehener Gastdirigent arbeitet<br />

er mit renommierten Orchestern im In- und Ausland zusammen. Für seine künstlerischen<br />

Leistungen wurde Marc Tardue mit vielen Preisen und Auszeichnungen geehrt, u.a. erhielt er<br />

1989 den französischen Kulturorden „Chevalier des Arts et Lettres“ und 2004 die „Medalha<br />

de Mérito Cultural“, eine <strong>der</strong> höchsten Ehrungen Portugals.<br />

Der Solist<br />

Als Junge von <strong>der</strong> Schwäbischen Alb fuhr Bernd Glemser in <strong>der</strong> Winterzeit oft mit den<br />

Skiern zum Klavierüben. Jedoch weitete sich sein musikalisches Umfeld schnell aus.<br />

Eine <strong>der</strong> wenigen Gelegenheiten international zu konzertieren – vor allem mit Orchester –<br />

findet ein Klavierstudent fast ausschließlich bei Wettbewerben. So fuhr <strong>der</strong> junge Pianist bis<br />

1987 durch die ganze Welt und brach unbewusst einen Rekord, <strong>der</strong> seit 1890 einsam zu<br />

Buche steht: Er gewann 17 Wettbewerbe und Spezialpreise in Folge! „So konnte ich mir von<br />

den Preisgel<strong>der</strong>n doch meinen ersten Flügel kaufen...“<br />

Eine erfreuliche, aber dennoch kuriose Geschichte trug sich 1989 zu: Denn es erfolgte die<br />

Berufung des jungen Pianisten zum damals jüngsten Professor Deutschlands. Bernd Glemser,<br />

<strong>der</strong> noch immer selbst Student beim russischen Pädagogen Vitalji Margulis war, musste daher<br />

sein Studium an <strong>der</strong> Musikhochschule in Freiburg unterbrechen.<br />

Mit <strong>der</strong> außergewöhnlichen Bandbreite seines Repertoires, das vom Barock bis zur Mo<strong>der</strong>ne<br />

reicht, zählt Bernd Glemser heute zur internationalen Pianistenelite.<br />

Die leidenschaftliche Virtuosität seines Spiels - gepaart mit geistvoller Eleganz - fasziniert<br />

das Publikum inzwischen von Chile bis China, wo er 1996 als erster Künstler aus dem Westen<br />

live im Fernsehen spielte.<br />

Seine bisher erschienenen 33 CD-Aufnahmen erhielten fast ausnahmslos Auszeichnungen<br />

durch die Fachpresse, so zuletzt die Einspielung <strong>der</strong> 4 Scherzi und Balladen von Chopin<br />

Recording of the Month February 2011 durch Robert Cummings (GB, USA, AUS, NZ).<br />

Jährlich 15-20 weltweite Radioübertragungen und Fernsehaufnahmen von Konzerten mit<br />

großen Dirigenten, wie z.B. Herbert Blomstedt, Riccardo Chailly, Welser-Möst, o<strong>der</strong><br />

Wolfgang Sawallisch bestätigen Glemsers Ausnahmerang.<br />

Zusätzlich zu seinen vielen Auszeichnungen erhielt Bernd Glemser 1992 den Andor Foldes<br />

Preis und 1993 in Zürich den Europäischen Pianisten-Preis. 2003 erfolgte - durch den<br />

damaligen Bundespräsidenten Rau - die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Im<br />

November 2006 ist ihm <strong>der</strong> Kunstpreis <strong>der</strong> Stadt Würzburg überreicht worden und im letzten<br />

Jahr war er Preisträger des Kulturpreises Bayern.<br />

2


Meisterhafte Synthese westeuropäischer Musiktradition und russischer Seele<br />

Wenn man von einem klassischen russischen Komponisten reden kann, muss man den Namen<br />

