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Vortrag Salisbury - Langversion-1 - Evangelisch-lutherischen ...

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Die gegenwärtige missionstheologische Diskussion in der EKD im Anschluss<br />

an die Missionssynode 1999 in Leipzig<br />

<strong>Vortrag</strong> zur Eröffnung der theologischen Konferenz zwischen der <strong>Evangelisch</strong>en<br />

Kirche in Deutschland und der Kirche von England am 11. Januar 2011<br />

im Sarum College in <strong>Salisbury</strong><br />

von LB Prof. Dr. Friedrich Weber<br />

I. Die Situation und die Herausforderung<br />

50 Millionen Deutsche, das sind zwei Drittel der Bevölkerung, gehören einer Kirche<br />

an. Doch beide Kirchen leiden unter einem kontinuierlichen Mitgliederverlust,<br />

rückläufigen Zahlen von Gottesdienstbesuchern, Plausibilitätsverlust von Kirche als<br />

Institution. Dennoch, so stellt der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung 2008<br />

fest, gibt es keinen Rückgang von Religiosität in Deutschland. 1 50 Millionen von 80<br />

Millionen Deutschen bezeichnen sich als „religiös“, Jeder fünfte nennt sich<br />

„hochreligiös“. Sind 10 Millionen Deutsche „hochreligiös“?<br />

Allerdings sind bei den 50 Millionen Kirchenmitgliedern die Akzentuierungen eines<br />

persönlichen Glaubens sehr ausdifferenziert. Es gibt immer weniger „den" Christen.<br />

Auch kann der Religionsmonitor feststellen, dass mindestens 15 % der<br />

Kirchenmitglieder nichtreligiös sind - ihre Kirchenmitgliedschaft also auf anderen<br />

Intentionen als religiöser Orientierung gründet. 2 Ist dies eine Religiosität ohne Gott? 3<br />

In den Teilen der braunschweigischen Landeskirche, die zwei Generationen<br />

totalitären antichristlichen Herrschaftssystemen ausgesetzt waren, fehlt bei vielen<br />

Menschen zum Teil jede Kenntnis christlicher Glaubensinhalte, viele haben noch nie<br />

eine Kirche betreten. Das Verhältnis zur Kirche ist eher durch Gleichgültigkeit als<br />

durch Ablehnung bestimmt.<br />

Konkret kann das dann so aussehen: Irgendwo in der Nähe der innerdeutschen<br />

Grenze, einem Gebiet also, in dem viele Menschen leben, die schon in der zweiten<br />

und dritten Generation kaum noch Kontakt zur Kirche haben und im Grunde nichts<br />

von den Inhalten des christlichen Glaubens wissen, leben in einer Gemeinde viele<br />

junge Familien, die wieder den Kontakt zur Kirche suchen.<br />

Der zuständige Pfarrer fuhr im Spätherbst 2008 zur Kur. Weil er erst kurz vor<br />

Weihnachten wieder nach Hause kommen würde, bat er einige junge Eltern,<br />

zwischenzeitlich das Krippenspiel einzustudieren. Als er nach Hause kam, wurde ihm<br />

stolz das Arbeitsergebnis präsentiert: in diesem Jahr hatte man mal ein anderes<br />

Märchen ausgesucht und mit viel Liebe Rumpelstilzchen einstudiert. Der Kollege trat<br />

die Flucht nach vorn an und führte es am Heiligabend vor der Christvesper mit viel<br />

Erfolg auf. Was hätte er tun sollen?<br />

1 Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007<br />

2 Rieger, M., Auswertung Religionsmonitor 2008. <strong>Vortrag</strong> am 12. August 2008 in Braunschweig, Manuskript<br />

3 Scholl, N., Religiös ohne Gott, Darmstadt 2010<br />

1


Die Menschen hatten Lust sich zu beteiligen und ihren Kindern Begegnung mit<br />

Kirche zu ermöglichen. In Unkenntnis der biblischen Weihnachtsgeschichte<br />

bedienten sie sich eigener Traditionen: alle Jahre gibt es ein Weihnachtsmärchen –<br />

es muss nicht stets dasselbe sein!<br />

Eine Geschichte, über die man als Bischof gleichermaßen lachen und weinen kann<br />

und die dabei so viele Aspekte unserer missionarischen Herausforderungen<br />

beschreibt.<br />

II. Die Wiederentdeckung der Mission<br />

Zu Recht hält der Greifswalder Theologe Michael Herbst fest: „Die<br />

Wiederentdeckung der Mission gehört zu den gravierenden Veränderungen<br />

zwischen 1987 und 2010.“ 4<br />

Das Datum 1987 wird von ihm deswegen gewählt, weil es das Erscheinungsjahr<br />

seiner theologischen Dissertation ist, die sich mit dem Thema „Missionarischer<br />

Gemeindeaufbau in der Volkskirche“ befasste. Als Start der EKD-weiten Diskussion<br />

werden zumeist die Verhandlungen und die Kundgebung der EKD-Synode von<br />

Leipzig 1999 gewertet. In seinem synodalen Grundsatzvortrag identifizierte Eberhard<br />

Jüngel Mission und Evangelisation als die ekklesiologische Leerstelle in der<br />

evangelischen Theologie: „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, dann würden<br />

Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße<br />

bestimmen. Und Defizite bei der missionarischen Tätigkeit der christlichen Kirche,<br />

Mängel beim Evangelisieren würden sofort zu schweren Herzrhythmusstörungen<br />

führen. Der Kreislauf des kirchlichen Lebens würde hypotonisch werden. Wer an<br />

einem gesunden Kreislauf des kirchlichen Lebens interessiert ist, muss deshalb auch<br />

an Mission und Evangelisation interessiert sein.“ 5 Unter der Voraussetzung, dass<br />

nicht nur Christen aller Konfessionen, sondern auch der Rest der Welt mithin die<br />

Konfessionslosen, bereits im Licht der Gnade existieren, führte er aus: „Wenn die<br />

Christenheit atmen könnte, wenn sie Luft holen und tief durchatmen könnte, dann<br />

würde auch sie erfahren, dass im Atemholen zweierlei Gnaden sind ... Einatmend<br />

geht die Kirche in sich, ausatmend geht sie aus sich heraus.“ 6 Jüngel hat den<br />

Prozess des Einatmens mit dem Gottesdienst identifiziert. Ausatmend geht Kirche<br />

anschließend und immer neu auf andere zu, lädt sie die an den Straßen und den<br />

Zäunen zum Hochzeitsmahl ein. (Mt 22) Will Kirche nicht ersticken, dann ist Mission<br />

lebensnotwendig, missionarisches Wirken mithin selbstverständlich.<br />

Allerdings so ganz neu und so revolutionär, wie die Berichterstattung über die<br />

Synode 1999 mitunter daher kommt, war das alles nicht. Deswegen sei ein kurzer<br />

Rekurs erlaubt.<br />

Verstand man viele Jahrhundertelang unter Mission ein kirchengründendes Handeln<br />

in einem Land, einer Region, in der es bislang keine Kirchen gab, so geriet Anfang<br />

der 1960er Jahre die Missionen in den Ländern der nördlichen Hemisphäre in eine<br />

4 Herbst, M., Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2010, 525<br />

5 Jüngel, E., Referat zur Einführung in das Schwerpunktthema, siehe: www.ekd.de/synode99/referate_juengel.html<br />

6 Jüngel, a.a.O.<br />

2


Krise, die nicht durch den Misserfolg sondern im Gegenteil durch den Erfolg<br />

begründet war, „denn es gab nun in fast jedem Land christlicher Kirchen und<br />

Gemeinden.“ 7 Missionstheologisch wurde dieser Krise durch den auf der<br />

Weltmissionskonferenz in Willingen (1952) eingeführten Ansatz der missio Dei 8<br />

entgegengearbeitet. „Wenn … Gott als ein seinem Wesen nach missionarischer Gott<br />

verstanden wurde, dann musste auch die christliche Kirche ihrem Wesen nach<br />

diesem Gott entsprechen. Was daher konsequent folgte, war die Umsetzung<br />

mehrerer theologischer Einsichten. Die erste Einsicht besagte: Mission ist …<br />

Aufgabe … der ganzen Kirche. Deshalb wurde der Internationale Missionsrat … in<br />

den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) integriert. … Die zweite Einsicht bestand<br />

in der Erkenntnis: Wenn jede Kirche ihrem Wesen nach missionarisch ist, dann muss<br />

jede Kirche vor Ort ihre Mission wahrnehmen.“ 9 Wesentlich aber ist die Erkenntnis,<br />

dass Gott sich nicht hindern lässt, „seine Mission so zum Tragen kommen zu lassen,<br />

wie er es will. … Mission ist (deswegen, F.W.) nicht ein Instrument, dessen sich die<br />

