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Man muss nicht in die Kirche gehen, um Christ zu sein? Oder - Was ...

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<strong>Man</strong> <strong>muss</strong> <strong>nicht</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>gehen</strong>, <strong>um</strong> <strong>Christ</strong> <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>? <strong>Oder</strong> - <strong>Was</strong> Jesus von se<strong>in</strong>en<br />

Nachfolgern erhofft<br />

Vortrag am 15. Januar 2003 bei den Frankenberger W<strong>in</strong>terabenden <strong>in</strong> Goslar<br />

Landesbischof Dr. Friedrich Weber<br />

Me<strong>in</strong>e sehr verehrten Damen und Herrn,<br />

Vorbemerkungen<br />

Mit der Themenformulierung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e ganze Reihe für <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong>n grundsätzliche, aber <strong>nicht</strong><br />

neue Probleme angesprochen. Sie berühren das Selbstverständnis der Pfarrer und Pfarrer<strong>in</strong>nen<br />

<strong>in</strong> besonderer Weise, ihre berufliche Identität, s<strong>in</strong>d sie doch durch ihre Ausbildung und durch<br />

ihr Ord<strong>in</strong>ationsversprechen auf den Gottes<strong>die</strong>nst der Geme<strong>in</strong>de als das zentrale kirchliche<br />

Geschehen gewiesen. Zugleich kommen kulturelle und soziale Verschiebungen <strong>in</strong> den Blick,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> soziologische Kategorien gefasst mit Differenzierungsschub, mit Individualisierung,<br />

Pluralisierung der Wertmuster und Lebensstile, Streben nach Autonomie und auch mit<br />

Mobilität <strong>zu</strong> tun haben. H<strong>in</strong><strong>zu</strong> kommt <strong>die</strong> Erkenntnis, dass wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er multireligiösen und<br />

multikulturellen Welt leben und der christliche Glaube und se<strong>in</strong>e kultische Praxis e<strong>in</strong><br />

wesentliches aber <strong>nicht</strong> mehr das e<strong>in</strong>zige religiöse Angebot <strong>in</strong> unserer Welt darstellt. Es gilbt<br />

mittlerweile <strong>die</strong> verschiedensten Formen des "<strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> Gehens", d.h. an Veranstaltungen<br />

teil<strong>zu</strong>nehmen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>er Liturgie folgen und S<strong>in</strong>nangebote machen. Und es gibt mittlerweile<br />

verschiedene Möglichkeiten des "<strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong>-Gehens", <strong>die</strong> sehr bewusst von<br />

Geme<strong>in</strong>degliedern, aber auch anderen ausgesucht und wahrgenommen werden. Neben dem<br />

traditionellen Sonntagsgottes<strong>die</strong>nst und K<strong>in</strong>dergottes<strong>die</strong>nst gibt es e<strong>in</strong>e Fülle<br />

unterschiedlicher Gottes<strong>die</strong>nstformen, <strong>die</strong> sich an bestimmten biografischen Situationen<br />

orientieren, <strong>die</strong> an "Ständen" ausgerichtet s<strong>in</strong>d, denen e<strong>in</strong> speziellen spirituelles Interesse<br />

eigen ist, <strong>die</strong> auf besondere Mitwirkung der Teilnehmenden abzielen. Es gibt Gottes<strong>die</strong>nste<br />

am Sonntagvormittag als Wort- und Sakramentsgottes<strong>die</strong>nste, es wird <strong>zu</strong> musikalischen<br />

Andachten e<strong>in</strong>geladen und es f<strong>in</strong>den Kantatengottes<strong>die</strong>nste statt, <strong>in</strong> denen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das<br />

gesungene Wort <strong>die</strong> Aufgabe der Verkündigung wahrnimmt.<br />

Das Angebot ist sehr differenziert, <strong>die</strong> Teilnehmerzahlen stabil. Problematisch ist allerd<strong>in</strong>gs,<br />

dass durch <strong>die</strong> Differenzierung das <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaft der Geme<strong>in</strong>de darstellende und<br />

vergegenwärtigende Ereignis des e<strong>in</strong>en zentralen Gottes<strong>die</strong>nstes so <strong>nicht</strong> mehr erkennbar<br />

wird. Wo sammelt sich <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>de als Ganze?<br />

1


Nun könnte es aber auch se<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong>se Frage <strong>nicht</strong>s anderes als <strong>die</strong> Formulierung e<strong>in</strong>es<br />

Wunsches ist, dass sich Geme<strong>in</strong>de erkennbar als corpus und <strong>nicht</strong> nur <strong>in</strong> spezifischen<br />

Segmenten darstellt.<br />

Z<strong>um</strong> anderen ist mit der Formulierung aber auch <strong>die</strong> Frage nach der <strong>Kirche</strong> als Gebäude<br />

gestellt, dass für e<strong>in</strong>e bestimmte kulturelle und religiöse Traditionen steht. Diese bilden<br />

gewissermaßen den Boden auf dem sich - wie es gelegentlich formuliert wird - das christliche<br />

Abendland entwickelt hat. Die Frage wäre dann dah<strong>in</strong><strong>gehen</strong>d <strong>zu</strong> beantworten, ob es für e<strong>in</strong>en<br />

Menschen, für e<strong>in</strong>e Gesellschaft gut se<strong>in</strong> kann, wenn sie sich von ihren geistigen und<br />

geistlichen, ihren kulturellen Wurzeln löst, <strong>in</strong>dem sie <strong>die</strong>se aus ihrem Denken, Fühlen und<br />

ihrer Lebenspraxis ausblendet.<br />

Um der Vielzahl der Antwortmöglichkeiten <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> erliegen soll e<strong>in</strong>e Focusierung auf den<br />

Sonntag und den Gottes<strong>die</strong>nst der Geme<strong>in</strong>de erfolgen.<br />

Der Sonntag und der Gottes<strong>die</strong>nst<br />

"Der Sonntag hat als Ruhetag <strong>in</strong> unserer Gesellschaft noch immer e<strong>in</strong> eigenes Gewicht.<br />

Wesentliche Merkmale unserer kulturellen Identität verb<strong>in</strong>den sich mit ihm. Es kann aber<br />

<strong>nicht</strong> übersehen werden, dass der Wandel der Arbeitswelt und verändertes Freizeitverhalten,<br />

Vere<strong>in</strong>swesen und Sport sowie der E<strong>in</strong>fluss der Massenme<strong>die</strong>n bedeutsame Änderungen <strong>in</strong><br />

der E<strong>in</strong>stellung z<strong>um</strong> Sonntag und z<strong>um</strong> sonntäglichen Gottes<strong>die</strong>nst mit sich gebracht haben.<br />

Mit Sorgen beobachten <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>den, dass <strong>die</strong> <strong>zu</strong>nehmende Sonntagsarbeit <strong>die</strong> Teilnahme<br />

am Gottes<strong>die</strong>nst und <strong>die</strong> Gestaltung des Sonntags als Ruhetag erschwert hat. Die<br />

unterschiedlichen Interessen und Erwartungen, <strong>die</strong> sich mit dem Sonntag verb<strong>in</strong>den, bei<br />

Familien und E<strong>in</strong>zelpersonen wie auch bei jüngeren und älteren Menschen, führen <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Konkurrenz mit dem Gottes<strong>die</strong>nst am Sonntagvormittag.<br />

Etlichen Geme<strong>in</strong>degliedern ist der Sonntagsgottes<strong>die</strong>nst wichtig für ihr Leben. Andere<br />

kommen nur selten, nehmen aber an Gottes<strong>die</strong>nsten an für sie wichtigen Tagen teil oder<br />

beteiligen sich am Geme<strong>in</strong>deleben <strong>in</strong> anderer Weise. Für viele <strong>Kirche</strong>nmitglieder hat der<br />

sonntägliche Gottes<strong>die</strong>nst ke<strong>in</strong>e erkennbare Bedeutung." 1<br />

Die Themenvorgabe des Vortrages nimmt <strong>die</strong> Situation - vermutlich als Zitat e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>em<br />

Pfarrer gegenüber gemachten Äußerung - auf und sie erlaubt Rückschlüsse.<br />

So stellt der erste Teil, <strong>die</strong> Frage, zwar <strong>zu</strong>nächst fest, dass man etwas <strong>nicht</strong> <strong>muss</strong>, formuliert<br />

