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Rechtsschutz gegen Verwaltungsrealakte - Institut für öffentliches ...

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313<br />

M ARKUS M ÜLLER *<br />

<strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

Inhaltsübersicht<br />

I. Einleitung und Problematik<br />

II. Der Realakt<br />

1. Begriff<br />

2. Arten von Realakten<br />

3. Abgrenzung zu besonderen Verfügungstypen<br />

4. Rechtliche Grundbedingungen des realen Handelns<br />

5. Fazit und Überleitung<br />

III. Der <strong>Rechtsschutz</strong> nach alter Bundesrechtspflege<br />

1. Rechtsakt als<strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />

2. Pragmatische„Öffnung“<br />

3. Fazit und Überleitung<br />

IV. Der <strong>Rechtsschutz</strong> nach Art. 25 a VwVG<br />

1. Art.25 a VwVG: Ein Nebenprodukt der neuen Bundesrechtspflege<br />

2. Der „neue“ Weg: VerfahrenaufErlass einer Verfügung<br />

3. Die Eintretensvoraussetzungen<br />

4. Die drei Begehren<br />

5. Verfahrensabschluss und <strong>Rechtsschutz</strong><br />

6. Verhältn is zur Staatshaftung<br />

7. Art.25 a VwVG auf kantonaler Ebene (Hinweis)<br />

8. Fazit und Überleitung<br />

V. Ausblick<br />

1. <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />

2. Wechsel im Rechtsverständnis<br />

3. Fazit: Drei Konsequenzen für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte<br />

I. Einleitung undProblematik<br />

Ohne Verfügung kein Verwaltungsrechtsschutz –sodie „eiserne Regel“ der<br />

schweizerischen Verwaltungsrechtspflege. In jüngerer Zeit scheint sie zwar<br />

etwas Rost angesetzt zu haben. Aber nur Flugrost, wie sich rasch herausstellt.<br />

Eiserne Regeln –der Name verrät es –haben Bestand. Im Grundsatz gilt daher<br />

noch immer: Handelt der Staat nicht in der Form der Verfügung, fehlt ein adä-<br />

*<br />

Dr. iur., ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern.<br />

Meinem Assistenten, Dr. iur./Fürsprecher Reto Feller, danke ich für die sorgfältige<br />

Durchsicht des Manuskripts sowie für wertvolle Hinweise.


314 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

quater (unmittelbarer) Verwaltungsrechtsschutz. Ein Defizit, das Praxis und<br />

Lehre seit geraumerZeit beschäftigt. 1<br />

Dies nicht zuletzt auch aus Gründen von Art. 13EMRK. Diese Konventionsnorm<br />

verlangt, dass <strong>gegen</strong> jegliches staatliche Handeln, sofern<br />

es Konventionsrechte verletzt, eine „wirksame Beschwerde bei<br />

einernationalen Instanz“ erhoben werden kann. 2<br />

Ideen und Anregungen zur Verbesserung dieses Zustands lagen schon länger<br />

auf dem Tisch. Sie harrten nur noch der Weiterentwicklung und der Umsetzung<br />

im positiven Verfahrensrecht. Die Revision der Bundesrechtspflege bot<br />

hierzu Gelegenheit. Doch der Ruf nach einer Verbesserung des <strong>Rechtsschutz</strong>es<br />

<strong>gegen</strong> Realakte ging im allgemeinen Lärm der Umbauarbeiten am Justizgebäude<br />

unter. Sobegnügte sich der Bundesrat in seiner Botschaft mit einem<br />

pauschalen Hinweis auf bestehende „Lücken im<strong>Rechtsschutz</strong>“, ohne dabei das<br />

Problem der Realakte explizit zubenennen. 3 –Bei genauerem Hinschauen<br />

kann einem die grundlegende Bedeutung dieses Themas fürden Administrativrechtsschutz<br />

freilich nicht verborgen bleiben. Dies hat auch der Gesetzgeber<br />

erkannt und darauf –inletzter Minute –mit einer neuen Vorschrift (Art. 25 a<br />

VwVG: „Verfügungenüber Realakte“) reagiert.<br />

Dieser neuen Verfahrensvorschrift, ihrem normativen Gehalt und ihrer Tragweite<br />

für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte, widmet sich der vorliegende Beitrag:<br />

Den Anfang und Einstieg machen Ausführungen zum Begriff des Realakts<br />

(Ziff.II.). Sodann interessiert der aktuelle Stand der Rechtsprechung und<br />

damit der <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte vor Inkrafttreten der neuen Bundesrechtspflege<br />

(Ziff. III.). Vor diesem Hintergrund gilt es schliesslich, das Potential<br />

des neuen Art. 25 a VwVG für eine Verbesserung des <strong>Rechtsschutz</strong>es auszuloten<br />

(Ziff. IV.). Eine kritische Würdigung der Gesetzesnovelle und auch ein<br />

Ausblick auf mögliche weitere Entwicklungsschritte beenden die Betrachtungen<br />

(Ziff. V.).<br />

1<br />

2<br />

3<br />

In der schweizerischen Doktrin haben vor allem R OLAND P LATTNER -STEINMANN, Tatsächliches<br />

Verwaltungshandeln, Zürich 1990 und P AUL R ICHLI, Zum verfahrens- und<br />

prozessrechtlichen Regelungsdefizit beim verfügungsfreien Staatshandeln, AJP 1992,<br />

196 ff. das Thema lanciert. Siehe ferner die Literaturhinweise bei A LEXANDRE F LÜCKI-<br />

GER, Régulation, déregulation, autorégulation: l’émergence des actes étatiques non obligatoires,<br />

ZSR 2004 II, 293 ff.; PIERRE M OOR, Droit administratif, volume II –Les actes<br />

administratifs et leur contrôle, 2. Auflage, Bern 2002, 25; sowie T HOMAS M ÜLLER -<br />

G RAF, Entrechtlichung durch Informalisierung, Basel/Genf/München 2001.<br />

Vgl. dazu hinten Kap. III/2/a.<br />

Vgl. Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28. Februar 2001 (BBl<br />

2001 4202, 4215 f.).


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 315<br />

II.<br />

Der Realakt<br />

Die Marginalie von Art. 25 a VwVG spricht von „Verfügungen über Realakte“.<br />

4 Der Begriff der Verfügung ist von Lehre und Rechtsprechung durchdrungen;<br />

er bedarf hier keiner weiteren Erläuterungen. Dem<strong>gegen</strong>über erscheintder<br />

Terminus des Realakts noch erklärungsbedürftig. Zudiesem Zweck sollen in<br />

einem ersten Schritt Begriffsentstehung, -funktion und -inhalt etwas näher untersucht<br />

werden (Ziff.1). Im Anschluss werden die wichtigsten Arten und Unterarten<br />

von Realakten dargestellt (Ziff. 2). Ein Schlaglicht auf die Abgrenzung<br />

<strong>gegen</strong>über besonderen Verfügungstypen deutet weiter die praktischen<br />

Schwierigkeiten im Umgang mit dieser Rechtsfigur an(Ziff.3). Einige summarische<br />

Bemerkungen zu den rechtlichen Grundbedingungen des realen Handelnsbeschliessendiesen<br />

Abschnitt (Ziff.4).<br />

1. Begriff<br />

a) Historische Anfänge<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts war die damals noch junge schweizerische Verwaltungsrechtswissenschaft<br />

in erster Linie damit beschäftigt, die strukturellen<br />

Gemeinsamkeiten zahlreicher staatlicher Handlungen zu erkennen und hierfür<br />

formale Gefässe zu schaffen. Frucht dieser Bemühungen war insbesondere das<br />

<strong>Institut</strong> der Verfügung ,fortan der erste und typische Rechtsakt der staatlichen<br />

Verwaltung. Zuseiner dogmatischen Erschliessung orientierte man sich –wie<br />

andernortsdargelegt 5 –überwiegend ander deutschenDoktrin:<br />

Nach der Definition von O TTO M AYER galt als Verfügung „ein der<br />

Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch, der dem Untertanen<br />

im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll.“ 6 Nach<br />

F RITZ F LEINER war die Verfügung „das einseitige Rechtsgeschäft des<br />

öffentlichen Rechts“, das auf „Begründung, Abänderung oder Aufhebung<br />

eines öffentlichen Rechtsverhältnisses zwischen der öffentlichen<br />

Verwaltung und dem Untertan“ abzielt. 7<br />

Alles Verwaltungshandeln, das sich nicht als Verfügung erfassen liess, blieb<br />

vorerst dogmatisch uninteressant. Zwar wurde inden Gesamtdarstellungen des<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Französische Marginalie: „Décision relative àdes actes matériels“; italienische Marginalie:<br />

„Decisione circa atti materiali“.<br />

Vgl. MARKUS M ÜLLER, Verwaltungsrecht –Eigenheit und Herkunft,Bern 2006, 99ff.<br />

O TTO M AYER, Deutsches Verwaltungsrecht,Band I, 3. Auflage,Berlin 1924, 93.<br />

F RITZ F LEINER, <strong>Institut</strong>ionen des deutschen Verwaltungsrechts, Tübingen 1911, 156f.


316 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

Verwaltungsrechts verschiedentlich deutlich gemacht, dass Verwaltungshandeln<br />

durchaus nicht nur rechtlicher Natur, sondern auch tatsächlicher Natur<br />

sein konnte. Mehr als eine Beschreibung, vorab zu Abgrenzungs- und Anschauungszwecken,<br />

wollte dies allerdings nicht sein. Entsprechend wurde für<br />

das tatsächliche, nicht-rechtsgeschäftliche Handeln auch (noch) keine separate<br />

Rechtsfigur geschaffen. Als reines „Faktum“, das weniger nach rechtlichen als<br />

vielmehr nach anderen Regeln abläuft, 8 war diese Art staatlichen Handelns für<br />

die verwaltungs rechtswissenschaftliche Forschung nur von geringem Interesse:<br />

„Die Tätigkeit der Verwaltungsorgane ist vielfach rein tatsächlicher<br />

Natur und entzieht sich der rechtlichen Erfassung und Formung. […]<br />

All das fällt aus dem Rahmen des Verwaltungsrechtes heraus und ist<br />

daher nicht weiter zu verfolgen“. 9<br />

In der Schweizer Verwaltungsrechtsdoktrin setzte sich soweit ersichtlich als<br />

erster Z ACCARIA G IACOMETTI eingehender mit dem tatsächlichen Handeln des<br />

Staats –dem Realakt –auseinander. 10 Dabei verdeutlichte erdie Schwierigkeit,<br />

rechtliches und tatsächliches Handeln klar voneinander abzugrenzen. In<br />

der Folge fristete das reale Verwaltungshandeln imSchrifttum aber ein Schattendasein.<br />

Es fehlten offenbar Notwendigkeit und Reiz, sich mit diesem Phänomen<br />

näher auseinander zu setzen. Begriffsinhalt und Begriffsverwendung<br />

blieben daher lange Zeitunscharf, ebensodas rechtsdogmatische Profil.<br />

Erst <strong>gegen</strong> Ende des letzten Jahrhunderts wandte sich die Doktrin dem Phänomen<br />

des Realakts –in seinen verschiedenen Erscheinungsformen –wieder etwas<br />

intensiver zu. 11 Auslöser war vor allem das eklatante <strong>Rechtsschutz</strong>defizit,<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Vgl. ERWIN R UCK, Schweizerisches Verwaltungsrecht, Band I,3. Auflage, Zürich 1951,<br />

21, 80, 195, spricht (nur dort) von rein tatsächlichem (mechanischem, künstlerischem,<br />

wissenschaftlichen) Verwaltungshandeln, wo dieses nicht nach –bzw. gestützt auf –<br />

Rechtsregeln, sondern nach den Regeln der menschlichen Erfahrung, der Wissenschaft,<br />

der Kunst und der Technik abläuft. Das Verwaltungsrecht ist für solche Handlungen<br />

nicht Grundlage, sondern nur Schranke; wird da<strong>gegen</strong> verstossen, liegt eine Rechtsverletzung<br />

vor. Siehe auch Z ACCARIA G IACOMETTI, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen<br />

Verwaltungsrechts (Allgemeines Verwaltungsrecht des Rechtsstaates), 1. Band,<br />

Zürich 1960, 53ff. (55).<br />

E RWIN R UCK, SchweizerischesVerwaltungsrecht,Band I, Zürich 1934, S. 59.<br />

Vgl. GIACOMETTI, Lehren (FN 8), 53 ff.: Er verwendet bereits den Begriff des „Realaktes“<br />

(z.B. 55); siehe zur älteren Doktrin auch P LATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln<br />

(FN 1), 20 ff.<br />

Vgl. als Erster LUKAS B RÜHWILER-FRÉSEY, Verfügung, Vertrag, Realakt und andere<br />

verwaltungsrechtliche Handlungssysteme, Bern 1984, 274ff.; siehe ferner die Literaturhinweise<br />

vorn FN 1.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 317<br />

das sich im Zusammenhang mit den zunehmenden staatlichen Informationsund<br />

Aufklärungsaktivitäten 12 manifestierte.<br />

Für die rechtsdogmatische Erschliessung dieses Phänomens orientierte<br />

man sich in der Schweiz abermals vertrauensvoll am deutschen<br />

Schrifttum. Dieses wies bereits eine stattliche Anzahl Monografien<br />

und Aufsätze zum Thema des „informalen, schlichten, tatsächlichen<br />

Staatshandelns“ auf. 13 –Dem<strong>gegen</strong>über spielt(e) der Realakt in der<br />

französischen Verwaltungsrechtsdogmatik als eigenständige Kategorie<br />

des Verwaltungshandelns kaum eine Rolle. Immerhin finden sich<br />

auch im französischen Schrifttum seit jeher spezielle Bezeichnungen<br />

für das tatsächliche Verwaltungshandeln („opérations matérielles“,<br />

„agissement matériel“, „actes matériels“). 14<br />

b) Funktionendes Begriffs<br />

Der Realakt erfüllt als Rechtsbegriff eine doppelte Funktion. Zum einen dient<br />

er der Handlungsformenlehre als eigenständiger Auffang- und Sammelbegriff<br />

für bestimmte staatliche Aktivitäten (Bst. aa). Zum andern verfolgt er als verfahrensrechtliches<br />

<strong>Institut</strong> eine prozessbezogeneAbsicht (Bst.bb).<br />

aa)<br />

Auffang-und Sammelbegriff<br />

Dem Begriff des Realakts fehlen bis heute scharfe Konturen. Immerhin hat<br />

sich in den letzten Jahren in der Lehre und Rechtsprechung ein einigermassen<br />

einheitliches Begriffsverständnis herausgebildet. Danach erfasst der Begriff<br />

„Realakt“ –imSinne einer Sammelbezeichnung oder eines Auffangbegriffs 15<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

Vgl. hierzu etwa PAUL R ICHLI, Öffentlich-rechtliche Probleme bei der Erfüllung von<br />

Staatsaufgaben mit Informationsmitteln, ZSR 1990 I, 151 ff.; ferner P ASCAL M AHON,<br />

L’information par les autorités, ZSR 1999 II, 207 ff., insbes. 221 f., 247 f.<br />

Vgl. etwa die Literaturhinweise bei H ARTMUT M AURER, Allgemeines Verwaltungsrecht,<br />

16. Auflage, München 2006, 423 f.<br />

Aus der älteren Lehre siehe etwa ROGER B ONNARD ,Lecontrôle juridictionnel del’administration.<br />

Étude de droit administratif comparé, Paris 1934, 15; ferner die Hinweise<br />

bei GIACOMETTI, Lehren (FN 8), 58Anm. 18. Aus der jüngeren Lehre vgl. statt vieler:<br />

J EAN R IVERO/J EAN W ALINE, Droit administratif, 20 e édition, Paris 2004, 331; B ER-<br />

TRAND S EILLER, Droit administratif, volume II, L’action administrative, Flammarion<br />

2001, 101ff.; P IERRE D ELVOLVÉ, L’Acteadministratif, Paris 1983, 13.<br />

Vgl. TH .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1), 91; siehe auch R ENÉ R HINOW ,Verfügung,<br />

Verwaltungsvertrag und privatrechtlicher Vertrag, in: Festgabe zum Schweizerischen<br />

Juristentag 1985, Basel 1985, 295 („[…] sowie anderer Äusserungsmöglichkeiten


318 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

–alle Verrichtungen des Staats, die nicht in einer der tradierten Rechtsformen<br />

wie Verfügung, Vertrag, Plan oder Erlass ergehen. 16<br />

Die Begriffsverwendung ist allerdings uneinheitlich und unscharf.<br />

Für Realakte sind verschiedenste Synonyme „im Umlauf“: Tathandlungen,<br />

tatsächliches Verwaltungshandeln, schlichtes Verwaltungshandeln,<br />

einfaches Verwaltungshandeln, informales bzw. informelles<br />

Verwaltungshandeln, verfahrensfreies Verwaltungshandeln, Vollzugshandlungen<br />

usf. 17<br />

Es empfiehlt sich, künftig für sämtliche Erscheinungen des nicht rechtsförmlichen<br />

Verwaltungshandelns einheitlich den Terminus „Realakt“ zu gebrauchen.<br />

Dies nicht nur, weil nun auch die Marginalie von Art. 25 a VwVG Realakt als<br />

Oberbegriff verwendet, sondern vor allem deshalb, weil mit Realakt der Gegensatz<br />

zumRechtsakt sprachlich amdeutlichsten hervortritt. 18<br />

bb)<br />

Verfahrensrechtliches <strong>Institut</strong><br />

Die Kategorie der Realakte wurde nicht in erster Linie zu deskriptiven Zwecken<br />

geschaffen. Vielmehr verfolgte die Doktrin mit dieser Figur handfeste<br />

prozessuale Ziele: Handlungen, welche sich nicht als „klassische“ Rechtsakte<br />

erfassen liessen, sollten –einheitlich als Realakte o.ä. etikettiert –von der Bindung<br />

an verfahrensrechtliche Regeln und vom Verwaltungsrechtsschutz ausgeklammert<br />

werden. –Realakte sind somit weniger Natur- als vielmehr Kunstprodukte,<br />

kreiert in der überwiegenden Absicht, den Verwaltungsrechtsschutz<br />

zu limitieren.<br />

16<br />

17<br />

18<br />

oder Verrichtungen [Realakte], die in ihrer Bedeutung nicht zuunterschätzen sind“). –<br />

Zur Unterscheidung Rechtsform-Handlungsform T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung<br />

(FN 1),83ff.<br />

P IERRE T SCHANNEN/U LRICH Z IMMERLI, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Auflage,<br />

Bern 2005, §38Rz. 1.<br />

Zur vielfältigen Terminologie vgl. P LATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln (FN 1),<br />

31 ff.; ferner T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN1), 63 ff., 91ff.<br />

So auch T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 1;siehe ferner bei<br />

R ETO F ELLER, Das Prinzip der Einmaligkeit des <strong>Rechtsschutz</strong>es im Staatshaftungsrecht,<br />

Diss. Bern 2007, 1.Teil, Kap. II.B.1. –Dem<strong>gegen</strong>über unterscheiden U LRICH H ÄFE-<br />

LIN/G EORG M ÜLLER/F ELIX U HLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5.Auflage, Zürich<br />

2006, Rz. 730 ff., drei Formen des Verwaltungshandelns: Rechtliches Verwaltungshandeln,<br />

tatsächliches Verwaltungshandeln, informelles Verwaltungshandeln. Die Realakte<br />

stellen nach dieser Kategorisierung lediglich eine Erscheinungsform des tatsächlichenVerwaltungshandelns<br />

dar (Rz. 737a).