Kirche bedienen kann, sondern Kirche ist Mission (im Sinne der Weitergabe von<br />

Leben), oder sie ist auch nicht Kirche … Wo keine Mission ist, ist auch keine Kirche.“<br />

10<br />

Allerdings wurde dieser Ansatz konsequent ausgerichtet auf die Übernahme<br />

sozialethischer Verantwortung und nicht so sehr „derjenige Verkündigungsauftrag 11 ,<br />

der jedes Mal laut wird, wenn im Rahmen einer christlichen Taufhandlung der<br />

Taufauftrag des auferstandenen Christus vom Ende des Missionsauftrag zitiert wird,<br />

der unlöslich mit einem Auftrag zur Verkündigung und Lehre denen gegenüber<br />

verbunden ist, denen fremd ist, was Jesus seinen Jüngern geboten hat.“ 12 Huber<br />

folgerte hieraus bereits 1999, dass eine Zuwendung zur missionarischen Aufgabe<br />

nach Innen und Außen erforderlich sei, die „auf der Grundlage des protestantischen<br />

Bündnisses von Glauben und Vernunft eine missionarische Initiative“, deren<br />

Strukturprinzip der Dialog sei, entwickelt werden müsse. 13<br />

Ausgangspunkt dieser neuen Hinwendung zur Mission war die durch die veränderte<br />

gesellschaftliche Lage in der Bundesrepublik nach 1989 offenkundige Erkenntnis,<br />

dass der christliche Glaube „keinen selbstverständlich anerkannten Ort mehr hat. Er<br />

muss seinen Ort erst wiedererobern.“ 14 Massenhaft, so Wolf Krötke 1996, hatten die<br />

Menschen die Kirche verlassen, nun muss jeder Einzelne – und viele andere, die nie<br />

7 Wrogemann, H., Den Glanz widerspiegeln. Vom Sinn der christlichen Mission, ihren Kraftquellen und Ausdrucksgestalten, Frankfurt 2009, 298<br />

8 Durch die Entwicklung dieses Konzeptes wurde es unmöglich, den Begriff eines menschlichen Missionsobjektes zu entfalten.<br />

9 Wrogemann, a.a.O., 299<br />

10 Feldtkeller, A., Pluralismus - was nun? Eine missionstheologische Ortbestimmung, in: Feldtkeller,A./Sundermeier.T. (Hg.), Mission in<br />

pluralistischer Gesellschaft, Frankfurt 1999, 29<br />

11 Jacques Matthey schlägt ein Moratorium hinsichtlich der Verwendung der Missio-Die-Theologie vor und meint: „Wir müssen zurück zu einer<br />

demütigeren Missiologie, die die Komplexität und Konflikte und das Leiden der Menschen in der Weise ernst nimmt, dass sie es vermeidet, den<br />

Eindruck zu erwecken, fertige Antworten von Seiten einer Gottes-in-Mission-Theologie bringen zu können.“ Siehe: Matthey, J., Mission als<br />

anstößiges Wesensmerkmal der Kirche, in: ZMiss (28) Heft 3, 2002, 237<br />

12 Huber, W., Auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche, in: Feldtkeller, A./Sundermeier, T. (Hg.), Mission in pluralistischer Gesellschaft,<br />

Frankfurt 1999, 108<br />

13 Huber, a.a.O., 109<br />

14 Huber, a.a.O., 118<br />

3


zuvor mit dem christlichen Glauben in Kontakt gekommen sind – zurückgewonnen<br />

werden.<br />

Eine kirchliche Reaktion auf die besondere Problemlage in der ehemaligen DDR war<br />

das 1995 erschienene Positionspapier „Minderheit mit Zukunft. Überlegungen und<br />

Vorschläge zu Auftrag und Gestalt der ostdeutschen Kirchen in der pluralistischen<br />

Gesellschaft“, in dem ein missionarisches Konzept des Gemeindeaufbaus, das<br />

gleichzeitig die Kirchenfernen und Konfessionslosen anspricht, die Kirchenmitglieder<br />

stärkt und ihre Verbindung mit der Kirche enger gestalten soll, gefordert wurde. Die<br />

anschließenden Diskussionen zeigten, dass es die eigentliche Problematik allerdings<br />

weniger der dramatische Mitgliederschwund als vielmehr der Verlust an geistlicher<br />

Substanz in den Kirchen war. 15 Als Erkenntnis dieses Diskussionsprozesses lässt<br />

sich festhalten, dass der Protestantismus es wieder lernen muss, „geistliche<br />

Gewissheit und kirchliche Bindungsfähigkeit in ihrem Zusammenhang zu sehen, statt<br />

sie gegeneinander auszuspielen.“ 16<br />

Ebenso wie die EKU mit ihrem Text „Wahrnehmen, Nachdenken, Handeln“ 1996f,<br />

erarbeitete die Arnoldshainer Konferenz 1999 eine Position „Evangelisation und<br />

Mission“. Die VELKD veröffentlichte 1999 mit „Mission heute“ eine<br />

„Gesprächsanregung für Gemeindegruppen und Kirchenvorstände“. Im<br />

Zusammenhang der Erarbeitung neuer Leitlinien für die kirchliche Arbeit<br />

veröffentlichte 1998 eine Arbeitsgruppe das Papier „Kirche mit Hoffnung. Leitlinien<br />

künftiger kirchlicher Arbeit in Ostdeutschland.“ In diesem Text wurde die Polarität von<br />

Betreuungs- und Beteiligungskirche bearbeitet. Allen Überlegungen und den sich<br />

daraus entwickelnden Programmen liegen Beobachtungen zu Grunde, die ich in den<br />

90-Jahren auch in den Niederlanden gemacht habe. Ich erinnere an sie, durchaus<br />

mit dem Gedanken, dass wir hätten wissen können, was auf uns zukommt:<br />

- Entchristlichung der Gesellschaft<br />

- Rückgang der Kirchenmitgliedschaft<br />

- Individualisierung des Glaubens<br />

Man sprach von einem „Bricolage -Glauben“, das heißt einer Form des Glaubens, die<br />

man selbst aus verschiedenen lebensanschaulichen Elementen hergestellt hat und<br />

die im nächsten Monat völlig anders geprägt sein kann. Die niederländischen<br />

Erfahrungen waren in den 90er Jahren in dieser Massivität nicht die unseren,<br />

zumindest nicht in den Kirchen der alten BRD. Dennoch ließ sich schon damals an<br />

bestimmten Trends – und aus den Beobachtungen der Entwicklungen in den Kirchen<br />

der neuen Bundesländer – ablesen, dass sich die Lebenswirklichkeit der Kirchen<br />

unter den Bedingungen des Differenzierungsschubs deutlich veränderte. 17 In meiner<br />

15 Minderheit mit Zukunft, 19<br />

16 Huber, a.a.O., 121<br />

17 Bereits in den frühen 90er Jahren wurden in der <strong>Evangelisch</strong>en Kirche in Hessen und Nassau auf diese Situation reagierende Konzepte<br />

entwickelt. Siehe: Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft, Arbeitsergebnisse und Empfehlungen der Perspektivkommission<br />

der <strong>Evangelisch</strong>en Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt 1992<br />

4


Heimatkirche in Hessen und Nassau haben wir 1996 mit der Entwicklung eines<br />

Kommunikationsprozess: "<strong>Evangelisch</strong> aus gutem Grund" auf diese Herausforderung<br />

reagiert. Er hatte das Ziel, evangelische Christen und Christinnen über die Gründe<br />

ihres Glaubens und ihrer Kirchenzugehörigkeit ins Gespräch zu bringen und sie zum<br />

Gespräch mit Menschen außerhalb der Kirche zu ermutigen, zu einer<br />

Meinungsbildung über die Einführung einer einheitlichen Präsentation evangelischer<br />

Gemeinden und Einrichtungen anzuregen und der Identitätsbildung der<br />

evangelischen Christen und Christinnen zu dienen. Er wurde so angelegt, dass er<br />

nicht mit einer Werbekampgange verwechselt werden konnte und war ökumenisch<br />

offen. Ähnliche Prozesse fanden auch in anderen Landeskirchen statt, bzw. wurde<br />

das hessische Konzept andernorts genutzt, u.a. in Berlin-Brandenburg und Sachsen-<br />

Anhalt. In Berlin-Brandenburg wurden diverse Projekte umgesetzt, die mehr oder<br />

weniger „an der Vergewisserung der Gemeinden und an der Stärkung ihrer<br />

missionarischen Ausstrahlung ausgerichtet“ 18 waren.<br />

III. Die Missionssynode in Leipzig 1999<br />

Die Missionssynode in Leipzig 1999 war somit nicht der Initialpunkt für ein neues<br />

Bewusstsein missionarischer Existenz der Kirche, sondern stellt den Ort und den<br />

Zeitpunkt dar, an dem die bereits vorhandenen Initiativen und Aufbrüche in den<br />