<strong>Tschaikowski</strong> auf den Lippen führen. Ähnlich wie sich Mozart und Haydn hun<strong>der</strong>t Jahre<br />

früher gegenseitig zur Meisterschaft anregten, wurde auch <strong>Tschaikowski</strong> von seinen<br />

Zeitgenossen stark beeinflusst und strahlte selbst auf das Schaffen <strong>der</strong> folgenden<br />

Generationen aus.<br />

Die russische Musik trat mit Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts bewusst in ihre eigene Geschichte<br />

ein. Ursprünglich existierten lediglich zwei Formen <strong>der</strong> musikalischen Ausprägung: die<br />

byzantinische Kirchenmusik und die slawische Volksmusik. Beide erfuhren bis zu diesem<br />

Zeitpunkt keine künstlerische Verarbeitung, waren an Funktionen und Riten gebunden. Bis<br />

dahin beschäftigten <strong>der</strong> russische Adel und vor allem <strong>der</strong> Zarenhof leibeigene Musiker, die<br />

unter <strong>der</strong> Leitung eines ausländischen, zumeist italienischstämmigen Hofkomponisten zum<br />

Amüsement auftraten. Unter Katharina <strong>der</strong> Großen kam es zu ersten nennenswerten<br />

russischen Anklängen in <strong>der</strong> höfischen Musik. Primär wurde einem Werk, z.B. im<br />

französischen Stil, ein russischer Text beigesetzt, dann folgten thematisch gekoppelte<br />

Volkslie<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Tanzeinschübe. Dennoch handelte es sich grundsätzlich immer noch um<br />

Kompositionen des westeuropäischen Duktus.<br />

Erst mit Michail Glinka wurde <strong>der</strong> tatsächliche Samen, „in dem man schon den ganzen Baum<br />

<strong>der</strong> russischen Musik erkennen kann“ (Peter <strong>Tschaikowski</strong>), gelegt. Jener ging zum Studium<br />

nach Italien, kam dort natürlich mit den Opern Bellinis, Rossinis und Donizettis in Kontakt<br />

und wollte dies selbst in seiner Heimat umsetzen. Vorher musste er aber erst das<br />

Kompositionshandwerk in Berlin erlernen, denn zu diesem Zeitpunkt existierten in Russland<br />

noch keine Musikhochschulen. Mit diesem Rüstzeug kehrte er nach St. Petersburg zurück, wo<br />

1836 seine Oper „Ein Leben für den Zaren“ uraufgeführt wurde. Für die nachfolgende<br />

Generation legte er mit seiner Kompositionsweise den Grundstein zur russischen Kunstmusik.<br />

Indem er nicht den westeuropäischen Normen, des Themenkonflikts und <strong>der</strong> Kombination<br />

von Motiven folgte, son<strong>der</strong>n sich für die Variation langer Melodiebögen entschied, prägte er<br />

den russischen Stil. Alle kommenden russischen Komponisten orientierten sich an diesem<br />

System.<br />

Nach <strong>der</strong> anfänglichen Einführung russischer Musik an den Theatern, strebte man bald nach<br />

einer eigenständigen Tonsprache. Aus Genuss wurde eine Ideologie. Vor allem das in St.<br />

Petersburg ansässige „Mächtige Häuflein“ war antiwestlich eingestellt und wollte eine<br />

autonome russische Kunst kreieren. Durch ihr Talent hoben sich „Die Fünf“ vom<br />

nationalistischen Dilettantismus ab und konnten trotz ihrer geringen musiktheoretischen<br />

Ausbildung die Neue Russische Schule in das europäische Blickfeld rücken.<br />

Für die Aufführung russischer Werke wurden mit Hilfe <strong>der</strong> Großfürstin Helena Pawlowna<br />

Musikgesellschaften erst in St. Petersburg, dann in Moskau etabliert. Diese professionelle<br />

Basis ermöglichte 1862 die Gründung des St. Petersburger Konservatoriums, an dem sich im<br />

selben Jahr noch Peter <strong>Tschaikowski</strong> als Student einschrieb. Durch die heutige Glinka-Straße<br />

getrennt, stehen sich das mintgrüne Marinskii-Theater und das Lehrgebäude direkt gegenüber.<br />