<strong>die</strong>se Feststellung dann aber als Frage. In der fragenden Feststellung, schw<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e<br />

Restunsicherheit des fragend Feststellenden mit. Eigentlich hat er sich entschieden: <strong>Man</strong> <strong>muss</strong><br />

1 Leitl<strong>in</strong>ien kirchlichen Lebens, Entwurf Stand Juli 2001, S. 12<br />

2


<strong>nicht</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>gehen</strong>, <strong>um</strong> <strong>Christ</strong> <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>. Und <strong>die</strong>ser Entscheidung entspricht se<strong>in</strong>e<br />

Lebenspraxis. Andrerseits kennt er den Anspruch der <strong>Kirche</strong>: Sonntagspflicht, so hieß das im<br />

katholischen Milieu, <strong>in</strong> evangelischer Diktion heißt es: Der Gottes<strong>die</strong>nst ist <strong>die</strong> Mitte des<br />

Geme<strong>in</strong>delebens. Wenn aber der Gottes<strong>die</strong>nst <strong>die</strong> Mitte des Geme<strong>in</strong>delebens ist, <strong>in</strong> ihm das<br />

Wort Gottes <strong>zu</strong>gesprochen wird und wenn nach katholischen Verständnis im Geschehen der<br />

Messe mit Wortverkündigung und Eucharistie das Heil gegenwärtig wird, kann es doch<br />

eigentlich ke<strong>in</strong> <strong>Christ</strong>-Se<strong>in</strong> außerhalb <strong>die</strong>ser zentralen Veranstaltung geben. Er ist unsicher.<br />

Ich denke an den S<strong>in</strong>nspruch me<strong>in</strong>es verstorbenen Schwiegervaters, se<strong>in</strong> Herz schlug für <strong>die</strong><br />

Jagd. Auf e<strong>in</strong>er Ehrenurkunde des niedersächsischen Landesjägerverbandes las ich - schon<br />

Ende der 60er Jahre, den Theologiestudent damals durchaus irritierend:<br />

"Ihr me<strong>in</strong>t, der Jäger ist e<strong>in</strong> Sünder, weil selten er <strong>zu</strong>r <strong>Kirche</strong> geht. Im stillen Wald e<strong>in</strong> Blick<br />

z<strong>um</strong> Himmel ist besser als e<strong>in</strong> falsch Gebet."<br />

Er hielt sich an <strong>die</strong>se Regel, wobei er für sich sehr klar <strong>in</strong> Anspruch nahm, se<strong>in</strong> Leben im S<strong>in</strong>n<br />

des <strong>Christ</strong>ent<strong>um</strong>s <strong>zu</strong> führen. In <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> g<strong>in</strong>g er regelmäßig, nämlich immer dann, wenn<br />

e<strong>in</strong>e Beerdigung stattfand. Damit war er ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfall.<br />

Dies aber bedeutet, der Gang <strong>zu</strong>r <strong>Kirche</strong> wird dann wichtig, wenn er mit den Brüchen des<br />

Lebens <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung steht. Die Zurückhaltung, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>nspruch der Jäger<br />

ausspricht, mag <strong>in</strong>direkt <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung z<strong>um</strong> Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner aus Lukas<br />

18, 9 ff stehen. Dort sagte Jesus <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>igen,<br />

"<strong>die</strong> sich anmaßten, fromm <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>, und verachteten <strong>die</strong> anderen, <strong>die</strong>s Gleichnis:<br />

10 Es g<strong>in</strong>gen zwei Menschen h<strong>in</strong>auf <strong>in</strong> den Tempel, <strong>um</strong> <strong>zu</strong> beten, der e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Pharisäer, der<br />

andere e<strong>in</strong> Zöllner.<br />

11 Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich <strong>nicht</strong> b<strong>in</strong> wie <strong>die</strong><br />

andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie <strong>die</strong>ser Zöllner.<br />

12 Ich faste zweimal <strong>in</strong> der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich e<strong>in</strong>nehme.<br />

13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch <strong>die</strong> Augen <strong>nicht</strong> aufheben z<strong>um</strong> Himmel, sondern<br />

schlug an se<strong>in</strong>e Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!<br />

14 Ich sage euch: Dieser g<strong>in</strong>g gerechtfertigt h<strong>in</strong>ab <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Haus, <strong>nicht</strong> jener. Denn wer sich<br />

selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht<br />

werden."<br />

Nicht ungern wird auf Menschen, <strong>die</strong> den Gottes<strong>die</strong>nst besuchen, im Kurzschluss <strong>die</strong>ses<br />

Gleichnis angewandt. Sie s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Pharisäer, ganz abgesehen davon, dass mit dem<br />

unkritischen Gebrauch des Begriffs "Pharisäer" durchaus antijudaistisches Gedankengut<br />

3


transportiert wird, werden unausgesprochen Kategorien wie Heuchler, Bigotterie und<br />

ähnliches <strong>zu</strong>geschrieben. Ihre eigene Distanz z<strong>um</strong> regelhaften Gottes<strong>die</strong>nstbesuch, bzw. z<strong>um</strong><br />

äußerlich erkennbar werden lassen, dass man <strong>zu</strong>r <strong>Kirche</strong> geht, wird mit der Würdigung des<br />

Zöllners durch Jesu begründet. Das heißt, der sich mit dem Zöllner des Gleichnisses<br />

selbstidentifizierend Distanz Wahrende, bezieht das Urteil Jesu auf sich. Übersehen wird<br />

allerd<strong>in</strong>gs, dass dem Zöllner <strong>in</strong> der Begegnung mit Jesus <strong>die</strong> Fraglichkeit se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Existenzgründe deutlich wird und er sich aus <strong>die</strong>ser Fraglichkeit eben <strong>nicht</strong> an sich selbst,<br />

sondern an den barmherzigen Gott wendet. <strong>Man</strong>che Zurückhaltung im "<strong>zu</strong>r <strong>Kirche</strong> <strong>gehen</strong>"<br />

wird so noch immer <strong>in</strong> bewusster Diffamierung derer, <strong>die</strong> <strong>zu</strong>r "<strong>Kirche</strong> <strong>gehen</strong>" begründet.<br />

In me<strong>in</strong>er hessischen Heimat, fanden und f<strong>in</strong>den sich sonntagabends sicher 80-100 Menschen<br />

im Vere<strong>in</strong>shaus e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem sie ihre "Stunde" hielten und halten. In <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> g<strong>in</strong>gen <strong>gehen</strong><br />

viele von ihnen <strong>nicht</strong> oder <strong>nicht</strong> mehr - sie haben e<strong>in</strong> (neue) geistliche Heimat gefunden.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs heißt es jetzt: wer <strong>Christ</strong> se<strong>in</strong> will, <strong>muss</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Stunde <strong>gehen</strong>. Hier hat sich aus der<br />

alten Pflicht e<strong>in</strong>e neue gebildet.<br />

Ich begegne auch <strong>in</strong>nerhalb der <strong>Kirche</strong> Menschen, <strong>die</strong> sich sehr bewusst e<strong>in</strong>er neuen<br />

Spiritualität <strong>zu</strong>wenden, <strong>die</strong> <strong>nicht</strong> selten mit östlichen Religionserfahrungen, mit meditativer<br />

Praxis und mystischen Momenten erfüllt ist. Die als festgefügt er<strong>in</strong>nerten evangelischen<br />

Gottes<strong>die</strong>nste, der geordneten Liturgie folgend, lasse für <strong>die</strong> Erfahrungen des Geistes Gottes<br />

ke<strong>in</strong>en Ra<strong>um</strong>, heißt es. Auch bestimmte charismatische Gruppen, durchaus <strong>in</strong>nerhalb der<br />

<strong>Kirche</strong>, distanzieren sich vom Gottes<strong>die</strong>nst <strong>die</strong>ser Gründe wegen. Selbstverantwortete und<br />

selbstbestimmte Religiosität, Wahlfreiheit, letztendlich Autonomie des Individu<strong>um</strong>s auch und<br />

gerade <strong>in</strong> Fragen der Religion werden praktiziert.<br />

Erstes Ergebnis:<br />

"In Europa ist <strong>zu</strong>erst von christlichen Gruppen, dann von der Aufklärung e<strong>in</strong> langer Kampf<br />