Landeskirche auf die Ebene der EKD gehoben wurden und durch<br />

Synodenbeschluss, bzw. Veröffentlichung der Kundgebung der Synode als<br />

Ausdruck des missionarischen Auftrags „der Kirche an der Schwelle zum 3.<br />

Jahrtausend“ 19 legitimiert wurden.<br />

Die Kundgebung hielt fest: „Die Geschichte der Mission war auch eine Geschichte<br />

von Schuld und Scheitern, für die Vergebung zu suchen und aus der zu lernen ist.<br />

Die pauschale Diskreditierung der Geschichte der christlichen Mission ist aber<br />

ungerechtfertigt. Sie wird gerade von den Menschen in den einstigen<br />

Missionsgebieten Afrikas oder Asiens selbst zurückgewiesen; sie erzählen uns von<br />

segensreichen Auswirkungen der christlichen Mission vergangener Jahrhunderte,<br />

die bis heute spürbar sind. Inzwischen hat sich das Verständnis des<br />

missionarischen Auftrags tiefgreifend verändert. Mission behält die Absicht, andere<br />

Menschen zu überzeugen, das heißt mitzunehmen auf einen Weg, auf dem die<br />

Gewissheit des christlichen Glaubens ihre eigene Gewissheit wird. Aber sie tut dies<br />

in Demut und Lernbereitschaft. Eine so verstandene Mission hat nichts mit<br />

Indoktrination oder Überwältigung zu tun. Sie ist an der gemeinsamen Frage nach<br />

der Wahrheit orientiert. Sie verzichtet aus dem Geist des Evangeliums und der<br />

Liebe auf alle massiven oder subtilen Mittel des Zwangs und zielt auf freie<br />

18 Huber, a.a.O., 124ff. Zu nennen sind: Neuer Nutzen für alte Kirchen, Gottesdienst als zentrales Geschehen in der Gemeinde wiederentdecken,<br />

Bildungsauftrag der Kirche, Zusammenhang von Diakonie, Spezialseelsorge mit dem Missionsauftrag, Stärkung der Identifikation von Mitarbeitern<br />

mit dem Glaubensthema und dem Auftrag der Kirche als Institution, Auftrag und Identität der Gemeinden, Stärkung der Identität und<br />

Auftragsgewissheit der Mitglieder, Veränderung regionaler Strukturen. Hiervon wurden spez. missionarische Vorhaben wie "Neu anfangen“,<br />

Erneuerung der eigenen Gemeinde und Einrichtung von Kircheneintrittsstellen unterschieden.<br />

19 Kundgebung der Synode der <strong>Evangelisch</strong>en Kirche in Deutschland auf ihrer 4. Tagung zum Schwerpunktthema „Reden von Gott in der Welt –<br />

Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend“, in: http://www.ekd.de/synode99/beschluesse_kundgebung.html<br />

5


Zustimmung. Eine solche Mission ist geprägt vom Respekt vor den Überzeugungen<br />

der anderen und hat dialogischen Charakter. Der Geist Gottes, von dem Christus<br />

verheißen hat, dass er uns in alle Wahrheit leiten wird (Johannesevangelium 16,13);<br />

ist auch in der Begegnung und dem Dialog mit anderen Überzeugungen und<br />

Religionen gegenwärtig.“ Übereinstimmend wird festgestellt: „Von dieser Tagung<br />

der Synode geht das Signal aus: Die evangelische Kirche setzt das Glaubensthema<br />

und den missionarischen Auftrag an die erste Stelle, sie gibt dabei einer Vielfalt von<br />

Wegen und Konzepten Raum, ihr ist an der Kooperation und gegenseitigen<br />

Ergänzung dieser unterschiedlichen Wege und Konzepte gelegen. Es hat eine Zeit<br />

gegeben, in der es den Anschein haben konnte, als sei die missionarische<br />

Orientierung das Markenzeichen nur einer einzelnen Strömung in unserer Kirche.<br />

Heute sagen wir gemeinsam: Weitergabe des Glaubens und Wachstum der<br />

Gemeinden sind unsere vordringliche Aufgabe, an dieser Stelle müssen die Kräfte<br />

konzentriert werden. Dabei gibt es keine Alleinvertretungsansprüche. Wir werden<br />

dem missionarischen Auftrag nur gerecht, wenn wir eine Vielfalt der Wege und<br />

Konzepte bejahen.“ 20<br />

Dass mit diesem Synodenbeschluss nun eine unmittelbare Veränderung in der BRD<br />

eingesetzt habe, relativiert Wilhelm Richebächer, in dem er feststellt: „Trotz dieser<br />

Trendwende stehen sich aber in der evangelischen Kirchenfamilie zwei je von<br />

Minderheiten getragene extreme Tendenzen entgegen, entweder das Thema zu<br />

tabuisieren bzw. ‚endlich aufzugeben’, oder es in arroganter Haltung wieder zu einer<br />

Strategie des Überlegenheitsbeweises der eigenen Religion mit dem Effekt des<br />

Unterlegenheitsbeweises der anderen Religionen zu machen. Zwischen diesen<br />

Extremen aber bewegen sich die Meinungen der großen Mehrheit von<br />

Kirchenmitgliedern, die Mission aus Gründen der Mitgliederwerbung für wichtig<br />

halten, aber unsicher sind, ob dies dem Religionsfrieden nicht schaden könnte.<br />

Darum halten sie sich eher zurück, wenn es um das Thema geht.“ 21 Der gemeinsame<br />

Nenner scheint dort zu liegen, dass niemand eine Form von Mission als<br />

ausstrahlende Präsenz glaubwürdig gelebten Christseins für zu weitgehend und den<br />

Frieden zwischen den Religionen gefährdend, ansieht.<br />

IV. Die gegenwärtige missionstheologische Debatte<br />

Die gegenwärtige Diskussion deute ich an und beschreibe in einigen Thesen ihre<br />

Zielrichtung. Unter anderem sind folgende Positionierungen erkennbar:<br />

a. Mission als weltweite Partnerschaft für Fragen von Frieden, Gerechtigkeit<br />

und Bewahrung der Schöpfung<br />

Reiner Kiefer argumentiert in diesem Kontext: „Ich erkenne eine gewisse<br />

Dynamik, die in einem zirkulären Prozess von der weltweiten Gemeinschaft über<br />

20 Kundgebung IV,1<br />

21 Richebächer, W., Mission und Dialog, in: mission.de: Um Gottes willen – der Welt zuliebe. Studientexte, Reportagen, Hintergründe. Materialheft<br />

1. Herausgeber: EMW, Hamburg 2008, 14<br />

6


Partnerschaft und Dialog zu weltweitem Engagement für Gerechtigkeit führt.“<br />

„Weil Gott es will, sind christliche Kirchen in weltweiter Mission als Partner<br />

gemeinsam unterwegs.“ „Weil unsere Welt Versöhnung braucht, wollen wir<br />

religiöse, kulturelle und politische Grenzen überwinden. Begegnung zwischen<br />

Menschen, die verschieden sind, weiten Horizonte. Sie können auch mit<br />

Konflikten einhergehen. Wenn eigene Standpunkte in gegenseitiger Achtung<br />

vorgetragen werden, entsteht wirklicher Dialog. So werden Menschen,<br />

Gemeinschaften und Welten verwandelt.“ 22<br />

b. Mission als Wachhalten der Frage nach Gott jenseits territorialer Grenzen<br />

Hierzu zitiere ich Theodor Ahrens: „Das Verständnis von missionarischer Praxis<br />

sollte ‚entterritorialisiert’ werden. Gleichwohl bleibt Mission unaufgebbar ein Weg<br />

des Glaubens ‚an die Grenze’, ein Weg des Glaubens ‚auf der Grenze’, eine<br />

Umkehrbewegung des Glaubens, die geeignet ist, die Kirche aus der stabilen<br />

Ruhe immer wieder ‚in die Schwebe’ zu bringen – kurz eine Beunruhigung für die<br />

Kirche selbst.“ „Die erste missionarische Aufgabe der Kirche ist das Wachhalten<br />

der Gottes Frage.“ „Mission als Lobby des Glaubens nimmt teil an der<br />

selbstgewählten Beschränkung Gottes, an der Schwachheit Gottes in dieser Welt,<br />

die doch dem Bösen nicht erliegen wird. 23<br />

c. Mission im Kontext der Globalisierung als intersubjektiver Dialog<br />

Anton Knuth führt aus: „Mission bedeutet ‚Sendung’ des Evangeliums in die Welt,<br />

bedeutet Zeugnis zu geben von der ‚Hoffnung, die in mir ist.’ (1. Petr. 3,15).“<br />