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 319<br />

c) Inhaltliche Wesensmerkmale<br />

aa)<br />

Faktengestaltung alsHandlungszweck<br />

Worin liegt nun genau der Unterschied zwischen Realakt und Rechtsakt? Lehre<br />

und Rechtsprechung scheinen sich in diesem Punkt ziemlich einig. Die entscheidende<br />

Differenz soll im beabsichtigten Zweck bzw. Erfolg des jeweiligen<br />

Handelns liegen: Verwaltungsrechtsakte streben die unmittelbare Veränderung<br />

bzw. Gestaltung der Rechtslage an, sind mithin direkt auf einen Rechtserfolg<br />

gerichtet. <strong>Verwaltungsrealakte</strong> zielen dem<strong>gegen</strong>über nur auf die unmittelbare<br />

Veränderung der Faktenlage, d.h. einen Taterfolg hin. 19 Das Bundesgericht<br />

legt seiner Rechtsprechung ebenfalls diesen Definitionsansatz zugrunde. In einem<br />

neueren Entscheid hat es allerdings einige vorsichtige Relativierungen<br />

eingebaut:<br />

„Das tatsächliche und informelle Verwaltungshandeln zeichnet sich<br />

u.a. dadurch aus, dass es an sich nicht auf Rechtswirkungen, sondern<br />

auf die Herbeiführung eines Taterfolges ausgerichtet ist, indessen<br />

gleichwohl die Rechtsstellung von Privaten berühren kann.“ 20<br />

bb)<br />

Der homogene Handlungszweck (Taterfolg) als Scheinwahrheit<br />

Der konkrete Handlungszweck bestimmt sich nicht nach den rein subjektiven<br />

Absichten des Akteurs. 21 Ausschlaggebend ist vielmehr das objektive Handlungsziel.<br />

Dieses ergibt sich aus den öffentlichen Interessen und den diese<br />

konkretisierenden gesetzlichen (Handlungs-)Grundlagen. 22 Anders gewendet:<br />

Nicht der subjektive Wille des Verwaltungsträgers ist massgebend, sondern<br />

dergesetzlich begründeteund gelenkteobjektiveWille. 23<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Vgl. statt vieler T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 1;MOOR,<br />

Vol II (FN 1), 26; siehe ferner die Hinweise auf die Lehre bei A LEXANDRE F LÜCKIGER,<br />

L’extension du contrôle juridictionnel des activités de l’administration, Bern 1998, 6. –<br />

Zur Kritik an der etablierten Definition vgl. T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1),<br />

92 f.<br />

BGE 130 I369E.6.1 S. 379(Hervorhebungen durch den Autor).<br />

Der subjektive Handlungswille ist dem<strong>gegen</strong>über konstitutiv für den privatrechtlichen<br />

Rechtsakt.Vgl. dazu aus dem französischen RechtP IERRE P Y ,Lerôle delavolonté dans<br />

les actes administratifs unilatéraux, Paris 1976, 19ff.<br />

In diesem Sinne P Y ,Rôle (FN 21), 22 ff.<br />

Vgl. indiesem Sinne R OLF H. H ALTNER, Begriff und Arten der Verfügung im Verwaltungsverfahrensrecht<br />

des Bundes (Art. 5 VwVG), Zürich 1979, 28ff.; G IACOMETTI,<br />

Lehren (FN 8), 339. –Dazu differenzierend auch P. P Y ,Rôle (FN 21), 164: „Comme


320 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

Häufig lässt sich der genaue Handlungszweck aber auch aus den einschlägigen<br />

Verwaltungsrechtserlassen nicht ohne weiteres ableiten. Dies liegt daran, dass<br />

Verwaltungsakte nur selten auf einen einzigen Handlungszweck hin programmiert<br />

sind. Vielmehr verfolgen sie häufig multiple, sowohl rechtliche wie faktische<br />

Ziele: Viele Rechtsakte trachten (zumindest indirekt) immer auch nach<br />

einer Veränderung der Faktenlage. Und viele Realakte beabsichtigen (zumindest<br />

indirekt) auch eine Einwirkung auf die individuelle Rechtslage. 24 Kurz:<br />

Die durch das Handeln der Verwaltung beabsichtigten Veränderungen inder<br />

Rechts- und in der Faktenlage sind meist zwingend und untrennbar miteinander<br />

verkettet. 25 Durchaus möglich, dass der eine oder andere Zweck imVordergrund<br />

liegt; allein und isoliert wird er allerdings kaum jedas Handeln<br />

bestimmen. 26<br />

Worauf zielt die polizeiliche Wegweisung einer betrunkenen, Unordnung<br />

und Lärm verursachenden Person aus dem öffentlichen Raum.<br />

Soll hier die Rechts- und/oder die Faktenlage verändert werden?<br />

Eines wird bereits hier deutlich: Jeder Akt der Verwaltung ist (immer auch)<br />

Rechtsanwendungsakt und damit Rechtsakt. 27 Oder anders formuliert: „Alles<br />

Verwaltungshandeln ist Rechtshandeln“. 28 –Obvor diesem Hintergrund der<br />

Handlungszweck tatsächlichein treffendes Wesens- und Abgrenzungsmerkmal<br />

des Realaktsist, lässt sich mit Fugbezweifeln.<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

tout acte juridique, l’acte administratif est le fruit du jeu de trois éléments qui sont la<br />

réglementation juridique, le fait etla volontédel’auteur del’acte.“<br />

Vgl. in diesem Sinne FELIX H AFNER, Verfügung als Risiko, in: Festgabe zum Schweizerischen<br />

Juristentag 2004, Basel 2004, 270; TH .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1),<br />

93.<br />

Vgl. in diesem SinneGIACOMETTI, Lehren (FN8), 56.<br />

Dazu auch G IACOMETTI, Lehren (FN8), 56f.<br />

Vgl. in diesem Sinne schon W ALTER J ELLINEK, Verwaltungsrecht, 3. Auflage, Offenburg<br />

1931, 258, der darauf hinweist, dass auch im Verwaltungsakt tatsächlicher Art ein<br />

Duldungsbefehl steckt; ferner H ANS K ELSEN, Reine Rechtslehre, Leipzig und Wien<br />

1934, 120; WALTER A NTONIOLLI, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954, 199, der<br />

die Kategorie „rein tatsächlicher Verwaltungsakte“ für das österreichische Recht mit der<br />

Begründung ablehnte, „auch rein tatsächliche Verwaltungsakte [seien] Rechtsvollzug“;<br />

für die Schweizsiehe G IACOMETTI, Lehren (FN8), 55,336 f.<br />

P ETER S ALADIN ,Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, Basel/Stuttgart 1979,<br />

14 f.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 321<br />

cc)<br />

„Ein unruhiger Geselle“<br />

Das Bemühen, mit Hilfe einer separaten Handlungskategorie dem drohenden<br />

Ausufern des Verwaltungsrechtsschutzes Grenzen zu setzen, ist nachvollziehbar.<br />

Die unter anderem zu diesem Zweck geschaffene Figur des Realakts erscheint<br />

indes nach einigen Jahren wenig praxistauglich. Weder erlauben sein –<br />

bei genauerer Betrachtung: diffuser –Handlungszweck noch das ihm zugrunde<br />

liegende Rechtsverständnis eine dogmatisch überzeugende Erfassung. Vielmehr<br />

entpuppt sich der Realakt als „unruhiger Geselle“, mal mehr Rechtsakt,<br />

dann wieder mehr Faktum. Die Charakterisierung, wie sie R UDOLF J HERING<br />

für den Besitz –dem klassischen zivilrechtlichen Realakt –vorgenommen hat,<br />

passtsomitauf den Verwaltungsrealaktvorzüglich:<br />

„Der schlimmste von allen Begriffen aber ist der Besitz, erist ein<br />

höchst unruhiger Geselle, der esaneiner Stelle nie lange aushält,<br />

[…]. Sieh Dir ihn jetzt einmal an: was ist er jetzt? Inder Tat jetzt ist<br />

er ein Recht. Nun warte noch einen Moment. Was ist er jetzt? Beides<br />

zugleich: seinem Wesen nach ein Faktum aber seinen Folgen nach<br />

einem Rechte gleich. Wunderlich! Soeben hätte ich noch darauf geschworen,<br />

dass erseinem Wesen nach ein Recht sei, da er alles, was<br />

zum Wesen des Rechts gehört, ansich trägt. Aber eshilft nicht: sein<br />

Wesen scheint gerade darin zu bestehen, dass erdas nicht ist, was er<br />

ist, oder dass er in jedem Moment dasjenige ist, was ihm gerade einfällt,<br />

–bald in Wahrheit kein Recht, kein Rechtsverhältnis, sondern<br />

ein Faktum, dann ein Recht wie alle andern, dann beides zugleich. Er<br />

ist wie ein Aal, der aller Versuche, ihn zu fassen, spottet; man glaubt<br />

ihn in den Händen zu haben, und er ist wiederentschlüpft.“ 29<br />

2. Artenvon Realakten<br />

a) Heterogenitätder Realakte<br />

Realakte zeichnen sich durch eine ausgesprochene Vielfalt aus. Dem entsprechend<br />

lassen sie sich nach verschiedensten Gesichtspunkten gruppieren. 30 Drei<br />

Kategorisierungen werden imFolgenden zur näheren Betrachtung herausge-<br />

29<br />

30<br />

Zitiert nach R UDOLF J HERING, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Göttingen 1884,<br />

282 ff. (dort wiedergegeben als Zwiegespräch zwischen einem Gelehrten und dem Psychophoros).<br />

Vgl. zu verschiedenen Unterscheidungen statt vieler PIERRE T SCHANNEN, Amtliche<br />

Warnungen und Empfehlungen, ZSR 1999 II, 388 ff.; F LÜCKIGER, L’extension (FN 19),<br />

8f.m.w.H.; PLATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln (FN1), 160 ff.


322 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

griffen: Den Anfang macht eine für das Grundverständnis wichtige Unterscheidung<br />

nach der Regelungsstruktur (Bst. b). Anschliessend soll –der Vollständigkeit<br />

halber –der Blick auf zwei weitere, in der Lehre verbreitet anzutreffende<br />

Unterscheidungen geworfen werden: jene nach der Phänomenologie<br />

(Bst.c)sowie jenenach demVerhältnis zu wichtigen Rechtsakten (Bst.d).<br />

b) Regelungsstruktur und Regelungsmodus<br />

Die öffentlichrechtlichen Rechtsakte werden herkömmlich indie Kategorien<br />

Erlass, Einzelakt (Verfügung, Allgemeinverfügung), Vertrag und Plan unterteilt.<br />

Massgebend für diese Systembildung sind vor allem die beiden Hauptkriterien<br />

Regelungsstruktur (individuell-konkret, generell-konkret, generellabstrakt)<br />

und Regelungsmodus (einseitig, zweiseitig). Jeder dieser Rechtsakttypen<br />

kennt nun unter den Realakten einen strukturell verwandten Schwestertypus:<br />

31<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Einzelakt (Verfügung) –„Real-Einzelakt“ (Weisung, Dienstbefehl, Anordnung,<br />

tatsächliches Handeln,blosse Mitteilung etc.);<br />

Erlass (Gesetz, Verordnung, autonome Satzung) – „Real-Erlass“ (Verwaltungsverordnung,Informations-und<br />

Aufklärungskampagne etc.);<br />

Vertrag (öffentlich-rechtlicher Vertrag) –„ Real-Vertrag“ (informelle Absprache<br />

etc.);<br />

Plan (Nutzungsplan) – „ Real-Plan“ (behördenverbindlicher Richtplan,<br />

Managementplan fürden Braunbären in der Schweiz [KonzeptBär 32 ]).<br />

Jedes (öffentlich-rechtliche) Verwaltungshandeln lässt sich letztlich einer dieser<br />

Kategorienzuordnen.<br />

c) Erscheinungsform und Wirkung<br />

Realakte werden inder Doktrin vor allem nach ihrer Erscheinungs- und Wirkungsform<br />

(Phänomenologie) unterschieden. 33 Eine Differenzierung, der vor<br />

31<br />

32<br />

33<br />

Vgl. in diesem Sinne auch den Entscheid des bernischen Verwaltungsgerichts vom<br />

24. Juli 2006,BVR 2006, 481 E. 4.1 S. 487 f.<br />

Einsehbar unter folgender Internetadresse: .<br />

Vgl. etwa die Unterscheidungen bei TSCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16),<br />

§38 Rz.4ff.; T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 388 ff.; F LÜCKIGER, L’extension<br />

(FN 19), S. 8f.; M OOR, Vol II (FN 1), 26 ff.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 323<br />

allem Anschauungswert zukommt. ImEinzelnen werden etwa die folgenden –<br />

nichtstreng von einander abgrenzbaren–Realakttypen auseinander gehalten:<br />

<br />

<br />

Einfache (schlichte) Tathandlungen: „Formlose“ Tätigkeiten eines Verwaltungs-<br />

oder Justizmitarbeiters zur Erfüllung einer ihm zugewiesenen<br />

Aufgabe (z.B. Aktenstudium, Sitzungsleitung, Ausfüllen von Qualitätssicherungs-<br />

und Evaluationsformularen, Strassenreinigung, Abhalten einer<br />

Schulstunde, chirurgischer Eingriff etc.). Dazu lassen sich auch gewisse<br />

administrative Hilfsgeschäfte imRahmen der sog. Bedarfsverwaltung zählen<br />

(z.B. Sanierung von Büroräumlichkeiten, Schaffung einer verwaltungsinternenKinderkrippe).<br />

34<br />

Vollzugshandlungen: Verwaltungsverrichtungen, die der zwangsweisen<br />

Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Rechte und Pflichten dienen. Dabei<br />

ist zwischen mittelbarem und unmittelbarem Gesetzesvollzug zu unterscheiden:<br />

Von mittelbarem Vollzug spricht man dort, wo esum die Vollstreckung<br />

vorgängig verfügter Rechte und Pflichten geht (z.B. ersatzweiser<br />

Abbruch einer nicht bewilligten Baute). Als unmittelbaren Vollzug des<br />

Verwaltungsrechts bezeichnet man Handlungen, die ohne vorgängige<br />

Sachverfügung, direkt gestützt auf den entsprechenden Verwaltungsrechtserlass<br />

vorgenommen werden. Zu unmittelbarem Gesetzesvollzug<br />

kommt es vor allem dort, wo esrasch eine Gefahren- oder Konfliktsituation<br />

zu bereinigen gilt (z.B. Wegweisen eines mutmasslichen „Rechtsradikalen“von<br />

der1.August-Feier aufdem Rütli).<br />

Auskünfte/Zusicherungen/Stellungnahmen: Erklärungen einer Verwaltungsmitarbeiterin<br />

zu konkreten rechtlichen oder tatsächlichen Gegebenheiten<br />

(z.B. ein Projekt sei baubewilligungsfrei [sog. Wissenserklärung])<br />

oder zu beabsichtigtem behördlichem Verhalten (z.B. Zusicherung, geleistete<br />

Überzeit ausnahmsweise ausbezahlt zubekommen [sog. Willenserklärung]).<br />

35<br />

34<br />

35<br />

Vgl. soauch das Gutachten des Bundesamts für Justiz vom 29. März 1995, VPB 60<br />

(1996) Nr. 1. A.M. H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht (FN 18), Rz.730a.<br />

–Geschäfte der Bedarfsverwaltung werden allerdings häufig mittels zivilrechtlichen<br />

Vertrags und damit mittels zivilrechtlichen Rechtsakts abgewickelt (z.B. der Einkauf<br />

von Büromaterial).<br />

Im Kartellrecht ist beispielsweise umstritten, ob die stillschweigende Zustimmung der<br />

Wettbewerbskommission (WEKO) zu einem Zusammenschlussvorhaben gemäss Art.34<br />

des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen<br />

(Kartellgesetz, KG, SR 251) eine anfechtbare Verfügung darstellt oder<br />

bloss eine Stellungnahme (und damit ein Realakt). Das Bundesgericht liess die Frage offen<br />

(BGE131II497E. 4S.502 ff.).


324 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

<br />

<br />

<br />

Information/Aufklärung : Behördliche Informations-, Aufklärungs- und<br />

Präventionskampagnen zum Zwecke einer zwangsfreien –d.h. ohne Änderung<br />

der Rechtslage –Verhaltensbeeinflussung (z.B. Warnung vor dem<br />

Genuss gewisser Lebensmittel; AIDS-Präventionskampagne, Tabakpräventionskampagne,Impfempfehlung<br />

etc.). 36<br />

Informelle Absprachen: Formlose Vereinbarungen zwischen der Verwaltung<br />

und Privaten mit dem Zweck, unter dem „Damoklesschwert“ hoheitlicher<br />

Zwangsmittel (Verfügung,Verordnung)beimPrivaten ein bestimmtes<br />

Verhalten zu erwirken(z.B. Absprachen im Umweltrecht). 37<br />

Verwaltungsinnenakte 38 : Verwaltungsinterne Anordnungen, die sich an<br />

die Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung richten und überwiegend<br />

den Verwaltungs betrieb betreffen (Dienstbefehle, Weisungen, Richtlinien).<br />

Dazu zählen ferner Anordnungen im besonderen Rechtsverhältnis,<br />

die sich nicht an Verwaltungsmitarbeitende, sondern an die „eingegliederten“<br />

Personen (z.B. Gefängnisinsassen, Schülerinnen, Klinikpatienten)<br />

richten, wie etwa Hausordnungen oder konkrete disziplinarische Massnahmen<br />

(z.B. Beschlagnahme eines störenden Handys während der Schulstunde).<br />

39<br />

Im Verwaltungsinnern gibt es allerdings auch Anordnungen, die das<br />

sog. Grund- und damit das Aussenverhältnis tangieren. Sie sind folglich<br />

als anfechtbare Rechtsakte zu verstehen und werden überwiegend<br />

auch als solche verstanden. Seit langem –injüngerer Zeit immer<br />

heftiger –wird von Teilen der Lehre gefordert, auch die restlichen,<br />

dem sog. Betriebsverhältnis zugeordneten Verwaltungsinnenakte<br />

(Dienstbefehle, Verwaltungsverordnungen etc.), als grundsätz-<br />

36<br />

37<br />

38<br />

39<br />

Zu den verschiedenen Typen staatlicher Informationen siehe statt vieler M AHON ,<br />

L’information (FN 12), 223 ff.<br />

Vgl. hierzu A LEXANDRE F LÜCKIGER, Laloi Damoclès, in: Mélanges Pierre Moor, Bern<br />

2005, 233 ff.; ferner A UGUST M ÄCHLER, Vertrag und Verwaltungsrechtspflege, Zürich<br />

2005, 117f.<br />

Gemäss herrschender Doktrin zählen solche Anordnungen aufgrund ihrer fehlenden<br />

Aussenrechtswirkung zu den „Nicht-Rechtsakten“; sie sind daher konsequenterweise<br />

den Realakten zuzuordnen (vgl. auch F LÜCKIGER, L’extension [FN 19], 60 f.). Vgl. aber<br />

T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 1,§41, §43Rz. 9,die einen<br />

Unterschied zwischen Realakten und Verwaltungsverordnungen bzw. Dienstanweisungen<br />

konstruieren; H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht (FN 18),<br />

Rz. 730a, scheinen Handlungen, die ausschliesslich ins Verwaltungsinnere wirken, vollständig<br />

von der Kategorie der Realakte auszunehmen.<br />

Vgl. dazu etwa BGE 128 II156 E. 3S. 162 ff. (Anordnungen in einer Empfangsstelle<br />

für Asylbewerber).


