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Fall 3 - Lösung - Universität zu Köln

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Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht<br />

WS 2010/2011<br />

<strong>Fall</strong> 3<br />

Kollektivrechtliche Bezüge des individuellen Arbeitsrechts<br />

A.<br />

Im Betrieb des Arbeitgebers R ist nur ein geringer Teil der Arbeitnehmer<br />

gewerkschaftlich organisiert. Arbeitnehmer A, der Mitglied in der Gewerkschaft G ist,<br />

möchte dies ändern und verteilt daher mit Zustimmung der G in seiner Arbeitspause<br />

Flugblätter und Broschüren der Gewerkschaft. Außerdem hängt er am Schwarzen<br />

Brett im Pausenraum ein Gewerkschaftsplakat auf. R verbietet ihm diese Aktivitäten.<br />

Daraufhin ändert A seine Strategie und bittet den befreundeten<br />

Gewerkschaftsvertreter F, die Broschüren in den Arbeitspausen auf dem<br />

Betriebsgelände und nach Betriebsschluss vor dem Betriebstor <strong>zu</strong> verteilen. Auch<br />

diese Aktivitäten untersagt R.<br />

Sind die Verbote des R <strong>zu</strong>lässig?<br />

B.<br />

Der gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer A und die nicht organisierte<br />

Arbeitnehmerin O sind im Unternehmen des R angestellt. Als sie eines Tages ihre<br />

Mittagspause gemeinsam verbringen, tauschen sich über ihre künftigen Urlaube aus.<br />

Der, in Gewerkschaftsangelegenheiten sehr engagierte, A klärt O darüber auf, dass<br />

ihm als gewerkschaftsangehörigem Arbeitnehmer anstatt der in ihren<br />

Arbeitsverträgen vorgesehenen 26 Tage, 28 Tage Urlaub im Jahr <strong>zu</strong>stünden. Dies<br />

folge aus dem Tarifvertrag, der zwischen dem Arbeitgeberverband V – dem der<br />

Arbeitgeber R angehört – und der Gewerkschaft G – der der A angehört –<br />

geschlossen wurde. Aufgrund der Mitgliedsbeiträge, die er an seine Gewerkschaft<br />

entrichte, sei diese Unterscheidung auch nur fair.<br />

I. Hat O einen Anspruch auf 28 Urlaubstage im Jahr?<br />

II. Wie könnte der Arbeitgeber den Anreiz auf einen Beitritt in die Gewerkschaft<br />

verringern?<br />

III. Wie viele Tage Urlaub im Jahr hätte A, wenn die Mitgliedschaft des Arbeitgebers<br />

R im Arbeitgeberverband V durch Kündigung des R endet?<br />

N, ein Nachbar des A, der beim Unternehmen U angestellt ist, hat sich an der<br />

Situation des A ein Beispiel genommen und nach anfänglichem Widerstand dem<br />

Beitrittswerben der Gewerkschaft G nachgegeben. U ist zwar Mitglied des<br />

Arbeitgeberverbandes Y, Be<strong>zu</strong>gnahmeklauseln enthalten die von U<br />

abgeschlossenen Arbeitsverträge jedoch nicht. Die Hoffnung des N, durch seinen<br />

Gewerkschaftsbeitritt mehr Urlaubstage <strong>zu</strong> erhalten, wird jedoch kurz darauf<br />

empfindlich erschüttert, als er feststellen muss, dass der für seinen Betrieb<br />

einschlägige Tarifvertrag den einzelnen Arbeitnehmern weniger Urlaubstage<br />

<strong>zu</strong>spricht als der Arbeitsvertrag, den er mit U geschlossen hat. Der Tarifvertrag sieht<br />

26, sein Arbeitsvertrag hingegen 28 Urlaubstage pro Jahr vor. Darüber hinaus findet<br />

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WS 2010/2011<br />

sich im Tarifvertrag keinerlei Aussage darüber, ob von den Festlegungen<br />

abgewichen werden darf.<br />

IV. Wie viele Urlaubstage stehen N im Jahr <strong>zu</strong>?<br />

V. Wie viele Urlaubstage stünden N <strong>zu</strong>, wenn bei gleicher Ausgangslage in dem<br />

Betrieb, in dem N beschäftigt wird, <strong>zu</strong>sätzlich eine Betriebsvereinbarung<br />

bestünde, die jedem Arbeitnehmer 30 Urlaubstage pro Jahr <strong>zu</strong>spricht?<br />

VI. Unter welcher Vorausset<strong>zu</strong>ng könnte die Betriebsvereinbarung trotz des<br />

bestehenden Tarifvertrages Anwendung finden?<br />

C.<br />

Gewerkschaft G verlangt von Arbeitgeber R, der sich in einer angespannten<br />

wirtschaftlichen Lage befindet, eine tarifliche Vereinbarung, in der ausschließlich<br />

gegenüber ihren Mitgliedern der Ausspruch einer ordentlichen Kündigung auf<br />

betriebsbedingten Gründen ausgeschlossen wird. Den nicht bei G gewerkschaftlich<br />

organisierten Arbeitnehmern soll R diese Zusage aber nicht erteilen dürfen.<br />

Ist die Tarifforderung der G verfassungsgemäß?<br />

D.<br />

Die Bundesregierung beschließt erhebliche Einschnitte im Bereich der<br />

Sozialleistungen. Die Gewerkschaft G ist darüber so empört, dass sie die<br />

Arbeitnehmer des Betriebes des Arbeitgebers R <strong>zu</strong>m Streik aufruft. Die Arbeitnehmer<br />

legen daraufhin die Arbeit am 19.10.2010 für einen Tag nieder, um gegen die<br />

Sparmaßnahmen der Regierung <strong>zu</strong> protestieren. R weigert sich, dem Arbeitnehmer A<br />

für den betreffenden Tag ihren Lohn <strong>zu</strong> zahlen und mahnt ihn wegen der<br />

Streikteilnahme ab. Zu Recht?<br />

Wie sähe es aus, wenn A nicht gestreikt hätte, um gegen die Sparmaßnahmen der<br />

Regierung <strong>zu</strong> protestieren, sondern um den gewerkschaftlichen Forderungen nach<br />

der Verlängerung eines aufgrund Befristung beendeten Tarifvertrages Nachdruck <strong>zu</strong><br />

verleihen, nachdem die Tarifverhandlungen gescheitert waren?<br />

Zur Vorbereitung auf <strong>Fall</strong> 4:<br />

Europäisches Arbeitsrecht<br />

Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 17. Aufl., 2007, Rn. 99 – 111<br />

Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 9. Aufl., 2010, Rn. 26 – 42<br />

Preis, Arbeitsrecht – Individualarbeitsrecht, 3. Aufl., 2009, S. 122 – 158<br />

Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 6. Aufl., 2008, S. 105 – 114<br />

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Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht<br />

WS 2010/2011<br />

Inhalt<br />

• Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) und koalitionsspezifische Betätigung<br />

• Tarifverträge (TVG)<br />

• Günstigkeitsprinzip<br />

• Differenzierungsklauseln<br />

• Grundlagen des Arbeitskampfrechts<br />

Gliederung<br />

A. Gewerkschaftswerbung ................................................................................... 2<br />

I. Werbeverbot gegenüber A............................................................................... 2<br />

1. Begriff der Koalition...................................................................................... 2<br />

2. Unmittelbare Drittwirkung ............................................................................. 2<br />

3. Schutzbereich............................................................................................... 3<br />

II. Werbeverbot gegenüber F ............................................................................... 4<br />

B. Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag................................ 5<br />

I. Urlaubsanspruch der O.................................................................................... 6<br />

1. Tarifvertrag................................................................................................... 6<br />

2. Arbeitsvertrag............................................................................................... 7<br />

3. Gesetz.......................................................................................................... 7<br />

II. „Anreiz <strong>zu</strong>m Gewerkschaftsbeitritt“ .................................................................. 7<br />

III. Urlaubsansprüche des A.................................................................................. 8<br />

1. Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG)...................................................................... 8<br />

2. Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) .................................................................... 8<br />

3. Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG)..................................................................... 9<br />

IV. Urlaubsanspruch des N ................................................................................... 9<br />

V. Urlaubsanspruch des N (Betriebsvereinbarung) ............................................ 10<br />

VI. Anwendbarkeit der Betriebsvereinbarung...................................................... 11<br />

C. Differenzierungsklauseln............................................................................... 11<br />

D. Streikteilnahme............................................................................................... 12<br />

I. Arbeitsentgelt................................................................................................. 12<br />

II. Abmahung ..................................................................................................... 13<br />

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A. Gewerkschaftswerbung<br />

I. Werbeverbot gegenüber A<br />

Zu prüfen ist, ob R dem A die Gewerkschaftswerbung wirksam untersagen konnte.<br />

Das Verbot könnte gegen die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG verstoßen.<br />

1. Begriff der Koalition<br />

Gewerkschaften sind Vereinigungen von Arbeitnehmern, die sich die Verbesserung<br />

der sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen und die Vertretung der<br />