„Glaube ist unmittelbare Daseinsgewissheit … Aber gerade diese bewährt sich in<br />

einer globalisierten Welt im intersubjektiven Dialog. Nur für mich bin ich als Christ<br />

zu wenig.“ „Wir sind nicht nur Subjekt der Mission, sondern auch ihr Objekt.“<br />

„Mission führt zur Auseinandersetzung mit Wahrheitsansprüchen der Anderen<br />

und sie führt auch zurück, zur Erneuerung alteingeschliffener Identitäten.“ „Dialog<br />

und Mission sind keine Widersprüche, weil ein christliches Missionsverständnis<br />

sich immer am Maßstab der Liebe (Agapé) messen lassen wird.“ 24<br />

d. Mission als Mitgliederwerbung und Gewinnung von Menschen für die<br />

Gemeinschaft der Kirche<br />

Wilhelm Richebächer hält fest: „Das aus der Sicht der Kirche als Trägerin der<br />

Mission nach außen gerichtete, zentrifugale Ziel besteht darin, das mit Jesus<br />

Christus gekommene umfassende Heil allen Menschen zu verkündigen und der<br />

Friedensherrschaft Gottes als deren Zeichen unter allen Lebensbedingungen<br />

Raum zu geben. … Dieser umfassenden Zielsetzung folgt das zweite, aus der<br />

Sicht der Kirche nach innen gerichtete, zentripetale Ziel der Mitgliedergewinnung<br />

für die Kirche. Es folgt der ersten, ist aber nicht weniger wichtig.“ „Das zweite Ziel<br />

22 http://www.mission.de/fileadmin/user_upload/pdf-dateien/materialheft_1.pdf, 4f<br />

23 Warum Mission? Thesen und Anstöße, in: Mission nachdenken. Studien, Frankfurt 2002, 9ff<br />

24 http://www.mission.de/fileadmin/user_upload/pdf-dateien/materialheft_1.pdf, 11<br />

7


der Mission bzw. eher eine selbstverständliche Frucht der Arbeit … ist somit die<br />

Gewinnung der Menschen für die Gemeinschaft einer konkreten Kirche.“ 25<br />

e. Mission als Bekehrung der Menschen zueinander und also Ringen um die<br />

Einheit der Kirche<br />

Andreas Feldtkeller beschreibt diesen Zusammenhang: „Wohin wir uns auch<br />

wenden im Neuen Testament: Mission hat ihre Pointe nicht allein darin, dass<br />

Menschen zu Jesus Christus bekehrt werden, die vorher nicht von ihm wussten.<br />

Mission im Neuen Testament wird erst vollständig dadurch, dass Menschen<br />

zueinander bekehrt werden: dazu, miteinander Gemeinschaft zu haben als<br />

Menschen, die vorher Feinde waren – Menschen, für die es vorher undenkbar<br />

war, dass sie miteinander zu tun bekommen könnten.“ „Das Ringen um Einheit<br />

von Christen verschiedener Milieus in Deutschland und das Ringen um Einheit<br />

zwischen Christen in verschiedenen Regionen der Welt gehören zusammen.“ 26<br />

f. Mission als geplantes dialogisches Verhalten<br />

Dieser Ansatz findet sich in der Leitvorstellung der <strong>Evangelisch</strong>en Kirche im<br />

Rheinland „Missionarische Volkskirche sein – Entwicklung und Umsetzung einer<br />

Leitvorstellung“. 27 Sie benennt unter „2. ‚Missionarisch sein’ – ein spontanes,<br />

geplantes und dialogisches Handeln“ Gestaltungsfelder des missionarischen<br />

Auftrags: „Dienst (Diakonia), Gemeinschaft (Koinonia), Gottesdienst (Leiturgia),<br />

Zeugnis (Martyria)“ und den „Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung<br />

der Schöpfung“. Festgehalten wird, dass die Volkskirche es nach Barmen VI<br />

„allem Volk“, die Botschaft von der freien Gnade Gottes mitzuteilen. „Als<br />

Volkskirche will die rheinische Kirche missionarische Kirche sein, denn „Mission<br />

bewahrt die Volkskirche vor Unverbindlichkeit – Volkskirche bewahrt die Mission<br />

vor Enge und Realitätsverlust.“ Entlastend und anfragend ist der Gedanke: „Wenn<br />

die Kirche nicht wächst, kann das die Folge unseres Versagens sein. Es kann<br />

aber auch sein, dass Gott uns in eine Zeit der Bewährung und Besinnung führen<br />

möchte. Nicht zu wachsen führt uns darum dazu, uns als Kirche kritisch zu<br />

hinterfragen, neu auf das Wort Gottes zu hören und den Heiligen Geist zu<br />

erwarten.“ Es folgen Beschreibungen von zehn Handlungsfeldern einer<br />

Missionarischen Volkskirche mit Fragen zur Selbstkontrolle. Die<br />

Handlungsfelder 28 sind:<br />

1. Bibel wahrnehmen und vermitteln<br />

2. Spiritualität entdecken und leben<br />

3. Gottesdienst veröffentlichen<br />

4. Gemeinschaft intensivieren und offen halten<br />

25 http://www.mission.de/fileadmin/user_upload/pdf-dateien/materialheft_1.pdf, 15f<br />

26 http://www.mission.de/fileadmin/user_upload/pdf-dateien/materialheft_1.pdf, 36f<br />

27 Missionarische Volkskirche sein – Entwicklung und Umsetzung einer Leitvorstellung. <strong>Evangelisch</strong>e Kirche im Rheinland. Landessynode 2010.<br />

Drucksache 2.<br />

28 Siehe a.a.O, 17ff<br />

8


5. Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und teilen<br />

6. Durch Diakonie und Seelsorge Nächstenliebe realisieren<br />

7. Bildungsverantwortung wahrnehmen und teilen<br />

8. Lebenswege begleiten und deuten<br />

9. Öffentlich und persönlich für den Glauben werben<br />

10. Die weltweite Kirche als Bereicherung und Herausforderung wahrnehmen<br />

Exkurs: Eine Perspektive für die Kirchen in Europa<br />

Während der 6. Vollversammlung der Gemeinschaft <strong>Evangelisch</strong>er Kirchen in<br />

Europa (GEKE) im September 2006 in Budapest wurde festgestellt 29 :<br />

„Evangelisierung ist ein multidimensionales Geschehen, das explizit das Ziel verfolgt,<br />

Glauben zu wecken und zu vergewissern. In unseren Kirchen der Reformation liegt<br />

dabei ein besonderer Akzent auf der Glauben weckenden Wortverkündigung.“ (9)<br />

Weil dieser aber als „Ruf in die Freiheit“ verstanden wird, „verbietet es sich, bei der<br />

Verkündigung des Evangeliums Manipulation und Druck auszuüben.“ (12) Weil die in<br />

der Rechtfertigung geschenkte Freiheit, auf die Glaubende antwortet „die Wurzel<br />

eines neuen Lebens, das die ganze Person erfasst und prägt“ ist, wendet sich der<br />

gerechtfertigte Mensch „zugleich gegen alle Herrschaften und Mächte, die in dieser<br />

Welt sein wollen wie Gott. Zugleich sucht er die Gemeinschaft derer, die wie er die<br />

Freiheit in Gott leben und bezeugen. So ist er befreit zum gemeinsamen<br />

Engagement für Gerechtigkeit, zur Option für die Armen, zum Einsatz für den<br />

Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.“ (13) Eine Rechristianisierung Europas<br />

wird als im evangelischen Sinne nicht für erstrebenswert angesehen, vielmehr sind<br />

alle Kirchen „zur Demut und zum Abschied von jedem ‚missionarischen<br />

Imperialismus’ verpflichtet.“ (23) 30 Neue Chancen des ökumenischen Lernens<br />

eröffnen sich „durch die Verschiebung des Schwerpunktes der Weltchristenheit auf<br />

die südliche Hemisphäre. Die missionsmüden Kirchen Europas erleben eine<br />

Herausforderung und Bereicherung durch Kirchen des Südens und<br />

Migrationsgemeinden vor Ort. Es ist eine Zukunftsfrage für Kirchen in Europa, ob sie<br />

fähig und bereit sind für die Zusammenarbeit mit Gemeinden aus anderen<br />

Kontinenten.“ (23)<br />

Auf die Frage „Wie kann sich Evangelisierung verwirklichen?“ antwortet das GEKE-<br />

Papier mit folgenden fünf Schlaglichtern:<br />

1. Christ werden<br />

29 <strong>Evangelisch</strong> evangelisieren. Perspektiven für Kirchen in Europa. Herausgegeben im Auftrag des Rates der Gemeinschaft <strong>Evangelisch</strong>er Kirchen<br />

in Europa (GEKE) von Michael Bünker und Martin Friedrich. (Entgegengenommen und zu Eigen gemacht von der 6. Vollversammlung der GEKE in<br />

Budapest im September 2006.) Die im Text erscheinenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Text.<br />

