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Toleranz - Kiz-hamburg.de

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THEMA<br />

Sie schrieen aber noch mehr und<br />

sprachen: Lass ihn kreuzigen!“<br />

In <strong>de</strong>n zahlreichen Aufführungen<br />

<strong>de</strong>r Matthäuspassion von Johann<br />

Sebastian Bach waren diese Worte<br />

dieser Tage vielerorts zu hören. „Sie“,<br />

das sind beim Evangelisten Matthäus<br />

die Ju<strong>de</strong>n. In seinem Evangelium<br />

fin<strong>de</strong>t sich kurz darauf die Passage, in<br />

<strong>de</strong>r Pilatus seine Hän<strong>de</strong> in Unschuld<br />

wäscht und dann „das ganze Volk“<br />

antwortet: „Sein Blut komme über<br />

uns und unsere Kin<strong>de</strong>r!“ Bei Matthäus<br />

ist dieser Satz eine nachträgliche<br />

Deutung <strong>de</strong>r Zerstörung <strong>de</strong>s Jerusalemer<br />

Tempels durch die Römer im<br />

Jahr 70 nach Christus, wenige Jahre<br />

vor <strong>de</strong>r Abfassung <strong>de</strong>s Evangeliums.<br />

Diese Passage legt mit an<strong>de</strong>ren aus<br />

<strong>de</strong>m Neuen Testament <strong>de</strong>n biblischen<br />

Grundstein für die Schuldgeschichte<br />

<strong>de</strong>r Kirchen mit <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n.<br />

Lei<strong>de</strong>r ist auch <strong>de</strong>r späte Martin<br />

Luther ein erschrecken<strong>de</strong>s Beispiel<br />

christlicher Ju<strong>de</strong>nfeindschaft. Dabei<br />

fin<strong>de</strong>n sich in seiner 1523 veröffentlichten<br />

Schrift „Dass Jesus Christus<br />

ein geborener Ju<strong>de</strong> sei“ für die damalige<br />

Zeit bemerkenswerte Ansichten:<br />

Stereotype Vorwürfe gegen die Ju<strong>de</strong>n,<br />

darunter <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Wucherzinses, weist<br />

<strong>de</strong>r Reformator entschie<strong>de</strong>n zurück.<br />

Dies seien alles „Lügendinge“. Es sei<br />

vielmehr das lieblose Verhalten <strong>de</strong>r<br />

Christen gewesen, das die Ju<strong>de</strong>n abgehalten<br />

habe, sich zu bekehren, wofür<br />

Luther durchaus Verständnis hat:<br />

„Wir haben sie behan<strong>de</strong>lt, als wären<br />

es Hun<strong>de</strong>.“ Auch er wäre an ihrer<br />

Stelle „eher eine Sau <strong>de</strong>nn ein Christ<br />

gewor<strong>de</strong>n“, schreibt er. Durch diese<br />

Schrift Luthers entstand in jüdischen<br />

Kreisen die Hoffnung, es könne zu<br />

einem Neuanfang im Verhältnis zwischen<br />

Ju<strong>de</strong>n und Christen kommen.<br />

Doch zwanzig Jahre später, 1543,<br />

erscheint ein im Duktus völlig an<strong>de</strong>rer<br />

Text Luthers. Schon <strong>de</strong>r Titel „Von<br />

<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n und ihren Lügen“ verrät,<br />

dass es sich um eine Schmähschrift<br />

4<br />

Reformation und <strong>Toleranz</strong><br />

Zur Vorbereitung auf das Lutherjahr<br />

2017 ist für dieses Jahr das<br />

Thema Reformation und <strong>Toleranz</strong><br />

ausgerufen wor<strong>de</strong>n. Dazu hat die<br />

Die dunkle Seite <strong>de</strong>r Reformation<br />

Margot Käßmann<br />

han<strong>de</strong>lt. Luther schlägt darin <strong>de</strong>r Obrigkeit<br />

vor, dass sie jüdische Synagogen<br />

und Schulen „mit Feuer anstecken“,<br />

ihre Häuser „zerbrechen“ und<br />

die Ju<strong>de</strong>n „wie die Zigeuner in einen<br />

Stall tun“ soll. Diese so unfassbaren<br />

Äußerungen können auch nicht mit<br />

seiner Verbitterung darüber erklärt<br />

wer<strong>de</strong>n, dass Ju<strong>de</strong>n – an<strong>de</strong>rs als von<br />