Interessen der Arbeitnehmer gegenüber dem Staat und den Arbeitgebern <strong>zu</strong>m Ziel<br />

gemacht haben. Das „Gegenstück“ <strong>zu</strong>r Gewerkschaft ist der Arbeitgeberverband, ein<br />

Zusammenschluss von Arbeitgebern <strong>zu</strong>m Zwecke der gemeinsamen<br />

Interessenvertretung gegenüber Gewerkschaften und Staat. Sowohl Gewerkschaften<br />

als auch Arbeitgeberverbände werden als Koalitionen bezeichnet.<br />

Der Zusammenschluss als Koalition wird vom Grundrecht der Koalitionsfreiheit<br />

nach Art. 9 Abs. 3 GG garantiert. Im Übrigen sind Organisation und Betätigung der<br />

Koalitionen nicht gesetzlich geregelt. Rechtsfragen aus diesem Bereich sind daher<br />

typischerweise unter Rückgriff auf Art. 9 Abs. 3 GG <strong>zu</strong> lösen.<br />

Eine Koalition im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG muss <strong>zu</strong>nächst die Merkmale einer<br />

Vereinigung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 GG erfüllen, also freiwillig <strong>zu</strong>stande<br />

gekommen sein und eine gewisse Stabilität (körperschaftliche Organisationsstruktur,<br />

auf Dauer angelegt) aufweisen. Der besondere Zweck der Vereinigung muss in der<br />

Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestehen. Nach<br />

der gängigen Formel der herrschenden Meinung ist die Gesamtheit der Bedingungen<br />

gemeint, unter denen abhängige Arbeit geleistet und eine sinnvolle Ordnung des<br />

Arbeitslebens ermöglicht wird. Zudem muss eine Koalition vom sozialen<br />

Gegenspieler und von Staat, Kirchen oder Parteien personell, finanziell und<br />

organisatorisch unabhängig sein. Schließlich muss innerhalb der Vereinigung eine<br />

demokratische Willensbildung gewährleistet sein.<br />

G ist eine Gewerkschaft im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG.<br />

2. Unmittelbare Drittwirkung<br />

Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit richtet sich, wie bei allen anderen<br />

Grundrechten, in erster Linie gegen den Staat. Im Gegensatz <strong>zu</strong> allen anderen<br />

Grundrechten gilt die Koalitionsfreiheit – in einem Teilbereich – nach Art. 9 Abs. 3<br />

S. 2 GG aber unmittelbar zwischen Privatrechtssubjekten (unmittelbare<br />

Drittwirkung der Koalitionsfreiheit zwischen Privaten). Nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG<br />

sind nämlich privatrechtliche Abreden, die die Koalitionsfreiheit einschränken oder<br />

auch nur <strong>zu</strong> behindern suchen, nichtig, entsprechende Maßnahmen sind<br />

rechtswidrig.<br />

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Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht<br />

WS 2010/2011<br />

3. Schutzbereich<br />

Art. 9 Abs. 3 GG schützt über seinen Wortlaut hinaus nicht nur das Recht, sich <strong>zu</strong><br />

einer Koalition <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>schließen. Dieses Recht würde leerlaufen, wenn sich die<br />

Koalition nicht auch ihrem Zweck gemäß betätigen dürfte. Geschützt ist daher auch<br />

die koalitionsspezifische Betätigung, also alle Tätigkeiten einer Koalition, die sich<br />

auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen richten.<br />

Zudem garantiert Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen das Recht, alle Tätigkeiten<br />

aus<strong>zu</strong>üben, die für die Erhaltung und Sicherung der Koalition notwendig sind. Zu<br />

dieser Freiheit gehört auch das Werben um neue Mitglieder, da hierdurch der<br />

Bestand der Koalition gesichert und ihre Schlagkraft gegenüber ihrem jeweiligen<br />

sozialen Gegenspieler erhöht wird. Ohne neue Mitglieder würde der<br />

Mitgliederbestand einer Gewerkschaft sich im Laufe der Zeit so stark reduzieren,<br />

dass sie ihre Aufgabe nicht mehr sachgerecht erfüllen könnte. Auch das einzelne<br />

Mitglied einer Vereinigung wird durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, wenn es andere<br />

<strong>zu</strong>m Beitritt <strong>zu</strong> gewinnen sucht.<br />

„Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet für jedermann und für alle Berufe das Recht, <strong>zu</strong>r Wahrung und<br />

Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Koalitionen <strong>zu</strong> bilden. Das Grundrecht<br />

schützt die Freiheit des einzelnen, eine derartige Vereinigung <strong>zu</strong> gründen, ihr bei<strong>zu</strong>treten<br />

oder fern<strong>zu</strong>bleiben. Außerdem schützt es die Koalitionen in ihrem Bestand und ihrer<br />

organisatorischen Ausgestaltung sowie solche Betätigungen, die darauf gerichtet sind, die<br />

Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen <strong>zu</strong> wahren und <strong>zu</strong> fördern (…). Zu den geschützten<br />

Tätigkeiten gehört auch die Mitgliederwerbung durch die Koalitionen selbst. Diese schaffen<br />

damit das Fundament für die Erfüllung ihrer in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Aufgaben. Durch<br />

die Werbung neuer Mitglieder sichern sie ihren Fortbestand. Von der Mitgliederzahl hängt ihre<br />

Verhandlungsstärke ab. Aber auch das einzelne Mitglied einer Vereinigung wird durch Art. 9<br />

Abs. 3 GG geschützt, wenn es andere <strong>zu</strong>m Beitritt <strong>zu</strong> gewinnen sucht. Wer sich darum<br />

bemüht, die eigene Vereinigung durch Mitglieder<strong>zu</strong>wachs <strong>zu</strong> stärken, nimmt das Grundrecht<br />

der Koalitionsfreiheit wahr.“ (BVerfG, NZA 1996, 381, 382)<br />

Eine effektive Werbung ist nur dort möglich, wo die Werbung auf Aufmerksamkeit<br />

und Aufgeschlossenheit stoßen kann. Das ist der Betrieb, da hier die Fragen,<br />

Aufgaben und Probleme deutlich werden, auf die sich das Tätigwerden einer<br />

Gewerkschaft bezieht und an die die Werbung um neue Mitglieder anknüpfen kann.<br />

Das Aufhängen von Plakaten im Betrieb ist daher eine koalitionsmäßige Betätigung,<br />

die in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fällt.<br />

Es hat allerdings in Absprache mit dem Arbeitgeber an einem dafür vorgesehenen<br />

Ort statt<strong>zu</strong>finden. Das „Schwarze Brett“ im Pausenraum stellt einen geeigneten Ort<br />

dar, so dass A das Recht hatte, ein Gewerkschaftsplakat dort auf<strong>zu</strong>hängen.<br />

„Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht von vornherein auf einen Kernbereich<br />

koalitionsgemäßer Betätigungen beschränkt, die für die Erreichung des Koalitionszwecks<br />

unerlässlich sind. Er erstreckt sich vielmehr auf alle koalitionsspezifischen<br />

Verhaltensweisen (…). Auch über die tatsächliche Art und Weise, in der eine Koalition<br />

Werbung betreiben und Informationen erteilen will, kann sie deshalb grundsätzlich selbst<br />

befinden. Soweit die Verfolgung des Koalitionszwecks von dem Einsatz bestimmter Mittel<br />

abhängt, werden auch diese vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst (…).<br />

Dementsprechend kann eine Gewerkschaft selbst bestimmen, an welchem Ort, durch<br />

welche Personen und in welcher äußeren Form sie um Mitglieder werben oder die<br />

Arbeitnehmer informieren will. Damit unterfällt etwa ihre Entscheidung, Mitgliederwerbung<br />

unmittelbar im Betrieb und mit betriebsexternen Beauftragten <strong>zu</strong> betreiben, dem<br />

Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG. Die Gewerkschaft ist nicht auf einen Kernbereich<br />

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WS 2010/2011<br />

unerlässlicher Werbemaßnahmen und damit möglicherweise auf Aktivitäten außerhalb des<br />

Rechtsbereichs des Arbeitgebers und Betriebsinhabers beschränkt (…).“ (BAG, NZA 2009,<br />

615, Rn. 39)<br />

Auch das Verteilen von Werbe- und Informationsmaterial in den Arbeitspausen ist<br />

von der Koalitionsfreiheit geschützt. Allerdings darf die Gewerkschaftswerbung nicht<br />

die Betriebsmittel des Arbeitgebers für ihre Zwecke benutzen. So wäre<br />

beispielsweise die Verwendung des betriebseigenen Postdienstes für die<br />

Versendung der Broschüren un<strong>zu</strong>lässig. Ferner darf es durch die Werbeaktivitäten <strong>zu</strong><br />

keinen erheblichen und nachhaltigen Störungen des Betriebsablaufs oder des<br />

Betriebsfriedens kommen.<br />

„Ist die Gewerkschaft bei der von ihr gewählten Art und Weise der Mitgliederwerbung und<br />