Während <strong>der</strong> intensiven Unterrichtstunden konnten die Schüler immer einen Blick auf die<br />

berühmte Kunststätte werfen.<br />

Erstmals wurden qualifizierte Berufsmusiker, Komponisten und Dirigenten auf russischem<br />

Boden ausgebildet. Anton und Nikolai Rubinstein, die Leiter <strong>der</strong> beiden Konservatorien in St.<br />

Petersburg und Moskau, waren in ihrer Philosophie an den westeuropäischen und in erster<br />

Linie deutschen Hochschulen ausgerichtet, was Differenzen mit dem „Mächtigen Häuflein“<br />

und vor allem mit ihrem Wortführer Mili Balakirew nach sich zog. Dieser hatte in<br />

<strong>Tschaikowski</strong>s St. Petersburger Zeit noch erheblichen Einfluss auf den Musikstudenten. Er<br />

leitete ihn an, nach <strong>der</strong> Neuen Russischen Schule zu komponieren. Jedoch blieb <strong>Tschaikowski</strong><br />

seinen Ausbil<strong>der</strong>n am Konservatorium treu und wechselte vier Jahre später als Professor für<br />

3


Harmonielehre nach Moskau. Aus diesem Institut gingen zahlreiche bedeutende Komponisten<br />

hervor. Zu seinen Schülern zählten unter an<strong>der</strong>em Anton Arenski, Sergej Tanejew o<strong>der</strong> auch<br />

Alexan<strong>der</strong> Siloti, <strong>der</strong> später <strong>Tschaikowski</strong>s 2. Klavierkonzert modifizierte.<br />

Die beiden für den heutigen Abend ausgewählten Werke Peter <strong>Tschaikowski</strong>s entstanden in<br />

seiner späten Schaffensphase. Der Komponist hatte bis dahin schwere Lebenskrisen<br />

durchgemacht.<br />

Aus seinen Briefen, die er unter an<strong>der</strong>em seinem Bru<strong>der</strong> Modest schrieb, wissen wir heute,<br />

dass er seine homoerotische Veranlagung als ständigen Schuldkomplex mit sich herumtrug.<br />

Diese Neigung wurde im russischen Zarenreich noch mit den Paragrafen 995 und 996 als<br />

krimineller Akt unter Strafe gestellt. Es drohte Zwangsarbeit, Verbannung nach Sibirien und<br />

Rechtlosigkeit. Tschaikowksi jedoch gehörte <strong>der</strong> gehobenen Schicht an und musste bei<br />

Entdeckung lediglich mit Versetzung und Verbannung in die Provinz rechnen. Doch können<br />

Sie ahnen, was es hieß, zur damaligen Zeit aus <strong>der</strong> Gesellschaft ausgeschlossen zu sein? Ein<br />

solches Schicksal können wir heute anhand des Romans „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi<br />

nachvollziehen. Die ehebrüchige Anna wurde ihres Kindes bestohlen, von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

ignoriert und verstoßen, sodass ihr nur noch <strong>der</strong> Weg ins Ausland und später in die Isolation<br />

blieb, <strong>der</strong> mit dem Selbstmord endete.<br />

<strong>Tschaikowski</strong> hatte in seiner Jugend noch geglaubt, dass er sein Leben mit einer Heirat<br />

legitimieren konnte – ein Trugschluss. We<strong>der</strong> eine Verlobung mit <strong>der</strong> Sängerin Desiree Artot<br />

noch die Hochzeit mit seiner Verehrerin Antonina Miljukowa konnten seinen Wunsch nach<br />

sittsamen Lebensumständen verwirklichen. Mehr und mehr geriet er in den Strudel zwischen<br />

Verleugnung <strong>der</strong> eigenen Gefühle und <strong>der</strong> Sehnsucht nach Anpassung. Schuldgefühle und die<br />