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 325<br />

lich anfechtbare Rechtsakte zu erfassen. 40 –Auch in Frankreich neigt<br />

die Praxis dazu, die internen Verwaltungsakte (mesures d’ordre intérieur)<br />

vermehrtdem Verwaltungsrechtsschutz zu unterstellen. 41<br />

d) Realakte inihrem Bezug zu Rechtsakten<br />

Realakte und Rechtsakte sind –das konnten (und wollten) die bisherigen Darlegungen<br />

nicht verbergen –nur schwer voneinander abzugrenzen. Kommt hinzu,<br />

dass sie inder Rechtswirklichkeit häufig zusammen, eng ineinander verzahnt<br />

oder zumindest in direktem Bezug zueinander ergehen. Esist daher von<br />

besonderem Anschauungs- und Erkenntniswert, die beiden Handlungstypen<br />

hinsichtlich ihres <strong>gegen</strong>seitigen Verhältnisses näherzu betrachten.<br />

aa)<br />

VerhältniszurVerfügung<br />

Die Lehre hat ihr Augenmerk vor allem auf das Verhältnis der Realakte zur<br />

Verfügung geworfen. Dabei wurden drei Kategorienherausgearbeitet: 42<br />

(1) Verfügungsbezogene Realakte: Zudieser Kategorie werden jene<br />

Akte gezählt, die im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ergehen,<br />

selbst aber keine prozeduralen Rechte und Pflichten<br />

bestimmen und folglich keine Zwischenverfügungen darstellen<br />

(häufig schlichte Tathandlungen). Ferner werden dieser Kategorie<br />

auch jene Handlungen zugerechnet, die –wie typischerweise<br />

Vollstreckungshandlungen –einer Verfügung nachfolgen.<br />

(2) Verfügungsvermeidende Realakte: Unter diesem Terminus werden<br />

Akte verstanden (z.B. Absprachen, Informationen/Aufklärungen),<br />

die es einer Behörde erlauben, auf den Erlass einer verbindlichen<br />

Anordnung in Form einer Verfügung oder eines an-<br />

40<br />

41<br />

42<br />

Vgl. MARKUS M ÜLLER, Das besondere Rechtsverhältnis, Bern 2003, 236 ff. m.w.H.;<br />

T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1), 87 f.<br />

Vgl. CE 8mars 2006 (Weisung betreffend Schulstrafen), in: L’Actualité juridique (AD-<br />

JA) 2006, 1107 ff. Aus dem Schrifttum siehe R ENÉ C HAPUS, Droit administratif général,<br />

Tome 1, 15 e édition, Paris 2001, Rz. 680; BERNARD P ACTEAU, Contentieux administratif,<br />

7 e édition, Paris 2005, 209; J EAN-MARIE A UBY/R OLAND D RAGO, Traité des recours<br />

en matière administrative, Paris 1992, 211 ff. (insbes. die kritische Würdigung einer bisher<br />

zu restriktiven Praxis, 224).<br />

Vgl. dazu insbes. FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 53 ff.; T SCHANNEN, Warnungen<br />

(FN 30), 389 ff.; T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 11ff.;<br />

M OOR,Vol II (FN 1), 26 f.


326 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

deren Rechtsakts zu verzichten. Die Problematik dieser Kategorie<br />

wird augenfällig, wenn man weiss, dass mit der „Flucht“ in<br />

den Realaktauch das Anfechtungsobjektentfällt.<br />

(3) Verfügungsvertretende Realakte :Dazu werden Handlungen gerechnet,<br />

durch die verwaltungsrechtliche Vorschriften unmittelbar,<br />

d.h. ohne vorgängigen Erlass einer Sachverfügung, konkretisiert<br />

und sogleich vollzogen werden (unmittelbare Vollzug).<br />

Verfügungsvertretende Realakte verändern neben der Faktenlage<br />

auch die Rechtslage, was die Problematik der Zuordnung zu<br />

den Realakten verdeutlicht. Eswäre daher –will man diese Akte<br />

tatsächlich den Realakten zuweisen –treffender, anstatt von verfügungsvertretenden<br />

von verfügungsbeinhaltenden oder verfügungseinschliessenden<br />

Realakten zu sprechen, fallen doch in<br />

diesen Konstellationen Verfügungsinhalt und Verfügungseröffnung<br />

bzw. -form zusammen. 43<br />

Vor allem die dritte Kategorie des verfügungsvertretenden Realakts zeigt, dass<br />

auch Realakte durchaus Regelungsabsichten verfolgen. 44 Die Grenze zum<br />

Rechtsakterscheinthier (besonders) künstlich. Dennoch wird inder Lehre zum<br />

Teil am Realaktcharakter solcher Handlungen festgehalten. 45 Es gibt aber auch<br />

Lehrmeinungen,die hier –m.E. zu Recht–von einerVerfügung ausgehen. 46<br />

bb)<br />

VerhältniszumVertrag<br />

Realakte lassen sich auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zum öffentlichrechtlichen<br />

Vertrag betrachten. Sie ergehen hier zunächst während des Verfahrens<br />

auf Zustandekommen des Vertrags, also inden Phasen der Offertstellung,<br />

der Vertragsverhandlungen, der Verhandlungszwischenbeschlüsse und<br />

schliesslich des Akzepts. Sodann kommt es auch in der Vollzugsphase, imZu-<br />

43<br />

44<br />

45<br />

46<br />

Siehe indiesem Sinne auch M OOR, Vol II (FN 1), 158: „la matérialisation de la décision<br />

est la forme de sa notification“; ähnlich für das französische Recht D ELVOLVÉ, L’Acte<br />

(FN 14), 13f.; siehe auch hinten FN 55.<br />

Solche Akte werden daher bisweilen auch etwa als sog. „verfahrensfreie Regelungsakte“<br />

bezeichnet und den Verwaltungsrechtshandlungen zugeordnet (vgl. den Entscheid des<br />

Regierungsrats des Kantons Aargau vom 23. Mai 2001, ZBl 2003 ,311 E. 1S.312 ff.<br />

m.w.H. auf die Lehre).<br />

So namentlich T SCHANNEN/Z IMMERLI,Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 15.<br />

Vgl. MOOR, Vol II (FN 1), 27, 158; FLÜCKIGER, Régulation (FN 1), 187; FLÜCKIGER,<br />

L’extension (FN19), 57.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 327<br />

ge der (Nicht-)Erfüllungshandlungen zu Realakten. 47 ZuAnschauungszwecken<br />

könnte daher auch hier –inAnlehnung an die imVerhältnis zur Verfügung geschaffene<br />

Kategorisierung – von vertragsbezogenen, vertragsvermeidenden<br />

und vertragsvertretendenRealakten gesprochenwerden.<br />

3. Abgrenzung zu besonderen Verfügungstypen<br />

a) Realakt–Fehlerhafte Verfügung<br />

Das Verwaltungsrecht ist nicht formalistisch. Daraus folgt ein Zweifaches:<br />

Erstens mutieren Verfügungen, die aneinem Formfehler (oder Eröffnungsmangel)<br />

leiden, deswegen nicht zuRealakten –sie bleiben Verfügungen. Und<br />

zweitens stellen Akte, die sämtliche Formvoraussetzungen einer Verfügung erfüllen,<br />

allein deshalb noch keine Verfügungen dar. Die rechtliche Qualifizierung<br />

eines Verwaltungsakts hängt nicht von Äusserlichkeiten ab. Verfügung<br />

ist immer nur jenes Handeln, das –ganz unabhängig seines Erscheinungsbildes<br />

–die Merkmale von Art.5VwVG aufweist. 48 Dies gilt es insbesondere auch in<br />

Bezug auf die spezialgesetzliche Qualifizierung eines Akts als „Verfügung“ zu<br />

beachten.<br />

b) Realakt–Spezialgesetzliche Verfügung<br />

Mitunter kommt es vor, dass ein Spezialgesetz gewisse behördliche Anordnungen<br />

als Verfügungen bezeichnet oder verlangt, dass bestimmte Anordnungen<br />

inForm einer schriftlichen Verfügung zu treffen sind. In diesen Fällen<br />

braucht –jedenfalls aus verfahrensrechtlichen Gründen –nicht überprüft zu<br />

werden, obdie Merkmale des materiellen Verfügungsbegriffs erfüllt sind. Solche<br />

als „Verfügungen“ bezeichneteAkte sind ohne weiteres anfechtbar.<br />

Genau genommen kann der Spezialgesetzgeber einen (Real-)Akt, der die<br />

Strukturmerkmale gemäss Art. 5VwVG vermissen lässt, nicht zur „Verfügung“<br />

machen. Die spezialgesetzliche Qualifizierung bedeutet nur (aber immerhin),<br />

dass die Anfechtbarkeit bestimmter Akte unabhängig ihrer eigentlichen<br />

Rechtsnatur erwünscht ist. 49 Gleiches muss für den umgekehrten Fall gel-<br />

47<br />

48<br />

49<br />

Verfahrensvorschriften für vertragliches Handeln fehlen jedoch weitgehend (vgl. dazu<br />

M ÄCHLER, Vertrag [FN 37], 10 ff., 136 ff., 141 ff.).<br />

Vgl. in diesem Sinne FRITZ G YGI ,Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Auflage, Bern<br />

1983, 130 f.; Y VO H ANGARTNER , Die Anfechtung nichtiger Verfügungen und von<br />

Scheinverfügungen, AJP 2003 ,1053 ff.<br />

Vgl.FLÜCKIGER,L’extension (FN 19), 10 mitHinweis aufOTTO M AYER.


328 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

ten: Weist eine staatliche Handlung die Strukturmerkmale der Verfügung auf,<br />

lässt sich daran spezialgesetzlich nichts ändern. Der Gesetzgeber kann diese<br />

Verfügung höchstens fürnichtodernurbeschränktanfechtbarerklären.<br />

Art. 49Abs. 1ATSG 50 schreibt beispielsweise vor, dass „Leistungen,<br />

Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die<br />

betroffene Person nicht einverstanden ist“, vom Versicherungsträger<br />

schriftlich „verfügt“ werden müssen. Selbst wenn dies vom Gesetzgeber<br />

sonicht explizit festgehalten würde, müsste das entsprechende<br />

Handeln des Versicherungsträgers als Verfügung qualifiziert und behandelt<br />

werden. 51 Dies dürfte imÜbrigen für viele Anordnungen zutreffen,<br />

die aufgrund von Art. 51Abs. 1i.V. mit Art. 49Abs. 1<br />

ATSG in einem formlosen Verfahren zu behandeln sind. –Der Gesetzgeber<br />

wollte (und konnte) hier nur seinen Willen zur Anfechtbarkeit<br />

bzw. Nichtanfechtbarkeit dieser Akte zumAusdruck bringen.<br />

Bisweilen kann die spezialgesetzliche Qualifizierung aber auch der Klärung<br />

des bisher –in Lehre und Praxis –umstrittenen Rechtscharakters eines Akts<br />

dienen. So müssen beispielsweise gemäss Art. 35 Abs. 2des Prüfungsreglements<br />

der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern Noten von<br />

Falllösungen, Seminarleistungen, Klausuren und Fachprüfungen einzeln als<br />

Verfügungen eröffnetwerden. 52<br />

c) Realakt –Mündliche Verfügung<br />

Schwierig gestaltet sich die Abgrenzung zwischen (verfügungsvertretendem)<br />

Realakt und mündlicher Verfügung (auch etwa „verfahrensfreier Verwaltungsakt“<br />

genannt 53 ).<br />

50<br />

51<br />

52<br />

53<br />

Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts<br />

(ATSG, SR 830.1).<br />

Demzufolge muss jede Anordnung, welche (Verfahrens-)Rechte und -pflichten einer betroffenen<br />

Person gestaltet, mithin auch Beweisverfügungen (z.B. die Anordnung, sich<br />

einem ärztlich-psychiatrischen Gutachten zu unterziehen), als Verfügung qualifiziert<br />

werden. Hierzu anders das Bundesgericht in BGE 132 V93E. 5.2.6–5.2.10 S. 104ff.;<br />

siehe dazu die berechtigte Kritik von R ENÉ W IEDERKEHR,AJP 2006, 759 ff.<br />

Reglement vom 24. April 2003 über den Studiengang und die Prüfungen an der Rechtswissenschaftlichen<br />

Fakultät der Universität Bern. Vgl. auch etwa §115 des Planungsund<br />

Baugesetzes vom 7. März 1989 des Kantons Luzern (SRL 735), wonach gemeinderätliche<br />

Entscheide betreffend Strassenumbenennung und Häusernummerierung der<br />

Verwaltungsbeschwerde an den Regierungsrat unterliegen; zur umstrittenen Rechtsprechung<br />

im Zusammenhang mit Strassenumbenennungen siehe hintenKap. IV/3/d/bb.<br />

Vgl.HALTNER,Begriff (FN 23), 26 m.w.H.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 329<br />

Worin mag für einen Reiter an der Töss der Unterschied liegen, ob er<br />

durch die „berühmte“ Reitverbotstafel, also mittels Allgemeinverfügung,<br />

54 oder durch einen regionalen Ordnungshüter mit sogenannt<br />

verfügungsvertretendem Realakt oder mündlicher Verfügung am<br />

Weiterreiten gehindert wird? 55<br />

Man kann den Unterschied –sodenn überhaupt einer besteht –einzig darin<br />

sehen, dass nur dort mündlich verfügt werden darf, wo dies unter normalen<br />

Umständen schriftlich und in Beachtung der übrigenVerfahrensvorschriften zu<br />

geschehen hätte, dies aber aufgrund einer spezifischen Situation nichtopportun<br />

erscheint. 56 Folglich kann inFällen, in denen nichtdie Rechts-, sondern nurdie<br />

Faktenlage verändert werden soll, nie mündlich verfügt werden. Eine mündliche<br />

Anordnung könnte diesfalls nur sog. verfügungsvertretender Realakt<br />

sein. 57<br />

d) Realakt –Verfügungsfiktion<br />

An sich besteht zwischen Realakt und Verfügungsfiktion kein Wesensunterschied.<br />

Die fingierte Verfügung ist definitionsgemäss keine Verfügung. Vielmehr<br />

dient sie den rechtsanwendenden Behörden dazu, reales Handeln möglichst<br />

unauffällig der Anfechtung zugänglich zu machen. Ein Weg, von der die<br />

Praxis in den vergangenen Jahren regen Gebrauch gemacht hat. 58 „Fingierte“<br />

und „spezialgesetzliche“ Verfügungen sind damit wesensverwandte Instrumente.<br />

Entsprechend gilt das zu den spezialgesetzlichen Verfügungen Gesagte<br />

sinngemäss auch für die fingierte Verfügung: Auch durch Fiktion wird ein Re-<br />

54<br />

55<br />

56<br />

57<br />

58<br />

Vgl. hierzu BGE 101 Ia73.<br />

Auch M OOR, Vol II (FN 1), 302, neigt m.E. zu Recht dazu, die bisweilen als verfügungsvertretende<br />

Realakte qualifizierten Handlungen (z.B. Strassensignalisationen, Geste<br />

eines Polizeibeamten) den Verfügungen zuzuordnen. Vgl. für das französische Recht<br />

auch C HAPUS, Droit administratif (FN 41), Rz. 675, der sog. „actes gestuelles“ zu den<br />

prinzipiell anfechtbaren „décisions explicites“ zählt.<br />

Das ist namentlich der Fall, wenn Gefahr im Verzug ist oder wenn sich aufgrund der gesamten<br />

Umstände die Durchführung eines Verfügungsverfahrens nicht als praktikabel<br />

erweist (vgl. etwa BGE 128 II156 E. 3S. 162 ff.; Art. 3Bst. f VwVG), ferner auch<br />

wenn eine Zwischenverfügung der anwesenden Person eröffnet wird (Art.34 Abs. 2<br />

VwVG).<br />

T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §28 Rz. 52, nennen nun aber als<br />

Beispiel einer Allgemeinverfügung den –wohl mündlichen –polizeilichen Befehl, ein<br />

Gebäude oder einen Platz zu räumen. Dies überrascht angesichts ihrer Definition des<br />

verfügungsvertretenden Realakts (vgl. §38Rz.14f.).<br />

Vgl. dazu hinten Kap. IV.


330 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

alakt nicht zur Verfügung, sondern er wird verfahrensmässig nur wie eine Verfügung<br />

behandelt.<br />

Fiktionen sind an sich der Kategorie dogmatischer Verzweiflungsakte<br />

zuzuordnen. Sie lassen sich zwar als Notmassnahmen der Praxis<br />

rechtfertigen, sollten aber nicht zum Standard werden. Vielmehr wäre<br />

vorher die Dogmatik entsprechend anzupassen.<br />

e) Realakt –Verzögerte, Verweigerte Verfügung<br />

Wo eine Behörde untätig bleibt, obwohl sie an sich handeln müsste, begeht sie<br />

ein Unterlassen. Dieses Nichthandeln lässt sich entweder als Realakt (reales<br />

Unterlassen) oder aber als Rechtsakt im Sinne eines Nicht-Entscheids auffassen.<br />

Hierfür ist –bleibt man inder geltenden Dogmatik –massgeblich, ob das<br />

unterlassene Handeln rechtsgestaltender oder faktengestaltender Art ist. Danach<br />

kann von einer Verfügung nur dann ausgegangen werden, wenn bei positiver<br />

oder negativer Antwort der Behörde ein verfügungsmässiges Rechtsverhältnis<br />

begründet worden wäre. 59 Sie bildet sodann Gegenstand einer speziellen<br />

Rechtsverweigerungs- bzw. Rechtsverzögerungsbeschwerde. 60 Im heutigen<br />

Schrifttum wird allerdings die faktische Untätigkeit einer Behörde überwiegend<br />

als Realakt eingestuft. 61 –Die bisweilen schwierige Frage bleibt, obin<br />

einem konkreten Fall die Behörde aufgrund des anwendbaren Rechts hätte verfügungsmässig<br />

handeln müssen. Sie wird durch das neue Hilfsverfahren nach<br />

Art.25 a VwVG allerdings massiv abgeschwächt. 62<br />

4. Rechtliche Grundbedingungen des realen Handelns<br />

Obwohl Realakte nach herrschender Lehre und Rechtsprechung nicht zur Herbeiführung<br />

eines Rechtserfolgs bestimmt sind, bewegen sie sich deswegen<br />

nicht im rechtsfreien Raum. Reales Handeln ist wie jedes andere Handeln des<br />

59<br />

60<br />

61<br />

62<br />

Vgl.GYGI,Bundesverwaltungsrechtspflege (FN 48), 133.<br />

Vgl. aus dem Bundesrecht: Art.94BGG (vorher: Art. 97Abs. 2des Bundesgesetzes<br />

vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege [Bundesrechtspflegegesetz,<br />

OG, BS 3531]); Art. 46 a VwVG (vorher: Art. 70 VwVG). –Auch im<br />

französischen Verwaltungsrecht wird aufgrund spezialgesetzlicher Regelungen das<br />

„Schweigen der Verwaltung“ auf ein Gesuch hin nach einer bestimmten Dauer als anfechtbarer<br />

„acte administratif“ qualifiziert (dazu etwaDELVOLVÉ, L’Acte [FN 14], 12f.;<br />

C HAPUS,Droit administratif [FN 41], Rz. 676 ff.).<br />

Siehe dazu F ELLER,Staatshaftungsrecht (FN 18), 2.Teil, Kap. IV.B.1.a m.w.H.<br />