<strong>um</strong> Glaubens- und Gewissensfreiheit geführt worden. Daraus ist <strong>die</strong> Demokratie mit ihrer verfassungsmäßig<br />

garantierten Freiheit der Überzeugung und des Lebensstils erwachsen. So -<br />

leben wir heute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er offenen Gesellschaft, <strong>in</strong> der uns e<strong>in</strong>e Vielzahl von Welt- und Lebensdeutungen<br />

begegnet. Zwar suchen <strong>die</strong> Menschen auch <strong>in</strong> unserer offenen Gesellschaft nach<br />

Lebenss<strong>in</strong>n und Geme<strong>in</strong>schaft. Doch erwarten viele <strong>die</strong> Hilfe da<strong>zu</strong> <strong>nicht</strong> nur von den <strong>Kirche</strong>n.<br />

Sie orientieren sich an den vielfältigen Angeboten weltanschaulicher, religiöser oder esoterischer<br />

Strömungen oder e<strong>in</strong>fach an Me<strong>die</strong>n und Werbung. Weder <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong>n noch der<br />

christliche Glaube verfügen hier über e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Monopolstellung." 2<br />

2 Leitl<strong>in</strong>ien, S. 5<br />

4


Der Selbstanspruch der <strong>Kirche</strong>n<br />

Der Selbstanspruch der <strong>Kirche</strong>n, <strong>in</strong> der ev. <strong>nicht</strong> selten im Zusammenhang von Taufe und<br />

Konfirmation formuliert, b<strong>in</strong>det dagegen rechte christliche Praxis an <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> und den<br />

Gottes<strong>die</strong>nst der Geme<strong>in</strong>de. Besonders deutlich wird <strong>die</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em liturgisch wichtigen<br />

katholischen <strong>Kirche</strong>n- und Bekenntnislied :<br />

"Fest soll me<strong>in</strong> Taufbund immer stehen,<br />

ich will <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> hören.<br />

Sie soll mich allzeit gläubig sehen<br />

Und folgsam ihren Lehren.<br />

Dank sei dem Herrn, der mich aus Gnad´<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Kirch´ berufen hat;<br />

Nie will ich von ihr weichen."<br />

Hermann Här<strong>in</strong>g, Professor für Theologie <strong>in</strong> Nijmegen, hält hier<strong>zu</strong> fest: "Die Verkür<strong>zu</strong>ng und<br />

Instr<strong>um</strong>entalisierung <strong>die</strong>ses Textes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, da <strong>die</strong> Großorganisationen selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Legitimationskrise geraten s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d unübersehbar. Wer se<strong>in</strong>er Ideologie erliegt, kann <strong>nicht</strong><br />

mehr unterscheiden zwischen dem christlichen Glauben selbst und den real existierenden , als<br />

Großorganisationen verfassten und festgezimmerten Konfessionen. Deshalb s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

"e<strong>in</strong>fachen Gläubigen" (so e<strong>in</strong> katholischer Standartbegriff) oft unfähig, ihr Dilemma<br />

zwischen Konfession und Glaube überhaupt <strong>zu</strong> artikulieren. Auch verwundert es <strong>nicht</strong>, wenn<br />

viele Zeitgenossen den christlichen Glauben als e<strong>in</strong> autoritären und <strong>in</strong> Organisationen<br />

erstarrtes Gebilde, als <strong>die</strong> Ideologie e<strong>in</strong>es überzüchteten Machtapparates begreifen. Leider<br />

stoßen <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong>n mit dem beschriebenen Selbstanspruch viele Menschen <strong>um</strong> e<strong>in</strong>es besseren<br />

<strong>Christ</strong>-Se<strong>in</strong>s willen ab." 3<br />

Dass es sich bei den <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Assoziationen beschriebenen Haltungen und Phänomenen<br />

allerd<strong>in</strong>gs <strong>nicht</strong> nur <strong>um</strong> <strong>die</strong> von Menschen handelt, <strong>die</strong> sich von ihrer <strong>Kirche</strong> distanzieren<br />

wollen, weil sie <strong>in</strong> unserer offenen Gesellschaft <strong>in</strong> ihrer Suche nach Lebenss<strong>in</strong>n und<br />

Geme<strong>in</strong>schaft anderen Anbietern folgen, sondern dass <strong>die</strong>se Anfragen auch gerade von<br />

Menschen kommen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihrer <strong>Kirche</strong> Heimat suchen, denen ihre <strong>Kirche</strong> also wichtig ist,<br />

verschärft das Problem.<br />

Es werden Anfragen formuliert:<br />

3 Hermann Här<strong>in</strong>g, Glaube ja -<strong>Kirche</strong> Ne<strong>in</strong>, Darmstadt 2002, S. 83<br />

5


"In der eigenen <strong>Kirche</strong> fühle ich mich <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> Hause, so klagen viele <strong>Christ</strong>en. So klagen <strong>die</strong><br />

Alten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Lieder, <strong>die</strong> Gebete und <strong>die</strong> Gesten ihrer K<strong>in</strong>dheit dort <strong>nicht</strong> mehr f<strong>in</strong>den. So<br />

klagen <strong>die</strong> jungen, <strong>die</strong> ihre eigene Sprache und ihre eigenen Lieder dort <strong>nicht</strong> f<strong>in</strong>den. Alle<br />

haben das Gefühl, <strong>in</strong> Rä<strong>um</strong>en <strong>zu</strong> wohnen, deren Möbel sie <strong>nicht</strong> ausgesucht haben. Und alle<br />

haben recht mit <strong>die</strong>ser Klage. Ich sehe e<strong>in</strong>en alten Menschen vor mir, der se<strong>in</strong>e Erfahrung<br />

gemacht hat mit e<strong>in</strong>er bestimmten Gestalt des Gottes<strong>die</strong>nstes; den e<strong>in</strong>e alte Geste getröstet<br />

hat, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lebensniederlage, und jetzt f<strong>in</strong>det er sie <strong>nicht</strong> mehr; den e<strong>in</strong> altes Lied ermutigt<br />

hat, als ihn das Leben geschlagen hat, und jetzt ist es ausgetauscht gegen e<strong>in</strong> neues. Dieses<br />

neue Lied, <strong>die</strong> neue Geste ist wie e<strong>in</strong> unbeschriebenes Blatt; e<strong>in</strong> Blatt, auf das er se<strong>in</strong>e<br />

Hoffnungen und Enttäuschungen noch <strong>nicht</strong> geschrieben hat. Jede Neuerung ist auch e<strong>in</strong><br />

Stück Vertreibung von Menschen aus Lebenshäusern. Das müssen <strong>die</strong> jungen sehen. Ich sehe<br />

aber auch junge Menschen vor mir. Ich sehe <strong>die</strong> Konfirmanden, <strong>die</strong> Lieder s<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> sie<br />

<strong>nicht</strong> verstehen und an <strong>die</strong> sie mit ihrer Lebenserfahrung <strong>nicht</strong> heranreichen. Ich sehe junge<br />

Erwachsene, <strong>die</strong> ihren Glauben wie ihre Großmütter und ihre Großväter ausdrücken müssen<br />

und denen e<strong>in</strong>e eigene Sprache <strong>nicht</strong> gestattet wird. Ich sehe, wie <strong>die</strong> Pfarrer und <strong>die</strong><br />

Organisten <strong>die</strong> Nase rümpfen, wenn jene sich anders ausdrücken wollen als <strong>in</strong> der<br />

altbewährten Sprache und als <strong>in</strong> den altbewährten Liedern. Ich sehe, wie <strong>die</strong>se dem Irrt<strong>um</strong><br />

unterliegen, das Alte sei das Bewährte. Wenn man Menschen <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> ihrer eigenen Sprache<br />

kommen lässt und ihnen <strong>die</strong> eigenen Lieder verbietet; verwehrt man ihnen, im Haus des<br />

Glaubens <strong>zu</strong> wohnen. Das müssen <strong>die</strong> Alten wissen. Alle haben recht, wenn sie Heimat<br />

e<strong>in</strong>klagen <strong>in</strong> ihren <strong>Kirche</strong>n. Das Problem ist, dass jeder e<strong>in</strong>e andere Heimat e<strong>in</strong>klagt und dass<br />

<strong>die</strong>se Heimaten <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong>e<strong>in</strong>ander passen." 4<br />