Information auf die Inanspruchnahme von Eigentum oder Betriebsmitteln des Arbeitgebers<br />

angewiesen, kollidiert dies mit dessen Rechtspositionen aus Art. 14 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1<br />

GG und Art. 12 Abs. 1 GG in Gestalt des Rechts auf wirtschaftliche Betätigungsfreiheit.<br />

Dieses wird insbesondere im <strong>Fall</strong> der Störung des Betriebsablaufs oder des<br />

Betriebsfriedens berührt (…). Zum Schutz von gleichermaßen verfassungsrechtlich<br />

gewährleisteten Rechtsgütern und Gemeinwohlbelangen kann die von Art. 9 Abs. 3 GG<br />

garantierte Koalitionsfreiheit, obwohl ohne Gesetzesvorbehalt verbürgt, eingeschränkt werden<br />

(…). Allerdings dürfen dem Betätigungsrecht der Koalition nur solche Schranken gezogen<br />

werden, die im konkreten <strong>Fall</strong> <strong>zu</strong>m Schutz der betroffenen Rechtsgüter von der Sache her<br />

geboten sind (…). Die da<strong>zu</strong> erforderliche Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit durch die<br />

Rechtsordnung obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber. Sieht dieser hiervon ab, ist es Sache<br />

der Gerichte, den mit Art. 9 Abs. 3 GG verbundenen staatlichen Schutzauftrag bei der<br />

Normauslegung und gegebenenfalls im Wege der Rechtsfortbildung wahr<strong>zu</strong>nehmen (...).<br />

Dabei sind die kollidierenden Grundrechte in ihrer Wechselwirkung <strong>zu</strong> erfassen und so <strong>zu</strong><br />

begrenzen, dass sie trotz ihres Gegensatzes, für alle Beteiligten möglichst weitgehend<br />

wirksam werden (…).“ (BAG, NZA 2009, 615, Rn. 40)<br />

A hat nicht in der Arbeitszeit, sondern während der Arbeitspausen für die G<br />

geworben. Störungen des Betriebsablaufs oder des Betriebsfriedens sind daher nicht<br />

ersichtlich. Daher waren die G als Koalition und A als deren Mitglied berechtigt, im<br />

Betrieb des R für die Gewerkschaft <strong>zu</strong> werben (vgl. BVerfGE 28, 295, 304). R muss<br />

dies dulden und darf die Gewerkschaftswerbung aufgrund der unmittelbaren Wirkung<br />

der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht untersagen.<br />

R durfte die Aktivitäten des A nicht verbieten.<br />

II.<br />

Werbeverbot gegenüber F<br />

Zu prüfen ist, ob das gegenüber F ausgesprochene Werbeverbot ebenfalls<br />

un<strong>zu</strong>lässig gewesen ist.<br />

Im <strong>Fall</strong> des betriebsfremden Gewerkschaftsfunktionärs F besteht die – im Vergleich<br />

<strong>zu</strong>m <strong>Fall</strong> des A <strong>zu</strong>sätzliche – Problematik, dass dem Recht der G auf<br />

Mitgliederwerbung aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur die wirtschaftliche<br />

Betätigungsfreiheit des R nach Art. 12 Abs. 1 GG, sondern darüber hinaus auch<br />

dessen Haus- und Eigentumsrechte gegenüberstehen. Auch diese Rechte sind<br />

nach Art. 13 und 14 GG verfassungsrechtlich geschützt. Das Zutrittsrecht<br />

betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter <strong>zu</strong>m Zwecke der Mitgliederwerbung ist<br />

gesetzlich nicht geregelt. Zur Wahrnehmung der im BetrVG genannten Aufgaben und<br />

Befugnisse in § 2 Abs. 2 BetrVG ist den Gewerkschaften unter bestimmten<br />

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WS 2010/2011<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ngen ein Zugangsrecht <strong>zu</strong>m Betrieb ausdrücklich eingeräumt, für ihre<br />

allgemeine koalitionsspezifische Betätigung fehlt es aber an einer gesetzlichen<br />

Ausgestaltung.<br />

Nach der Rechtsprechung des BAG folgt ein Anspruch der Gewerkschaften,<br />

Mitgliederwerbung auch durch betriebsfremde Beauftragte durch<strong>zu</strong>führen und hierfür<br />

Zutritt <strong>zu</strong>m Betrieb <strong>zu</strong> erhalten, aus einer von den Gerichten auf Grund ihrer<br />

Schutzpflicht im Wege der Rechtsfortbildung vor<strong>zu</strong>nehmenden Ausgestaltung der<br />

gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit (s. BAG, NZA 2006, 798; <strong>zu</strong>st. Edenfeld, SAE<br />

2007, 91). Art. 9 Abs. 3 GG überlasse den Koalitionen grundsätzlich die Wahl der<br />

Mittel, die sie bei ihrer koalitionsspezifischen Betätigung für geeignet und<br />

erforderlich halten. Dementsprechend könne eine Gewerkschaft selbst darüber<br />

befinden, an welchem Ort, durch welche Personen und in welcher Art und Weise sie<br />

um Mitglieder werben will und auch ihre Entscheidung, Mitgliederwerbung im Betrieb<br />

und durch von ihr ausgewählte betriebsexterne Beauftragte durch<strong>zu</strong>führen, unterfalle<br />

dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG. Die Weigerung des Arbeitgebers einem<br />

außerbetrieblichen Gewerkschaftsbeauftragten <strong>zu</strong>m Zwecke der koalitionsgemäßen<br />

Betätigung den Zutritt <strong>zu</strong>m Betrieb <strong>zu</strong> gewähren, stelle folglich einen Verstoß gegen<br />

die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG dar, sofern nicht im konkreten <strong>Fall</strong><br />

überwiegende schützenswerte Interessen des Arbeitgebers (z.B. <strong>zu</strong> erwartende<br />

schwere Betriebsstörungen) oder Werte von Verfassungsrang entgegenstehen.<br />

Nach der Gegenmeinung (vgl. Richardi – Richardi, BetrVG, 12. Aufl., 2010, § 2,<br />

Rn. 151ff.) überwiegt die Schwere des Eingriffs in das Hausrecht des Arbeitgebers<br />

das Interesse der Gewerkschaft an der Mitgliederwerbung im Betrieb durch<br />

betriebsfremde Dritte, jedenfalls soweit die Koalition nicht zwingend auf den Zutritt<br />

<strong>zu</strong>m Betrieb angewiesen ist, sondern z.B. auch vor dem Werkstor werben könnte.<br />

Nach dieser Ansicht durfte R dem betriebsfremden Gewerkschaftsfunktionär F somit<br />

verbieten, auf dem Betriebsgelände Flugblätter <strong>zu</strong> verteilen.<br />

Nach der Rechtsprechung des BAG war das Verbot <strong>zu</strong>lässig, weil der Betriebsablauf<br />

nicht massiv gestört würde. Daher war das von R ausgesprochene Verbot insoweit<br />

un<strong>zu</strong>lässig.<br />

Anm.: Es wäre gut vertretbar in dieser Hinsicht mit der Gegenmeinung ein anderes<br />

Ergebnis <strong>zu</strong> vertreten.<br />

Das Verteilen von Flugblättern vor dem Werkstor muss R hingegen nach allen<br />

Ansichten hinnehmen, da diesbezüglich sein Hausrecht nicht entgegensteht.<br />

B. Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag<br />

Anm.: Ein Tarifvertrag (nachfolgend „TV“ abgekürzt) ist ein Vertrag zwischen<br />

tariffähigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen, den sog.<br />

Tarifvertragsparteien. Er enthält nach § 1 Abs. 1 TVG Rechtsnormen, die<br />

den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie<br />

betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können (sog.<br />

normativer Teil des TV) und regelt die Rechte und Pflichten der<br />

Tarifvertragsparteien (sog. schuldrechtlicher Teil des TV). Sofern beide<br />

Parteien eines Arbeitsvertrages, also Arbeitgeber und Arbeitnehmer,<br />

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WS 2010/2011<br />

tarifgebunden sind und das zwischen ihnen bestehende in den<br />

Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich eines TV fällt , wirkt dieser TV nach<br />

§ 4 Abs. 1 TVG unmittelbar (also ohne dass seine Geltung noch vertraglich<br />

vereinbart werden müsste) und zwingend (mit der Folge, dass<br />

arbeitsvertragliche Abweichungen <strong>zu</strong>m Nachteil des Arbeitnehmers unwirksam<br />

sind) auf das Arbeitsverhältnis ein. Nach § 4 Abs. 3 TVG sind abweichende<br />

Abmachungen nur <strong>zu</strong>lässig, soweit sie durch eine sogenannte Öffnungsklausel<br />

im Tarifvertrag ausdrücklich gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen<br />

<strong>zu</strong>gunsten des Arbeitnehmers enthalten (sog. Günstigkeitsprinzip). Die<br />