Dazu hinten Kap.IV.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 331<br />

Staats andie rechtsstaatlichen Handlungsbedingungen gebunden. Dies bedeutet–inaller<br />

Kürze–Folgendes 63 :<br />

<br />

<br />

<br />

Staatliches Handeln –rechtliches und reales –kann nur rechtmässig sein,<br />

wenn die aufgrund der Kompetenzordnung hierfür zuständige Behörde<br />

agiert.<br />

Auch bei einer blossen Änderung der Faktenlage sind die Grundsätze des<br />

rechtstaatlichen Handelns (Art. 5und 36 BV 64 )zu beachten. Dem entsprechend<br />

müssen auch reale Verwaltungshandlungen auf einer hinreichenden<br />

gesetzlichen Grundlage basieren, durch ein öffentliches Interesse<br />

gerechtfertigt sein sowie in ihrer Ausgestaltung das Verhältnismässigkeitsprinzip<br />

beachten.<br />

Realakte müssen schliesslich im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten<br />

stehen, zuvorderst mit den inArt. 8und 9BVverankerten Garantien<br />

elementarer Gerechtigkeit (Willkürverbot, Rechtsgleichheits- und<br />

Diskriminierungsverbot, Treu und Glauben). Der inArt. 35 Abs. 2BV<br />

verankerte Grundsatz, („Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die<br />

Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen“),<br />

65 erstreckt sich auch aufdas reale Verwaltungshandeln.<br />

Wo Realakte sich nicht an diese Rahmenbedingungen halten, sind sie rechtswidrig.<br />

Anders als rechtswidrige Verfügungen lassen sie sich aber grundsätzlich<br />

weder direkt anfechten noch widerrufen. Auch kann man sie nicht nach<br />

dem Vorbild der nichtigen Verfügung als ungeschehen betrachten. Unter Umständen<br />

kann ein rechtswidriger Realakt aber Ersatzansprüche begründen oder<br />

disziplinarische Sanktionen nach sich ziehen. 66<br />

63<br />

64<br />

65<br />

66<br />

Dazu eingehender TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 420 ff.; M OOR, Vol II (FN 1),<br />

29 ff.<br />

Zum Verhältnis von Art. 5 und Art. 36 BV vgl. M ARKUS S CHEFER, Die Beeinträchtigung<br />

von Grundrechten –ZurDogmatik von Art.36 BV, Bern 2006,4ff.<br />

Vgl. dazu P HILIPP H ÄSLER, Geltung der Grundrechte für öffentliche Unternehmen, Bern<br />

2005, 65ff.<br />

Falsche Informationen, Auskünfte oder Zusicherungen können Vertrauensschutzansprüche<br />

nach Art. 9 BV oder Staathaftungsansprüche begründen. Ein Polizeibeamter, der<br />

sich im Rahmen eines Einsatzes <strong>gegen</strong>über Personen unangemessen impulsiv verhält,<br />

riskiert eine Disziplinarmassnahme. –Vgl. zum Ganzen etwa TSCHANNEN/Z IMMERLI,<br />

Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 17; ESTHER T OPHINKE, Bedeutung der Rechtsweggarantie<br />

für die Anpassung der kantonalen Gesetzgebung, ZBl 2006 ,95.


332 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

5. Fazit und Überleitung<br />

Die vorangehenden Darlegungen mögen etwas gezeigt haben: Realakte lassen<br />

sich nur schwer <strong>gegen</strong>über Rechtsakten abgrenzen. Dies hat verschiedene<br />

Gründe. Über diese soll –bevor in den folgenden Abschnitten das alte und das<br />

neue <strong>Rechtsschutz</strong>konzept näher betrachtet werden –ein erstes Mal kurz nachgedacht<br />

werden: Die Unterscheidung Realakt-Rechtsakt fusst in einem historischen<br />

Verständnis von Recht und Rechtsverhältnis. 67 Danach zählen nur jene<br />

Normen zum Recht und bilden Grundlage eines Rechtsverhältnisses, die die<br />

Interessen von zwei autonomen Rechtssubjekten <strong>gegen</strong>einander abgrenzen. Im<br />

öffentlichen Recht hat man daraus geschlossen, dass von einem (Verwaltungs-)Rechtsverhältnis<br />

nur dort zusprechen ist, wo einem Individuum <strong>gegen</strong>über<br />

dem Staat Rechte eingeräumtoder Pflichten auferlegt werden. 68<br />

Für die besonderen Rechtsverhältnisse wird herkömmlich zwischen<br />

Innenrechts- und Aussenrechtsverhältnissen unterschieden. Nur die<br />

Letzteren stellen allerdings „echte“ Rechtsverhältnisse dar. Im allgemeinen<br />

Rechtsverhältnis gibt es diese Zweiteilung der Lebens- und<br />

Normsphären (Innen und Aussen) nicht. Hier wird aber in einem ähnlichen<br />

Sinne nach der primären Zielrichtung der jeweiligen Handlung<br />

unterschieden. Danach bewirkt die Faktengestaltung eine dem Innenrechtsverhältnis<br />

ähnliche Beziehung, während die Rechtsgestaltung<br />

das „echte“ Aussenrechtsverhältnis zu begründen vermag.<br />

Wenn nun inder Lehre etwa gefordert wird, für die Frage des <strong>Rechtsschutz</strong>es<br />

<strong>gegen</strong> Realakte weniger am System der Handlungsformen als vielmehr am<br />

Verwaltungsrechtsverhältnis anzuknüpfen, ist (allein) damit noch wenig gewonnen.<br />

69 Eine Orientierung am Verwaltungsrechtsverhältnis kann nach hier<br />

vertretener Auffassung nur dann eine Vereinfachung und gleichsam eine Verbesserung<br />

der <strong>Rechtsschutz</strong>verhältnisse bringen, wenn sie mit einem neuen<br />

Rechts- und <strong>Rechtsschutz</strong>verständnis verbundenwird. 70<br />

67<br />

68<br />

69<br />

70<br />

Vgl. eingehend M. MÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 200 ff. m.w.H. – Diesem<br />

Rechtsverständnis liegt schliesslich auch noch die gleichsam bekannte wie berüchtigte<br />

Unterscheidung in objektive und subjektive öffentliche Rechte zu Grunde. Siehe dazu<br />

hinten Kap. V/2.<br />

Vgl. statt vieler T SCHANNEN/Z IMMERLI,Verwaltungsrecht (FN 16), §43Rz. 3.<br />

Vgl. TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 391 ff., 437 ff.; siehe dazu auch F LÜCKIGER,<br />

L’extension (FN19), 12 ff., 16.<br />

Dazu im Einzelnen hinten Kap. V/2.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 333<br />

III.<br />

Der <strong>Rechtsschutz</strong> nachalter Bundesrechtspflege<br />

Die Darstellung des Realakts hat gezeigt: Auch Realakte lösen (Rechts- 71 )<br />

Schutzbedürfnisse aus. Dem musste die Praxis über kurz oder lang Rechnung<br />

tragen: Ander Prämisse ohne Rechtsakt kein <strong>Rechtsschutz</strong> wurde dabei im<br />

Grunde festgehalten (Ziff. 1). Mittels pragmatisch-kreativer Umdeutung der<br />

Realakte inRechtsakte hat die Rechtsprechung aber eine sukzessive Öffnung<br />

des <strong>Rechtsschutz</strong>es bewirkt(Ziff. 2).<br />

1. Rechtsakt als <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />

Die Verwaltungsrechtspflege in der Schweiz knüpft –wie erwähnt –amHandeln<br />

inForm von Rechtsakten, insbesondere in Form der Verfügung an. 72 Prozessual<br />

gesprochen: Die Rechtsmittelinstanz tritt auf eine Beschwerde <strong>gegen</strong><br />

einen Realakt mangels Anfechtungsobjekts nicht ein. Dies kann dort zustossenden<br />

Ergebnissen führen, wo tatsächliches Handeln –was häufig der Fall<br />

sein dürfte –direkt oder indirekt auch die Rechte Privater „berührt“ und folglich<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnisse aktualisiert. 73<br />

Das Bedürfnis nach <strong>Rechtsschutz</strong> kann durch die Möglichkeit, die<br />

Rechtmässigkeit eines Realakts imRahmen des Staatshaftungsverfahrens<br />

überprüfen zu lassen, nur unzureichend kompensiert werden.<br />

74 Zum einen entfällt dieser Weg zum vorneherein, wo reales<br />

Handeln zu keinem Schaden führt. Zum andern kann das Staatshaftungsverfahren<br />

nicht zur (kompletten) Restitution (Aufhebung des<br />

fraglichen Akts) führen¸ sondern nur zu einerfinanziellen Kompensationsleistung.<br />

Dabei wäre gemäss bundesgerichtlicher Rechtspre-<br />

71<br />

72<br />

73<br />

74<br />

Da sich –nimmt man die Doktrin ernst –durch Realakte die individuelle Rechtslage eigentlich<br />

nicht verändert, handelt es sich streng genommen gerade nicht um„<strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnisse“.<br />

Vgl. die Literaturhinweise bei T H . MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1), 188 f.<br />

Anm. 726.<br />

Vgl. Y VO H ANGARTNER, Recht auf <strong>Rechtsschutz</strong>, AJP 2002, 146. –Lehre und Rechtsprechung<br />

scheinen sich heute weitgehend darin einig zu sein, dass Realakte „die<br />

Rechtsstellung von Privaten“ berühren können, dies aber an der Rechtsnatur des staatlichen<br />

Handelns grundsätzlich nichts ändert (dazu BGE 130 I369 E.6.1 S. 379f.m.w.H.;<br />

siehe ferner die Hinweise hinten FN 142).<br />

Vgl.FELLER,Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil, Kap. II.B.2.b.


334 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

chung auch möglich, die blosse Feststellung der Rechtswidrigkeit als<br />

„besondere Formder Genugtuung“ zu betrachten. 75<br />

Die grösser werdende Kluft zwischen einer dogmatischen Fixierung auf die<br />

Handlungsform und den real existierenden <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnissen hat die<br />

Praxis schliesslich zu einem pragmatischenVorgehen gezwungen.<br />

2. Pragmatische „Öffnung“<br />

a) Vermehrte Orientierung am <strong>Rechtsschutz</strong>interesse<br />

Um dem durch Realakte verursachten <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis besser Rechnung<br />

zu tragen, hatte die Praxis seit längerem begonnen, sich für die Frage der Anfechtbarkeit<br />

vermehrt am (objektiven) <strong>Rechtsschutz</strong>interesse zu orientieren. 76<br />

Dabei wurde jedoch –zumindest vordergründig –die Fixierung auf die Handlungsform<br />

nicht aufgegeben. Methodisch wählte man folgendes Vorgehen:<br />

Überall dort, wo eine Verletzung individueller Rechtspositionen drohte, wurde<br />

versucht, eineVerfügung zu fingieren . 77<br />

Das Bundesgericht hat dieses Vorgehen inseiner jüngeren Rechtsprechung<br />

ausdrücklich sanktioniert. Sohat es namentlich zum Zwecke eines hinreichenden<br />

Grundrechtsschutzes drei (im Wesentlichen gleichartige) <strong>Rechtsschutz</strong>wege<br />

als zulässig erachtet: 78 der Weg über die Feststellungsverfügung (Bst. b),<br />

der Weg über die Verfügungsfiktion (Bst. c)sowie schliesslich der Weg über<br />

das Anfechtungsobjekt eigenerNatur (Bst.d).<br />

Der Druck der EMRK zu „wirksamem <strong>Rechtsschutz</strong>“ <strong>gegen</strong>über jeglichem<br />

staatlichen Handeln (Art. 13EMRK) hat hier zusätzliche Impulse<br />

gesetzt. Sohat sich das Bundesgericht in jüngerer Zeit ver-<br />

75<br />

76<br />

77<br />

78<br />

BGE 128 I167 E. 4.5. S. 175 m.w.H.<br />

Vgl. die Hinweise bei F LÜCKIGER, Régulation (FN 1), 187ff.; M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis<br />

(FN 40), 89 ff.<br />

Nach D UDEN, Band 5,Das Fremdwörterbuch, 7. Auflage, Mannheim 2001, 313, bedeutet<br />

fingieren „in einer bestimmten Absicht vorspiegeln, vortäuschen, erdichten“. Für den<br />

vorliegenden Kontext passt am besten die Wortsinnvariante „vortäuschen“. Dies deshalb,<br />

weil mit der Fiktion tatsächlich über den Umstand hinweggetäuscht werden soll,<br />

dass eine Verfügung und damit die „conditio sine qua non“ des Verwaltungsrechtsschutzes<br />

fehlt. –SERGIO G IACOMINI, Vom „Jagdmachen auf Verfügung“. Ein Diskussionsbeitrag,<br />

ZBl 1993 ,246 f. m.w.H., kritisiert zuRecht die durch diese Methode bewirkte<br />

Vermischung zwischen Beschwerdebefugnis und Anfechtungsobjekt.<br />

Vgl. BGE 128 I167 E. 4.5 S.175f.–Nicht näher eingegangen wird hier auf die weiteren<br />

vom Bundesgericht erwähnten <strong>Rechtsschutz</strong>möglichkeiten wie das Staatshaftungsverfahren<br />

und das Verfahren der Aufsichtsbeschwerde.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 335<br />

schiedentlich mit der Frage des konventionskonformen <strong>Rechtsschutz</strong>es<br />

<strong>gegen</strong> Realakte auseinandergesetzt. Dabei hat es die drei erwähnten<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>möglichkeiten als den Anforderungen von Art. 13<br />

EMRK genügend erachtet. Implizit hat es in seinen Entscheiden auch<br />

zum Ausdruck gebracht, dass diese <strong>Rechtsschutz</strong>wege nicht nur im<br />

begrenzten Geltungsbereich von Art.13EMRK gelten, sondern generelle<br />

Beachtung finden sollen. 79<br />

b) Der Wegüberdie Feststellungsverfügung<br />

Das durch einen Realakt begründete <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis lässt sich nach Ansicht<br />

des Bundesgerichts unter anderem durch das Zugeständnis eines Anspruchs<br />

des Betroffenen „auf ein entsprechendes Feststellungsurteil“ befriedigen.<br />

80 Ein Feststellungsurteil bzw. eine Feststellungsverfügung liefert dem<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>suchenden einen anfechtbaren Rechtsakt. Damit hat das höchste<br />

Gericht freilich einen Weg gewiesen, der –jedenfalls bei strikter Beachtung<br />

der herrschenden Dogmatik –nicht gangbar gewesen wäre. Begehbar wurde er<br />

nur durch eine pragmatische Ausdehnung des Verfügungsbegriffs, ein Schritt,<br />

der weder in der Lehre noch in der Rechtsprechung eingehender problematisiertworden<br />

ist. Ein paar Gedankenverdient diese dogmatische Frage allemal:<br />

aa)<br />

Feststellungsverfügung als „normale“ Verfügung<br />

Ein Anspruch auf Erhalt einer Feststellungsverfügung hängt vom Vorliegen<br />

eines „schutzwürdigen Interesses“, einem sog. Feststellungsinteresse ab. 81<br />

Darunter verstehtdas Bundesgerichtin konstanter Rechtsprechung:<br />

79<br />

80<br />

81<br />

In diesem Sinne ist jedenfalls die folgende Passage zu interpretieren: „Für die Beurteilung<br />

des erforderlichen <strong>Rechtsschutz</strong>es ist von Art. 13der Konvention zum Schutz der<br />

Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) auszugehen .Danach hat […]“<br />

(BGE 128 I167 E. 4.5. S. 174 [Hervorhebung durch den Autor]); in BGE 128 II156<br />

findet sich gar kein Verweis auf die EMRK.<br />

BGE 128 I167 E. 4.5 S.174 ff.; soweit ersichtlich erstmals inamtlich publizierter Form<br />

in BGE 121I87E. 1b S. 91.<br />

Ein gesetzlicher Anspruch auf Erhalt einer Feststellungsverfügung leitet sich aus der<br />

einschlägigen Verfahrensgesetzgebung ab, imBund aus Art. 25 Abs. 2i.V.m Art.5<br />

Abs. 1Bst. bVwVG. Einige Kantone kennen inihren Verwaltungsrechtspflegegesetzen<br />

das <strong>Institut</strong> der Feststellungsverfügung ebenfalls, andere wiederum sehen diese Möglichkeit<br />

(noch) nicht explizit vor. Vgl. auch die Hinweise bei A NDREAS K LEY, Feststellungsverfügung<br />

–eine ganz gewöhnliche Verfügung?, in: Festschrift Yvo Hangartner,<br />

St. Gallen/Lachen 1998, 232 Anm. 21. Diesem Autor zufolge handelt es sich bei der


336 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

„ein rechtliches oder tatsächliches und aktuelles Interesse an der sofortigen<br />

Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines<br />

Rechtsverhältnisses […], dem keine erheblichen öffentlichen oder<br />

privaten Interessen ent<strong>gegen</strong>stehen und welches nicht durch eine<br />

rechtsgestaltende Verfügunggewahrt werden kann“. 82<br />

Gegenstand einer Feststellungsverfügung bilden demzufolge nur „individuelle<br />

und konkrete Rechte und Pflichten, d.h. Rechtsfolgen“ 83 .Dementsprechend<br />

kann Gegenstand eines Feststellungsbegehrens immer nur „ein Ausschnitt aus<br />

dem individuell-konkreten Rechtsstatus des Petenten sein“. 84 Feststellungsbegehren<br />

und Feststellungsverfügung dienen insoweit der Klärung eines aktuellen<br />

oder potentiellen (Aussen-)Rechtsverhältnisses , d.h. einer konkreten<br />

Rechts-, nicht aber einer konkreten Tatsachenfrage. 85 Der Inhalt einer Feststellungsverfügung<br />

bestimmt sich somit nach dem Verfügungsbegriff von Art. 5<br />

VwVG. 86 Daraus folgt: Nur worüber sich „rechts-gestaltend“ verfügen lässt,<br />

kann auch „rechts-feststellend“ verfügt werden. Die Feststellungsverfügung ist<br />

nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine „,ganz gewöhnliche’ Verfügung“<br />

87 .<br />

bb)<br />

„Verdeckte“ Verfügungsfiktion<br />

Vor dem Hintergrund des etablierten Verfügungsbegriffs erweckt der Einsatz<br />

der Feststellungsverfügung als Mittel, um Realakte und damit gerade nicht<br />

konkrete Rechtsverhältnisse rechtsschutzmässig zu erschliessen, etwas Unbehagen.<br />

Wie dargelegt können nämlich nur jene Staat-Bürger-Beziehungen Gegenstand<br />

von Verfügungen (damit auch von Feststellungsverfügungen) sein,<br />

82<br />

83<br />

84<br />

85<br />

86<br />

87<br />

Feststellungsverfügung um ein <strong>Institut</strong> des allgemeinen Verwaltungsrechts, das auch ohne<br />

verfahrensgesetzliche Grundlage existiert. Vgl. auch BGE 130 V388 E. 2.4. S.391 f.<br />

m.w.H.<br />

BGE 130 V388 E. 2.4. S. 391 f. m.w.H.; ferner etwa: BGE 126 II 300 E. 2c S.303. Vgl.<br />

die Hinweise auf ältere Entscheide bei K LEY, Feststellungsverfügung (FN 81), 240<br />

Anm. 76. –Ein rechtliches Feststellungsinteresse lässt sich dabei unter anderem gerade<br />

aus dem Grundrecht auf <strong>Rechtsschutz</strong> ableiten, wie es sich aus Art. 13EMRK bzw.<br />