Zweites Ergebnis:<br />

Die gesellschaftliche Differenzierung hat auch <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong>n erfasst. Es wird <strong>zu</strong>nehmend<br />

schwerer, <strong>die</strong> Spannung zwischen dem Willen <strong>zu</strong>r Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach<br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeit aus<strong>zu</strong>halten und damit eben auch das Recht anderer Positionen an<strong>zu</strong>erkennen<br />

und <strong>die</strong> eigene Haltung demgegenüber <strong>zu</strong> relativieren. Angesichts dessen stellt sich <strong>die</strong><br />

Frage, ob der agendarisch geordnete Sonntagsvormittagsgottes<strong>die</strong>nst noch <strong>die</strong> <strong>in</strong>tegrierende<br />

Funktion hat, <strong>die</strong> ihm als "zentrales Ereignis" im wöchentlichen Geme<strong>in</strong>deleben<br />

<strong>zu</strong>gesprochen wird. Er hätte dann auch <strong>die</strong> Aufgabe der Integration unterschiedlicher<br />

geistlicher Haltungen. Falls <strong>die</strong>s <strong>nicht</strong> der Fall ist, wäre <strong>zu</strong> klären, auf welche Weise e<strong>in</strong>e<br />

Geme<strong>in</strong>de ihre Geme<strong>in</strong>schaft darstellen und geistliche gestalten kann und zwar so, dass sie <strong>in</strong><br />

4 Fulbert Steffensky, Das Haus, das <strong>die</strong> Trä<strong>um</strong>e verwaltet, Würzburg 1999, S. 9f<br />

6


aller Differenzierung als E<strong>in</strong>heit erkennbar bleibt. Hier stellt sich auch <strong>die</strong> aktuelle Frage nach<br />

der Profilbildung.<br />

Exegese und Ekklesiologie<br />

Muss man <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>gehen</strong> <strong>um</strong> <strong>Christ</strong> <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>? Ich könnte jetzt mit e<strong>in</strong>em klaren "Ne<strong>in</strong>",<br />

bzw. e<strong>in</strong>em ebenso klaren "Ja" z<strong>um</strong> Untertitel über<strong>gehen</strong>. Ich könnte das „Ja“ mit Positionen,<br />

<strong>die</strong> uns aus der <strong>Kirche</strong>ngeschichte benannt s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong> bis heute im Selbstverständnis der<br />

<strong>Kirche</strong> nachwirken, beantworten.<br />

E<strong>in</strong> dogmengeschichtlicher Rückblick<br />

Irenäus von Lyon (142- ? n.Chr.) sieht <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> gebunden <strong>in</strong> ihrem Dienst an der Wahrheit<br />

und er formuliert: "Wo nämlich <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> ist, dort ist auch der Geist Gottes; und wo der<br />

Geist Gottes ist, dort ist <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> und aller Gnade; der Geist aber ist <strong>die</strong> Wahrheit." Dieser<br />

Satz sagt, dass Geist, <strong>Kirche</strong> und Wahrheit <strong>zu</strong>sammengehören.<br />

Bis heute gerne zitiert wird <strong>die</strong> Überzeugung Cyprians (210/15-258 n.Chr.): "Salus extra<br />

ecclesiam non est", ausserhalb der <strong>Kirche</strong> gibt es ke<strong>in</strong> Heil. Diese Position besagt allerd<strong>in</strong>gs<br />

<strong>nicht</strong>, "dass <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> als solche heilsvermittelnde Instanz ist, sondern <strong>die</strong>se Anschauung<br />

ergibt sich aus der Zuordnung an <strong>Christ</strong>us und aus ihrer Aufgabe, <strong>die</strong> Wahrheit <strong>zu</strong> bewahren.<br />

E<strong>in</strong>e Spannung zwischen der Institution <strong>Kirche</strong> und der Heilsbotschaft wird am Anfang der<br />

<strong>Kirche</strong>ngeschichte noch <strong>nicht</strong> gesehen. <strong>Man</strong> empf<strong>in</strong>det trotz beg<strong>in</strong>nender kirchlicher<br />

Organisation noch ke<strong>in</strong>e Spannung zwischen <strong>Kirche</strong> und Recht.<br />

Erst nach der konstant<strong>in</strong>ischen Wende (333 n.Chr.), als <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>zu</strong>r Massenkirche wird,<br />

und <strong>zu</strong>gleich <strong>in</strong>nerkirchliche Lehrause<strong>in</strong>anderset<strong>zu</strong>ngen beg<strong>in</strong>nen - vor allem durch den<br />

Donatistische Streit, der <strong>die</strong> kirchliche Entwicklung Afrikas im 4. Jhdt. lange beherrschte -<br />

kam es <strong>zu</strong> ersten Klärungen. Die Donatisten betrachteten ihre <strong>Kirche</strong> als heilige <strong>Kirche</strong>, weil<br />

ihr Klerus frei von Todsünden sei, also den heiligen Geist habe und <strong>die</strong> Sakramente<br />

wirkungskräftig verwalten könnten. Der Großkirche bestritten sie <strong>die</strong>s. Aus <strong>die</strong>sem Grund<br />

vollzogen sie Wiedertaufen an den aus der Großkirche übergetretenen.<br />

Die Katholiken banden dagegen <strong>die</strong> Heiligkeit der <strong>Kirche</strong> an <strong>die</strong> Institution, <strong>die</strong> Donatisten<br />

<strong>die</strong> Heiligkeit der <strong>Kirche</strong> an Personen, zwar <strong>nicht</strong> mehr an <strong>die</strong> Heiligkeit aller<br />

Geme<strong>in</strong>deglieder wohl aber an <strong>die</strong> des Klerus. 411 n.Chr. kam es <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er großen Disputation<br />

<strong>in</strong> Karthago. Wortführer der Katholiken war August<strong>in</strong> (354-430 n.Chr.). Dieser hält nun fest,<br />

dass sich der "Leib <strong>Christ</strong>i" <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> also, <strong>nicht</strong> re<strong>in</strong> darstelle, <strong>in</strong> ihr seien auch "Böse" und<br />

7


es gel<strong>in</strong>ge <strong>nicht</strong>, <strong>die</strong>se aus<strong>zu</strong>scheiden. Die „ecclesia mixta“ der Jetztzeit ist deswegen von der<br />

Heiligen <strong>Kirche</strong> der Endzeit deutlich <strong>zu</strong> unterscheiden. Nur bei Gott steht fest, wer am Ende<br />

der Zeiten <strong>zu</strong>r wahren <strong>Kirche</strong> gehören werde.<br />

Diese Öffnung wird gerade <strong>in</strong> der römisch-katholischen Tradition <strong>nicht</strong> immer beibehalten, so<br />

def<strong>in</strong>iert aus konkretem Anlass der Reformation der römische Kard<strong>in</strong>al Robert Bellarm<strong>in</strong><br />

(1542-1621) <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> als "e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>igung von Menschen, <strong>die</strong> durch das Bekenntnis<br />

desselben christlichen Glaubens und durch <strong>die</strong> Teilnahme an denselben Sakramenten unter<br />

der Leitung der rechtmäßigen Hirten, besonders des eigenen Stellvertreters <strong>Christ</strong>i auf Erden,<br />

des Römischen Papstes, verbunden s<strong>in</strong>d." 5 Der Heidelberger Professor für katholische<br />

Theologe Norbert Scholl bemerkt da<strong>zu</strong>: "E<strong>in</strong>e solche ´Def<strong>in</strong>ition` hat den juridischen Vorteil,<br />

dass an ihr exakt gemessen werden kann, wer <strong>zu</strong> <strong>die</strong>ser <strong>Kirche</strong> gehört und wer <strong>nicht</strong>.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs nimmt sie damit den schwerwiegenden theologischen Nachteil <strong>in</strong> Kauf, lediglich<br />

soziale Strukturen und formale Gegebenheiten <strong>zu</strong>r Beschreibung heran<strong>zu</strong>ziehen und den<br />

Aspekt ihrer Teilhabe an der Offenbarungs- und Heilsgeschichte völlig unberücksichtig <strong>zu</strong><br />

lassen. " 6<br />

Im Neuansatz der ekklesiologischen Überlegungen des II. Vatikanische Konzils (1962-1965)<br />

wird <strong>die</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er Identifikation der <strong>Kirche</strong> <strong>Christ</strong>i mit der römisch-katholischen<br />