Tarifgebundenheit kann sich aus der Mitgliedschaft in der<br />

tarifvertragsschließenden Koalition (also in der Gewerkschaft oder dem<br />

Arbeitgeberverband) oder aus einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach<br />

§ 5 TVG ergeben. Rechtsnormen eines TV über betriebliche und<br />

betriebsverfassungsrechtliche Fragen gelten nach § 2 Abs. 2 TVG in allen<br />

Betrieben, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist; auf die Tarifbindung der<br />

Arbeitnehmer kommt es in diesem <strong>Fall</strong> also nicht an. Der einzelne Arbeitgeber<br />

kann <strong>zu</strong>dem nach § 2 Abs. 1 TVG selbst einen Haus- oder Firmentarifvertrag<br />

mit einer Gewerkschaft abschließen.<br />

I. Urlaubsanspruch der O<br />

1. Tarifvertrag<br />

O könnte gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 TVG i.V.m. dem TV einen Anspruch auf 28<br />

Urlaubstage haben, wenn die Rechtsnormen des zwischen Arbeitgeberverband V<br />

und Gewerkschaft G geschlossenen Tarifvertrags unmittelbar und zwingend für ihr<br />

Arbeitsverhältnis gelten würden.<br />

Dies ist gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 TVG nur dann der <strong>Fall</strong>, wenn das Arbeitsverhältnis in<br />

den Geltungsbereich des Tarifvertrags fällt und sowohl der Arbeitnehmer als auch<br />

der Arbeitgeber tarifgebunden sind und.<br />

Der Geltungsbereich des Tarifvertrags erfasst das Arbeitsverhältnis der O.<br />

Tarifgebunden sind gemäß § 3 Abs. 1 TVG die Mitglieder der Tarifvertragsparteien<br />

und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrags ist. Gemäß § 2 Abs. 1 TVG<br />

können Tarifvertragsparteien Gewerkschaften sowie Vereinigungen von Arbeitgebern<br />

sein. R gehört dem Arbeitgeberverband V an. Er ist somit Mitglied in einer<br />

Vereinigung von Arbeitgebern, welche wiederum Partei des betreffenden<br />

Tarifvertrags ist. Hieraus folgt die Tarifgebundenheit des A.<br />

Um einen Anspruch <strong>zu</strong> begründen, müsste jedoch nicht nur der Arbeitgeber R,<br />

sondern auch die O tarifgebunden sein. O ist jedoch nicht Mitglied in der<br />

tarifschließenden Gewerkschaft G und somit gemäß §§ 3 Abs. 1, 2 Abs. 1 TVG nicht<br />

tarifgebunden.<br />

O hat folglich keinen Anspruch auf 28 Urlaubstage nach § 4 Abs. 1 S. 1 TVG i.V.m.<br />

dem TV.<br />

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2. Arbeitsvertrag<br />

Der zwischen R und O bestehende Arbeitsvertrag sieht lediglich einen<br />

Urlaubsanspruch von 26 Tagen im Kalenderjahr vor, so dass auch kein<br />

arbeitsvertraglicher Anspruch der O auf 28 Urlaubstage im Jahr besteht.<br />

3. Gesetz<br />

Der gesetzliche Urlaubsanspruch beträgt nach § 3 Abs. 1 Bundesurlaubsgesetz<br />

(BUrlG) lediglich 24 Werktage, so dass O auch aus dem Gesetz keinen<br />

Urlaubsanspruch in von 28 Tagen im Jahr für sich herleiten kann.<br />

II.<br />

„Anreiz <strong>zu</strong>m Gewerkschaftsbeitritt“<br />

Um den erhöhten tarifvertraglichen Urlaubsanspruch <strong>zu</strong> erhalten, wird O<br />

möglicherweise der Gewerkschaft G beitreten. In diesem <strong>Fall</strong> tritt gemäß § 3 Abs. 1<br />

TVG beiderseitige Tarifbindung ein, so dass auf das Arbeitsverhältnis zwischen R<br />

und O der zwischen V und G abgeschlossene Tarifvertrag gemäß § 4 Abs. 1 TVG<br />

unmittelbare und zwingende Anwendung finden würde. O hätte dann einen Anspruch<br />

auf 28 Urlaubstage im Kalenderjahr (vgl. oben B.I.1.).<br />

Eine Möglichkeit des Arbeitgebers, diesen Anreiz <strong>zu</strong>m Gewerkschaftsbeitritt <strong>zu</strong><br />

vermeiden, ist es, die tariflichen Leistungen auch den nicht gewerkschaftlich<br />

organisierten Arbeitnehmern (sog. Außenseiter) <strong>zu</strong> gewähren. Dies kann der<br />

Arbeitgeber durch eine arbeitsvertragliche Be<strong>zu</strong>gnahme auf den Tarifvertrag<br />

erreichen. Durch die Gleichstellung von organisierten und nichtorganisierten<br />

Arbeitnehmern werden dann <strong>zu</strong>gleich einheitliche Arbeitsbedingungen im Betrieb<br />

geschaffen. Dabei muss aber beachtet werden, dass eine solche Verweisung nicht<br />

da<strong>zu</strong> führt, dass der Tarifvertrag im Sinne des § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und<br />

zwingend für das Arbeitsverhältnis gilt. Die tariflichen Regelungen werden vielmehr<br />

Inhalt des Arbeitsvertrages und haben daher den Rechtscharakter<br />

arbeitsvertraglicher Vereinbarungen. Die Be<strong>zu</strong>gnahmeklausel kann daher von den<br />

Arbeitsvertragsparteien <strong>zu</strong> einem späteren Zeitpunkt einvernehmlich geändert<br />

werden oder ggf. aufgrund einer Änderungskündigung des Arbeitgebers (vgl. § 2<br />

KSchG) entfallen.<br />

Anm.: Es ist zwischen statischen und dynamischen Be<strong>zu</strong>gnahmen auf<br />

Tarifverträge <strong>zu</strong> unterscheiden. Dabei bezieht sich die statische Be<strong>zu</strong>gnahme<br />

nur auf den Inhalt eines Tarifvertrages <strong>zu</strong> einem bestimmten Zeitpunkt. Der<br />

Nachteil an diesen Klauseln ist, dass sie unflexibel sind und künftige<br />

Tarifentwicklungen nicht erfassen. Eine dynamische Be<strong>zu</strong>gnahmeklausel<br />

erstreckt sich demgegenüber auf den jeweils geltenden Tarifvertrag und<br />

erfasst daher auch spätere Änderungen des in Be<strong>zu</strong>g genommen<br />

Tarifvertrages. Eine kleine dynamische Be<strong>zu</strong>gnahmeklausel nimmt dabei<br />

lediglich einen bestimmten Tarifvertrag in seiner jeweils geltenden Fassung<br />

in Be<strong>zu</strong>g; die große dynamische Be<strong>zu</strong>gnahmeklausel verweist hingegen<br />

auf den jeweils anwendbaren Tarifvertrag in seiner jeweils geltenden<br />

Fassung. Mit dieser Formulierung wird künftigen Tarifentwicklungen Inhalt<br />

des Arbeitvertrages.<br />

Hätten R und O in dem zwischen ihnen geschlossenen Arbeitsvertrag eine<br />

Be<strong>zu</strong>gnahme auf den zwischen dem Arbeitgeberverband V und der Gewerkschaft G<br />

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geschlossenen TV aufgenommen, hätte O aus dieser arbeitsvertraglichen Abrede<br />

einen Urlaubsanspruch von 28 Tagen im Kalenderjahr. Sie würde dann genauso<br />

behandelt wie das Gewerkschaftsmitglied A. Der Gewerkschaftsbeitritt würde die<br />

Urlaubsansprüche der O nicht erhöhen, so dass sich daraus kein Anreiz für O mehr<br />

ergibt, der Gewerkschaft G bei<strong>zu</strong>treten.<br />

III.<br />

Urlaubsansprüche des A<br />

1. Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG)<br />

A hat gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 TVG i.V.m. dem TV einen Anspruch auf 28 Tage<br />

Urlaub, wenn sein Arbeitsverhältnis <strong>zu</strong> R in den Geltungsbereich des Tarifvertrags<br />

fällt und beide Parteien des Arbeitsvertrags Mitglied einer Tarifvertragspartei.<br />

Das Arbeitsverhältnis des A fällt in den Geltungsbereich des Tarifvertrags.<br />

Auch ist A durch seine Gewerkschaftsangehörigkeit Mitglied einer Tarifvertragspartei<br />

(§ 2 Abs. 1 TVG) und damit tarifgebunden (§ 3 Abs. 1 TVG). Problematisch ist<br />

jedoch, dass R aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten ist. Grundsätzlich endet die<br />

Tarifgebundenheit mit dem Ende der Verbandsmitgliedschaft (vgl. § 3 Abs. 1<br />

TVG).<br />

2. Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG)<br />

Nach § 3 Abs. 3 TVG besteht die Tarifgebundenheit im Wege der sog. Nachbindung<br />

jedoch bis <strong>zu</strong>m Ende des Tarifvertrags weiter.<br />

Der Austritt des R aus dem Arbeitgeberverband V bleibt somit einstweilen ohne<br />