Angst vor <strong>der</strong> öffentlichen Schande quälten ihn. Er unternahm viele Reisen ins Ausland. Dort<br />

hoffte er den gesellschaftlichen Kontrollen zu entfliehen. Nach und nach konnte er, auch mit<br />

Hilfe seiner Musik, wie<strong>der</strong> in Russland Fuß fassen.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> Schönheit und Popularität seiner Musik wollte man ihn nicht aus den großen<br />

Konzertsälen verbannen. Lieber schloss die Gesellschaft die Augen vor seinem Privatleben.<br />

Selbst <strong>der</strong> Zar würdigte 1884 seine Arbeit mit einer Auszeichnung für die Oper „Mazeppa“.<br />

Auf diesem Weg zum neuerlichen Erfolg schrieb er 1879/80 sein Konzert für Klavier und<br />

Orchester Nr. 2 G-Dur op. 44. Seine unheilvolle Heirat lag nun schon zwei Jahre zurück,<br />

dennoch hielt er sich dauerhaft im Ausland auf. Er bereiste dabei Italien und Frankreich,<br />

machte mit seinem Begleiter Halt am Genfer See, um dann Erholung bei seiner Schwester in<br />

Kamenka (Ukraine) zu suchen. Dort vollendete er auch dieses sein zweites Klavierkonzert.<br />

Der Widmungsträger wurde Nikolai Rubinstein, den er als meisterhaften Pianisten immer<br />

bewun<strong>der</strong>t hatte. Widmungen waren in jener Zeit fast ein Muss! Sie waren nicht nur<br />

Ausdruck von Sympathie und persönlicher Nähe, son<strong>der</strong>n auch ein öffentliches Bekenntnis zu<br />

einem <strong>der</strong> sich ästhetisch gegenüber stehenden Lager: Dem in St. Petersburg ansässigen<br />

„Mächtigen Häuflein“ o<strong>der</strong> <strong>der</strong> westlich beeinflussten Konservatoriumsbewegung <strong>der</strong><br />

Gebrü<strong>der</strong> Rubinstein.<br />

Die Widmung war ein schlechtes Omen für Nikolai, <strong>der</strong> zwei Monate vor <strong>der</strong> russischen<br />

Uraufführung des Klavierkonzerts verstarb. Eigentlich sollte er an diesem Tag als Solist am<br />

Flügel sitzen und das Werk interpretieren. Seinen Platz nahm stattdessen <strong>Tschaikowski</strong>s<br />

ehemaliger Schüler Sergej Tanejew ein, Nikolai Rubinsteins Bru<strong>der</strong> Anton stand am<br />

Dirigentenpult. <strong>Tschaikowski</strong> selbst war nicht anwesend und bekam die Reaktion des<br />

Publikums von Tanejew und seinem Bru<strong>der</strong> Modest beschrieben.<br />

Die beiden Hauptkritikpunkte lagen in <strong>der</strong> Länge <strong>der</strong> ersten beiden Sätze und dem<br />

ungewöhnlichen Auftreten zweier zusätzlicher Solisten im zweiten Satz, einer Violine und<br />

eines Cellos, wodurch das Klavier als Begleiter in den Hintergrund rückte. So verwun<strong>der</strong>t es<br />

nicht, dass auch dieses Konzert, wie bereits das 1. Klavierkonzert, welches noch von Nikolai<br />

Rubinstein verrissen worden war, einer Bearbeitung unterzogen wurde. Sein Schüler<br />

4


Alexan<strong>der</strong> Siloti, <strong>der</strong> ältere Cousin Sergej Rachmaninows, strich einige Takte im ersten Satz,<br />

kürzte die Solipassagen <strong>der</strong> beiden Streicher im zweiten Satz und fügte schnellere<br />

Satzbezeichnungen ein, wodurch das Konzert eine Beschleunigung erfuhr. Die Verleger<br />