Art.29 a BV ergibt (vgl. in diesem Sinne BGE 123 II 402 E. 4b S. 413; ferner dazu R E-<br />

NÉ R HINOW ,Neuere Entwicklungen imÖffentlichen Prozessrecht, SJZ 2003 ,525, der<br />

überdies Art. 9BV als Grundlage erwähnt).<br />

BGE 130 V388 E. 2.5 S. 392.<br />

S ALADIN, Verwaltungsverfahrensrecht (FN 28), 96f.<br />

BGE 130 V388 E. 2.5. S. 392.<br />

Siehe dazu K LEY, Feststellungsverfügung (FN 81), 236 f.<br />

K LEY, Feststellungsverfügung (FN 81), 246; vgl. auch U RS G UENG ,Zur Tragweite des<br />

Feststellungsanspruchs gemäss Art. 25VwVG, SJZ 1971, 369f.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 337<br />

die ein sog. Aussenrechtsverhältnis darstellen. 88 Zueinem solchen soll es aber<br />

beim realen, tatsächlichen Handeln –jedenfalls gemäss herrschender Lehre<br />

und Rechtsprechung –gerade nichtkommen. 89<br />

Dem allem zum Trotz hat hier die Praxis –unterstützt von einem Teil der Lehre<br />

–den Verfügungs- bzw. den Rechtsverhältnisbegriff so ausgedehnt ,dass er<br />

auch blosse „Tatsachen“ zu erfassen vermochte. 90 Im Lichte der geltenden<br />

Dogmatik zum Verfügungsbegriff eigentlich ein Bruch, 91 oder anders gesehen:<br />

eine verdeckte Verfügungsfiktion .Diese schien angesichts des hochwertigen<br />

Ziels, der Öffnung des <strong>Rechtsschutz</strong>es, offenbar tolerabel und dogmatisch<br />

nichtweiter begründungsbedürftig.<br />

Mit der nun vom Gesetzgeber getroffenen neuen <strong>Rechtsschutz</strong>lösung (Art. 25 a<br />

VwVG) begibt man sich wieder auf dogmatisch stabileren Grund. Künftig<br />

wird esnicht mehr nötig sein, einen Realakt –mehr oder weniger abenteuerlich<br />

–ineine Verfügung umzudeuten. Indem Art. 25 a VwVG ein „explizites<br />

Recht auf eine Verfügung“ statuiert, liefert er vielmehr die Grundlage für ein<br />

spezifisches Verwaltungsrechtsverhältnis, das mittels Verfügung festgelegt<br />

werdenkann. 92<br />

88<br />

89<br />

90<br />

91<br />

92<br />

Vgl. statt vieler T SCHANNEN/Z IMMERLI,Verwaltungsrecht (FN 16), §28 Rz. 25ff.<br />

Vgl. auch F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 178, 189.<br />

Dieser Praxis wurde – konkludent und kaum dogmatisch reflektiert – ein breiteres<br />

Rechtsverständnis zugrunde gelegt, wie es beispielsweise in den Sechzigerjahren in<br />

Deutschland vertreten wurde (dazu F LÜCKIGER, L’extension [FN 19], 45 ff.). Ein derartiges<br />

umfassendes Rechtsverständnis würde –wie zu zeigen sein wird –wesentlich zu<br />

einem adäquaten <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> beitragen (dazu hinten<br />

Kap. V).<br />

Vgl. kritisch P AUL R ICHLI, Zum <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> verfügungsfreies Staatshandeln in<br />

der Totalrevision der Bundesrechtspflege, AJP 1998, 1441; P AUL R ICHLI in seiner<br />

Kommentierung von BGE 121 I87in AJP 1995 ,357 f.; A LFRED K ÖLZ/I SABELLE H Ä-<br />

NER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Auflage, Zürich<br />

1998, Rz. 210; siehe auch die Hinweise bei F LÜCKIGER, L’extension (FN 19),<br />

117 ff., 179 Anm. 6. –TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 447, sieht dem<strong>gegen</strong>über darin<br />

nichts „Irreguläres“; K LEY, Festellungsverfügung (FN 81), 237, weist auf Beispiele<br />

aus dem Bereich des Registerwesens hin, wo bisweilen Verfügungen erlassen werden,<br />

die sich ausschliesslich auf Tatsachenfeststellungen beziehen; MAX I MBODEN/R ENÉ<br />

R HINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I, 6. Auflage, Basel 1986,<br />

Nr. 36, 224, weisen aber zu Recht auf die Schwierigkeit hin, zwischen einem „unverbindlichen“<br />

Beschrieb und einer „verpflichtenden“ Tatsachenregistrierung zu unterscheiden.<br />

Zum Recht auf eine Verfügung über ergangene Realakte (allerdings noch ohne explizite<br />

Verfügungsgrundlage) vgl. schon M OOR, Vol II (FN 1), 39 ff.; FLÜCKIGER, L’extension


338 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

c) DerWeg über die„Verfügungsfiktion“<br />

Ein entsprechendes „<strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis“ vorausgesetzt, kann – so das<br />

Bundesgericht –„eine Rechtswegmöglichkeit allenfalls selbst dann bestehen,<br />

wenn keine förmliche Verfügung vorliegt“. 93 Das Bundesgericht hatte hier<br />

zum einen Rechtsverweigerungen und Rechtsverzögerungen im Auge, 94 zum<br />

andern Akte, die in Grundrechtspositionen eingreifen. 95 Das fehlende Anfechtungsobjekt<br />

war nach dieser Praxislinie auf dem Wege der Verfügungsfiktion<br />

zu beschaffen.<br />

Mit dieser Praxisvariante brachte das höchste Gericht besonders deutlich zum<br />

Ausdruck, dass esfür den Zugang zur Verwaltungsrechtspflege –jedenfalls<br />

unter gewissen Umständen –das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als massgebend erachtet,<br />

nicht die Handlungs form. ImBereich besonderer Rechtsverhältnisse, namentlich<br />

im heiklen Abgrenzungsbereich zwischen Verfügungen und Innenakten<br />

(Dienstanweisungen, Dienstbefehle, organisatorische Anordnungen etc.)<br />

wurde dieser Weg schon länger beschritten. Dies geschah allerdings meist ohne<br />

ausdrücklichvon einer Verfügungsfiktion zu sprechen. 96<br />

Illustrativ ist hier ein höchstrichterlicher Entscheid betreffend die Zuteilung<br />

eines Schülers in ein bestimmtes Primarschulhaus. Dabei<br />

handelt es sich –gemäss geltender Dogmatik –fraglos um einen an<br />

sich nicht anfechtbaren Innenakt (organisatorische Anordnung). Das<br />

Gericht hat nun allerdings die Anfechtbarkeit davon abhängig gemacht,<br />

wie stark diese Anordnung in das Leben und den Tagesablauf<br />

des betroffenen Kindes eingreift. Damit hat es sich vom konkreten<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>interesse leiten lassen. 97<br />

93<br />

94<br />

95<br />

96<br />

97<br />

(FN 19), 196ff.; T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 446. Zum „neuen Weg“ vgl. hinten<br />

Kap. IV/2.<br />

BGE 128 I167 E. 4.5 S. 175; siehe ferner BGE 127 I84E.4aS.87; 126 I250 E. 2c<br />

S. 254.<br />

Vgl. dazu vorn Kap. II/3/e.<br />

Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 8. Juni 2001 2P.96/2000 sogar die privatrechtliche<br />

Erhebung von Gebühren durch den privaten Veranstalter und Organisator der<br />

„Braderie“ in La Chaux-de-Fonds als Akt gewertet, der dem Verwaltungsrechtsschutz<br />

unterliegt (vgl. dazu Y VO H ANGARTNER, Urteilsanmerkung, AJP 2002, 67).<br />

Vgl. zumGanzen M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 91 ff. m.w.H.<br />

Vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 28. März 2002 2P.324/2001, Praxis 2002 Nr. 140<br />

E. 3.4 S. 763 f.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 339<br />

d) Anfechtungsobjekt „eigenerNatur“<br />

Eine Spielart des Weges über die Verfügungsfiktion hat das Bundesgericht im<br />

jüngsten „WEF-Urteil“ gewählt. 98 Unbestritten war, dass dem ander Weiterreise<br />

nach Davos gehinderten Journalisten aufgrund von Art. 13EMRK eine<br />

Beschwerdemöglichkeit zustand. 99 Einzig die Rechtsnatur des fraglichen Akts<br />

sowie –damit in direktem Zusammenhang –das auf das Beschwerdeverfahren<br />

anwendbare Verfahrensrecht warfen Fragen auf. Hierzu stellte das Bundesgericht<br />

fest, der Umstand, dass die polizeiliche Anordnung den Journalisten in<br />

verschiedenen verfassungsmässigen Rechten bzw. inKonventionsrechten berühre,<br />

mache diese nicht zur Verfügung. Vielmehr sei die Anordnung –sodas<br />

Bundesgericht wörtlich –„lediglich als Ausgangspunkt für eine wirksame Beschwerde<br />

eigener Natur imSinne von Art. 13EMRK zu betrachten“, worauf<br />

das Verwaltungsverfahrensrecht nicht integral, sondern nur punktuell und analog<br />

zurAnwendung gelange. 100<br />

Bei der Feststellung der Beschwerdefähigkeit des fraglichen Akts liess es das<br />

Gericht bewenden. An der Zuordnung des Handelns zu den Realakten änderte<br />

es nichts, namentlich fingierte eskeine Verfügung. Der hier gewählte Weg ist<br />

schlank und elegant: Der „Beschwerde eigener Natur“ wurde –mit dem Realakt<br />

–einfach ein „Anfechtungsobjekt eigener Natur“ zugeordnet. Auch hier<br />

bestätigt sich: Die Bezeichnung von Rechtsinstituten mit dem Zusatz „eigener<br />

Natur“ oder –noch gewandter –„sui generis“ lässt mit auffallender Häufigkeit<br />

aufdogmatische RatlosigkeitoderDilemmata schliessen.<br />

3. Fazit und Überleitung<br />

Die bisherige Praxis des Bundesgerichts war gekennzeichnet vom ernsthaften<br />

Bemühen, den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte zu verbessern. Dabei hat es sich –<br />

mangels angepasster Dogmatik – in durchaus kreativer Art verschiedener<br />

Spielformen der Fiktion bedient bzw. bedienen müssen. Die Signale ,die das<br />

höchste Gericht damit an die Adresse der Wissenschaft, der Verwaltung und<br />

des Gesetzesgebers aussandte, waren klar und nicht zuüberhören: Verwaltungsrechtsschutz<br />

stur andie Handlungsform zu knüpfen ist unsachgemäss und<br />

zwingt zuumständlichen Täuschungsmanövern. Massgeblich für das Gewähren<br />

von Verwaltungsrechtsschutz muss daher die Handlungswirkung und da-<br />

98<br />

99<br />

100<br />

BGE 130 I369.<br />

Vgl. BGE 130 I369 E.6.1 S. 377 ff.<br />

BGE 130 I369 E.6.1 S. 379; vgl. zu diesem Entscheid R EGINA K IENER, ZBJV 2005 ,<br />

686 ff.


340 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

mit das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse sein. 101 –Die Signale wurden wohl gehört, doch<br />

leider etwas falsch verstanden. Jedenfalls hat der Gesetzgeber mit dem neuen<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>konzept nach Art. 25 a VwVG –wie nun zu zeigen ist –einen anderen<br />

als denvom Bundesgericht vorgezeichneten Weg eingeschlagen.<br />

IV.<br />

Der <strong>Rechtsschutz</strong> nach Art. 25a VwVG<br />

Mit Art. 25 a VwVG beginnt eine neue Ära im <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte.<br />

Die Tragweite dieser neuen Vorschrift auszuloten, ist Ziel der folgenden Ausführungen.<br />

Dabei interessiert als Erstes ihre Einordnung im Gefüge der neuen<br />

Bundesrechtspflege (Ziff. 1). Sodann geht es schwergewichtig darum, den<br />

durch Art. 25 a VwVG vorgespurten neuen <strong>Rechtsschutz</strong>weg zunächst ganz allgemein<br />

(Ziff. 2) und endlich hinsichtlich seiner prozessualen Eckpunkte –den<br />

Eintretensvoraussetzungen (Ziff. 3), den zulässigen Begehren (Ziff. 4)sowie<br />

den verschiedenen Formen des Verfahrensabschlusses (Ziff. 5)–näher zu betrachten.<br />

Den Abschluss dieses Abschnitts machen einige summarische Hinweise<br />

zum Verhältnis zur Staatshaftung (Ziff. 6) sowie zu den kantonalen Verfahrensordnungen<br />

(Ziff. 7).<br />

1. Art.25 a VwVG: Ein Nebenprodukt der neuen Bundesrechtspflege<br />

a) Normgenese<br />

Das <strong>Rechtsschutz</strong>defizit <strong>gegen</strong> Realakte wurde in der Lehre schon seit längerem<br />

thematisiert. 102 Dennoch blieb dieser Aspekt im Rahmen der verwaltungsinternen<br />

Arbeiten zur Totalrevision der Bundesrechtspflege weitgehend unbeachtet.<br />

Quasi in letzter Minute und nicht bar von Hektik hat sich der Gesetzgeber<br />

dieser Problematik aber noch angenommen. Auslöser war eine in der vorberatendenKommission<br />

des Ständerats aufgeworfene Frage:<br />

„Ich frage mich, ob es ausserhalb des Verfügungsbereiches nicht Bereiche<br />

gibt, die ebenfalls in den Genuss des <strong>Rechtsschutz</strong>es kommen<br />

müssten, wenn wir die <strong>Rechtsschutz</strong>garantie ernst nehmen, und zwar<br />

sowohl jene des Bundes (Art. 29 a BV) als auch jene der EMRK<br />

(Art. 6EMRK).“ 103<br />

101<br />

102<br />

103<br />

Vgl. dazu auch hinten Kap. V/1.<br />

Siehe die Hinweise vorn FN 1.<br />

Vgl. Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23. Mai 2002,5.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 341<br />

Die Diskussion war damit–wennauch nurmoderat–lanciert. Die Verwaltung<br />

reagiertedarauf zunächst mit Zurückhaltung. So wurde erklärt, schon nach geltendem<br />

Recht müsse die Behörde „über die Vornahme oder Unterlassung eines<br />

Realaktes oder über die Beseitigung seiner Folgen eine Verfügung erlassen<br />

[…], wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse nachweist und der<br />

Realakt geeignet ist, Rechte und Pflichten im Einzelfall zu berühren“. 104 Diese<br />

Einschätzung seitens der Verwaltung vermochte indes nicht zuverhindern,<br />

dass am 22. September 2003 in der ständerätlichen Kommission der Antrag<br />

gestellt wurde, eine neue Vorschrift in den Anhang zum neuen Verwaltungsgerichtsgesetz<br />

aufzunehmen. Für ihre Ausarbeitung lehnte sich die Verwaltung<br />

erklärtermassen enganVorschlägeder Doktrin an. 105<br />

In der Folge gab diese neue Bestimmung weder inden parlamentarischen<br />

Kommissionen noch inden Plenumsberatungen zu irgendwelchen DiskussionenAnlass.<br />

Art. 25 a VwVG war „geboren“, und zwar weitgehend „unbelastet“<br />

von bundesrätlichen und parlamentarischen Reflexionen (meint: gänzlich ohne<br />

erläuternde Materialien). Der Interpretator istgefordert.<br />

b) RelevanteEckwerte der Bundesrechtspflege<br />

aa)<br />

Verfügung als primärer Anknüpfungspunkt<br />

Das Inkrafttreten der Rechtsweggarantie und die totalrevidierte Bundesrechtspflege<br />

ändern –jedenfalls im Grundsatz –amherkömmlichen Verwaltungsrechtspflegekonzept<br />

nichts. Weiterhin bilden Verfügung und Anfechtungsstreitverfahren<br />

die beiden zentralen Pfeiler der Bundesverwaltungsrechtspflege:<br />

Verwaltungsrechtsschutz knüpft also nach wie vor an der Verfügung an.<br />

Art.29 a BV verlangt keine Neudefinition des Anfechtungsobjekts, z.B. im<br />

Sinne einer generellen Erweiterung auf reales bzw. tatsächliches Staatshandeln;<br />

erstünde einer solchen Ausdehnung aber auch nicht prinzipiell ent<strong>gegen</strong>.<br />

106 Vorderhand gibt es aber keinerlei Anzeichen, dass vom verfügungsori-<br />

104<br />

105<br />

106<br />

Vgl. Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23. Mai 2002, 6; der Vertreter des<br />

Bundesamts für Justiz bezieht sich hier vor allem auf TSCHANNEN, Warnungen (FN 30),<br />

444 ff.<br />

Erwähnt werden namentlich die folgenden Werke: F LÜCKIGER, L’extension (FN 19);<br />

T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), insbes. 448–451; R ICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91);<br />

H ANGARTNER, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 73), insbes. 153 f.<br />

Vgl. etwa TOPHINKE, Rechtsweggarantie (FN 66), 92 ff.; M ARKUS M ÜLLER, Rechtsweggarantie<br />

–Chancen und Risiken: Ein Plädoyer für mehr Vertrauen in die öffentliche


342 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

entierten Rechtspflegekonzept abgewichen werden sollte. Im Gegenteil:<br />

Art.25 a VwVG scheintdieses Grundprinzip abermals zu bestätigen. 107<br />

Im verfügungsorientierten Rechtspflegekonzept behält auch das Anfechtungsstreitverfahren<br />

und damit das <strong>Institut</strong> der Beschwerde seine zentrale Bedeutung.<br />

Der Gesetzgeber entschied damit bewusst <strong>gegen</strong> einen Wechsel zu einem<br />

Klagesystem nach deutschem Muster. 108<br />

Die deutsche Verwaltungsrechtspflege kennt ein differenziertes Klagesystem.<br />

Danach spielt die Form des staatlichen Handelns (Verwaltungsakt<br />

oder reales Verwaltungshandeln) für den Zugang zum gerichtlichen<br />

<strong>Rechtsschutz</strong> prinzipiell keine Rolle. Sie ist lediglich für<br />

die Wahl der richtigen Klageart von Bedeutung. Dabei knüpfen die<br />

Anfechtungsklage, also die Klage auf Aufhebung eines Verwaltungsakts,<br />

und die Verpflichtungsklage (Klage auf Erlass eines abgelehnten<br />

oder unterlassenen Verwaltungsakts) an die Verfügung bzw. den<br />

Verwaltungsakt an. Dem<strong>gegen</strong>über dient die sog. Leistungsklage der<br />

Anfechtung informaler Akte. Eine solche Leistungsklage nach deutschem<br />

Muster, mittels der auch Realakte dem (gerichtlichen) <strong>Rechtsschutz</strong><br />

zugeführt werden können, fehlt im schweizerischen (und auch<br />

im französischen) Rechtspflegesystem. Die schweizerischen Justizorgane<br />

sind daher gezwungen, anfechtbare Rechtsakte von prinzipiell<br />

nichtanfechtbaren Realakten zu unterscheiden. 109<br />

bb)<br />

„Entscheid“ und Realakte<br />

Das neue Bundesgerichtsgesetz verleiht dem Begriff des „Entscheids“ für den<br />

vorliegenden Kontext eine spezifische Bedeutung: Anfechtungsobjekt der Einheitsbeschwerde<br />

sind laut Art. 82Bst. aBGG „Entscheide in Angelegenheiten<br />

des öffentlichen Rechts“. Demnach können vor Bundesgericht nicht nur (Ent-<br />

107<br />

108<br />

109<br />

Verwaltung, ZBJV 2004, 173 ff. (m.w.H., insbesondere auf die abweichenden Lehrmeinungen).<br />