Folgen für die Normwirkung des Tarifvertrags nach § 4 Abs. 1 TVG. A behält somit<br />

<strong>zu</strong>nächst seinen Anspruch auf 28 Urlaubstage im Kalenderjahr.<br />

Anm.: Dieser tarifliche Anspruch kann gemäß § 4 Abs. 3 TVG nicht <strong>zu</strong>ungunsten<br />

des A durch eine arbeitsvertragliche Regelung geändert werden. Nach dem<br />

Austritt des R vom Arbeitgeberverband V abgeschlossene Tarifverträge<br />

binden R jedoch nicht mehr. Die tariflichen Arbeitsbedingungen, die im<br />

Zeitpunkt seines Austritts aus dem Arbeitgeberverband gelten, werden nach<br />

§ 3 Abs. 3 TVG vielmehr (einstweilen) „eingefroren“.<br />

Die Tarifbindung bleibt gemäß § 3 Abs. 3 TVG allerdings nur solange bestehen, bis<br />

der Tarifvertrag endet. Eine Beendigung des Tarifvertrags in diesem Sinne ist<br />

• der Ablauf der vereinbarten Laufzeit des TV,<br />

• die wirksame Kündigung des TV,<br />

• die einvernehmliche Aufhebung des TV oder<br />

• der Abschluss eines neuen TV durch die Tarifvertragsparteien <strong>zu</strong>m gleichen<br />

Regelungsgehalt (sog. Ablösungsprinzip).<br />

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Anm.: Zu weiteren Beendigungsmöglichkeiten gemäß § 3 Abs. 3 TVG siehe: Preis,<br />

Arbeitsrecht – Kollektivarbeitsrecht, 2. Aufl., 2009, S. 176f.<br />

Solange der TV nicht endet, behält A somit seinen tariflichen Anspruch auf 28<br />

Urlaubstage im Kalenderjahr. Arbeitgeber R kann sich folglich nicht durch Austritt aus<br />

dem Arbeitgeberverband V seinen tarifvertraglichen Pflichten entziehen.<br />

3. Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG)<br />

Endet der TV im Sinne des § 3 Abs. 3 TVG, entfällt damit gleichwohl nicht seine<br />

Anwendung auf die Arbeitsverhältnisse, für die er bis dahin unmittelbar und zwingend<br />

nach § 4 Abs. 1 TVG gegolten hat. An die Nachbindung des § 3 Abs. 3 TVG schließt<br />

sich nach der Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Meinung die<br />

sog. Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG an.<br />

Nach § 4 Abs. 5 TVG gelten die Rechtsnormen eines TV auch nach dem Ablauf<br />

weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Die Tarifnormen<br />

behalten im Nachwirkungszeitraum daher ihre normative Wirkung, jedoch entfällt ihr<br />

zwingender Charakter. Unter „Ablauf“ im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG ist dabei<br />

grundsätzlich das Ende des TV nach § 3 Abs. 3 TVG sowie ein sonstiger Wegfall der<br />

Tarifbindung (z.B. Betriebsinhaberwechsel nach § 613a BGB) <strong>zu</strong> verstehen. Dies hat<br />

<strong>zu</strong>r Folge, dass der TV auch nach dem Austritt eines Arbeitgebers aus dem<br />

Arbeitgeberverband möglicherweise noch lange Zeit Anwendung findet.<br />

Eine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG kann neben einem neuen<br />

Tarifvertrag auch eine Betriebsvereinbarung oder eine arbeitsvertragliche Regelung<br />

sein.<br />

Ob jedoch eine schon vor Nachwirkung getroffene Regelung – im <strong>Fall</strong> des A die<br />

individualvertraglich vereinbarte Urlaubsregelung von 26 Tagen – in diesem Stadium<br />

wieder auflebt und die Nachwirkung beendet, ist streitig. Nach der Rechtsprechung<br />

des BAG ist es nicht zwingend erforderlich, dass die betreffende Abmachung zeitlich<br />

nach dem Ende des TV geschlossen wird; auch eine während der Laufzeit des TV<br />

geschlossene Vereinbarung kann die Nachwirkungsphase nach § 4 Abs. 5 TVG<br />

beenden, wenn sich <strong>zu</strong>mindest aus den Umständen ergibt, dass sie <strong>zu</strong>r Ablösung<br />

des nachwirkenden TV geschlossen wurde (vgl. BAG, NZA 2005, 1320).<br />

Die arbeitsvertragliche Einigung über den Urlaubsanspruch zwischen A und R wurde<br />

aber nicht im Hinblick auf die Ablösung tarifvertraglicher Ansprüche geschlossen, so<br />

dass A auch nach dem Austritt des R aus dem Arbeitgeberverband ein Anspruch auf<br />

28 Urlaubstage <strong>zu</strong>steht.<br />

IV.<br />

Urlaubsanspruch des N<br />

N hätte einen Anspruch auf 28 Urlaubstage, sofern die arbeitsvertragliche<br />

Vereinbarung wirksam ist und die Regelung des TV nicht vorrangige Geltung<br />

beansprucht.<br />

Grundsätzlich besteht an der Wirksamkeit der arbeitsvertraglichen Regelung kein<br />

Zweifel. Die in § 3 Abs. 1 BUrlG festgesetzte Anzahl von 24 Urlaubstagen ist<br />

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ausdrücklich nur eine Mindestanzahl. Von dieser darf folglich <strong>zu</strong>gunsten des<br />

Arbeitnehmers nach oben abgewichen werden und zwar sowohl im Arbeitsvertrag,<br />

als auch in Tarif- oder Betriebsvereinbarungen.<br />

Fraglich ist jedoch, wie es sich auswirkt, dass mit dem Gewerkschaftsbeitritt des N<br />

nun Kraft beiderseitiger Tarifbindung gem. § 3 Abs. 1 TVG die Urlaubstageregelung<br />

des einschlägigen Tarifvertrags unmittelbare und zwingende Wirkung entfaltet, § 4<br />

Abs. 1 S. 1 TVG.<br />

Grundsätzlich genießt ein Tarifvertrag als ranghöhere Rechtsquelle<br />

Geltungsvorrang. Allerdings verstehen sich Tarifregelungen als Mindestbedingungen<br />

<strong>zu</strong>m Schutze des einzelnen Arbeitnehmers. Es ist grundsätzlich nicht Sinn und<br />

Zweck eines Tarifvertrages, dem einzelnen Arbeitnehmer ein privatautonomes<br />

Aushandeln günstigerer Vertragsbedingungen mit seinem Arbeitgeber <strong>zu</strong> verwehren.<br />

Aus diesem Grund normiert § 4 Abs. 3 TVG ausdrücklich das sog.<br />

„Günstigkeitsprinzip“, nach dem der Arbeitsvertrag Abweichungen vom TV<br />

<strong>zu</strong>gunsten des Arbeitnehmers enthalten darf. Aufgrund dieses Prinzips gilt für N trotz<br />

des abstrakten Geltungsvorrangs des Tarifvertrags die für ihn günstigere Regelung<br />

seines Arbeitsvertrags.<br />

Folglich stehen N 28 Urlaubstage im Jahr <strong>zu</strong>.<br />

V. Urlaubsanspruch des N (Betriebsvereinbarung)<br />

Abweichend vom Ausgangsfall hat N einen Anspruch auf 30 Urlaubstage pro Jahr,<br />

wenn die Betriebsvereinbarung auf sein Arbeitsverhältnis vorrangig Anwendung<br />

fände.<br />

Entscheidende Frage ist erneut, ob entgegen dem generellen Geltungsvorrang des<br />

TV auch eine Betriebsvereinbarung über das Günstigkeitsprinzip Anwendung<br />

finden kann. Dem könnte jedoch, anders als im <strong>Fall</strong>e des Arbeitsvertrages, eine<br />

gesetzliche Regelung des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG entgegenstehen. Diese legt<br />

ausdrücklich eine Regelungssperre für die Betriebsvereinbarung bezüglich<br />

bestimmter Inhalte fest. Hierunter fallen nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG neben den<br />

dort ausdrücklich genannten Entgeltregelungen auch alle sonstigen<br />

Arbeitsbedingungen, die Gegenstand eines geltenden Tarifvertrags sind. Im <strong>Fall</strong> des<br />

D wird die Anzahl der Urlaubstage tarifvertraglich geregelt.<br />

Sinn und Zweck des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG ist es, die Tarifparteien vor ungewollter<br />

Konkurrenz durch die Betriebsparteien <strong>zu</strong> schützen. Darüber hinaus soll dem<br />

Arbeitgeber die Möglichkeit genommen werden, nicht organisierten Arbeitnehmern<br />

den Anreiz <strong>zu</strong>m Gewerkschaftsbeitritt durch den Abschluss von<br />