30<br />

9


„Christ werden ereignet sich heute häufiger auf einem langen ‚Emmaus-Weg’ als in<br />

punktuellen ‚Damaskus-Ereignissen’. Deshalb brauchen wir Gemeinden, die<br />

Suchende, Fragende, Unentschlossene und Zweifler wertschätzen, ohne sie zu<br />

vereinnahmen. Die traditionelle Reihenfolge ‚1. Zum Glauben finden – 2. In die<br />

Gemeinde finden’ scheint sich umzukehren.“ (24) 31<br />

2. Die überparochialen Dienste als Träger von Evangelisierung<br />

Die „Kommunikation des Evangeliums“ ereignet sich „nicht nur in traditionellen<br />

Sprachformen, in Gottesdienst, Seelsorgegespräch und Konfirmandenunterricht,<br />

sondern in zahlreichen Phänomenen der Hoch- und Popularkultur, sowohl in<br />

Gemeinden als auch in überparochialen Zusammenhängen.“ (24)<br />

3. Die Gemeinde am Ort als Trägerin der Evangelisierung<br />

„Auch in Zukunft wird die Gemeinde am Ort eine wesentliche Trägerin der<br />

Evangelisierung bleiben, indem sie die missionale Dimension in allen gemeindlichen<br />

Aktivitäten sucht und fördert.“ (24)<br />

Es folgen Beschreibungen, wie sich eine „evangelisierende Gemeinde“ darstellen<br />

kann, z.B. als anbetende und gottesdienstliche Gemeinde, als Zeugnis gebende und<br />

zum Glauben helfende, als auf Menschen zugehende, kulturell bewegliche,<br />

geduldige, getroste, großzügige und gastfreundliche, ökumenisch offene sowie<br />

beratende und seelsorgerliche Gemeinde etc..<br />

4. Die Mitgliedskirchen der GEKE als Trägerinnen der Evangelisierung<br />

„Jede Kirche der GEKE erkennt ihre Verantwortung für Evangelisierung und erklärt<br />

diese für sich zur Priorität. … Schritte auf dem Weg zu einer missionalen<br />

Gesamtausrichtung der Kirche, d.h. einer Kirche, die wesentlich aus der Mission und<br />

für die Mission und Evangelisation lebt, sind:<br />

- die Förderung evangelisatorischer Kompetenz von haupt- und ehrenamtlichen<br />

Mitarbeitenden …<br />

- die Schaffung und Förderung von wissenschaftlichen Einrichtungen zur<br />

Erforschung von Evangelisierung und Gemeindeaufbau<br />

- die Initiierung von gesamtkirchlichen verbindlichen Verständigungsprozessen<br />

über die konkrete Ausgestaltung des missionarischen Auftrags (z.B.<br />

Leitbildprozesse);<br />

- die gezielte Förderung von übergemeindlichen Einrichtungen zur<br />

Gemeindeberatung.“ (26)<br />

5. Die GEKE als missionale Kirchengemeinschaft<br />

Im Text heißt es: „Als Gemeinschaft von Kirchen ist auch die GEKE dafür<br />

verantwortlich, Evangelisierung zu fördern und so der Mission Gottes zu dienen. Ihre<br />

31 Im Englischen hat sich hierfür der Satz geprägt: „Belonging comes before believing!“<br />

10


Stärke ist es, unterschiedliche kulturelle und kirchliche Kontexte ausgewogen<br />

miteinander ins Gespräch zu bringen. Diese Stärke ist zu nutzen, um die<br />

missionarische Kompetenz der Mitgliedskirchen zu stärken.“ (26) „So wie die GEKE-<br />

Kirchen im europäischen Kontext versuchen, ihre Berufung zur Mission im<br />

Allgemeinen und zur Evangelisation im Besonderen zu leben, so tun dies auch<br />

Kirchen und Gemeinschaften von Kirchen auf anderen Kontinenten in ihren<br />

Kontexten. Als die eine Kirche Jesu Christi sind wir darauf angewiesen, einander zu<br />

unterstützen und zu tragen, voneinander zu lernen und miteinander zu arbeiten, um<br />

dem Leib Christi Gestalt zu geben.“ (27f.)<br />

V. Konkrete Folgen in der EKD<br />

1. Die "missionarische Stimmung" in der EKD<br />

- ist gewachsen und es gibt eine größere Offenheit, sich dem Thema Mission zu<br />

stellen<br />

- Mission ist keine Nischenaufgabe mehr von besonders "Frommen", sondern rückt in<br />

die Mitte der Kirche<br />

- das Reden über den Glauben und die eigenen Glaubensüberzeugungen nehmen<br />

stärkeren Raum ein und sind ein gutes Gegengewicht gegen die in vielen<br />

Landeskirchen mächtigen Strukturdebatten<br />

- die Unterschiedlichkeiten des lebendigen Glaubens in den unterschiedlichen<br />

Prägungen (was sich ja bei regionalen Vergleichen zeigen lässt und bekannt ist) wird<br />

zunehmend nebeneinander und als gegenseitige Bereicherung erkannt<br />

- "Verwunderungseffekt": die "Frommen" wundern sich, dass Mission plötzlich nicht<br />

mehr allein von einer Fraktion besetzt ist und die "Liberalen" wundern sich, dass<br />

auch unter ihresgleichen Mission nicht mehr als Negativ-Thema gilt - also die<br />

Fronten bröckeln beiderseits<br />

2. Das Zentrum für Mission in der Region (ZMiR)<br />

Das Zentrum ist eine Einrichtung der <strong>Evangelisch</strong>en Kirchen in Deutschland (EKD).<br />

Zusammen mit anderen neu gegründeten Zentren versucht es, die Umsetzung der<br />

Ziele zu unterstützen, die für den Reformprozess der EKD in der Programmschrift<br />

„Kirche der Freiheit“ festgehalten worden sind. Die Selbstvorstellung:„Das ZMiR will<br />

helfen, danach zu fragen, wie die verschiedenen Landeskirchen unter ganz<br />

unterschiedlichen Bedingungen und mit ganz unterschiedlichen Prägungen dieser<br />

Aufgabe nachkommen können. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei der Region<br />

als einer bisher noch zu wenig entdeckten Bezugsgröße kirchlichen Handelns.<br />

Regionalisierung ist kirchlich eher ins Gerede gekommen und ist oft mit negativen<br />

Erfahrungen bei den Beteiligten behaftet: schwierige Fusionsprozesse, längere<br />

Wege und Ausdünnung der Präsenz vor Ort in den Gemeinden, Verzicht auf Nähe,<br />

11


Sparzwänge, die Zwangsvergemeinschaftungen vor Ort verursachen. Die Potentiale<br />

von „Region“ werden vor lauter Negativem kaum noch wahrgenommen. Das ZMiR<br />

hat bis zum Jahr 2014 Zeit, um anhand der Begleitung und Entwicklung konkreter,<br />

exemplarischer Projekte missionarische Blaupausen zu entwickeln, die in möglichst<br />

unterschiedlichen Regionen Deutschlands eingesetzt werden können. Das ZMiR<br />

stellt sich den geschilderten mentalen, sozialen und kulturellen Herausforderungen in<br />

ihrer ganzen Vielfalt und Unterschiedlichkeit. „Region“ und „Mission in der Region“<br />

sind dabei für uns Inbegriffe der Wandlungen der modernen und postmodernen<br />

Lebenswelt und markieren die Herausforderungen, vor denen kirchliches Handeln<br />

und eine veränderte Kommunikation des Evangeliums stehen. Region als<br />

Nachbarschaftsregion, etwa in „meinem“ Stadtteil, Region als Identitätsstiftender<br />

Raum mit gemeinsamer Sprache, verbindenden Traditionen und Überzeugungen,<br />

aber auch das Internet und seine kulturellen Räume, angefangen von seinen<br />

sozialen Netzwerken, bis hin zu wirtschaftlichen Strukturen und Formatierungen von<br />

Arbeitswelt, schließlich mentale Regionen als Vorstellungsräume, in denen<br />

Menschen beheimatet sind. Wie kommuniziert Kirche die beste Botschaft aller<br />

Zeiten: die Botschaft Jesu von Gott als liebendem, uns unbedingt annehmenden,<br />

barmherzigen Vater in diese „Regionen“ und Lebenswelten hinein?“ 32<br />

3. Das Institut zur Erforschung von Evangelisation und<br />

Gemeindeentwicklung (IEEG) 33<br />

Die Theologische Fakultät in Greifswald eröffnete am 1. April 2004 das bundesweit<br />

erste Institut, das sich vornehmlich in universitärer Forschung und Lehre mit den<br />