<strong>Kirche</strong> zwar <strong>nicht</strong> preisgegeben, aber doch vorsichtig weiter entwickelt. So gilt zwar noch<br />

immer, dass <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>Christ</strong>i, <strong>in</strong> der katholischen <strong>Kirche</strong> am wesentlichsten und wichtigsten<br />

verwirklicht ist, "neben der es aber noch andere Weisen des Se<strong>in</strong>s gibt." 7 Es wird so von e<strong>in</strong>er<br />

gestuften <strong>Kirche</strong>nmitgliedschaft gesprochen: "Voll <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> e<strong>in</strong>gegliedert s<strong>in</strong>d jene<br />

Getauften, <strong>die</strong> im Besitz des Geistes <strong>Christ</strong>i s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> ganze Ordnung der <strong>Kirche</strong> und alle <strong>in</strong><br />

ihr e<strong>in</strong>gerichteten Heilsmittel annehmen und <strong>in</strong> ihrem sichtbaren Verband mit <strong>Christ</strong>us, der sie<br />

durch den Papst und <strong>die</strong> Bischöfe leitet, verbunden s<strong>in</strong>d, und <strong>die</strong>s durch das Band des<br />

Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung und Geme<strong>in</strong>schaft. Mit<br />

denen, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Taufe der Ehre des <strong>Christ</strong>ennamens teilhaft s<strong>in</strong>d, den vollen Glauben<br />

aber <strong>nicht</strong> bekennen oder <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit der Geme<strong>in</strong>schaft unter dem Nachfolger Petri <strong>nicht</strong><br />

wahren, weiss sich <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> aus e<strong>in</strong>em mehrfachen Grund verbunden." 8<br />

5 Norbert Scholl, Die großen Themen des christlichen Glaubens, Darmstadt, 2002, S. 210<br />

6 Scholl, aaO, S. 210<br />

7 Josef F<strong>in</strong>kenzeller, Artikel <strong>Kirche</strong> IV, <strong>in</strong>: Theologische Realenzyklopä<strong>die</strong>, Band 18, Berl<strong>in</strong>-New York 1989,<br />

S. 249<br />

8 F<strong>in</strong>kenzeller, aaO, S. 249 - LG 14-15<br />

8


<strong>Kirche</strong>n<strong>zu</strong>gehörigkeit und <strong>Kirche</strong> nach evangelischem Verständnis<br />

Mit August<strong>in</strong> beg<strong>in</strong>nend, hat <strong>in</strong> der theologischen Betrachtung <strong>die</strong> Frage, welche Menschen<br />

denn nun <strong>zu</strong> <strong>die</strong>ser Geme<strong>in</strong>de der Gläubigen gehören, sich also von der Liebe Gottes tragen<br />

lassen, e<strong>in</strong>e gewisse Rolle gespielt. Die Differenz zwischen faktischer Zugehörigkeit <strong>zu</strong>r<br />

<strong>Kirche</strong> und Glauben wurde also thematisiert. Damit nahm man das biblische Wort, dass der<br />

Mensch nur das sehe, was vor Augen ist, Gott aber <strong>in</strong>s Herz schaue, ernst und unterschied<br />

zwischen Sichtbarer und verborgener <strong>Kirche</strong>. Gerade <strong>die</strong> Reformation hat von ihrer<br />

Grunderkenntnis, der Rechtfertigung des Gottlosen sola gratia, aus<strong>gehen</strong>d immer wieder<br />

versucht, <strong>Kirche</strong> als Geme<strong>in</strong>schaft der Gläubigen <strong>zu</strong> beschreiben und <strong>zu</strong>r Kenntnis <strong>zu</strong><br />

br<strong>in</strong>gen. Dabei bildet sich erst im Laufe der Zeit <strong>Kirche</strong> als Institution heraus. Der Grund: Die<br />

Reformation wollte ke<strong>in</strong>e neue <strong>Kirche</strong> bauen, sondern <strong>die</strong> alte - auch als Institution -<br />

reformieren. Als <strong>die</strong>s misslang, war es nötig, den sich bildenden Geme<strong>in</strong>den aus äußere,<br />

<strong>in</strong>stitutionellen Ordnungen <strong>zu</strong> geben., Dies wurde durch Visitation, und Armenordnungen, vor<br />

allem aber dann auch durch <strong>Kirche</strong>nordnung erreicht.<br />

Um <strong>Kirche</strong> nach evangelischem Verständnis, d.h. auch und gerade als geistliche Bewegung,<br />

recht <strong>zu</strong> erkennen, s<strong>in</strong>d nach. Luther und der CA VII zwei Kennzeichen entscheidend: dass<br />

das Evangeli<strong>um</strong> re<strong>in</strong> gepredigt wird und <strong>die</strong> Sakramente entsprechend dem Evangeli<strong>um</strong> - also<br />

lediglich Taufe und Abendmahl gegenüber den sieben Sakramenten der katholischen <strong>Kirche</strong> -<br />

gereicht werden. Luthers theologisches Interesse richtete sich sowohl auf <strong>die</strong> geglaubte - den<br />

Augen der Welt verborgene und doch weltweit wirkende - <strong>Kirche</strong> als e<strong>in</strong>e Größe des Heiligen<br />

Geistes: "se<strong>in</strong> Reim heißt er weht, wo er will, und <strong>nicht</strong>: er weht, wo wir wollen" (WA<br />

54,258). Von <strong>die</strong>ser "geistlich-<strong>in</strong>nerlichen" ist <strong>die</strong> "leiblich äußerliche <strong>Christ</strong>enheit"<br />

unterscheiden, wobei doch beide <strong>zu</strong>sammengehören, denn sie leben vom Evangeli<strong>um</strong> (WA<br />

6,292). "Dies geschieht erstlich durchs mündliche Wort, dar<strong>in</strong> gepredigt wird Vergebung der<br />

Sünde <strong>in</strong> alle Welt, welches ist das eigentliche Amt des Evangeli<strong>um</strong>s, z<strong>um</strong> andern durch <strong>die</strong><br />

Taufe, z<strong>um</strong> dritten durchs heilige Sakrament des Altars, z<strong>um</strong> vierten durch <strong>die</strong> Kraft der<br />

Schlüssel und auch durch wechselseitiges Gespräch und brüderliche Beratung" (BSLK S.<br />

449); <strong>zu</strong>dem durch Gebet, Kreuz und Leiden <strong>um</strong> <strong>Christ</strong>i willen (WA 50,641f). Die konkreten<br />

Geme<strong>in</strong>den freilich versammeln allezeit viel mehr falsche <strong>Christ</strong>en als fromme (WA 51,270)<br />

und nur Enthusiasten trä<strong>um</strong>en von e<strong>in</strong>er Saat ohne Unkraut (WA 51,443f). 9<br />

Die Reformatoren haben <strong>in</strong> B<strong>in</strong>dung an <strong>die</strong> biblische Tradition deutlich gemacht, dass <strong>nicht</strong><br />

alle, <strong>die</strong> <strong>zu</strong>r Institution der <strong>Kirche</strong> gehören, auch Glieder der Geme<strong>in</strong>schaft der Gläubigen<br />

s<strong>in</strong>d - ebenso wie es <strong>um</strong>gekehrt auch Glieder <strong>die</strong>ser Geme<strong>in</strong>schaft gibt, <strong>die</strong> <strong>zu</strong>r Institution der<br />

9 Zitate nach Gottfried Orth, Systematische Theologie, Stuttgart 2002, S. 108<br />

9


<strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em distanzierten Verhältnis stehen. Da<strong>zu</strong> gab es immer wieder nachvollziehbare<br />

Gründe. Nur, davon unberührt ist <strong>die</strong> bleibende biblische Wahrheit, dass Gottes Geist den<br />

Glauben durch se<strong>in</strong> Wort, empfangen <strong>in</strong> Predigt und Sakrament, schenkt. Und <strong>die</strong>s geschieht<br />

dort, wo "das Evangeli<strong>um</strong> re<strong>in</strong> gepredigt und <strong>die</strong> Sakramente laut dem Evangeli<strong>um</strong> gereicht<br />

werden." (CA VII) Dies geschieht im Gottes<strong>die</strong>nst, der so <strong>zu</strong>nächst und <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Gottes<br />