übernahmen die Än<strong>der</strong>ungen. Heute Abend wird aber wie<strong>der</strong> die um einiges längere<br />

Originalfassung aufgeführt.<br />

Zu Beginn des Klavierkonzerts steigt das Orchester sofort mit dem sehr klassischen 1. Thema<br />

ein, vom Klavier wie<strong>der</strong>holt. Ihm wurde eine orientalische Sequenz in <strong>der</strong> Flöte kontrastreich<br />

zur Seite gestellt. Das Klavier besticht durch schnelle Läufe im konzertanten Wechsel mit den<br />

tiefen Streichern und hat eine erste Solokadenz. Der zweite Themenkomplex schließt sich an.<br />

Eingeleitet durch die Klarinette, wirkt hier <strong>Tschaikowski</strong> um einiges romantischmelancholischer.<br />

Der weitere Verlauf wird klar: Immer wie<strong>der</strong> wird ein neues Thema<br />

aufgegriffen, ein früheres eingeschoben, jedoch erfahren sie nicht, wie in <strong>der</strong><br />

westeuropäischen Tradition, eine Art Durchführung. Sie werden zwar aus unterschiedlichsten<br />

Perspektiven beleuchtet, aber nicht verarbeitet o<strong>der</strong> weiterentwickelt. Das macht die auf<br />

Glinka beruhende russische Musiktradition aus. Dieser schwor mehr auf den poetischen Inhalt<br />

<strong>der</strong> Themen, als auf ihre geistige Durchstrukturierung und harmonische Verwertung. Dies<br />

erklärt wohl auch in Grundzügen, warum Peter <strong>Tschaikowski</strong> als Schöpfer <strong>der</strong> schönsten<br />

Melodien und nicht als vollendeter Kontrapunktiker bewun<strong>der</strong>t wird. Der Satz wird durch ein<br />

über fünf Minuten ausgedehntes Klaviersolo geteilt, nach welchem das Orchester wie<strong>der</strong> mit<br />

dem Einsetzen <strong>der</strong> zahlreichen Themen beginnt.<br />

Das anschließende Andante ist völlig an<strong>der</strong>s gestaltet. Eröffnet mit seufzerartig angelegten<br />

Akkorden steigt sogleich die Solovioline als Erzähler in das Geschehen ein. Sie zeichnet eine<br />

zärtliche Szene aus <strong>der</strong> Vergangenheit nach. Das Cello tritt als Kammermusikpartner hinzu<br />

und füllt die verblassenden Momente wie<strong>der</strong> aus. Das Klavier wie<strong>der</strong>holt das Duett und wird<br />

ab <strong>der</strong> Mitte des Satzes zum dominanten Solisten. Seufzer-Motive, die an den<br />

Orchesterbeginn des Satzes erinnern, werden eingeschoben. Alles wird bis zum Bläsereinsatz<br />

gesteigert. Danach beginnen wie<strong>der</strong> die beiden Solostreicher ihre intime Sequenz. In die<br />

liebevolle Umarmung des Anfangs schleichen sich Misstöne ein – Das gesamte Orchester<br />

schlägt immer wie<strong>der</strong> dazwischen. Mit dem Einspiel des Klaviers kehrt die verlorene<br />

Lockerheit jedoch wie<strong>der</strong> zurück.<br />

Mit einem großen Kontrast beginnt <strong>der</strong> letzte Satz. Dynamik und Tempo sind dreifach<br />

gesteigert. Das Klavier spielt einen Tanz. Punktierter Rhythmus wechselt vom Klavier in die<br />

Bläser und die Streicher, während <strong>der</strong> Pianist mit virtuosen Läufen strahlt. Im Wissen, dass<br />

das Konzert in <strong>der</strong> Ukraine vollendet wurde, liegt es auf <strong>der</strong> Hand, diese Melodien mit einem<br />

Trepak zu vergleichen. Ein stark rhythmisierter Kosakentanz, <strong>der</strong> von Sprüngen und<br />