Themen Evangelisation und Gemeindeentwicklung beschäftigt.<br />

Das IEEG forscht und lehrt in diesen Bereichen vor dem Hintergrund einer<br />

nachchristlichen Gesellschaft. Das geschieht in der wissenschaftlichen Forschung, in<br />

der universitären Lehre, in der Beratung von kirchenleitenden Gremien sowie in der<br />

Fort- und Weiterbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern.<br />

4. Glaubenskurse<br />

Im Jahr 2011 wird ein Werkbuch erscheinen unter dem Titel "Kurse zum<br />

Glauben", in dem verschiedene Glaubenskurse nebeneinander vorgestellt<br />

werden. Dazu gibt es eine EKD-weite Kampagne und mit dem Ziel, dass jeder<br />

und jede die wollen, nicht länger als 25 km zum nächsten Glaubenskurs fahren<br />

müssen. Dies ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das die Kooperation nicht nur der<br />

Landeskirchen auf der oberen Ebene, sondern vielmehr die auf der mittleren und<br />

der Gemeindeebene braucht - es gibt in Ansätzen die Diskussion, ob<br />

Glaubenskurse wirklich Menschen zum Glauben verhelfen oder, je nach Sinn und<br />

Ansatz des Kurses, im bestehenden Glauben bestärken oder nicht. Die positiven<br />

Signale sind allerdings nicht zu überhören: „Das Interesse an … Glaubenskursen<br />

ist sowohl bei Insidern als auch bei eher Fernstehenden ungebrochen groß.<br />

32 www.zmir.de<br />

33 http://www.theologie.uni-greifswald.de/institute/ieeg.html<br />

12


Wenn die Balance zwischen gut gemachter Glaubensvermittlung, angenehmer<br />

gastlicher Atmosphäre und persönlicher Partizipation stimmt, sind Glaubenskurse<br />

fast eine Garantie für gemeindliche Wachstumsprozesse. Interessierte brauchen<br />

diese Kurse, um überhaupt zu wissen, worum es im christlichen Glauben geht.<br />

Gemeindeglieder nutzen sie zur Bestätigung und Glaubensvertiefung.<br />

Neuhinzugekommene benötigen geschützte Räume und Kleingruppen zur<br />

34 35<br />

Einübung des Glaubens.“<br />

5. Gemeindepflanzungen<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf die inspirierenden Erfahrungen<br />

der anglikanischen Kirche mit Gemeindepflanzungen hinweisen, die im deutschen<br />

Kontext bestätigt werden.<br />

Nehmen wir an, in einer geografisch definierten Gemeinde gibt es ein<br />

Neubaugebiet, in dem praktisch kein kirchliches Leben stattfindet.<br />

• Die klassische volkskirchliche Strategie wäre abzuwarten, bis die Leute von<br />

selbst in die für sie zuständige Kirche zum Gottesdienst kommen. …<br />

• Die volksmissionarische Variante wäre, einen Besuchsdienst zu gründen, der<br />

die Neuhinzugezogenen begrüßt und zu den gemeindlichen Veranstaltungen<br />

einlädt.<br />

• Eine Gemeindepflanzung könnte bedeuten, dass sich mehrere Zellen aus der<br />

Muttergemeinde lösen und sich von ihr in das Neubaugebiet verpflanzen<br />

lassen, indem sie dort etwa in einem Kindergarten oder einer Turnhalle oder<br />

auch einer Kneipe Gottesdienst feiern, sich dort mit ihren Zellen treffen,<br />

Kinderbetreuung anbieten und dort leben und wohnen.“ 36<br />

6. Ein Praxisbeispiel - Kirche am Markt – Blankenburg/Harz<br />

Vor nunmehr neun Jahren hat meine Landeskirche in Blankenburg (Sachsen-<br />

Anhalt) eine Missionspfarrstelle für die ostdeutsche Stadt eingerichtet, die<br />

samt Umland zur braunschweigischen Landeskirche gehört und ein<br />

Pfarrerehepaar (eine Pfarrerin im Ehrenamt und ein Pfarrer) dorthin mit dem<br />

Auftrag entsandt, Kirche im Bewusstsein der Leute neu zu verorten, Angebote<br />

zu machen und Möglichkeiten zu bieten, mit Konfessionslosen zu entdecken,<br />

was der christliche Glaube sein kann. Dabei handelte es sich von vornherein<br />

um einen Auftrag neben und unabhängig von der Betreuung der<br />

Ortsgemeinde. Zugleich haben wir gemeinsam mit dem Diakonischen Werk<br />

und der Kirchengemeinde ein Jugendzentrum, eine Beratungsstelle und ein<br />

Frauenzentrum, sowie eine Schuldnerberatungsstelle in den Gebäuden der<br />

Stiftung Georgenhof eingerichtet.<br />

Konfessionslosigkeit bedeutet in Blankenburg konkret, dass nur 11 % der<br />

Bevölkerung der evangelischen Kirche angehören, 3 % sind katholisch, alle<br />

34 Böhlemann, P., Wie die Kirche wachsen kann und was sie davon abhält, Göttingen 2009, 45<br />

35 „Gottes Gemeinde muss nicht zu allen Zeiten und an jedem Ort immer größer werden. Aber sie soll leben, denn das ist ihre Verheißung – und<br />

nicht der Tod! Sie soll leben und wachsen in allen Stücken – zu dem hin, der das Haupt ist (Eph 4,15).“ Siehe: Böhlemann, a.a.O., 14<br />

36 Böhlemann, a.a.O., 30<br />

13


anderen gehören keiner Kirche an. Dabei handelt es sich – wie oben bereits<br />

beschrieben - um eine Entwicklung, die in vielen ostdeutschen Gemeinden<br />

vorfindlich ist. Menschen sind infolge kirchenfeindlicher Propaganda und<br />

Repressalien aus der Kirche ausgetreten oder ihr einfach nur fern geblieben<br />

und haben für ihre Kinder keine Beziehung dahin mehr gepflanzt.<br />

Zudem wird konstatiert, dass im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und<br />

dem damit einhergehenden Zusammenbruch des Arbeitsmarktes und der<br />

Entwertung bereits erbrachter Lebensleistungen die Region in eine so tiefe<br />

Depression gefallen ist, dass es einen dringenden Bedarf nach<br />

Hoffnungszeichen und Perspektiven gibt. In diesem Zusammenhang<br />

bekommen, nach Einschätzung des Pfarrerehepaars, auch die biblischen<br />

Heilungsgeschichten und solche, die von Samen und Saaten sprechen, eine<br />

neue Bedeutung. Sie bieten - ebenso wie die Geschichte vom verlorenen<br />

Sohn, welche die Existenz einer Heimat, zu der man zurückkehren und bei der<br />

man neu anfangen kann, beschreibt – einen lebensgeschichtlichen<br />

Anknüpfungspunkt.<br />

Auch hier ist das Pfarrerehepaar aber der Überzeugung, dass der<br />

Gottesdienst selbst eigentlich nicht die primäre Form der Verkündigung ist,<br />

sondern dass es, statt um Verkündigung im konfessionslosen Umfeld, um<br />

Verkündigung durch Arbeit mit Konfessionslosen gehen muss. Die<br />

Öffentlichkeit und damit „die Wartenden an den Zäunen“ bekommen eine<br />

neue Bedeutung.<br />

Dabei entsteht Offenheit durch Gemeinschaft und Beziehungsarbeit. Die<br />

Erfahrung zeigt, dass kirchenpädagogische und seminaristische Formen bei<br />

weitem eher ermöglichen, Menschen der Kirche wieder nahe zu bringen oder<br />

sogar eine Taufbereitschaft hervorzurufen, als die klassische gottesdienstliche<br />

Struktur. Dies einmal mehr, weil Menschen, die auf diesem Wege gewonnen<br />

werden, gelegentlich nur mühsam in die traditionelle Gottesdienstform<br />

hineinfinden, ohne sich im Vergleich zu allen anderen sehr fremd zu fühlen.<br />

So ist es gerade für diese Arbeit besonders wichtig, genau abzufragen und zu<br />

erspüren, mit welchen Fragen Menschen gekommen sind. Auch diese Einsicht<br />

schließt – nach Einschätzung unserer Mitarbeiter dort - den klassischen<br />

Predigtstil nach Perikopenordnung aus.<br />

Weiter berichten sie, dass der Umgang mit Tod oder Sterben in weitaus<br />

größerem Maße tabuisiert ist als in Westdeutschland. So fehlen nicht nur<br />

deutende Horizonte, sondern auch Rituale mit Verstorbenen umzugehen.<br />

Auch hier wird es darum gehen müssen, Vertrauen neu aufzubauen und<br />

tröstende Begleitung so anzubieten, dass sie geglaubt und gewagt werden<br />

kann.<br />

Damit kein Missverständnis aufkommt: Natürlich bleibt der gemeindliche<br />

Gottesdienst nach der üblichen Agende das zentrale gottesdienstliche<br />

Geschehen.<br />

14


VI. Die Bewertung von Michael Herbst<br />

Die missionarische Diskussion innerhalb der EKD hat sich nach der Leipziger<br />