Betriebsvereinbarungen <strong>zu</strong> nehmen (vgl. hier<strong>zu</strong> B.II.). Sofern die Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />

des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG erfüllt sind, findet das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis<br />

konkurrierender TV und Betriebsvereinbarungen keine Anwendung.<br />

Von § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG unberührt bleibt die Geltung der arbeitsvertraglichen<br />

Regelung. Da die Betriebsvereinbarung aufgrund von § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG<br />

unwirksam ist, bleibt die vertragliche Abrede weiterhin vorrangig anwendbar.<br />

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N stehen somit nach wie vor aufgrund seiner arbeitsvertraglicher Vereinbarung mit U<br />

28 Urlaubstage im Jahr <strong>zu</strong>.<br />

VI.<br />

Anwendbarkeit der Betriebsvereinbarung<br />

Grundsätzlich besteht für die Tarifparteien die Möglichkeit, im Rahmen ihrer durch<br />

Art. 9 Abs. 3 GG festgelegten Kompetenzgrenzen eine sog. Tariföffnungsklausel <strong>zu</strong><br />

vereinbaren. Diese kann sowohl Abweichungsmöglichkeiten nach oben oder sogar<br />

nach unten beinhalten. Im Gesetz findet diese Möglichkeit Ausdruck in § 77 Abs. 3<br />

S. 2 BetrVG. Vereinbaren die Tarifparteien eine solche Klausel, wäre die<br />

Betriebsvereinbarung <strong>zu</strong>m Urlaubsanspruch der Arbeitnehmer wirksam.<br />

In diesem <strong>Fall</strong> findet zwischen den konkurrierenden Regelungen des<br />

Arbeitsvertrages und der Betriebsvereinbarung – in Ermangelung einer § 77 Abs. 3<br />

S. 1 BetrVG entsprechenden Vorschrift – das Günstigkeitsprinzip Anwendung. N<br />

stünde dann aus der Betriebsvereinbarung ein Urlaubsanspruch von 30 Tagen im<br />

Jahr <strong>zu</strong>.<br />

C. Differenzierungsklauseln<br />

Die von G aufgestellte Tarifforderung verstößt möglicherweise gegen das Grundrecht<br />

der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG.<br />

Tarifgebundene Arbeitgeber behandeln ihre Arbeitnehmer in der Regel unabhängig<br />

von deren Tarifbindung, also ihrer Gewerkschafts<strong>zu</strong>gehörigkeit, nach den Regeln des<br />

Tarifvertrags. Dies geschieht durch eine arbeitsvertragliche Be<strong>zu</strong>gnahmeklausel<br />

(auch „Gleichstellungsabrede“ genannt), d.h. einer Klausel, die im Arbeitsvertrag auf<br />

die Regelungen des einschlägigen Tarifvertrags Be<strong>zu</strong>g nimmt und ihnen so<br />

arbeitsvertragliche Wirkung <strong>zu</strong>kommen lässt. Der Grund hierfür liegt vor allem darin,<br />

den Arbeitnehmern keine <strong>zu</strong>sätzliche Motivation <strong>zu</strong> geben, Gewerkschaftsmitglied <strong>zu</strong><br />

werden (s. oben B.II.).<br />

Differenzierungsklauseln sind tarifvertragliche Regelungen, mit denen die<br />

Gewerkschaft versucht, nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer von<br />

tariflichen Vorteilen aus<strong>zu</strong>schließen (Tarifausschlussklausel), bzw. Gewerkschaftsmitgliedern<br />

einen Vorteil gegenüber den anderen Arbeitnehmern <strong>zu</strong><br />

verschaffen, indem ihnen ein <strong>zu</strong>sätzlicher Vorteil versprochen wird<br />

(Spannenklausel). Durch diese Klauseln soll für die nichtorganisierten Arbeitnehmer<br />

ein Anreiz <strong>zu</strong>m Gewerkschaftsbeitritt geschaffen werden. Zu unterscheiden sind<br />

einfache und qualifizierte Differenzierungsklauseln. Eine einfache Differenzierungsklausel<br />

sorgt dafür, dass nur Gewerkschaftsmitglieder Anspruch auf eine<br />

Sonderzahlung, einen Bonus oder eine sonstige Vergünstigung haben. Im TV selbst<br />

finden sich aber keine Schranken dafür, dass der Arbeitgeber – dann allerdings<br />

freiwillig – auch Nichtmitgliedern die entsprechenden Leistungen gewähren kann.<br />

Eine qualifizierte Differenzierungsklausel sorgt hingegen dafür, dass die<br />

Gewerkschaftsmitglieder gegenüber den nichtorganisierten Arbeitnehmern einen<br />

Vorteil haben, weil sie den Arbeitgebern untersagt, individualvertragliche Regelungen<br />

<strong>zu</strong> treffen, nach denen Nichtmitglieder die gleichen Leistungen erhalten.<br />

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Durch qualifizierte Differenzierungsklauseln wird ein unmittelbarer Druck auf die nicht<br />

organisierten Arbeitnehmer ausgeübt, der Gewerkschaft bei<strong>zu</strong>treten, um die Vorteile<br />

<strong>zu</strong> erhalten, die nach dem Tarifvertrag ausschließlich den Gewerkschaftsmitgliedern<br />

vorbehalten sind. Ebenso wie das Recht, Mitglied einer Gewerkschaft <strong>zu</strong> werden, ist<br />

jedoch auch das Recht, einer Gewerkschaft fern<strong>zu</strong>bleiben durch Art. 9 Abs. 3 GG<br />

geschützt (sog. negative Koalitionsfreiheit). Qualifizierte Differenzierungsklauseln<br />

können nach der Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Meinung in der<br />

Literatur einen un<strong>zu</strong>lässigen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der<br />

nichtorganisierten Arbeitnehmer darstellen. In diesem <strong>Fall</strong> sind die Klauseln wegen<br />

Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit der nichtorganisierten Arbeitnehmer<br />

nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nichtig (vgl. BAGE 20, 175, 228).<br />

Für einfache Differenzierungsklauseln hat das BAG (NZA 2009, 1028) dies anders<br />

gesehen. Diese Klauseln machen zwar die Zugehörigkeit <strong>zu</strong>r tarifschließenden<br />

Gewerkschaft <strong>zu</strong>r Vorausset<strong>zu</strong>ng für einen bestimmten materiellen Anspruch, lassen<br />

aber die Ausdehnung des betreffenden Anspruchs auf weitere Arbeitnehmer durch<br />

individualvertragliche Vereinbarungen <strong>zu</strong>. Bei diesen Klauseln steht es dem<br />

Arbeitgeber frei, den Außenseitern auf anderer Rechtsgrundlage, insbesondere dem<br />

Arbeitsvertrag, die gleichen Leistungen <strong>zu</strong> gewähren. Der auf die nicht organisierten<br />

Arbeitnehmer ausgeübte Druck sei in diesem <strong>Fall</strong> nicht als unangemessen hoch<br />

an<strong>zu</strong>sehen, weil sie auch auf andere Weise als durch den Gewerkschaftsbeitritt,<br />

nämlich durch das Hinwirken auf eine individualvertragliche Vereinbarung mit dem<br />

Arbeitgeber, die fraglichen Leistungen erhalten könnten.<br />

Die Tarifforderung der G ist auf einen besonderen Kündigungsschutz für ihre<br />

Mitglieder in einer Phase wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Arbeitgebers gerichtet.<br />

Dieser Schutz soll nur den Gewerkschaftsmitgliedern <strong>zu</strong>kommen, so dass eine<br />

qualifizierte Differenzierungsklausel vorliegt. Der mit dieser Klausel verbundene<br />

Druck ist so hoch, dass praktisch alle nicht organisierten Arbeitnehmer der G<br />

beitreten müssten, um die arbeitgeberseitige Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses <strong>zu</strong><br />

vermeiden (vgl. Gamillscheg, NZA 2005, 146, 150). Aufgrund dieses massiven<br />

„Beitrittsdrucks“ liegt ein un<strong>zu</strong>lässiger Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der<br />

nicht organisierten Arbeitnehmer des R vor, so dass die Tarifforderung der G im<br />

Ergebnis gegen die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG verstößt.<br />

D. Streikteilnahme<br />

I. Arbeitsentgelt<br />

Die Verpflichtung des R <strong>zu</strong>r Lohnzahlung an A ist mit Abschluss des Arbeitsvertrages<br />

entstanden und ergibt sich aus § 611 Abs. 1 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag.<br />

Der Anspruch auf den Arbeitslohn könnte aber nach der allgemeinen, in § 326 Abs. 1<br />

S. 1 Hs. 1 BGB normierten Grundsatz „ohne Leistung keine Gegenleistung“ (im<br />

Arbeitsverhältnis: „ohne Arbeit kein Lohn“) entfallen sein, wenn A die Erbringung<br />

der geschuldeten Leistung für den 19.10.2010 unmöglich geworden ist. A hat an<br />

diesem Tag nicht gearbeitet und aufgrund des Fixschuldcharakters der<br />

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Arbeitsleistung ist diese nicht nachholbar. Mit Nichtleistung der Arbeit <strong>zu</strong>m<br />

vereinbarten Zeitpunkt trat daher gemäß § 275 Abs. 1 BGB Unmöglichkeit ein. Nach<br />

der Grundregel des § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BGB wäre der Lohnanspruch somit<br />

erloschen.<br />

Im Arbeitsrecht bestehen vom Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“ viele Ausnahmen,<br />

wie z.B. die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder an Feiertagen.<br />