Dienst am Menschen ist und erst dann e<strong>in</strong>e kirchliche Veranstaltung.<br />

Dieser Glaube hat, so verborgen er ist, Wirkungen nach außen. Er äußert sich <strong>in</strong> der Praxis<br />

christlicher Frömmigkeit: im Hören auf Gottes Wort, <strong>in</strong> der Beschäftigung mit biblischen<br />

Texten, im Lob Gottes und im Gebet, <strong>in</strong> der Selbstprüfung und Vergewisserung des eigenen<br />

Glaubens im Gespräch mit anderen, im persönlichen Bekenntnis und Zeugnis <strong>in</strong> der Öffentlichkeit,<br />

<strong>in</strong> Taten der Liebe und <strong>in</strong> der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung - im<br />

"vernünftigen Gottes<strong>die</strong>nst", wie Paulus das alltägliche christliche Leben - Gottes<strong>die</strong>nst im<br />

Alltag der Welt also - nennt (Röm 12,1). 10 Übere<strong>in</strong>stimmend halten <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong>n der<br />

Leuenberger <strong>Kirche</strong>ngeme<strong>in</strong>schaft fest, dass das christliche Leben und das Leben der<br />

erfahrbaren <strong>Kirche</strong> zwar <strong>nicht</strong> e<strong>in</strong>fach <strong>zu</strong>sammenfallen, das christliche Leben aber nur durch<br />

<strong>die</strong> Sammlung <strong>um</strong> Wort und Sakrament sich an se<strong>in</strong>en Ursprung hält, "durch den es se<strong>in</strong>e<br />

Identität und Konkretheit als Leben <strong>in</strong> der communio sanctor<strong>um</strong> gew<strong>in</strong>nt." 11<br />

E<strong>in</strong> exegetischer Exkurs<br />

In den neutestamentlichen Schriften spiegelt sich e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive kirchliche Lebenswelt. Die<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong> der sie entstanden s<strong>in</strong>d, wird immer mitbedacht. Die Forschung sprach<br />

10 Leitl<strong>in</strong>ien S. 7<br />

11 Die <strong>Kirche</strong> Jesu <strong>Christ</strong>i, Leuenberger Texte 1, Frankfurt 1995, S. 30. Die Stu<strong>die</strong> formuliert unter der<br />

Überschrift Identität und Relevanz: "Das christliche Leben und das Leben der erfahrbaren <strong>Kirche</strong> fallen <strong>nicht</strong><br />

e<strong>in</strong>fach <strong>zu</strong>sammen, obwohl sie konstitutiv <strong>zu</strong>sammengehören: Das christliche Leben <strong>um</strong>faßt das ganze Lebenszeugnis<br />

aller Glaubenden. Es erstreckt sich über den Bereich der erfahrbaren <strong>Kirche</strong> h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> den gesamten Alltag<br />

der <strong>Christ</strong>en und damit weit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> das Leben der Gesellschaft. Freilich schließt es auch das Halten der<br />

Gebote der ersten Tafel e<strong>in</strong>: <strong>die</strong> Bezeugung des Evangeli<strong>um</strong>s durch Wort und Sakrament. Dadurch gew<strong>in</strong>nt <strong>die</strong><br />

erfahrbare <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong>nerhalb des christlichen Lebens Gestalt. Insofern ist das christliche Leben selbst grundlegend<br />

für <strong>die</strong> konkrete Gestalt der <strong>Kirche</strong>. Umgekehrt bleibt das christliche Leben selbst auf Wort und Sakrament<br />

und auf ihre Pflege und Ausgestaltung angewiesen. Nur durch <strong>die</strong> Sammlung <strong>um</strong> Wort und Sakrament hält sich<br />

das christliche Leben an se<strong>in</strong>en Ursprung, durch den es se<strong>in</strong>e Identität und Konkretheit als Leben <strong>in</strong> der<br />

communio sanctor<strong>um</strong> gew<strong>in</strong>nt. Dadurch wird es auch für <strong>die</strong> Gesellschaft identifizierbar. Indem reformatorische<br />

Theologie stets an der Bedeutung der rechten Predigt des Evangeli<strong>um</strong>s und der evangeli<strong>um</strong>sgemäßen<br />

Darreichung der Sakramente als den fundamentalen Kennzeichen der <strong>Kirche</strong> festgehalten hat, wird dem<br />

weitverbreiteten und irreführenden Mißverständnis e<strong>in</strong> für allemal widersprochen, als werde das wahre<br />

<strong>Christ</strong>ent<strong>um</strong> identifizierbar durch gute Taten, <strong>die</strong> alle Welt für solche hält. <strong>Man</strong> muß also sagen: So wie Wort<br />

und Sakramente <strong>die</strong> ersten, d. h. <strong>die</strong> ursprünglichen und elementaren Kennzeichen der wahren <strong>Kirche</strong> s<strong>in</strong>d, so ist<br />

<strong>die</strong> Teilhabe an der erfahrbaren <strong>Kirche</strong> als dem Ort der Sammlung <strong>um</strong> das Wort und Sakrament das erste unverwechselbare<br />

Kennzeichen des christlichen Lebens. Identitätsverlust christlichen Lebens und Relevanzverlust<br />

kirchlicher Verkündigung weisen stets darauf h<strong>in</strong>, daß der Zusammenhang zwischen der Verkündigung des<br />

Evangeli<strong>um</strong>s und der Feier der Sakramente e<strong>in</strong>erseits mit dem christlichen Leben im Alltag der Gesellschaft<br />

andererseits gestört ist." aaO, S. 29f<br />

10


schon so sehr früh vom "Sitz im Leben" e<strong>in</strong>es Textes, den es <strong>zu</strong> erschließen gilt, <strong>um</strong> den Text<br />

recht <strong>zu</strong> verstehen. Die überwiegende Zahl neutestamentlichen Schriften denkt über kirchliche<br />

Geme<strong>in</strong>schaft nach und versucht sie <strong>zu</strong> gestalten. Am deutlichsten wird <strong>die</strong>s bei den ältesten<br />

Texten, den Paulusbriefen. Sie s<strong>in</strong>d an Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Rom, Kor<strong>in</strong>th, Philippi und<br />

Thessaloniki gerichtet. Von der Grunderkenntnis, dass <strong>Christ</strong>us <strong>zu</strong>r Freiheit befreit hat (Gal<br />

5) her, werden Glaubens<strong>in</strong>halte, Verhaltensregeln und auf das persönliche und geme<strong>in</strong>dliche<br />

und politische Leben bezogene Fragen behandelt. Dies aber durchaus <strong>nicht</strong> <strong>in</strong>dividualistisch<br />

sondern daraufh<strong>in</strong>, "was <strong>die</strong> Art und <strong>die</strong> Form ihres <strong>Kirche</strong>se<strong>in</strong>s für den Kern ihres <strong>Christ</strong>-<br />

Se<strong>in</strong>s unmittelbar bedeutet". 12 Das Individu<strong>um</strong> wird als Teil der Geme<strong>in</strong>schaft gesehen.<br />

Dar<strong>um</strong> "alles ist erlaubt, aber <strong>nicht</strong> alles <strong>die</strong>nt z<strong>um</strong> Guten. Alles ist erlaubt, aber <strong>nicht</strong> alles<br />

baut auf. Niemand suche das Se<strong>in</strong>e, sondern was dem anderen <strong>die</strong>nt." (1. Kor 10, 23f)<br />

Letztendlich gilt, dass <strong>die</strong> neutestamentlichen Texte ohne <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaft derer, <strong>die</strong> den<br />

gekreuzigten und auferstandenen <strong>Christ</strong>us als ihren Herrn bekennen, <strong>nicht</strong> h<strong>in</strong>reichend <strong>zu</strong><br />

verstehen s<strong>in</strong>d. Der christliche Glaube verb<strong>in</strong>det <strong>die</strong> Menschen mite<strong>in</strong>ander. Denn der<br />

Geme<strong>in</strong>schaft der an Jesus <strong>Christ</strong>us Glaubenden gilt <strong>die</strong> Verheißung: "Wo zwei oder drei versammelt<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Namen, da b<strong>in</strong> ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20). Jesus selbst wird<br />

fast nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Bewegung von Frauen und Männern gesehen.<br />