Synode 1999 vor allem in Zusammenhängen der Praktischen Theologie, also den<br />

Fragen des Gemeindeaufbaus, des Pfarrerbildes und der Mitgliedergewinnung<br />

abgespielt. Anhand der zusammenfassenden Thesen von Michael Herbst, kann man<br />

die Entwicklungen in Grundzügen nachvollziehen. 37<br />

These 1<br />

„Eine Erneuerung der <strong>Evangelisch</strong>en Kirche kann nur als geistliche Erneuerung ihrer<br />

Gemeinden und das heißt als geistliche Erneuerung der Menschen und<br />

Gemeinschaften beginnen.“ (483) d.h. bei der persönlichen gelebten Beziehung von<br />

Pfarrerinnen und Pfarrern, bzw. Gemeindegliedern zu Jesus Christus.<br />

Christsein versteht sich nicht mehr von selbst.<br />

Genauso wenig kann man davon ausgehen, dass alle Getauften noch eine innerliche<br />

Beziehung zu ihrem Glauben haben, zumal sich ein Christenleben ohne<br />

Gemeinschaft und Gottesdienst theologisch nicht denken lässt.<br />

These 2<br />

Geistliche Erneuerung bedeutet die Ausrichtung des ganzen Lebens auf den<br />

gekreuzigten und auferstanden Christus. Sie ist ein „lebenslanger Weg: sich immer<br />

wieder persönlich und gemeinsam von Jesus Christus ansprechen lassen und darauf<br />

dankbar und zustimmend, beschenkt und zum Gehorsam bereit antworten. Es ist die<br />

tägliche Umkehr zur Freude an Jesus Christus.“ (484)<br />

These 3<br />

„Das Wesen der Gemeinde Jesu Christi ist ihre Mission“ 485), denn „niemandem ist<br />

wirklich geholfen, wenn er nicht wieder in die Gemeinschaft mit dem Vater heimkehrt,<br />

aus der sich der Mensch eigenmächtig und zum eigenen tödlichen Schaden<br />

herausgewunden hat.“ (485), denn Mk 8,36: „Was hülfe es dem Menschen, wenn der<br />

die ganze Welt gewönne und nehme Schaden an seiner Seele“<br />

These 4<br />

Gemeinden müssen schließlich weniger pfarrerzentriert sein, sondern sich vielmehr<br />

als Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern verstehen.<br />

„Die Jahrhunderte währende, fatale Fixierung auf das Pfarramt ist nicht nur<br />

zunehmend unfinanzierbar. Sie ist nicht nur eine hoffnungslose Überforderung der<br />

Pfarrerinnen und Pfarrer; sie ist theologisch in hohem Maße fragwürdig.“ (486)<br />

1. Was hat sich seit 1999 getan?<br />

37 Herbst, M., Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2010. Die im nachfolgenden Text eingefügten<br />

Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.<br />

15


„Die Einsicht, dass volkskirchliche Verhältnisse nicht mehr das selbstverständlich<br />

Gegebene sind, und dass wir in missionarischen Zeiten angekommen sind (de facto)<br />

und noch anzukommen haben (mentalitätsmäßig), lässt sich nicht mehr ernsthaft<br />

bestreiten.“ (487)<br />

Wolfgang Huber habe im Zusammenhang mit dem Reformprozess „Kirche der<br />

Freiheit“ beschrieben, dass es darum gehen müsse, „die Präsenz des Christentums<br />

in Europa erneut und bewusst zu gestalten“ (488) Dabei integriere das Impulspapier<br />

„Kirche der Freiheit“ verschiedene Aspekte und Konzepte und bediene sich bei den<br />

verschiedensten Reformansätzen. Mit anderen Worten: man versuche nicht mehr,<br />

Entwürfe des Gemeindeaufbaus, kybernetische Konzepte und Kirchenbilder<br />

voneinander abzugrenzen, sondern lege es darauf an, voneinander zu lernen.<br />

2. „Kirche für andere“<br />

Hinsichtlich dieses Denkmodells, das auf Dietrich Bonhoeffer zurückgeht, gelte:<br />

Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist. Sie hat ihren Ort in der<br />

säkularen Welt. Ihre Strukturen müssen folglich auf das missionarische Dasein für<br />

Andere ausgerichtet werden.<br />

Aus „Kirche für andere“ nutzte, so Herbst, man daher in „Kirche der Freiheit“ das<br />

Ernstnehmen struktureller Fragen und damit auch die Bereitschaft, neue Strukturen<br />

zu wagen. Gleichzeitig habe dieses Konzept seinerzeit den Zusammenhang von<br />

Wort und Tat, Heil und Wohl, von Diakonie und Evangelisation betont.<br />

„Kirche für andere“ habe die missionarische Frage nicht wie andere in der<br />

Ekklesiologie, sondern in der Gotteslehre angesiedelt, denn „Gott selbst ist ein<br />

missionarischer Gott, weil Gott und - zwar er allein – das Subjekt der Mission ist.“<br />

(176). Gott sandte seinen Sohn, den Messias, der eigentlich der Missionar an sich<br />

sei. Menschen in seiner Nachfolge seien dann zwangsläufig missionarisch tätig.<br />

Kernthese dieses Konzeptes sei: „Mission ist nicht eine Funktion der Kirche, sondern<br />

Kirche ist eine Funktion der Mission Gottes.“ (177) Dies bedeute im Klartext: Kirche<br />

könne nur missionarisch Kirche sein.<br />

3. „Offene Kirche für alle“<br />

Weil an der Volkskirche unbedingt festgehalten werden solle und sie sich trotz aller<br />

Veränderungen als relativ stabil erweise (siehe „Fremde Heimat Kirche“ - Menschen<br />

möchten Kirche haben und haben vor allem mit Blick auf die lebensgeschichtliche<br />

Begleitung bei Kasualien hohe Erwartungen) sehe man es als Hauptaufgabe an,<br />

Mitgliedschaft zu stabilisieren und in ihrer Unterschiedlichkeit auch zu akzeptieren.<br />

Das heiße: „Jeder Getaufte kann und soll selbst entscheiden, wann und wie er von<br />

seiner Mitgliedschaft in der Volkskirche Gebrauch macht.“ (199) Entsprechend könne<br />

und solle es unterschiedliche Kulturen, Beteiligungsformen, Frömmigkeitsstile etc.<br />

geben.<br />

16


Aus dieser pluralistischen Herangehensweise erfolge eine hohe Ausdifferenzierung,<br />

in deren Gefolge man sicherlich auch die milieuspezifischen Untersuchungen der<br />

letzten EKD-Mitgliedschaftsstudie verstehen kann.<br />

Herbst ist überzeugt, dass „insgesamt … die missionarischen Konzepte seit 1999<br />

mehr Gehör (finden). Die Schrumpfungsprozesse in der Kirche hätten dazu geführt,<br />

dass mehr Menschen als früher verstünden, dass wir Menschen nicht ,haben',<br />

sondern für Glauben und Gemeinde erst ,gewinnen' müssen.“ (489) Allerdings zeige<br />

die aktuelle Debatte eine größere Offenheit mit Blick auf das konkrete Gemeindebild:<br />

„die lokale Umsetzung soll sich erst aus der Begegnung der Gemeinde mit ihrem<br />

Kontext im Hören auf das Evangelium ergeben.“ (489)<br />

Das bedeute: „Entscheidend ist der kommunikative, geistliche Prozess, der möglichst<br />

kontextbezogen zeigen soll, welche nächsten Schritte eine Gemeinde in Richtung auf<br />

ihre eigene Vision von der gemeindlichen Zukunft in der Mission Gottes tun soll.“<br />

(491)<br />

Daraus erwüchsen aber notgedrungen neue Anforderungen an die Pfarrerinnen und<br />

Pfarrer. Dies werde an der breiten Debatte im Pfarrerblatt, den Synoden und<br />

Pfarrkonventen deutlich.<br />

4. Auswirkungen missionarischer Konzepte auf das Pfarrerbild<br />

Herbst geht davon aus, dass dem Pfarrberuf ein Leitbild gut und Not täte, das<br />

geistliche Leitung als Dienst versteht (Servant Leadership nach Greenleaf): „Die<br />

dienende Führungskraft ist zuerst ein Diener. Es beginnt alles bei ihm mit dem<br />

natürlichen Empfinden zuerst dienen zu wollen...“(492) Es werde also notwendig<br />

sein, dem Impuls nachzugehen, der Menschen ins Pfarramt bringt. Je nachdem, ob<br />

man also zuerst dienen oder leiten wolle, werde sich der Führungsstil unterscheiden.<br />