Die Teilnahme am Arbeitskampf stellt allerdings keine solche Ausnahme dar,<br />

weswegen es beim Grundsatz des § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BGB bleibt, dass der<br />

Anspruch auf die Gegenleistung, also die Lohnzahlung, untergeht. Ob der fragliche<br />

Streik rechtswidrig oder rechtmäßig war, spielt für den Anspruch auf Lohnzahlung<br />

keine Rolle.<br />

A hat gegen R also in beiden <strong>Fall</strong>varianten keinen Anspruch auf Zahlung des<br />

Arbeitslohnes für den 19.10.2010, da dieser zwar nach § 611 BGB i.V.m. dem<br />

Arbeitsvertrag entstanden, aber nach § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BGB untergegangen<br />

ist.<br />

II.<br />

Abmahnung<br />

Zu prüfen ist weiter, ob R den A berechtigterweise abgemahnt hat. Wenn die<br />

Abmahnung aufgrund einer un<strong>zu</strong>treffenden rechtlichen Bewertung erfolgt ist, hat A<br />

einen Anspruch auf Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte aus §§ 242,<br />

1004 BGB analog (s. hier<strong>zu</strong> <strong>Fall</strong> 2 B.; BAG, NZA 2009, 842, Rn. 13ff.).<br />

Materielle Rechtsmäßigkeitsvorausset<strong>zu</strong>ng der Abmahnung ist eine<br />

Vertragspflichtverlet<strong>zu</strong>ng des Arbeitnehmers. Die Pflichtverlet<strong>zu</strong>ng könnte darin<br />

liegen, dass A seine Hauptleistungspflicht nach § 611 Abs. 1 BGB, die<br />

Arbeitsleistung, nicht erbracht hat. Die Verpflichtung <strong>zu</strong>r Arbeitsleistung könnte<br />

jedoch durch die Streikteilnahme entfallen sein. Ein rechtmäßiger suspendiert die<br />

gegenseitigen vertraglichen Hauptleistungspflichten der Arbeitsvertragesparteien.<br />

Durch seine Teilnahme an einem rechtmäßigen Streik verletzt der Arbeitnehmer<br />

folglich nicht seine arbeitsvertraglichen Pflichten.<br />

Zu prüfen ist daher, ob der Streik rechtmäßig war. Ein Streik ist eine planmäßige<br />

gemeinschaftliche Arbeitsniederlegung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern,<br />

um bestimmten Forderungen gegenüber dem Arbeitgeber Nachdruck <strong>zu</strong> verleihen.<br />

Der Streik ist das Arbeitskampfmittel auf Arbeitnehmerseite. Das Streikrecht ist nicht<br />

in gesetzlich geregelt, sondern ergibt sich aus der Koalitionsfreiheit nach Art. 9<br />

Abs. 3 GG. Ein rechtmäßiger Arbeitskampf setzt <strong>zu</strong>nächst grundsätzlich voraus, dass<br />

er um einen Gegenstand geführt wird, der gemäß § 1 Abs. 1 TVG tariflich regelbar<br />

ist. (<strong>zu</strong> den Ausnahmen vgl. Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 17. Aufl., 2007,<br />

Rn. 756 – Sympathiearbeitskampf). Das bedeutet, dass nur Regelungen, die in<br />

einem TV enthalten sein können, durch Streiks erkämpft werden dürfen.<br />

„Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet eine Ordnung des Arbeitslebens und Wirtschaftslebens, bei<br />

der der Staat seine Zuständigkeit <strong>zu</strong>r Rechtset<strong>zu</strong>ng weit <strong>zu</strong>rückgenommen und die<br />

Bestimmung über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrags grundsätzlich<br />

den Koalitionen überlassen hat (…). Den frei gebildeten Koalitionen ist durch Art. 9 Abs. 3<br />

GG die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe <strong>zu</strong>gewiesen (…), insbesondere<br />

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Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher<br />

Rechtset<strong>zu</strong>ng frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung und im wesentlichen<br />

ohne staatliche Einflussnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll <strong>zu</strong><br />

ordnen (…). Der Gesetzgeber hat den Koalitionen auf der Grundlage dieser historisch<br />

gewachsenen Bedeutung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit im Tarifvertragsgesetz das<br />

Mittel des Tarifvertrags an die Hand gegeben, damit sie die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte<br />

autonome Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen können (…). Der Tarifvertrag enthält in<br />

seinem normativen Teil Rechtsregeln, d.h. generell-abstrakte, nach Maßgabe des § 4 Abs. 3<br />

TVG zwingende Bestimmungen für den Inhalt der von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse (…).<br />

Bei der Normset<strong>zu</strong>ng durch die Tarifparteien handelt es sich um Gesetzgebung im<br />

materiellen Sinne, die Normen im rechtstechnischen Sinne erzeugt (…).“ (BVerfGE 44, 322,<br />

340f.)<br />

„Ein wesentlicher Zweck der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionen ist der Abschluss<br />

von Tarifverträgen. Darin sollen die Vereinigungen nach dem Willen des Grundgesetzes frei<br />

sein (…). Die Wahl der Mittel, die sie <strong>zu</strong>r Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten,<br />

überlässt Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich den Koalitionen (…). Soweit die Verfolgung des<br />

Vereinigungszwecks von dem Einsatz bestimmter Mittel abhängt, werden daher auch diese<br />

vom Schutz des Grundrechts umfasst. Zu den geschützten Mitteln zählen auch<br />

Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Sie<br />

werden jedenfalls insoweit von der Koalitionsfreiheit erfasst, als sie allgemein erforderlich sind,<br />

um eine funktionierende Tarifautonomie sicher<strong>zu</strong>stellen. Dafür spricht auch Art. 9 Abs. 3<br />

Satz 3 GG. Ob die Aussperrung <strong>zu</strong> den geschützten Kampfmitteln gehört, hat das<br />

Bundesverfassungsgericht ebenso wie das Bundesarbeitsgericht – auch in der angegriffenen<br />

Entscheidung – bisher offen gelassen (…). Das Bundesarbeitsgericht hält jedoch die<br />

suspendierende Abwehraussperrung als Reaktion auf begrenzte Teilstreiks unter den<br />

gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen für ein unerlässliches Mittel <strong>zu</strong>r Aufrechterhaltung<br />

einer funktionierenden Tarifautonomie. Das ist verfassungsrechtlich nicht <strong>zu</strong> beanstanden.“<br />

(BVerfGE 84, 212, 224f.)<br />

„Weder im Tarifvertragsgesetz noch in den verschiedenen tarifdispositiven Schutzgesetzen ist<br />

vom Arbeitskampf ausdrücklich die Rede. Der Arbeitskampf wird aber als Institution für die<br />

Tarifautonomie vorausgesetzt, weil sonst weder das Zustandekommen noch die inhaltliche<br />

Sachgerechtigkeit tariflicher Regelungen gewährleistet wären. Der Arbeitskampf muss in<br />

unserem freiheitlichen Tarifvertragssystem als ultima ratio <strong>zu</strong>m Ausgleich sonst nicht<br />

lösbarer tariflicher Interessenkonflikte möglich sein (…). Für den Streik ist dies<br />

offensichtlich und allgemein anerkannt. Die Gewerkschaften sind auf die Bereitschaft <strong>zu</strong>m<br />

Abschluss von Tarifverträgen auf Seiten bestimmter Arbeitgeber oder Arbeitgeberverbände<br />

angewiesen. Sie können nicht <strong>zu</strong> einem anderen Vertragspartner ausweichen, wie es den<br />

Marktgesetzen entsprechen würde. Sie können auch nicht voraussetzen, dass die Gegenseite<br />

das gleiche Interesse am Abschluss eines Tarifvertrages haben und deshalb<br />

verhandlungsbereit sein werde. Nach dem bisherigen Stand der Dinge ist die bestehende<br />

Tariflage und u.U. sogar ein tarifloser Zustand für die Arbeitgeber vorteilhafter als für die<br />

Arbeitnehmer. In der bisherigen Sozialgeschichte waren die Gewerkschaften fast immer<br />

gehalten, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen <strong>zu</strong> fordern und durch<strong>zu</strong>setzen. Seit<br />

Bestehen der Bundesrepublik sind die Produktivität und das Preisniveau ständig gestiegen, so<br />

dass den Gewerkschaften die Aufgabe <strong>zu</strong>fiel, die notwendigen Anpassungen <strong>zu</strong> erreichen.<br />

Hingegen konnten die Arbeitgeber als ihre Tarifvertragspartner kein unmittelbares Interesse<br />

daran haben, z.B. die Löhne stärker an<strong>zu</strong>heben, die Arbeitszeit <strong>zu</strong> verkürzen, die<br />