Geändert hat sich im Übrigen auch nichts amRechtsverständnis, das dem gesamten<br />

Rechtspflegekonzept zugrunde liegt (zur Überwindung dieses Rechtsverständnisses hinten<br />

Kap. V/2).<br />

Dies wurde auch von einem grossen Teil der Lehre abgelehnt: vgl. insbes. R ICHLI, Regelungsdefizit<br />

(FN 1), 201; F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 2, 121 (siehe auch 192 f.,<br />

m.w.H. auf die Doktrin); MOOR, Vol II (FN 1), 38; T SCHANNEN ,Warnungen (FN 30),<br />

441. Dem<strong>gegen</strong>über stehen G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77), 250 und H ANGARTNER,<br />

<strong>Rechtsschutz</strong> (FN 73), 153, der Einführung eines Klagesystems eher positiv <strong>gegen</strong>über.<br />

Zum deutschen Rechtsmittelsystem eingehend F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 16 ff.,<br />

41 ff., 98 ff.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 343<br />

scheide über) Verfügungen, sondern auch (Entscheide über) Realakte angefochten<br />

werden. Voraussetzung ist allerdings –wie angedeutet –, dass ein<br />

Rechtsmittelentscheid über einen Realakt vorliegt, was wiederum dessen Anfechtbarkeit<br />

im vorinstanzlichen Verfahren bedingt. Obdies möglich ist, bestimmt<br />

sich nach dem einschlägigen (kantonalen oder eidgenössischen) Verfahrensrecht.<br />

110<br />

Sind Realakte von einer kantonalen Verfahrensordnung als Beschwerdeobjekte<br />

zugelassen und die entsprechenden Beschwerdeentscheide<br />

vor Bundesgericht anfechtbar, hat dies –von Bundesrechts<br />

wegen – unmittelbare Konsequenzen für den innerkantonalen<br />

Rechtsmittelzug. Überall dort nämlich, wo der Rechtssuchende mit<br />

Einheitsbeschwerde oder mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde ans<br />

Bundesgericht gelangen kann, schreiben Art. 86und Art. 114 BGG<br />

vor, dass Kantone als unmittelbare Vorinstanzen obere Gerichte einsetzen<br />

müssen. 111 –ImKanton Bern können kommunale Realakte<br />

mittels Gemeindebeschwerde gestützt auf Art. 93Abs. 1Bst. cGG 112<br />

in erster Instanz beim Regierungsstatthalter, in zweiter Instanz beim<br />

Regierungsrat angefochten werden. Der direkte Weiterzug des Regierungsratsentscheids<br />

an das Bundesgericht wird nach neuer Bundesrechtspflege<br />

(abgesehen von Sachausnahmen nach Art. 83ff. BGG)<br />

nur für solche Realakte möglich sein, die eine „vorwiegend politische<br />

Materie“ betreffen (Art. 86Abs. 3BGG). In allen andern Fällen wird<br />

der Kanton vorgängig gerichtlichen <strong>Rechtsschutz</strong> gewährleisten müssen.<br />

110<br />

111<br />

112<br />

Vgl. dazu auch T OPHINKE, Rechtsweggarantie (FN 66), 96; THOMAS G ÄCH-<br />

TER/D ANIELA T HURNHERR, Neues Bundesgerichtsgesetz: <strong>Rechtsschutz</strong> gewahrt, Plädoyer<br />

2006 ,36; ferner differenziert in diesem Tagungsband REGINA K IENER, Die Beschwerde<br />

in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, 219 ff.– Möglich ist natürlich auch,<br />

dass im Kanton ein Nichteintretensentscheid ergeht, z.B. mangels eines Anfechtungsobjekts.<br />

Dieser kann unter Umständen an das Bundesgericht gezogen werden, wobei es<br />

dann nur das Nichteintreten prüft und auch das nur unter einer auf Verfassungsverletzungen<br />

eingeengten Kognition (vgl. Art. 95BGG).<br />

Siehe dazu die Beiträge in diesem Tagungsband von R UTH H ERZOG, Auswirkungen auf<br />

die Staats- und Verwaltungsrechtspflege inden Kantonen, 43ff., KIENER, Tagungsband<br />

BTJP 2006 (FN 110) und U LRICH Z IMMERLI, Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde,<br />

283 ff.<br />

Gemeindegesetz vom 16. März1998 (GG-BE,BSG 170.11).


344 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

2. Der „neue“Weg: Verfahren auf Erlasseiner Verfügung<br />

Wie bereits erwähnt: Die neue Bundesrechtspflege ändert an der eisernen Regel<br />

„ohne Verfügung kein Verwaltungsrechtsschutz“ nichts. Die direkte Anfechtung<br />

von Realakten ist weiterhin ausgeschlossen. Eine nähere Betrachtung<br />

von Art. 25 a VwVG macht freilich deutlich, dass diese Norm einen eigentlichen<br />

Paradigmenwechsel im rechtsschutzmässigen Umgang mit Realakten<br />

einleitet:<br />

a) Vom Realakt als Verfügung …<br />

Die bisherige Praxis hat mittels verschiedener Varianten von Verfügungsfiktionen<br />

minimalen <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte gewährleistet. 113 Auf diese Weise<br />

wurden Realakte zu <strong>Rechtsschutz</strong>wecken in (Feststellungs-)Verfügungen<br />

„verkleidet“ und damit in Rechtsverhältnisse „umgedeutet“: Der Realakt als<br />

Verfügung.<br />

Die skizzierten Varianten lassen sich nur schwer mit der geltenden Dogmatik<br />

in Einklang bringen. Für die Variante „offene“ Verfügungsfiktion ist jeder<br />

Versuch aussichtslos; für die Variante „verdeckte“ Verfügungsfiktion (Feststellungsverfügung)<br />

ist es zumindest schwierig. An dieser zweiten Variante hat<br />

nun der Gesetzgeber mit Art. 25 a VwVG aber angeknüpft und sie von dogmatischen<br />

Unebenheiten befreit.<br />

b) …zur VerfügungüberRealakte<br />

Indem Art. 25 a VwVG ein neues, spezifisches Verfahren auf Erlass einer Verfügung<br />

schafft, fügt er sich „harmonisch“ in das herkömmliche verfügungsfixierte<br />

Rechtspflegesystem ein. Tatsache bleibt Tatsache –Realakt bleibt Realakt.<br />

Eine mysteriöse „Verkleidung“ in eine Verfügung ist nicht mehr nötig.<br />

Der <strong>Rechtsschutz</strong> wird anders sichergestellt: Art. 25 a VwVG liefert neu die<br />

Grundlage für ein eigenständiges, nachgeschaltetes Verwaltungsverfahren.<br />

Dieses mündet in eine „Verfügung über Realakte“ und damit in ein „Verwaltungsrechtsverhältnis<br />

über Realakte“. Dabei bildet nicht –wie nach herkömmlicher<br />

Praxis –der fragliche Realakt selbst Gegenstand der Verfügung, sondern<br />

vielmehr der durch Art. 25 a VwVG vermittelte individuelle Rechtsanspruch,<br />

vom Staat in Bezug auf den in Frage stehenden Realakt eine konkrete Positionierung<br />

zu erhalten. Diese kann entweder ineiner „Stellungnahme“ (Feststellung<br />

der [Un-]Rechtmässigkeit) oder in einer „Korrekturhandlung“ (Unterlas-<br />

113<br />

Vgl. vorn Kap. III.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 345<br />

sen, Folgenbeseitigung) bestehen und ergeht in jedem Fall inForm der Verfügung.<br />

Die Verfügung ist rechtsgestaltender (positiver) Natur, wo dem Gesuchsteller<br />

ein den Realakt betreffender Unterlassungs- oder Folgenbeseitigungsanspruch<br />

zugestanden wird. Sie ist feststellender Natur,<br />

wo sie sich zum Feststellungsinteresse in positiver Art äussert. Wird<br />

das Begehren auf Erlass einer positiven oder feststellenden Verfügung<br />

jedoch abgewiesen oder auf dieses gar nicht eingetreten, liegt<br />

eine negative Verfügung vor. 114<br />

3. Die Eintretensvoraussetzungen<br />

Eine Behörde wird das Gesuch um Erlass einer Verfügung über einen Realakt<br />

nur dann andie Hand nehmen, wenn die in Art. 25 a VwVG genannten Voraussetzungen<br />

kumulativ erfüllt sind. Im Einzelnen lassen sich fünf Eintretensvoraussetzungen<br />

auseinanderhalten: die Zuständigkeit der Behörde (Bst. a),<br />

das schutzwürdige Interesse (Bst. b), die öffentlich-rechtliche Handlungsgrundlage<br />

(Bst. c), das Berühren von Rechten oder Pflichten (Bst. d)sowie die<br />

Zulässigkeitdervorgebrachten Begehren (Bst. e).<br />

a) Zuständigkeit derBehörde<br />

Das Gesuch umErlass einer Verfügung nach Art.25 a VwVG istan die für den<br />

konkreten Realakt örtlich, sachlich und funktionell zuständige Verwaltungsbehörde<br />

115 zu richten. Dabei fällt die Zuständigkeit –wie beim Verfügungshandeln<br />

– prinzipiell mit der konkreten Verwaltungskompetenz zusammen. 116<br />

114<br />

115<br />

116<br />

Allgemein zu diesen Verfügungsarten vgl. T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht<br />

(FN 16), §28Rz. 58ff.<br />

Als Behörden kommen (wohl) nicht nur Bundesbehörden, sondern auch die imRahmen<br />

des Vollzugs von Bundesrecht handelnden kantonalen oder kommunalen Verwaltungsbehörden<br />

in Frage. So T OPHINKE, Rechtsweggarantie (FN 66), 95 f. m.w.H.: Sie vertritt<br />

die –zum Teil in der Lehre und Rechtsprechung vertretene –Auffassung, wonach Art.1<br />

Abs. 3VwVG nicht abschliessend sei und Art. 25 a VwVG folglich auch für das letztinstanzliche<br />

kantonale Verfahren Anwendung finden müsse. –Allgemein zum Geltungsbereich<br />

von Art.1Abs. 3VwVG siehe M OOR, Vol II (FN 1), 221 f.<br />

Für das Verfügungshandeln vgl. G YGI, Bundesverwaltungsrechtspflege (FN 48), 131;<br />

zur Zuständigkeit der Verwaltungseinheiten allgemein T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht<br />

(FN 16), §6Rz.8ff.


346 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

Nicht immer decken sich zuständige Behörde und handelnder Akteur. VerschiedeneKonstellationen<br />

lassen sich unterscheiden:<br />

<br />

<br />

<br />

Beleihung 117 :Lagert eine staatliche Behörde die Aufgabenerfüllung an ein<br />

privates Rechtssubjekt aus, bleibt die Zuständigkeit für die Behandlung<br />

eines Begehrens nach Art. 25 a VwVG grundsätzlich bei der verantwortlichen<br />

staatlichen Behörde. 118 Anders zu beurteilen sind (wohl) jene Fälle,<br />

in denen die Aufgabenübertragung auch die Befugnis zu hoheitlichem<br />

Handeln mitumfasst. Hier schlüpft der beliehene Private integral indie<br />

Rolle des Staats. Die im Rahmen der Aufgabenerfüllung ergehenden Akte<br />

sind folglich dem Beliehenen zuzurechnen, was auch seine Zuständigkeit<br />

im Sinne von Art. 25 a VwVG nach sich zieht. 119<br />

Vertrag 120 :Erfolgt eine Aufgabenübertragung im Rahmen eines koordinationsrechtlichen<br />

Vertrages an ein anderes Gemeinwesen, geht damit auch<br />

die Zuständigkeit im Sinne von Art. 25 a VwVG an die verantwortliche<br />

Behörde des mandatierten Gemeinwesens über. 121 Dem<strong>gegen</strong>über bleibt<br />

im subordinationsrechtlichen Vertragsverhältnis die Verantwortung und<br />

damit die Zuständigkeitbeim mandatierenden Gemeinwesen.<br />

Subalterner Akteur: ImZusammenhang mit Realakten werden meist subalterne<br />

Funktionäre (Polizeibeamtin, Mitarbeiter des Tiefbauamts, Gefängniswärter,<br />

Lehrerin etc.) aktiv, die –handelte essich um eine Verfügungsmaterie<br />

–meist nicht selbst verfügen könnten. Behörde imSinne<br />

von Art. 25 a VwVG meint somit die Verwaltungseinheit, der ein „real<br />

handelnder“ Mitarbeiter administrativ zugeordnet (bzw. eingegliedert) ist.<br />

Dort ist folglich das Gesuch einzureichen.<br />

117<br />

118<br />

119<br />

120<br />

121<br />

Zur Beleihung allgemein TSCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §10<br />

Rz. 12ff.; H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht (FN 18), Rz. 1512 ff.; F RITZ<br />

G YGI,Verwaltungsrecht, Bern 1986,56ff.<br />

Zum Beispiel wenn eine private Fachperson im Auftrag der eidgenössischen Bankenkommission<br />

gemäss Art.23 quater Abs. 1des Bundesgesetzes vom 8. November 1934 über<br />

die Banken und Sparkassen (Bankengesetz, BankG, SR 952.0) Untersuchungshandlungen<br />

vornimmt.<br />

Vgl. indiesem Zusammenhang auch etwa BGE 126 I250 E. 2d S.255: „Es muss sich<br />

aber in jedem Falle um Akte oder Anordnungen handeln, welche dem Staat oder einem<br />

Träger öffentlicher Aufgaben zuzurechnen sind […]“.<br />

Allgemein zu den verschiedenen Vertragstypen vgl. statt vieler HÄFELIN/M ÜLLER/U HL-<br />

MANN, Verwaltungsrecht (FN 18), Rz. 1063 ff.; T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht<br />

(FN 16), §33 Rz. 15ff.<br />

Vgl. für die kantonale Ebene die vertragliche Übertragung gemeindepolizeilicher Aufgaben<br />

andie Kantonspolizei gemäss Art. 12Abs.2des Polizeigesetzes vom 8. Juni 1997<br />

(PolG-BE, BSG 551.1).


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 347<br />

<br />

Unzuständigkeit: Hat eine nicht zuständige Behörde gehandelt, ist das Gesuch<br />

–sofern für den Betroffenen erkennbar 122 –jener Behörde einzureichen,<br />

die fürden fraglichen Aktrichtigerweisezuständig gewesen wäre.<br />

Vergleichbar mit einem Einspracheverfahren (mit Rechtsmittelfunktion) erlaubt<br />

es Art. 25 a VwVG einer Verwaltungsbehörde, sich nachträglich in<br />

rechtsförmlicher und damit anfechtbarer Weise zu ihren bzw. ihr zurechenbaren<br />

Handlungen zu äussern. 123 Dabei stehen der Behörde alle prozessualen<br />

Möglichkeiten eines Verfahrensabschlusses offen: Nichteintreten, Abweisung,<br />

teilweise sowie vollständige Gutheissung desGesuchs. 124<br />

b) Schutzwürdiges Interesse<br />

Eine Verfügung über einen Realakt kann nur anbegehren, wer ein „schutzwürdiges<br />

Interesse“ darzutun vermag. 125 Damit gilt die imöffentlichen Verfahrensrecht<br />

etablierte Einstiegshürde auch für dieses neue „Hilfsverfahren“. 126<br />

Der Begriff des „schutzwürdigen Interesses“ nach Art. 25 a VwVG ist also<br />

identisch mit dem in Art. 25 VwVG (Feststellungsverfügung) und Art. 48<br />

VwVG (Beschwerdelegitimation) verwendeten gleichlautenden Terminus. Dafür<br />

spricht neben der rein grammatikalischen und systematischen Betrachtung<br />

auch die gleichgerichtete Intention dieser drei Verfahrensvorschriften, nämlich<br />

Popular(beschwerde)verfahren zu vermeiden. Auch in den „dünnen“ Materialien<br />

zu Art. 25 a VwVG finden sich keinerlei Hinweise, die auf eine andere<br />

Begriffsverwendung hindeuten würden.<br />

Die Schutzwürdigkeit des konkreten Interesses lässt sich aufgrund formaler<br />

und materialer Kriterien bestimmen:<br />

122<br />

123<br />

124<br />

125<br />

126<br />

Falls das Gesuch bei der falschen Behörde eingereicht wird, ist diese zur Weiterleitung<br />

verpflichtet. Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz findet namentlich in Art. 8VwVG eine<br />

positivrechtliche Ausprägung.<br />

Vgl. in diesem Sinne auch F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 181, 194; ferner ganz allgemein<br />

zu denVorzügen der Einsprache R ICHLI, Regelungsdefizit (FN1), 200.<br />

Vgl. dazu hintenKap. IV/5.<br />

Nach T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 444, handelt es sich dabei um eine beachtenswert<br />

nahe Beziehung zum Gegenstand des Feststellungsbegehrens, sodass auch eine entsprechende<br />

Beschwerdelegitimation gegeben wäre. Vgl. differenziert zur Problematik<br />

M OOR,Vol II (FN 1), 41 f.<br />

Ganz allgemein besteht ein Anspruch auf Erlass einer Gestaltungs-, Leistungs- und Feststellungsverfügung<br />

nur, wenn ein schutzwürdiges Interesse geltend gemacht werden<br />

kann (statt vieler K ÖLZ/H ÄNER,Verwaltungsverfahren [FN 91],Rz.213).