Das Wesen der Geme<strong>in</strong>schaft der Gläubigen wird im Neuen Testament mit verschiedenen<br />

Bildern beschrieben: Sie ist <strong>die</strong> Herde, <strong>die</strong> von Jesus <strong>Christ</strong>us als dem guten Hirten geleitet<br />

wird (Joh 10,1-16), das Haus Gottes, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten<br />

errichtet ist (Eph 2,20; 1 Petr 2,5), das Volk Gottes, das unterwegs ist <strong>zu</strong>r Ruhe bei Gott am<br />

Ende der Zeit (Hebr 4,9-11). Vor allem aber ist sie der Leib <strong>Christ</strong>i (1 Kor 12). "<strong>Man</strong> kann<br />

sich <strong>die</strong>se Aussage <strong>nicht</strong> direkt genug vorstellen: <strong>Kirche</strong> wird z<strong>um</strong> Leib <strong>Christ</strong>i, d.h. z<strong>um</strong><br />

Identitätsra<strong>um</strong>, z<strong>um</strong> erfahrbaren, z<strong>um</strong> rä<strong>um</strong>lich wie s<strong>in</strong>nlich gegenwärtigen Ort des Heils. An<br />

<strong>die</strong>sem Ort (Geme<strong>in</strong>schaft, Gottes<strong>die</strong>nstvoll<strong>zu</strong>g, Aktion des Betens, Verkündens und Hörens)<br />

erhält der Beg<strong>in</strong>n des Gottesreiches se<strong>in</strong>e Konkretisierung: Jesus <strong>Christ</strong>us ist ihr alle<strong>in</strong>iger<br />

Lebensgrund, und aus ihm empfängt das Zusammenspiel ihrer Glieder Kraft und Richtung.<br />

Deswegen werden <strong>die</strong> Gläubigen auch <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaft der Heiligen genannt - <strong>nicht</strong> weil sie<br />

fehlerlose, e<strong>in</strong>wandfreie Menschen wären, sondern weil Gott sie durch se<strong>in</strong>e Vergebung und<br />

Berufung geheiligt hat." 13<br />

Dass <strong>die</strong>ses Geschehen <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er geschlossenen und deutlich abgrenzbaren Form führt,<br />

hat se<strong>in</strong>en Grund auch dar<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> Wirkungszeit Jesu nur sehr kurz war und mit und neben<br />

ihm auch andere religiöse Bewegungen wirken. Er ist allerd<strong>in</strong>gs der Mittelpunkt<br />

12 Här<strong>in</strong>g, aaO, S. 96<br />

11


verschiedener E<strong>in</strong>flüsse, <strong>die</strong> auch nach se<strong>in</strong>em Tod bedeutsam bleiben. So ist von Petrus und<br />

den zwölfen <strong>die</strong> Rede - Galiläer - daneben gab es <strong>die</strong> Judenchristen <strong>um</strong> Jakobus, <strong>die</strong><br />

wieder<strong>um</strong> <strong>in</strong> erhebliche Ause<strong>in</strong>anderset<strong>zu</strong>ngen mit Paulus verwickelt se<strong>in</strong> werden. Es gab<br />

frühchristliche Gruppen hellenistischer Herkunft und johanneische Geme<strong>in</strong>den.<br />

Z<strong>um</strong> Beg<strong>in</strong>n, <strong>zu</strong>r Entwicklung und z<strong>um</strong> Ziel <strong>die</strong>ser Kirchlichkeit gehört also e<strong>in</strong>e „große<br />

soziologische und kulturelle, mentale und theologische Vielfalt". 14 Offenheit und Vielfalt ist<br />

so e<strong>in</strong> wesentliches Kennzeichen der jungen Bewegung. Dass sie <strong>nicht</strong> <strong>in</strong> Gruppen<strong>in</strong>teresse<br />

erstarrte, zeigt der Bericht vom Pf<strong>in</strong>gstfest <strong>in</strong> Jerusalem. (Acta 2) Die <strong>Kirche</strong> wird <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> gewordenen Volks<strong>zu</strong>gehörigkeiten, aber auch <strong>die</strong> sozialen und<br />

geschlechtlichen Differenzen ke<strong>in</strong>e Rolle mehr spielen, denn "ihr alle seid allesamt e<strong>in</strong>er <strong>in</strong><br />

<strong>Christ</strong>us Jesus." (Gal 3,28) Woher kommt aber <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heitserfahrung e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>die</strong><br />

sich trotz aller Differenzierungen als E<strong>in</strong>heit mit <strong>Christ</strong>us und als E<strong>in</strong>heit untere<strong>in</strong>ander<br />

def<strong>in</strong>iert? Am deutlichsten wird sie <strong>in</strong> Epheser 4, 3-6 ausgesprochen:<br />

"3 und seid darauf bedacht, <strong>zu</strong> wahren <strong>die</strong> E<strong>in</strong>igkeit im Geist durch das Band des Friedens:<br />

4 e<strong>in</strong> Leib und e<strong>in</strong> Geist, wie ihr auch berufen seid <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Hoffnung eurer Berufung;<br />

5 e<strong>in</strong> Herr, e<strong>in</strong> Glaube, e<strong>in</strong>e Taufe;<br />

6 e<strong>in</strong> Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und <strong>in</strong> allen."<br />

Diese E<strong>in</strong>heitserfahrung entwickelt sich aus der Nachfolge Jesu, verstanden als Er<strong>in</strong>nerung<br />

und Neugew<strong>in</strong>nung des Gewesenen <strong>in</strong> der gegenwärtigen Situation. Der Glaube braucht <strong>die</strong>se<br />

Er<strong>in</strong>nerung, <strong>um</strong> <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> erstarren, er braucht <strong>die</strong> je aktuelle Neuorientierung am Handeln und<br />

Reden Jesu. E<strong>in</strong>s allerd<strong>in</strong>gs war für alle verb<strong>in</strong>dlich: Das Bekenntnis <strong>zu</strong> Tod und<br />

Auferstehung Jesu.<br />

Jesus wird so z<strong>um</strong> "Richtmaß e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>die</strong> eben <strong>nicht</strong> aus sich selbst, sondern aus<br />

<strong>die</strong>ser Er<strong>in</strong>nerung lebt." 15 Diese Er<strong>in</strong>nerung aber wird als glaubenweckender Prozess nach<br />

dem paul<strong>in</strong>ischen Zeugnis durch <strong>die</strong> Predigt geleistet: "So kommt der Glaube aus der Predigt,<br />

das Predigen aber durch das Wort <strong>Christ</strong>i." (Römer 10,17)<br />

3. Ergebnis<br />

Biblisch gesehen ist e<strong>in</strong> Glaube ohne Geme<strong>in</strong>schaft ka<strong>um</strong> vorstellbar. E<strong>in</strong>e wichtige Form<br />

<strong>die</strong>ser Geme<strong>in</strong>schaft ist <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong>. Das <strong>Kirche</strong>-Se<strong>in</strong> gehört unmittelbar z<strong>um</strong> Inhalt des <strong>Christ</strong>-<br />

Se<strong>in</strong>s. <strong>Kirche</strong> ist aber dann <strong>nicht</strong> mehr <strong>Kirche</strong>, wenn sie von der Er<strong>in</strong>nerung an Jesus von<br />

Nazareth, an se<strong>in</strong>en Tod und se<strong>in</strong>e Auferstehung, ke<strong>in</strong>e auch <strong>die</strong> Gegenwart und damit <strong>die</strong><br />

13 Här<strong>in</strong>g, aaO, S. 104<br />

14 Här<strong>in</strong>g, aaO, S. 115<br />

15 Här<strong>in</strong>g, aaO, S. 118<br />

12


<strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> ihrem Gewordense<strong>in</strong> verändernde Aufbrüche erwartet. Nur durch <strong>die</strong> Sammlung <strong>um</strong><br />

Wort und Sakrament hält sich das christliche Leben an se<strong>in</strong>en Ursprung, durch den es se<strong>in</strong>e<br />

Identität und Konkretheit als Leben <strong>in</strong> der communio sanctor<strong>um</strong> gew<strong>in</strong>nt.<br />