Stampfern dominiert wird und hier in einem furiosen Finale endet.<br />

Im zweiten Teil dieses Konzertes hören wir sein „Abschiedswerk“, die Sinfonie Nr. 6 h-Moll<br />

op. 74 „Pathétique“. Um es gleich vorweg zu nehmen; es besteht ein Unterschied zwischen<br />

<strong>der</strong> Pathetik, die dramatische Leidenschaft ausdrückt, und dem Wort Pathos, dem aus dem<br />

Griechischen entlehnten Wort für Schmerz und Leiden. In diesem Sinne kann man von <strong>der</strong> 6.<br />

Sinfonie zu den früheren Entwürfen <strong>der</strong> Sinfonie „Das Leben“ und <strong>der</strong> schemenhaften Es-<br />

Dur-Sinfonie Parallelen ziehen. Wie bereits zuvor erwähnt, stand <strong>Tschaikowski</strong> immens unter<br />

Druck, sein Privatleben mit den gesellschaftlichen Normen zu vereinbaren.<br />

Tatsächlich hatte er zugegeben, dass auch diese Sinfonie ein Programm habe, er es aber<br />

geheim halten wolle. Ein Brief an seinen Neffen Vladimir L. Davydov, dem diese Sinfonie<br />

gewidmet ist, im Februar 1893 untermauert diese Aussage: „Während meiner Reise tauchte in<br />

mir <strong>der</strong> Gedanke an eine Sinfonie auf, diesmal an eine mit einem Programm, aber mit einem<br />

Programm, von <strong>der</strong> Art, dass es für alle ein Rätsel bleiben wird […]. Das Programm dieser<br />

Sinfonie ist ein völlig subjektives.“ Zum Glück für uns hatte er diese Subjektivität schon in<br />

einem früheren Brief an seine Gönnerin Frau von Meck erklärt: „Im ersten Fall [also bei<br />

subjektiver Inspiration] kommen in <strong>der</strong> Musik die Gefühle <strong>der</strong> Freude und des Leids zum<br />

5


Ausdruck.“ So sah er wahrscheinlich auch sein eigenes Leben, wie er es ebenfalls<br />

nachweislich, seiner Brieffreundin schil<strong>der</strong>te: Das Glück hatte er in <strong>der</strong> Liebe nicht gefunden,<br />

aber ihre Kraft durfte er kennen lernen.<br />

Das rätselhafte Programm schürte nach <strong>der</strong> Uraufführung wirklich die Gerüchte an.<br />

Zahlreiche Interpretationsversuche wurden unternommen, wobei die andauerndsten von<br />

seinem baldigen Tod ausgingen. Das immer wie<strong>der</strong>kehrende Moment <strong>der</strong> fallenden Sekunde,<br />

das aus <strong>der</strong> orthodoxen Todesliturgie stammende Zitat und seine pessimistischen<br />

Andeutungen in Briefen jener Tage wurden als Beweise für seine Todessehnsucht und die<br />

Selbstmordtheorie ausgelegt. Ich selber möchte mich bei solchen Interpretationsversuchen an<br />

die folgende Aussage halten: „Diese Inhalte und inneren Programme haben zweifellos mit<br />

<strong>der</strong> Person des Künstlers zu tun […], aber nicht in dem prosaischen Sinne des konkreten<br />

Abbildens, son<strong>der</strong>n im Sinne <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> ewigen Themen des Menschseins mit den<br />

Mitteln <strong>der</strong> begrifflosen und doch so ausdrucksreichen Sprache <strong>der</strong> Musik.“ (Thomas<br />

Kohlhase, Musikwissenschaftler)<br />

Entfernen wir uns vom Deuten des Lebens <strong>Tschaikowski</strong>s und nähern wir uns eher einer<br />