ihm erwartet – nicht zur Kirche <strong>de</strong>r<br />

Reformation konvertierten. Auch <strong>de</strong>r<br />

„Zeitgeist“ kann nicht als Rechtfertigung<br />

dienen… Diese Sätze werfen<br />

auf Luther und seine Reformation einen<br />

Schatten und sollten die Kirche,<br />

die sich nach ihm benannte, auf einen<br />

entsetzlichen Irrweg führen.<br />

Luther vertrat – wie fast alle an<strong>de</strong>ren<br />

Reformatoren auch – einen<br />

klaren Antijudaismus. Das erscheint<br />

aus heutiger Perspektive unverantwortlich,<br />

ist doch ein respektvoller<br />

Dialog <strong>de</strong>r Religionen offensichtlich<br />

die notwendige Basis für ein friedliches<br />

Zusammenleben. Luthers antijudaistische<br />

Schmähschrift von 1543<br />

wur<strong>de</strong> immer auch vom späteren rassistischen,<br />

also biologistisch begrün<strong>de</strong>ten<br />

Antisemitismus missbraucht.<br />

Sie diente als Rechtfertigung für Diskriminierung,<br />

Ausgrenzung und Mord<br />

an europäischen Ju<strong>de</strong>n. Luthers Text<br />

wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r NS-Zeit häufig nachgedruckt,<br />

zum Beispiel unter <strong>de</strong>m Titel:<br />

„Martin Luther und die Ju<strong>de</strong>n – weg<br />

mit ihnen!“<br />

Bis auf wenige Einzelne versagte<br />

die evangelische Kirche in <strong>de</strong>r Zeit<br />

<strong>de</strong>s Nationalsozialismus, weil sie<br />

Botschafterin <strong>de</strong>s Rates <strong>de</strong>r Evangelischen<br />

Kirche in Deutschland für<br />

das Reformationsjubiläum 2017,<br />

Frau Margot Käßmann, einen Beitrag<br />

geschrieben, <strong>de</strong>r am 30. März<br />

in <strong>de</strong>r FAZ erschien, und <strong>de</strong>n wir<br />

hier mit freundlicher Genehmigung<br />

<strong>de</strong>r Botschafterin abdrucken.<br />

Menschen jüdischen Glaubens nicht<br />

schützte und sich <strong>de</strong>m Holocaust<br />

nicht vehement entgegenstellte. Erst<br />

nach 1945 begann sie, <strong>de</strong>n verhängnisvollen<br />

Weg <strong>de</strong>s Antijudaismus zu<br />

verlassen. Viele, auch evangelische<br />

Wissenschaftler, haben diese Geschichte<br />

aufgearbeitet; auch hat die<br />

evangelische Kirche nach 1945 die<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s jüdischen Erbes für<br />

<strong>de</strong>n christlichen Glauben völlig neu<br />

verstehen gelernt. Der jüdisch-christliche<br />

Dialog hat neu ent<strong>de</strong>cken lassen,<br />

was <strong>de</strong>r Apostel Paulus über das<br />

Verhältnis von Christen und Ju<strong>de</strong>n<br />

schreibt: „Nicht du trägst die Wurzel,<br />

son<strong>de</strong>rn die Wurzel trägt dich“ (Römer<br />

11,18).<br />

Das Jahr 2013 steht für die Evangelische<br />

Kirche in Deutschland im<br />

Rahmen <strong>de</strong>r Luther<strong>de</strong>ka<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m<br />

Weg zum Reformationsjubiläum<br />

2017 unter <strong>de</strong>m Titel „Reformation<br />

und <strong>Toleranz</strong>“. Es kann kein Reformationsjubiläum<br />

geben, das bei aller<br />

Freu<strong>de</strong> über die Errungenschaften <strong>de</strong>r<br />

Reformation ihre Schattenseiten nicht<br />

benennt. Die bedrücken<strong>de</strong> Geschichte<br />

<strong>de</strong>s christlichen Antijudaismus hat<br />

eine Lerngeschichte im Verständnis<br />

<strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums freigesetzt. Dass Jüdinnen<br />

und Ju<strong>de</strong>n das im Dialog möglich<br />

gemacht haben, dafür können die<br />

Evangelischen nur dankbar sein.<br />

Trotz <strong>de</strong>s neuen Bewusstseins und<br />

<strong>de</strong>r Überwindung von Antijudaismus<br />

in <strong>de</strong>n christlichen Kirchen in<br />

Deutschland kommt <strong>de</strong>r Antisemitismus<br />

auf erschrecken<strong>de</strong> Weise immer<br />

wie<strong>de</strong>r zum Vorschein. Insofern gilt<br />

frei nach Bachs Matthäuspassion:<br />

„Die Müh ist nicht aus, die unsere<br />

Sün<strong>de</strong> gemacht hat“. Es geht darum,<br />

immer wie<strong>de</strong>r aktiv aufzustehen für<br />

eine <strong>Toleranz</strong>, die <strong>de</strong>n Namen verdient,<br />

weil sie zum Dialog fähig ist<br />

und auf Dialog drängt, weil sie Intoleranz<br />

nicht toleriert, und dabei offen<br />

ist für Lernerfahrungen und Horizonterweiterungen.

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