348 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

<br />

<br />

Rein formal betrachtet liegt ein schutzwürdiges Interesse vor, wenn es<br />

entweder rechtlicher oder tatsächlicher Natur ist. Darüber hinaus muss das<br />

Interesse –bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses der anbegehrten Verfügung<br />

–aktuellund praktisch sein.<br />

In materialer Hinsicht bestimmt sich die Schutzwürdigkeit zum einen<br />

nach dem spezifischen (tatsächlichen oder rechtlichen) Bezug, den die gesuchstellende<br />

Person zum fraglichen Realakt hat. 127 Zum anderen hängt<br />

die Schutzwürdigkeit vom praktischen (tatsächlichen oder rechtlichen)<br />

Nutzen ab, welcher dieanbegehrteLeistungs- oder Feststellungsverfügung<br />

verspricht. –Da generell nur jene Realakte Gegenstand eines Verfahrens<br />

nach Art. 25 a VwVG sein können, die (subjektive) Rechte und Pflichten<br />

des Gesuchstellers berühren, 128 wird das Interesse kaum jeisoliert tatsächlicher<br />

Natur sein. Vielmehr wird es sich regelmässig aus einer Rechtsnorm<br />

ableiten,derenVerletzungoder zumindestBerührung in Frage steht. 129<br />

Ruft man sich den primären Zweck des Verfahrens nach Art. 25 a<br />

VwVG in Erinnerung, nämlich durch die Schaffung eines Anfechtungsobjekts<br />

<strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte überhaupt erst zuermöglichen,<br />

dürfen die Anforderungen an die Schutzwürdigkeit des Interesses<br />

generell nicht hoch angesetzt werden. 130<br />

c) Grundlage imöffentlichen Rechtdes Bundes<br />

Der inFrage stehende Realakt muss sich auf öffentliches Recht des Bundes<br />

stützen oder hätte sich jedenfalls auf solches stützen müssen (Soll-Grundlage).<br />

Damit wird zuallererst –und wohl indiesem Kontext eher unbewusst –etwas<br />

Grundsätzliches in Erinnerung gerufen: Auch reales Handeln des Staats muss<br />

127<br />

128<br />

129<br />

130<br />

So T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 445: Ihm zufolge wird die Behörde dann auf das<br />

Feststellungsbegehren eintreten, wenn der Gesuchsteller eine „besondere Nähe“ zum<br />

Realakt nachweisen kann.<br />

Dazu hinten IV/3/d.<br />

Diese Rechtsnorm ist es denn auch, die im Verbund mit Art. 25 a VwVG einen Anspruch<br />

auf Erlass einer Verfügung vermittelt. Vgl. in ähnlichem Sinne auch M OOR, Vol II<br />

(FN 1),41f.<br />

Dies legen bereits die diversen <strong>Rechtsschutz</strong>garantien nahe (Art. 29 a BV, Art.13<br />

EMRK, Art. 6EMRK). Vgl. zum Recht auf <strong>Rechtsschutz</strong> als schutzwürdiges Interesse<br />

auch vorn FN 82.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 349<br />

sich –wie jedes rechtsstaatliche Handeln (Art. 5Abs. 1BV) –auf eine rechtssatzmässige<br />

Befugnisnorm stützen. 131<br />

Darin liegt der Unterschied zu jener frühen Epoche des Rechtsstaats,<br />

in der das staatliche Handeln noch nicht in derart hohem Masse vom<br />

Legalitätsprinzip durchdrungen und reales Handeln folglich im rechtlich<br />

weithin ungeregelten Bereich möglich war. 132<br />

Hauptzweck dieser Eintretensvoraussetzung ist es nun aber, die dem Verfahren<br />

nach Art.25 a VwVG unterliegendenAktenach zwei Seiten hin abzugrenzen:<br />

<br />

Zum einen <strong>gegen</strong>über Akten, die ihre Grundlage nicht im Verwaltungsrecht<br />

,sondern im Straf-, Zivil- oder Schuld- und Konkursbetreibungsrecht<br />

haben. 133 Der <strong>Rechtsschutz</strong> ist hier auf zivil- oder strafprozessualem Weg<br />

einzufordern. 134 Probleme bieten dürfte vor allem die Abgrenzung zum zivilrechtlichen<br />

realen Handeln. Die etablierten Abgrenzungsmethoden 135<br />

vermögen hier häufig nur gerade „erste Hilfe“ zu leisten. Ineiner Zeit, in<br />

derdie „Fluchtins Privatrecht“ leider meist gekoppelt istmit einer „Flucht<br />

aus der Verwaltungsrechtsdogmatik“, taugen die herkömmlichen Theorien<br />

nur sehr bedingt. 136 Die hier vorgeschlagene Zuordnung der nachfolgend<br />

aufgeführten Handlungen zu den <strong>Verwaltungsrealakte</strong>n dürfte daher kaum<br />

unwidersprochen bleiben:<br />

<br />

Die Weigerung der Post, imRahmen ihrer Wettbewerbsdienste eine nicht<br />

abonnierteInformationsschrifteines privaten Vereins zu versenden. 137<br />

131<br />

132<br />

133<br />

134<br />

135<br />

136<br />

137<br />

So auch B ERNHARD R ÜTSCHE, Rechtsfolgen von Grundrechtsverletzungen, Diss. Bern<br />

2002, 378. Vgl. auch vorn Kap.II/4.<br />

Vgl. dazu vorn Kap. II/2/a .<br />

Z.B. der Abschluss eines privatrechtlichen Vertrags im Rahmen der Bedarfsverwaltung<br />

(vgl. vorn FN 34) oder die strafprozessuale Beschlagnahmung.<br />

Zu beachten ist allerdings, dass öffentlich-rechtliche Entscheide, die einen unmittelbaren<br />

zivilrechtlichen Einschlag haben mit Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 Abs. 2Bst. b<br />

BGG) und öffentlich-rechtliche Akte des Straf- und Massnahmenvollzugs mit Beschwerde<br />

in Strafsachen (Art.78 Abs. 2Bst. bBGG) anzufechten sind (siehe auch Botschaft<br />

Bundesrechtspflege [FN 3], 4307 f., 4313). Vgl. hierzu namentlich die Beiträge in<br />

diesem Tagungsband von H ANS P ETER W ALTER, Neue Zivilrechtspflege, 113 ff. und<br />

F ELIX B OMMER,Grundlinien der Strafrechtspflege nach Bundesgerichtsgesetz, 153ff.<br />

Zu den einzelnen Theorien statt vieler H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht<br />

(FN 18), Rz. 250ff.; TSCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §18Rz. 4ff.;<br />

W ALTER R. S CHLUEP, Einladung zur Rechtstheorie, Bern 2006, 165 ff.<br />

Siehe zur Abgrenzungsproblematik auch P LATTNER -STEINMANN, Verwaltungshandeln<br />

(FN 1),54ff., 102 ff.; allgemein dazu M. M ÜLLER,Verwaltungsrecht(FN 5), 87f.<br />

Vgl. aber BGE 129 III 32 E. 6S. 42, wo das Bundesgericht festhält, die Post handle im<br />

Bereich der Wettbewerbsdienste nach den Regeln des Privatrechts.


350 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Aktivitäten der „AIDS-Hilfe-Schweiz“ imRahmen der Präventionskampagne<br />

„Don Juan“ (z.B. Verteilen von Flyern, Besuch in Bars und<br />

Clubs). 138<br />

Die Patrouille- und Kontrolltätigkeit zweier Mitarbeiter der Securitrans<br />

AG im BahnhofBern. 139<br />

Das (unterbliebene) Einsammeln von Kehrichtsäcken durch eine öffentliche<br />

Abfallverwertungs-AG. 140<br />

Zum andern <strong>gegen</strong>über Akten, die sich auf kantonales und nicht auf eidgenössisches<br />

Verwaltungsrecht abstützen. Hier kann auf die bewährten<br />

Abgrenzungsregeln zurückgegriffen werden, welche Lehre und Praxis für<br />

die mit der neuen Bundesrechtspflege überholte Abgrenzung zwischen<br />

Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtlicher Beschwerde entwickelthaben.<br />

141<br />

d) Berühren von Rechten oder Pflichten<br />

Realakte wollen und können gemäss vorherrschendem Begriffsverständnis<br />

keine (Aussen-)Rechtsverhältnisse begründen, ändern oder aufheben. Lehre<br />

und Praxis haben freilich längst erkannt, dass auch „reales Handeln“ die private<br />

(Aussen-)Rechtssphäre sehr wohl „berühren“ oder gar verletzen kann. 142 Indem<br />

Art. 25 a VwVG nungenaujene rechtsrelevanten Tathandlungen anvisiert,<br />

trägt er dem <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis (besser) Rechnung. Entscheidend ist nun<br />

allerdings, wann bzw. abwann man von einem „Berührtsein in Rechten und<br />

138<br />

139<br />

140<br />

141<br />

142<br />

Die Aids-Hilfe Schweiz (AHS) ist ein privatrechtlicher Verein. Er realisiert –zum Teil<br />

im Auftrag des Bundesamts für Gesundheitswesen –bestimmte Präventionsprojekte, so<br />

z.B.auch dasProjekt„Don Juan“.<br />

Die Securitrans Public Transport Security AG ist ein Gemeinschaftsunternehmen der<br />

SBB AG (51%) und der Securitas AG (49%). Die Securitrans AG bietet ihre Dienstleistungen<br />

in den Bereichen Bahnpolizei, Objektschutz und Baustellensicherheit allen interessierten<br />

öffentlichen Transportunternehmen an.<br />

Vgl. das Beispiel eines privaten Unternehmers, der im Auftrag einer Gemeinde Kehrrichtsäcke<br />

einsammelt (oder eben nicht), bei G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77), 242.<br />

Vgl. statt vieler W ALTER K ÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde,<br />

2.Auflage, Bern 1994, 288 ff.<br />

Vgl. aus der Lehre etwa FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 9f.; B RÜHWILER-FRÉSEY,<br />

Realakt (FN 11), 278 ff.; SCHEFER, Beeinträchtigung (FN 64), 31ff. (in Bezug auf<br />

Grundrechtsbeeinträchtigungen); T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 440, weist ferner<br />

sehr zu Recht auf jene Kategorie von Realakten hin, „die wegen ihres Regelungsanspruchs<br />

selber den Grund zu Rechtsverhältnissen legen können“; siehe ferner aus der<br />

höchstrichterlichen Rechtsprechung: BGE 130 I369E.6.1 S. 379f.m.w.H.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 351<br />

Pflichten“ imSinne des Gesetzes sprechen darf. Drei Fragen stellen sich in<br />

diesem Zusammenhang: Welcher Natur sind die berührten Rechte und Pflichten?<br />

(Bst. aa) Was genau ist mit „ berühren “gemeint? (Bst. bb) Und schliesslich:<br />

Wie verhält sich diese Eintretensvoraussetzung zu jener des „ schutzwürdigenInteresses<br />

“? (Bst. cc)<br />

aa)<br />

SubjektiveRechtspositionen?<br />

Zunächst fällt auf, dass der Gesetzgeber inseiner Formulierung –ent<strong>gegen</strong> der<br />

Doktrin, auf die er sich ausdrücklich bezieht 143 –offen lässt, obder Realakt<br />

objektiveodersubjektiveRechteberühren muss.<br />

Das Begriffspaar objektive-subjektive öffentliche Rechte bedarf hier<br />

der kurzen Erläuterung: Unter objektivem Recht wird die Gesamtheit<br />

der in einem Gemeinwesen geltenden Rechtsvorschriften verstanden,<br />

egal welcher Normstufe, egal welchenInhalts. Die subjektivenRechte<br />

machen eine Teilmenge des objektiven Rechts aus. Über Begriff und<br />

Tragweite der subjektiven Rechte besteht bis heute kaum Einigkeit.<br />

144 Immerhin hat sich hierzu ein minimaler Grundkonsens herausgebildet:<br />

Danach gelten als subjektive öffentliche Rechte all jene<br />

(objektiven, dem öffentlichen Recht zugehörigen) Rechtsvorschriften,<br />

die einen „subjektiven –also einer bestimmten Person zurechenbaren<br />

–Anspruch“ 145 verleihen. – Dieses Begriffsverständnis wird<br />

den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt.<br />

Aus den Materialien lässt sich diese Frage nicht mit letzter Gewissheit beantworten.<br />

Immerhin finden sich Hinweise, wonach man von subjektiven Rechten<br />

ausgegangen ist:<br />

Als Indiz hierfür darf zunächst gewertet werden, dass die erwähnte<br />

sprachliche Abweichung des Gesetzestextes von den angeführten Literaturstellen<br />

inkeiner Weise kommentiert wird, mithin keine tiefere<br />

Bewandtnis haben dürfte. Sodann deutet das Votum des wissenschaftlichen<br />

Mitarbeiters des Bundesamts für Justiz anlässlich der<br />

Sitzung der Rechtskommission des Ständerats in diese Richtung:<br />

Zum einen spricht er von Realakten, die geeignet sind, „Rechte und<br />

143<br />

144<br />

145<br />

Vgl. insbes. T SCHANNEN ,Warnungen (FN 30), 444: „Rechte und Pflichten von Privaten“<br />

(Hervorhebung durch den Autor).<br />

Vgl. THOMAS G ÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, Zürich 2005, 286ff.<br />

Siehe zumBegriffspaar auch S CHLUEP, Einladung (FN135), 172 ff.<br />

G ÄCHTER,Rechtsmissbrauch (FN 144), 295.


352 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

Pflichten im Einzelfall zu berühren“; zum andern erwähnt er als Beispiel<br />

die Behauptung eines Gesuchstellers „durch die neue Bezeichnung<br />

eines Bundesamtes in seiner Persönlichkeitverletzt zusein“. 146<br />

Dass subjektive Rechte gemeint sein dürften, ergibt sich schliesslich aus dem<br />

Zweck von Art.25 a VwVG,nämlich den Individualrechtsschutz<strong>gegen</strong> Realakte<br />

zu ermöglichen bzw.zu optimieren.<br />

Nach dem Gesagten wird auf ein Begehren nach Art. 25 a VwVG nur eingetreten,<br />

wenn der konkrete Akt geeignet ist, den Gesuchsteller –zumindest indirekt–in„eigenen“<br />

Rechtspositionen zu „berühren“. 147<br />

Eine Person wird sich beispielsweise nicht über den Weg von<br />

Art. 25 a VwVG <strong>gegen</strong> eine staatliche Informationskampagne zur<br />

Wehr setzen können, wenn sie zwar das Fehlen einer hinreichenden<br />

gesetzlichen Grundlage, nicht aber ein Berührtsein in eigenen<br />

(Grund-)Rechten nachzuweisen vermag.<br />

bb)<br />

Intensitätdes Berührens<br />

Ein Blick ins Wörterbuch bestärkt zunächst das alltagssprachliche Vorverständnis,<br />

wonach mit „ berühren“ 148 wenig Invasives gemeint ist. 149 Darin liegt<br />

wohlbereits der Hauptunterschied zum Gestalten der individuellenRechtslage,<br />

146<br />

147<br />

148<br />

149<br />

Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23.Mai 2002, 6.<br />

In diesem Sinne auch T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 444: „Die Behörde nimmt ein<br />

Feststellungsbegehren u.a. dann nicht an die Hand, wenn esdem Gesuchsteller um die<br />

Beantwortung abstrakter Fragen des objektiven Rechts geht oder wenn nur die tatsächlichen<br />

Verhältnisse geklärt werden sollen“. –Auch die Vorschriften (Art. 25 des Bundesgesetzes<br />

vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG, SR235.1), Art.5des Bundesgesetzes<br />

vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz,<br />

GIG, SR151.1) und Art.28 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom<br />

10. Dezember 1907 (ZGB, SR 210), die dem Gesetzgeber als Beispiele gedient haben,<br />

gehen jeweils von einem Akt aus, der die gesuchstellende Person in ihren subjektiven<br />

(Persönlichkeits-)Rechtenberührt.<br />

Der Duden, Das Synonymwörterbuch, Mannheim 2004, 194, nennt als Synonyme: anfassen,<br />

anfühlen, anrühren, anstreifen, antasten, antippen, antupfen, befühlen, begreifen,<br />

betasten, fassen, streifen, tippen.<br />

Das Bundesgericht verwendet den Begriff des Berührens oder Tangierens regelmässig,<br />

wenn es zum Ausdruck bringen will, dass ein Handeln in den Schutzbereich eines<br />

Grundrechts fällt oder fallen könnte (vgl. statt vieler: BGE 127 I145 E. 4d/cc S. 157). In<br />

der Verfahrensgesetzgebung findet man den Ausdruck „berührt“ insbesondere im Zusammenhang<br />

mit der Umschreibung der Beschwerdelegitimation (z.B. Art. 48Bst.a<br />

VwVG;Art.89Abs. 1Bst. bBGG).


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 353<br />

wie es Rechtsakte, nicht aber Realakte bezwecken. 150 Weiterführende Hinweise<br />

zum beabsichtigten Begriffsverständnis sind –mangels Materialien –einzig<br />

aus der Literatur zu gewinnen. Doch auch dort sind sie nur spärlich vorhanden<br />

und durchwegs selbst interpretationsbedürftig. Klar scheint, dass mit „berühren“<br />

vor allem die mit einem Realakt einhergehenden rechtlichen Reflexwirkungen<br />

erfasst werden sollen. Darunter sind vom Staat nicht beabsichtigte, als<br />

unvermeidbare Effekte tatsächlicher Handlungen aber in Kauf genommene<br />

Rechtswirkungen zu verstehen. 151 Solche Rechtsreflexe können sowohl Grundrechtspositionen<br />

–daran mag der Gesetzgeber besonders gedacht haben 152 –<br />

als auch „einfache“, durch Gesetz und Verordnung regulierte und statuierte<br />

Rechtspositionenbetreffen: 153<br />

<br />

<br />

<br />

Den Tagesablauf betreffende Anordnungen in einer Empfangsstelle für<br />

Asylbewerbende können die Freiheitsrechte der Insassen berühren. 154<br />

Eine Medienmitteilung von Swissmedic, inwelcher das <strong>Institut</strong> die diversen<br />

Hersteller desselben Präparats ermuntert, zur Ankurbelung des Preiswettbewerbs<br />

entsprechende Zulassungsgesuche einzureichen, berührt u.U.<br />

die Wirtschaftsfreiheit des ehemaligen Patentinhabers. 155<br />

Die Umbenennung einer Strasse kann Reflexe inden Persönlichkeitsrechten<br />

eines Anwohners bewirken. 156<br />

150<br />

151<br />

152<br />

153<br />

154<br />

155<br />

156<br />

Vgl. TH .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1), 86: Erunterscheidet zwischen Rechtsakten<br />

als sog. Rechtsgeneratoren („Rechtsform als Rechtsgenerator“) und anderen Handlungsformen,<br />

die „Rechte berühren, beeinflussen, allenfalls indirekt verändern oder verletzen,<br />

aber nie direkt, sozusagen von innen heraus, erzeugen, verändern oder verschwinden<br />

lassen“.<br />

Vgl. TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 390: Zum Teil wird in diesem Zusammenhang<br />

gar von „rechtsverhältnisbestimmenden Realakten“ gesprochen (444); zum Begriff der<br />

Reflexwirkungen siehe T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1), 172 f.; vgl. ferner<br />

zu den Reflexrechten und ihrem Bezug zur Theorie der subjektiven öffentlichen Rechte<br />

auch F LEINER, <strong>Institut</strong>ionen (FN 7), 145 ff.<br />

Der Schritt zur Anerkennung des Grundrechtsverhältnisses als Verwaltungsrechtsverhältnis<br />

liegt hier nahe. Vgl. M ARKUS M ÜLLER, <strong>Rechtsschutz</strong> im Bereich des informalen<br />

Staatshandelns, ZBl 1995, 550f.; T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 403 ff.<br />

Vgl. in diesemSinne M OOR,Vol II (FN 1), 30 ff.<br />

Vgl. hierzu BGE 128 II156E. 3S. 162 ff.<br />

Zu einer ähnlichen Fallkonstellation vgl. VPB 70 (2006)Nr. 21.<br />

Vgl. aus der Judikatur den Entscheid des zürcherischen Verwaltungsgerichts vom<br />

11. März 1999, ZBl 2000, 80ff.; Entscheid des Zuger Regierungsrats vom 13. August<br />

1991, ZBl 1992, 234 ff. (insbes. die Bemerkungen von G EORG M ÜLLER, 238). Aus der<br />

Doktrin siehe F LÜCKIGER, Régulation (FN 1), 188; G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77),<br />

237 f.; TOBIAS J AAG, Zur Rechtsnatur der Strassenbezeichnung, recht 1993 ,50ff. –Vgl.