<strong>Was</strong> ist <strong>zu</strong> tun?<br />

Die <strong>Kirche</strong>n haben alle Anstrengungen <strong>zu</strong> unternehmen, damit der Gottes<strong>die</strong>nst der Geme<strong>in</strong>de<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en unterschiedlichen Formen wieder für Menschen <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Entdeckung wird. E<strong>in</strong>e<br />

Entdeckung, von der belebende Wirkungen für <strong>die</strong> Existenz <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Welt aus<strong>gehen</strong>. E<strong>in</strong>e<br />

Entdeckung, <strong>die</strong> der Frage nach dem S<strong>in</strong>n des Lebens und des Sterbens Antworten schenkt.<br />

Es geht <strong>um</strong> Antworten, oder besser Gesprächsangebote auf <strong>die</strong> Fragen: "<strong>Was</strong> ist der Mensch?<br />

<strong>Was</strong> ist der S<strong>in</strong>n des Schmerzes, des Bösen, des Todes - alles D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> trotz solchen<br />

Fortschritts immer noch weiterbestehen? Wo<strong>zu</strong> <strong>die</strong>se Siege, wenn sie so teuer erkauft werden<br />

<strong>muss</strong>ten? <strong>Was</strong> kann der Mensch der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? <strong>Was</strong> kommt<br />

nach <strong>die</strong>sem irdischen Leben?" 16 Wir entdecken <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Fragen den von Ernst Bloch<br />

erweiterten Katalog Immanuel Kants wieder: "Wer s<strong>in</strong>d wir? Wo kommen wir her? Woh<strong>in</strong><br />

<strong>gehen</strong> wir? <strong>Was</strong> erwarten wir? <strong>Was</strong> erwartet uns?"<br />

Diese Gesprächsangebote werden sich, weil sie Beiträge der christlichen Geme<strong>in</strong>de s<strong>in</strong>d, auf<br />

Jesus von Nazareth beziehen. In ihm hat sich Gott gezeigt.<br />

Indem <strong>die</strong> Geschichte Jesu, <strong>die</strong> Geschichte se<strong>in</strong>es Lebens, Sterbens und Auferstehens<br />

nacherzählt und <strong>in</strong>s Gespräch e<strong>in</strong>gebracht wird, werden <strong>die</strong> von ihm gelebten Werte,, wird<br />

se<strong>in</strong>e dem Menschen <strong>zu</strong>gewandte Haltung als Maß für gegenwärtige Lebensgestaltung<br />

benannt. Dass <strong>die</strong>ser Vorgang <strong>nicht</strong> an e<strong>in</strong> bestimmte <strong>in</strong>stitutionelle Gestalt von <strong>Kirche</strong><br />

gebunden ist, steht außer Frage. Er ist allerd<strong>in</strong>gs gebunden an <strong>die</strong> <strong>die</strong> Jesus -Geschichte<br />

erzählende "Geme<strong>in</strong>schaft der Gläubigen“. Dass sich hier<strong>zu</strong> besondere <strong>Kirche</strong>ntümer, also<br />

<strong>Kirche</strong>ngeme<strong>in</strong>den, Propsteien bis h<strong>in</strong> <strong>zu</strong> Landeskirchen und <strong>zu</strong>r katholischen Weltkirche<br />

herausgebildet haben, ist Zugeständnis an <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen unter denen <strong>die</strong> "Geme<strong>in</strong>schaft<br />

der Gläubigen" durch <strong>die</strong> Zeiten existiert. Es galt Notleidende <strong>zu</strong> versorgen - Diakonie - , es<br />

<strong>muss</strong>te geklärt werden, wie <strong>die</strong> unterschiedlichen Charismen z<strong>um</strong> Wohl aller am günstigsten<br />

gefördert und e<strong>in</strong>gesetzt werden konnten - Ausbildung und Leitung -, es galt <strong>die</strong> äußeren<br />

Bed<strong>in</strong>gungen der Arbeit <strong>zu</strong> klären - Geld und Gebäude. Aus e<strong>in</strong>er Bewegung wurde e<strong>in</strong>e<br />

Institution. Aber <strong>die</strong> Dynamik der Bewegung ist <strong>in</strong> der Institution <strong>nicht</strong> verloren. Institutionen<br />

wären missverstanden, wenn man sie ausschließlich als Verfestigung und formale Größen<br />

behandeln würde. Institutionen s<strong>in</strong>d nötig, <strong>um</strong> auch Bewegungen <strong>zu</strong> ermöglichen. <strong>Kirche</strong>n<br />

16 Gaudi<strong>um</strong> et spes, Nr. 10<br />

13


werden daher sehr aufmerksam allen Verhärtungen des Institutionellen entgegnen müssen, vor<br />

allem aber ist ihre Aufgabe, Bed<strong>in</strong>gungen dafür <strong>zu</strong> schaffen und immer wieder <strong>zu</strong> verbessern,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Erzählgeme<strong>in</strong>schaft <strong>um</strong> Jesus <strong>Christ</strong>us ermöglichen und Menschen <strong>zu</strong>gleich da<strong>zu</strong><br />

befähigen sachgerecht und begeisternd an <strong>die</strong>ser geschieht Anteil <strong>zu</strong> geben. D.h. <strong>Kirche</strong> wird<br />

neben aller möglichen Förderung des ehrenamtlichen Mitwirkens am Gottes<strong>die</strong>nst der<br />

Geme<strong>in</strong>de gerade <strong>die</strong> hauptamtlich Tätigen sorgfältig aus- und fortbilden.<br />

4. Ergebnis:<br />

<strong>Man</strong> <strong>muss</strong> <strong>nicht</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>gehen</strong>, aber man kann sich e<strong>in</strong>laden lassen, z<strong>um</strong> Mitfeiern und<br />

<strong>zu</strong>r Aneignung dessen, was Gott für uns <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Sohn Jesus <strong>Christ</strong>us getan hat. Und man<br />

kann sich mit se<strong>in</strong>en eigenen Erfahrungen e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en lebendigen Austausch darüber,<br />

wie <strong>die</strong>ses Geschenk des guten Lebens, wie <strong>die</strong> Hoffnung, <strong>die</strong> <strong>Christ</strong>en beseelt (1. Petr 3,15)<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>s Strudeln geratenden Welt <strong>zu</strong> Gehör und Wirkung kommen kann.<br />

August<strong>in</strong>, der <strong>Kirche</strong>nvater, berichtet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Confessiones, dass er auf dem Höhepunkt<br />

se<strong>in</strong>es <strong>in</strong>neren Kampfes <strong>um</strong> den Glauben e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>derstimme hörte, <strong>die</strong> ihm sagte: "tolle,<br />

lege", d.h.: nimm und lies. Er verstand <strong>die</strong>s Stimme als göttlichen H<strong>in</strong>weis und begann <strong>in</strong> der<br />

Bibel <strong>zu</strong> lesen. Er berichtet, dass <strong>die</strong> Lektüre (Röm 13,13f) ihm <strong>die</strong> Gewissheit se<strong>in</strong>es<br />

Lebensweges schenkte. Wenn nun gefragt wird, was wohl Jesus von se<strong>in</strong>en Nachfolgern<br />

erhofft, dann glaube ich - und <strong>die</strong>s <strong>nicht</strong> nur wegen des begonnenen Jahres der Bibel -, es ist<br />

<strong>die</strong> Begegnung mit se<strong>in</strong>em Wort. Dies kann <strong>in</strong> der privaten Lektüre der Bibel geschehen, <strong>die</strong>s<br />

kann im Gottes<strong>die</strong>nst der Geme<strong>in</strong>de geschehen, <strong>die</strong>s zielt aber immer auf Austausch, auf<br />

Geme<strong>in</strong>schaft. Von der <strong>Kirche</strong> als der Geme<strong>in</strong>schaft der ihm Nachfolgenden wäre dann<br />

allerd<strong>in</strong>gs <strong>zu</strong> erhoffen, dass es ihr gel<strong>in</strong>gt, <strong>die</strong> Botschaft, das Wort von Jesu und Jesu Wort so<br />

<strong>zu</strong> elementarisieren, dass Menschen <strong>in</strong> ihm "S<strong>in</strong>n oder Orientierung, Tiefe oder Transzendenz,<br />

Göttliches oder Versöhnung überhaupt wieder ernst nehmen und dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Identität<br />

f<strong>in</strong>den können." 17<br />

17 Här<strong>in</strong>g, aaO, S. 172f<br />

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