Rationalisierung durch Schutzvorschriften <strong>zu</strong> erschweren. Bei diesem Interessengegensatz<br />

wären Tarifverhandlungen ohne das Recht <strong>zu</strong>m Streik im Allgemeinen nicht mehr als<br />

„kollektives Betteln” (…). Soweit Tarifverträge überhaupt <strong>zu</strong>stande kämen, beruhten sie nur<br />

auf dem einseitigen Willensentschluss einer Seite und böten daher nicht die Gewähr eines<br />

sachgerechten Ausgleichs der beiderseitigen Interessen.“ (BAG, NJW 1980, 1642, 1643f.)<br />

Hier ging es in der ersten <strong>Fall</strong>variante um einen Streik, mit dem gegen die<br />

Sozialpolitik der Bundesregierung protestiert werden sollte. Dabei handelt es sich<br />

nicht um einen tariflich regelbaren Sachverhalt, sondern um ein politisches Ziel. Der<br />

Streik war also nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet und zielte auch<br />

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nicht auf einen bestimmten Tarifinhalt ab. Ein Streik, der sich auf die Durchset<strong>zu</strong>ng<br />

politischer Ziele bezieht, ist rechtswidrig. Somit war der Streik in der ersten<br />

<strong>Fall</strong>variante bereits aus diesem Grund rechtswidrig, so dass die Hauptleistungspflichten<br />

aus dem Arbeitsvertrag nicht suspendiert waren. Mit der Arbeitsniederlegung<br />

hat A somit gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsvertrag verstoßen.<br />

Nach einer Ansicht reicht allein dies aus, um dem Arbeitgeber das Recht <strong>zu</strong>m<br />

Ausspruch einer Abmahnung <strong>zu</strong> geben. Nach dieser Ansicht hätte A in der ersten<br />

<strong>Fall</strong>variante somit keinen Anspruch auf Entfernung der Abmahnung aus der<br />

Personalakte, da R sie <strong>zu</strong> Recht ausgesprochen hätte.<br />

Nach anderer Ansicht rechtfertigt nur eine Pflichtverlet<strong>zu</strong>ng, die der Arbeitnehmer<br />

auch <strong>zu</strong> vertreten hat, eine Abmahnung. A hatte die pflichtwidrige<br />

Arbeitsverweigerung nicht <strong>zu</strong> vertreten, da er ohne eigenes Verschulden davon<br />

ausging, der Streik sei rechtmäßig gewesen und die Pflicht <strong>zu</strong>r Arbeitsleistung aus<br />

diesem Grund suspendiert. Der Arbeitnehmer darf grundsätzlich auf die<br />

Einschät<strong>zu</strong>ng der Rechtmäßigkeit eines Streiks durch die Gewerkschaft vertrauen,<br />

so dass A hier kein Verschulden trifft. Nach dieser Ansicht wäre die Abmahnung<br />

daher rechtswidrig und A hätte einen Anspruch auf ihre Entfernung aus der<br />

Personalakte.<br />

Bei einem rechtswidrigen Streik, der <strong>zu</strong> dem eine Gewerkschaft aufgerufen hat,<br />

stehen dem Arbeitgeber in aller Regel Schadenersatzansprüche gegen die<br />

Gewerkschaft aus § 823 Abs. 1 BGB wegen eines rechtswidrigen Eingriffs in seinen<br />

eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb <strong>zu</strong>. Der Arbeitnehmer hat<br />

hingegen in aller Regel nicht die notwendigen Sach- und Rechtskenntnisse, um die<br />

Rechtmäßigkeit gewerkschaftlicher Streikmaßnahmen selbst beurteilen <strong>zu</strong> können.<br />

Das spricht dafür, dass die Rechtsmäßigkeit der Abmahnung im <strong>Fall</strong> des A von<br />

einem schuldhaften Verstoß gegen seine Arbeitspflicht abhängig <strong>zu</strong> machen. Die ihm<br />

gegenüber ausgesprochene Abmahnung war daher rechtswidrig.<br />

Anm.: Die Gegenansicht, die <strong>zu</strong>r Rechtsmäßigkeit der Abmahnung führt, ist gut<br />

vertretbar.<br />

In der zweiten <strong>Fall</strong>variante hatte der Streik das Ziel, auf den Abschluss eines<br />

Tarifvertrages hin<strong>zu</strong>wirken, so dass diese Rechtmäßigkeitsvorausset<strong>zu</strong>ng erfüllt war.<br />

Zu prüfen sind daher die weiteren Vorausset<strong>zu</strong>ngen eines rechtmäßigen Streiks.<br />

Der Streik muss zwischen tariffähigen Parteien geführt wird. Der Streik wurde von<br />

der Gewerkschaft G im Arbeitskampf gegen einen Arbeitgeberverband geführt. Es ist<br />

davon aus<strong>zu</strong>gehen, dass sowohl die Gewerkschaft als auch der Arbeitgeberverband<br />

tariffähig waren (<strong>zu</strong> den Vorausset<strong>zu</strong>ngen der Tariffähigkeit siehe<br />

Brox/Rüthers/Henssler, Rn. 666ff.) Außerdem muss die Friedenspflicht des gültigen<br />

Tarifvertrages erloschen sein, es darf also keine gültige tarifvertragliche Regelung<br />

über das angestrebte Ziel geben. Während der Laufzeit eines Tarifvertrages ist es<br />

den Tarifparteien nämlich aufgrund der tariflichen Friedenspflicht untersagt, einen<br />

Arbeitskampf über einen im geltenden Tarifvertrag geregelten Gegenstand <strong>zu</strong> führen.<br />

In der zweiten <strong>Fall</strong>variante war der Tarifvertrag bereits beendet, so dass auch diese<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ng erfüllt ist. Der Beschluss <strong>zu</strong>m Arbeitskampf muss dem<br />

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Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht<br />

WS 2010/2011<br />

Arbeitskampfgegner bekannt gegeben werden, so dass dieser daraus eindeutig das<br />

Ziel, den zeitlichen Rahmen und den <strong>zu</strong>r Teilnahme aufgeforderten<br />

Arbeitnehmerkreis erkennen kann. Mangels entgegenstehender Hinweise im<br />

Sachverhalt ist davon aus<strong>zu</strong>gehen, dass auch diese Vorausset<strong>zu</strong>ng erfüllt ist.<br />

Schließlich muss das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt bleiben, das heißt eine<br />

Arbeitskampfmaßnahme (wie der Streik) darf nur nach Ausschöpfung aller<br />

Verständigungsmöglichkeiten ergriffen werden; der Streik muss das letzte mögliche<br />

Mittel sein (ultima ratio). Da die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaft und<br />

Arbeitgeberverband gescheitert waren, wurde auch das ultima ratio-Prinzip beachtet.<br />

Der Streik ist in der zweiten <strong>Fall</strong>variante folglich als rechtmäßig an<strong>zu</strong>sehen, so dass<br />

die Pflicht <strong>zu</strong>r Arbeitsleistung während der Streikteilnahme des A suspendiert war.<br />

Die Arbeitsniederlegung stellte somit keine Pflichtverlet<strong>zu</strong>ng dar, so dass die<br />

Abmahnung rechtswidrig war. A hat einen Anspruch auf Entfernung der Abmahnung<br />

aus seiner Personalakte nach §§ 242, 1004 BGB analog.<br />

Zur Wiederholung und Vertiefung:<br />

Koalitionsbegriff und Koalitionsfreiheit<br />

– Thomas Günther / Einiko B. Franz, Grundfälle <strong>zu</strong> Art. 9 GG, JuS 2006,<br />

S. 873 – 876<br />

– Ulrich Preis, Arbeitsrecht – Kollektivarbeitsrecht, 2. Aufl., 2009, S. 18 – 42<br />

– BAG, Urt. v. 20.1.2009 – 1 AZR 515/08, NZA 2009, S. 615 – 622<br />

(Gewerkschaftswerbung per E-Mail)<br />

Verhältnis arbeitsrechtlicher Rechtsquellen<br />

– Ulrich Preis, Arbeitsrecht – Kollektivarbeitsrecht, 2. Aufl., 2009, S. 134 – 170<br />

Differenzierungsklauseln<br />

– BAG, Urteil vom 18. 3. 2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, S. 1028 – 1042 (Zulässigkeit<br />

einfacher Differenzierungsklauseln)<br />

– Franz Gamillscheg, Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten – „Tarifbonus” für<br />

Gewerkschaftsmitglieder, NZA 2005, S. 146 – 150<br />

– Daniel Ulber / Sandy Strauß, Differenzierungsklauseln im Licht der neueren<br />

Rechtsprechung <strong>zu</strong>r Koalitionsfreiheit, DB 2008, S. 1970 – 1974<br />

– Stefan Greiner / Nadja Suhre, Tarifvertragliche Exklusivleistungen für<br />

Gewerkschaftsmitglieder nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NJW 2010,<br />

S. 131 – 134<br />

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