Allerdings komme es letztlich darauf an, durch „Menschen durch Leitung zu helfen,<br />

sich zu entwickeln.“ (493) – vgl.: Eph 4,11f: „Und er hat einige als Apostel eingesetzt,<br />

einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die<br />

Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes.“<br />

Michael Herbst beschreibt dies als folgenden Anspruch:<br />

„Ich möchte in meiner Gemeinde dazu beitragen, dass sich Menschen entwickeln<br />

können. Dass sie ihre Gaben entdecken und lernen, mit ihren Grenzen zu leben.<br />

Dass sie in ihre Abgründe schauen können und doch heiter bleiben. Dass sie<br />

mündige Bibelleser werden und sich in den Grundlagen des Glaubens auskennen.<br />

Dass sie beten lernen und zugleich wissen, wie der Glaube im Alttag Gestalt<br />

gewinnt. Dass sie sich begeistern lassen für Gottes Mission in der Welt.“ (493)<br />

Das Urbild dieser geistlichen Leitung sei in Jesu Verhältnis zu seinen Jüngern<br />

abgebildet: „Mit allem, was er tat, bereitete er sie darauf vor, dass sie selbst in die<br />

große Mission Gottes eintreten sollten. Er machte sie nicht klein, er ließ sie wachsen.<br />

Er machte sie nicht zu Knechten, sondern zu Freunden. Er ertrug ihren Verrat, ihren<br />

Ehrgeiz, ihr Missverstehen, ihren Eigensinn. Und als wollte er eine Überschrift über<br />

17


das Ganze setzen, sagte er kurz vor dem Ende; Ich bin unter euch wie ein Diener. Lk<br />

22,27“ (494)<br />

Allerdings helfe gegen den tief sitzenden Willen zur Macht offenbar wirklich nur die<br />

Hingabe. Insofern brauche auch geistliche Leitung geistliche Erneuerung.<br />

5. Auswirkungen missionarischer Konzepte auf Gemeindeformen<br />

Diskutiert werde, so Herbst, inwieweit es hilfreich und notwendig ist, dass neben die<br />

Parochie auch andere Gemeindeformen treten, um missionarisch wirksam werden zu<br />

können.<br />

Menschen brauchen feste Orte, an denen sie Wurzeln können – dies gelte für den<br />

modernen, mobilen und virtuell vernetzten Menschen vielleicht sogar in besonderer<br />

Weise. Insofern hätten auch Kirchtürme und die darum herum wohnende<br />

Parochialgemeinde nach wie vor ihre Berechtigung. Allerdings müsse sie sich der<br />

Frage stellen: „Dient sie der sichtbaren Gestalt der congregatio sanctorum,<br />

ermöglicht und fördert sie die oikodome und die Wahrnehmung des missionarischen<br />

Auftrags?“ (502)<br />

Herbst merkt kritisch an, dass die Parochie durch ihre lange Geschichte hindurch<br />

eigentlich ein stabilisierender Faktor der Pfarrerkirche gewesen ist und sich kaum in<br />

Richtung der teamorientierten Gemeindekirche entwickelt hat. Nach wie vor stehe<br />

und falle vieles, trotz wachsender Ehrenamtlichkeit mit der pastoralen Versorgung /<br />

Präsenz.<br />

Dem gegenüber seien die aus der anglikanischen Kirche kommenden<br />

Gemeindepflanzungen Versuche eines strategischen und strukturellen Neubeginns.<br />

Handlungsbedarf bestehe deshalb vor allem im immer dünner besiedelten ländlichen<br />

Raum: „Immer größere regionale Verbünde überfordern die Pfarrerschaft und<br />

entfernen kirchliches Leben aus dem Nahbereich.“ (504)<br />

6. Auswirkungen auf Regionalisierungskonzepte<br />

Herbst hält fest: „Region wird nicht mehr als missionarisches Zauberwort verstanden,<br />

sondern vor allem als verwaltungstechnisch-finanziell angemessene Größe<br />

angesichts des Auszehrungsprozesses in vielen Ortsgemeinden.“ (512)<br />

Regionalisierungsprozesse könnten so zu Zwängen werden, die Ressourcen vor Ort<br />

abziehen. Ziel müsse es deshalb auch sein, den Regionenbegriff wieder positiv zu<br />

besetzen. „Soll Region als geistlicher Lebensraum und als missionarische<br />

Bezugsgröße wirklich angenommen werden, dann müssen<br />

Regionalisierungsprozesse die Kultur der Gemeinsamkeit bereits erlebbar machen,<br />

die am Ende herauskommen soll.“ (512)<br />

„Glaubhaft muss deutlich werden, dass es um mehr als ein allmähliches Downsizing<br />

geht, an deren Ende doch nur eine marginalisierte kirchliche Restexistenz steht“<br />

(513), sondern vielmehr, dass in Regionalisierungsprozessen Chancen für<br />

Neuanfänge stecken, in die mit freiwerden Ressourcen investiert werden kann und<br />

soll.<br />

18


7. Frage nach den Milieus und unserer Verhaftung darin als Anfrage an unsere<br />

tatsächliche Missionsfähigkeit<br />

Wolfgang Huber führte 2009 in Kassel aus. „Wir erleben es nicht nur individuell,<br />

sondern es wird uns auch empirisch aufgewiesen, dass uns als Kirche der Zugang<br />

zu bestimmten Milieus und Lebensstilen nicht zureichend gelingt und wir nicht dazu<br />

im Stande sind, ihnen die Relevanz unseres Glaubens nahe zu bringen.“<br />

Herbst fragt deshalb: „Ist unsere Mission eher bemüht, nach einem raschen mutigen<br />

Ausfall in die böse Welt (auch eines anderen Milieus) möglichst schnell hinter die<br />

sicheren Kirchenmauern zurückzueilen, wenn es geht mit vielen, die sich<br />

herausretten lassen aus der Welt in die Gemeinde Gottes. Oder ist sie (unsere<br />

Mission) bemüht, hinauszugehen und mit den Menschen, da wo sie leben, in ihrer<br />

Kultur, in ihrem Milieu, Gemeinde zu werden?“ (515)<br />

Michael Herbst´s Impuls für die theologische Diskussion:<br />

Theologisch sollen Ekklesiologie und Christologie missiologisch bestimmt werden:<br />

„Denkt also nicht Kirche, denkt Mission“ (516)<br />

VII. Zusammenfassende Thesen<br />

These 1<br />

Gott hat uns eine Botschaft anvertraut, die die Welt braucht, denn sie stärkt die<br />

Mühseligen und bewahrt die Starken davor, sich von Leistung und Erfolg ein erfülltes<br />

Leben zu versprechen.<br />

These 2<br />

Gemeinden müssen wachsen wollen. Kirche will Mitglieder gewinnen und Menschen<br />

zur Heimat werden; aber sie versucht dies in Demut und Toleranz und hat<br />

dialogischen Charakter.<br />

These 3<br />

Mission ist nicht nur eine Sache der kirchlichen Institution; jeder Mensch ist an<br />

seinem Platz ein Botschafter Christi.<br />

These 4<br />

Für Mission ist der unmittelbare Kontakt von Mensch zu Mensch unerlässlich.<br />

„Verhaltet euch so, dass sie fragen, warum seid ihr so?“ (Herrenhutische<br />

Instruktionen für Missionare aus dem 18. Jahrhundert)<br />

Weltliche Lebensvorgänge sind Gleichnisse für das geistliche Geschehen von<br />

Mission und Evangelisation (Jüngel):<br />

sich ansehen und wahrnehmen,<br />

einander berühren,<br />

19


zusammen essen (Brot und Wein),<br />

Briefe schreiben,<br />

reden.<br />

These 5<br />

„Die beste Mission der Kirchen besteht in einer hohen Qualität ihrer klassischen<br />

Tätigkeiten.“<br />

These 6<br />

Kirchengebäude müssen als missionarischer Schatz betrachtet werden<br />

These 7<br />

Missionserfolge gibt es am äußersten Rand der Volkskirche<br />

- bei Bläsern<br />

- Chormitgliedern<br />

- Kirchbauvereinen;<br />

also dann, wenn Menschen eine Aufgabe haben.<br />

These 8<br />

Mission muss neu buchstabiert werden. Es geht nicht darum, Kirchenmitglieder<br />

frommer zu machen, sondern neu die Bedeutung der Taufe zu entdecken:<br />

- Notwendigkeit der Entwicklung guter Erwachsenentaufkurse<br />

- Bedeutung des Patenamtes<br />

- Kinder lernen von ihren Eltern<br />

- Bedeutung evangelischer KiTas; christliche Schulen<br />

These 9<br />

Mission ohne Blick auf die Gemeindestrukturen ist blind. Sorge um Strukturen ohne<br />

missionarische Intention ist leer. (Chr. Kähler)<br />

Mission und Strukturentscheidung gehören zusammen.<br />

20

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