Analyse des Hörmoments.<br />

Nach einem zurückhaltenden Beginn im ersten Satz nimmt die Anspannung zu.<br />

Bläserfanfaren lassen die musikalische Ausdehnung <strong>der</strong> Sinfonie erahnen. Nach etwa vier<br />

Minuten setzt ein lyrisch-melancholisches Thema ein: Die Erkennungsmelodie <strong>der</strong> Sinfonie<br />

„Pathétique“, welche im Nirgendwo zu verklingen scheint. Dann <strong>der</strong> Weckruf: Ein<br />

Tuttischlag, alles wird hektischer, bewegter, unsortierter bis mit den Bläsern große Dramatik<br />

einsetzt. Nun wird das Zitat <strong>der</strong> Totenmesse intoniert, ruhig schreitend vom Orchester aber<br />

jäh abgelenkt und wie<strong>der</strong> zur Stille zurückkehrend, um erneut anzuschwellen. Nun scheint es<br />

nur noch eine Vorwärtsbewegung zu geben; Steigerung, Aufbäumen und die Wie<strong>der</strong>kehr des<br />

Seitenthemas. Die Instrumentalisten bieten alles auf.<br />

Der zweite Satz führt uns in eine scheinbare Idylle zurück. Schwelgend, wiegend, tänzelnd<br />

wird die Musik weitgehend von den Streichern und Holzbläsern vorgetragen.<br />

Leise herannahend artikuliert sich <strong>der</strong> dritte Satz. In seinem Beginn stecken schon alle<br />

Themen. Er erinnert an <strong>Tschaikowski</strong>s Ballettmusiken, vornehmlich den Nussknacker. Stark<br />

rhythmisiert wird ein Marsch von allen Instrumentengruppen durchdringend vorgetragen. Nun<br />

dürfen auch wie<strong>der</strong> die Blechbläser in den Vor<strong>der</strong>grund treten und das Regiment übernehmen.<br />

Fanfarenartig führen sie den Abschluss herbei. Nichts kann sich ihnen in den Weg stellen.<br />

Der letzte Satz, das eigentliche Finale, welches im 2. Klavierkonzert noch furios endete,<br />

klingt nun im Adagio aus. Wie <strong>der</strong> erste Satz hat auch dieser einen ruhigen Anfang, dem eine<br />

Dynamiksteigerung bis zur Mitte des Satzes folgt. Die Streicher treten nun sehr bestimmt auf,<br />

werden dabei von Bläsereinfällen noch unterstützt. Im Anschluss erhält das Seufzer-Motiv<br />

seinen prominenten Auftritt, mehrfach von aufsteigenden Tonleitern angekündigt. Die<br />

gesamte Steigerung wird wie<strong>der</strong>holt und zusammen mit den Pauken einem Höhepunkt<br />

entgegengeführt. Darauf folgt als riesiger Kontrast <strong>der</strong> Rückfall in die Stille, aus <strong>der</strong> sich<br />

zuerst die Streicher lösen können – Ein letztes Aufbäumen, bevor alles in sich zusammensinkt<br />

und entgültig verstummt.<br />

Mit dieser Sinfonie schuf er wahrlich sein Lebenswerk. Alle Erkennungsmerkmale<br />

<strong>Tschaikowski</strong>s sind hier zusammengefasst: Seine westeuropäische<br />

Konservatoriumsausbildung, die Verbundenheit mit seinem russischen Vaterland, seine<br />

Ausdruckskraft, die Instrumentation und seine beson<strong>der</strong>e Stärke – <strong>der</strong> Einsatz bewegen<strong>der</strong><br />

Melodien. „[Ich halte es] für die beste – und, was von beson<strong>der</strong>er Bedeutung ist, die<br />

aufrichtigste – all meiner Sachen. Ich liebe sie, wie ich noch nie eines meiner musikalischen<br />

Kin<strong>der</strong> geliebt habe.“ (Peter <strong>Tschaikowski</strong>, Brief an Vladimir L. Davydov im August 1893)<br />

Jessica Brömel, M.A.<br />

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