354 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

<br />

<br />

Die körperliche Untersuchung durch Zollbeamte, die bei Vorliegen eines<br />

Verdachts, verbotene oder zollpflichtige Waren auf sich zu tragen, 157<br />

durchgeführt wird, tangiert die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen.<br />

Die Tabakpräventionskampagne des BAG kann die wirtschaftliche Entfaltung<br />

eines Tabakunternehmens beeinträchtigen und insoweit Reflexe im<br />

Schutzbereich der Wirtschaftsfreiheitzeitigen.<br />

Von einem relevanten Rechtsreflex kann nun allerdings erst ab einer minimalen<br />

Intensität gesprochen werden. 158 Hier setzt wiederum der Begriff des „Berührens“<br />

den Massstab. Dieser ist –zumal sich die Frage im Rahmen des Eintretens<br />

stellt –nicht streng. Esmuss genügen, wenn der Gesuchsteller eine<br />

„potentielle“ Rechtsverletzung plausibel machen kann. Dies bedingt, dass der<br />

fragliche Aktüberhaupt(subjektive)Rechteund Pflichten berühren kann .<br />

Mit Bezug auf einen Grundrechts-Reflex muss daher nicht bereits<br />

zweifelsfrei ein Eingriff inden Schutzbereich feststehen. Es genügt,<br />

wenn der Gesuchsteller darzulegen vermag, dass ein vom Realakt<br />

ausgehender Reflex grundrechtsrelevant, mithin den Grad eines Eingriffs<br />

annehmen könnte. Ob schliesslich (Grund-)Rechte tatsächlich<br />

betroffen oder gar verletzt sind, wird erst im Rahmen der materiellen<br />

Prüfung zu klären sein. 159<br />

Die Hürde des „Berührens in Rechten oder Pflichten“ ist also bewusst nicht<br />

hoch angesetzt. Die erwähnten Beispiele dürften sie jedenfalls alle problemlos<br />

meistern. Die Praxis wird allerdings gut daran tun, diese Eintretensvoraussetzung<br />

nicht allzu grosszügig zu handhaben. Die inden Materialien erwähnte<br />

„Umbenennung eines Bundesamtes“ 160 gibt insoweit ein schlechtes Beispiel<br />

ab. Selbst einfühlsame und phantasievolle „Geister“ vermögen darin keine relevante<br />

Rechts berührung zu erblicken. Setzte man die Schwelle so niedrig an,<br />

könnte dies –so der Albtraum vieler Justizmitarbeitenden –leicht eine Flut<br />

von Beschwerden zurFolge haben.<br />

157<br />

158<br />

159<br />

160<br />

auch das in den Materialien zu Art. 25 a VwVG angeführte Beispiel der Umbenennung<br />

einer Einheit der Bundesverwaltung (vorn Kap.IV/3/d/aa).<br />

Vgl. Art. 36 Abs. 5des Zollgesetzes vom 1. Oktober 1925 (ZG,SR631.0).<br />

Es gibt staatliches Handeln, das vernachlässigbare Reflexwirkungen auf die Rechte zeitigt.<br />

Wodie Grenze imEinzelnen zu ziehen ist, dürfte auch unter Art.25 a VwVG höchst<br />

umstritten bleiben.<br />

In diesem Sinne auch T SCHANNEN ,Warnungen (FN 30), 445. Vgl. auch die Formulierung<br />

in BGE 126 I250 E. 2d S.254: „wieweit das betreffende Verhalten geeignet ist,<br />

Grundrechtezu verletzen“.<br />

Vgl. vornFN146.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 355<br />

cc)<br />

Verhältniszumschutzwürdigen Interesse (Hinweis)<br />

Grundsätzlich sind die beiden Eintretensvoraussetzungen auseinander zu halten:<br />

Das schutzwürdige Interesse ist eine personenbezogene, das Berühren in<br />

Rechten oder Pflichten eine aktbezogene Eintretensvoraussetzung. 161 Dennoch<br />

bedingen sie sich wechselseitig: Indem als Verfahrens<strong>gegen</strong>stand nur Akte in<br />

Frage kommen, die subjektive Rechte und Pflichten des Gesuchstellers berühren,<br />

dürfte die Schutzwürdigkeit meist rechtlich (mit)begründet sein. Konkret:<br />

Ein schutzwürdiges Interesse am Erlass einer Gestaltungs- oder Feststellungsverfügung<br />

wird stets ein beträchtliches rechtliches „Berührungspotential“ aufweisen.<br />

e) ZulässigeBegehren<br />

Die zuständige Behörde muss das Verfahren auf Erlass einer Verfügung nur<br />

einleiten, wenn der Gesuchsteller (zumindest) eines der drei inArt. 25 a Abs. 1<br />

Bst. a–c VwVG vorgesehenen Begehren stellt. 162 Obwohl der Gesetzestext nur<br />

von „Handlungen“ spricht, ist damit keine Beschränkung auf positive Realakte<br />

(actes matériels positifs) beabsichtigt; negative Realakte –d.h. Akte des Unterlassens<br />

(actes matériels négatifs) –sind selbstredend mitgemeint. Dies findet<br />

sich sowohl inden Materialien 163 als auch in der dort zitierten Literatur bestätigt,<br />

wo das Nichthandeln (inactivité) in selbstverständlicher Art als Realakt<br />

verstanden wird. 164 Schliesslich ergibt sich diese Sichtweise auch aus dem<br />

Normzweck, der darauf zielt, <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> jegliches reales Staatshandeln<br />

zu ermöglichen, das <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnisse auslöst. Dass dies nicht nur<br />

durch Tun, sondern auch durch Unterlassen geschehen kann,istoffensichtlich.<br />

In den Sommermonaten kann sich beispielsweise ein schleimhautgereizter<br />

Bürger durchaus inrechtsschutzwürdiger Weise daran stören,<br />

dass der Staat Ozon-Warnungen und Empfehlungen zu umweltverträglichem<br />

Verhalten unterlässt.<br />

161<br />

162<br />

163<br />

164<br />

Im gleichen Sinne ist auch im Zusammenhang mit der Anfechtung von Rechtsakten<br />

grundsätzlich zwischen Beschwerdelegitimation und Anfechtungsobjekt zuunterscheiden.<br />

Dazu nachfolgend Kap. IV.4.<br />

Vgl. immerhin Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23. Mai 2002, 6,woder<br />

Vertreter der Verwaltung (BJ) von „Vornahme oder Unterlassung eines Realaktes“<br />

spricht.<br />

Vgl. z.B. RICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91), 1437 f.; FLÜCKIGER, L’extension (FN 19),<br />

184 ff.; MOOR, Vol II (FN 1), 39 f.; P LATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln<br />

(FN 1),50.


356 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

4. Die drei Begehren<br />

a) „Wirksamer“ <strong>Rechtsschutz</strong> als Ziel<br />

Der bislang von der Praxis zur Verfügung gestellte <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte<br />

ist unsicher und über weite Teile unzureichend. <strong>Rechtsschutz</strong>suchende<br />

wünschen sich hier nicht nur mehr Klarheit in Bezug auf den einzuschlagenden<br />

Weg, sondern auch mehr Wirksamkeit der anbegehrten Massnahmen. In<br />

der Regel streben sie –dem typischen Sanktionszweck der Verwaltungsrechtspflege<br />

entsprechend –die vollständige Restitution an: Der Staat soll die negativen<br />

–tatsächlichen oder rechtlichen –Folgen eines (widerrechtlichen) Realaktsbeseitigen.<br />

165<br />

Realakte führen häufig zu irreversiblen Folgen, was eine Restitution<br />

verunmöglicht. 166 Dies allein ist freilich kein Grund, den Weg zum<br />

Verwaltungsrechtsschutz zu verschliessen. Vielmehr ist darüber<br />

nachzudenken, inwieweit mit anderen Sanktionsarten (Prävention,<br />

Kompensation) den Anliegen des <strong>Rechtsschutz</strong>suchenden Rechnung<br />

getragen werdenkann. 167<br />

Je nach Art und Wirkung des realen (Nicht-)Handelns bedarf es hierzu unterschiedlicher<br />

Massnahmen. Obsolche bereits nach geltendem Verfahrensrecht<br />

durch Erwirken entsprechender Gestaltungsverfügungen hätten verlangt werden<br />

können, 168 ist ungewiss. Um ganz sicher zu gehen, stellt nun der Gesetzgeber<br />

inArt. 25 a Abs. 1Bst. a–c VwVG explizit drei, nicht scharf voneinander<br />

abgrenzbare Begehren zurVerfügung (vgl.nachfolgend Bst.b–d):<br />

165<br />

166<br />

167<br />

168<br />

Vgl. dazu F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil, Kap. II.D.2.; siehe auch F LÜ-<br />

CKIGER, L’extension (FN 19), 186ff.<br />

Vgl. FELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil, Kap. II.D.1.; R ÜTSCHE,Rechtsfolgen<br />

(FN 131), 109 f.; siehe auch B RÜHWILER-FRÉSEY, Realakt (FN 11), 284 ff. –Als reversibler<br />

Realakt gilt etwa die behördliche Fehlinformation vor Wahlen oder Abstimmungen.<br />

In diesem Sinne M OOR,Vol II (FN 1), 36 f.<br />

So etwa TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 448. FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 187,<br />

vertritt die These, dass sich diese Leistungsansprüche unter Umständen auch aus der<br />

Verfassung, insbesondere ausverfassungsmässigen Rechten ableiten lassen.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 357<br />

b) Unterlassen, Einstellen oderWiderruf (Art.25a Abs.1Bst.a)<br />

Als Erstes kann begehrt werden, ein widerrechtlicher Realakt sei zu unterlassen,<br />

einzustellen oder zu widerrufen. 169 Je nach Begehren werden unterschiedliche<br />

Handlungen anvisiert:<br />

<br />

<br />

<br />

Das Unterlassungsbegehren zielt vorab auf Aktivitäten, die zwar erst bevorstehen,<br />

über die aber bereits informiert wurde (z.B. die Installation von<br />

Videoüberwachungskameras; die Ankündigung, eine unbewilligte Demonstration<br />

gegebenenfalls polizeilich aufzulösen).<br />

Das Einstellungs begehren hat Handlungen im Auge, die sich nicht in einem<br />

zeitlich abgeschlossenen Einzelakt erschöpfen. Dies ist vor allem bei<br />

Akten von generell-abstrakter Regelungsstruktur (z.B. Informations- oder<br />

Aufklärungskampagnen) der Fall. 170<br />

Das Widerrufsbegehren wird sich vor allem auf solche Akte beziehen, deren<br />

Wirkung über den Zeitpunkt ihrer Vornahme hinausreicht (z.B. die<br />

einmalige behördliche Warnung, ein Land oder ein Gebietzubereisen).<br />

Die Begehren unterscheiden sich in ihrem Sanktionszweck: Das Unterlassen<br />

einer Handlung wegen Widerrechtlichkeit verfolgt vor allem präventive Ziele.<br />

Dem<strong>gegen</strong>über wird mit dem Einstellen oder dem Widerruf einer Handlung<br />

vorab Restitution angestrebt. Eine solche Wiederherstellung gelingt allerdings<br />

nur insoweit, als der Realakt nicht bereits irreversible Folgen hinterlassen hat.<br />

In einem solchen Fall sind Ausgleichsleistungen (Kompensation) zu erwägen –<br />

im Schadensfall auf dem Wege der Staatshaftung 171 und im Übrigen mit einem<br />

Begehren umFolgenbeseitigung (nachfolgendBst.c).<br />

c) Folgenbeseitigung (Art.25a Abs. 1Bst. b)<br />

Hat ein widerrechtlicher Realakt negative Folgen rechtlicher oder tatsächlicher<br />

Natur verursacht, kann deren Beseitigung verlangt werden. 172 Sanktionszweck<br />

ist hier vor allem die Kompensation. Dabei dürfte esallerdings weniger um<br />

169<br />

170<br />

171<br />

172<br />

Für den Fall des behördlichen Untätigseins kann analog die Vornahme der unterbliebenen<br />

Handlung oder derenWeiterführung verlangtwerden.<br />

Zur Kategorie der Real-Erlasse vgl. vorn Kap. II/2/b. –ImZusammenhang mit Unterlassungs-,<br />

Einstellungs- und Widerrufsbegehren wird sich häufig auch die Frage nach der<br />

Anordnung vorsorglicher Massnahmen stellen (vgl. F LÜCKIGER, L’extension [FN 19],<br />

181).<br />

Vgl. dieAusführungenzur Staatshaftung hintenKap. IV/6.<br />

Für den Fall des behördlichen Untätigseins kann analog die Beseitigung der Folgen unterbliebenen<br />

Handelns verlangtwerden.


358 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

den Ausgleich von finanziellen Folgeschäden gehen. Solche Ansprüche sind<br />

weiterhin auf dem Wege der Staatshaftung geltend zu machen. 173 Im Vordergrund<br />

steht vielmehr die Beseitigung jener Folgen, die sich mittels Gestaltung<br />

der Rechtslage (Gestaltungsverfügung) bzw. der entsprechenden Vollzugshandlung<br />

wirksam beseitigen lassen:<br />

<br />

<br />

Der Produzent eines Lebensmittels, vor dessen Verzehr die Gesundheitsbehörde<br />

warnt, wird sich unter Umständen nicht damit begnügen, die<br />

Rechtswidrigkeit der Warnung feststellenoder die Warnung widerrufen zu<br />

lassen. Namentlich bei inhaltlicher Fehlerhaftigkeit könnte erein Interesse<br />

an einer öffentlichen Berichtigung haben. Dies in der Hoffnung, damit die<br />

umsatzschädigenden Folgen der staatlichen Fehlinformation wirksamer zu<br />

beseitigen.<br />

Stellt sich die Installation einer Videoüberwachungskamera nachträglich<br />

als unzulässig heraus, wird nicht nur ein Interesse an deren Demontage,<br />

sondern darüber hinaus auch an der Löschung der bereits registrierten Daten<br />

bestehen.<br />

d) Feststellen derWiderrechtlichkeit (Art. 25a Abs. 1Bst. c)<br />

Als Unterfall der Folgenbeseitigung wird schliesslich auch die „blosse“ Feststellung<br />

der Widerrechtlichkeit ermöglicht. 174 Hierbei handelt es sich prima<br />

vista um ein „klassisches Feststellungsbegehren“ wie es bereits nach Art. 25<br />

VwVG möglich ist. Wie vorne dargelegt, kann die Feststellungsverfügung<br />

nach Art. 25 VwVG aber nur ein konkretes aktuelles oder potentielles (Aussen-)Rechtsverhältnis<br />

klären. Ein solches besteht im Zusammenhang mit realem<br />

Handeln gerade nicht, weshalb sich für die Feststellungsverfügung nach<br />

Art. 25 VwVG streng genommen gerade kein Anwendungsfeld bietet. 175 Das<br />

Feststellungsbegehren nach Art. 25 a Bst. cVwVG ist nun tatsächlich etwas<br />

anderes: Art. 25 a VwVG liefert wie vorne dargelegt die Anspruchsgrundlage<br />

für ein spezifisches „Verwaltungsrechtsverhältnis über Realakte“. 176 Und dieses<br />

kann nun gemäss Bst. cdie blosse Feststellung der Recht- oder Unrechtmässigkeiteines<br />

Realakts zumInhalthaben.<br />

173<br />

174<br />

175<br />

176<br />

Vgl. zumVerhältnis des Art.25 a VwVG zur Staatshaftung hinten Kap. IV/6.<br />

Für den Fall des behördlichen Untätigseins kann analog die Feststellung der Widerrechtlichkeit<br />

des Unterlassens verlangtwerden.<br />

Vgl. dazu vorn Kap. III/2/b/bb.<br />

Siehe dazu vorn Kap. IV/2/b.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 359<br />

Mit der Feststellung der Widerrechtlichkeit kann ein doppelter Sanktionszweck<br />

erfüllt werden. ImVordergrund dürfte die (moralische) Kompensation<br />

177 stehen, sodann kann die Feststellung der Widerrechtlichkeit aber auch<br />

präventiv wirken, indem sie die handelnde und gegebenenfalls weitere Verwaltungsbehörden<br />

veranlasst, ihre bisherige Praxis zu überdenken bzw. anzupassen.<br />

Der durch die Polizei an der Reise ans jährlich stattfindende Davoser Weltwirtschaftsforum<br />

gehinderte Journalist wird im Hinblick auf die Veranstaltung<br />

künftiger Jahre ein Interesse daran haben, die Widerrechtlichkeit der polizeilichen<br />

Aktion feststellenzu lassen.<br />

5. Verfahrensabschluss und<strong>Rechtsschutz</strong><br />

Das Gesuch auf Erlass einer Verfügung über einen Realakt kann die zuständige<br />

Behörde –wie in jedem Verwaltungsverfahren –entweder durch Nichteintreten,<br />

Abweisenoder(teilweises) Gutheissen erledigen.<br />

a) Nichteintreten<br />

Ist eine der dargelegten Eintretensvoraussetzungen nicht erfüllt, wird die Behörde<br />

auf das Gesuch nicht eintreten. Der Nichteintretensentscheid kann sodann<br />

mit den üblichen Rechtsmitteln, d.h. mit Verwaltungs- oder Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

nach Art. 44ff. VwVG bzw. Art. 31 VGG ff. angefochten<br />

werden. Die zuständige Beschwerdeinstanz bestimmt sich zum einen<br />

nach den einschlägigen Verfahrensbestimmungen (insbes. Art. 47VwVG),<br />

zum andern nach dem Inhalt des dem Entscheid zugrunde liegenden Realakts.<br />

178 Streit<strong>gegen</strong>stand ist jedoch nur das Nichteintreten. Damit kann nur ü-<br />

berprüft werden, ob die Eintretensvoraussetzung(en) vorliegen. Der <strong>Rechtsschutz</strong><br />

<strong>gegen</strong> den fraglichen Realakt bleibt damit in diesem Verfahren zwangsläufig<br />

unvollständig. Weder wird über dessen Widerrechtlichkeit noch über eine<br />

der möglichen Interventionen (Unterlassung, Einstellung, Widerruf, Fol-<br />

177<br />

178<br />

R ÜTSCHE, Rechtsfolgen (FN 131), 118 f., behandelt die Feststellung indes als teilweise<br />

restitutive Rechtsfolge.<br />

Ob ein Nichteintretensentscheid der Überprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht<br />

unterliegt, hängt unter anderem davon ab, ob der fragliche Realakt inhaltlich einer der in<br />

Art.32 VGG genannten Ausnahmekategorien zuzurechnen ist.


360 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

genbeseitigung) materiell entschieden. Einem Betroffenen steht hier nur mehr<br />

dersekundäre <strong>Rechtsschutz</strong>der Staatshaftung zurVerfügung. 179<br />

b) Abweisung<br />

Ein Begehren nach Art. 25 a VwVG wird abgewiesen ,wenn sich aufgrund näherer<br />

Prüfung zeigt, dass der Akt gar nicht <strong>gegen</strong> objektive Rechtsvorschriften<br />

verstösst, mithin kein widerrechtliches Handeln (oder Unterlassen) vorliegt.<br />

Zur Abweisung von Begehren nach Bst. aund bkommt es ferner injenen Fällen,<br />

indenen zwar die Rechtswidrigkeit des Akts anerkannt ist, eine Intervention<br />

aber entweder nicht (mehr) möglich oder nicht opportun ist. Auch hier<br />

bleibt einem Betroffenen nur noch der Weg über die Staatshaftung. 180 Nicht zu<br />

einer vollständigen Abweisung, sondern zu einer teilweisen Gutheissung –und<br />

damit zum Erlass einer Verfügung gemäss Art. 25 a VwVG –kommt es dann,<br />

wenndem konkreten Begehren zumTeilentsprochen wird.<br />

Gegen die Abweisung oder bloss teilweise Gutheissung steht wiederum die<br />

Beschwerde nach Art. 44ff. VwVG offen. ImRahmen des Beschwerdeverfahrens<br />

werden die entsprechenden Rechtsfragen von der zuständigen Beschwerdeinstanz<br />

(Art.47VwVG) mitvollerKognition(Art.49VwVG)überprüft.<br />

c) Gutheissung<br />

Zu einer vollständigen Gutheissung kommt es dann, wenn die Widerrechtlichkeit<br />

des Akts erkannt und den Begehren imEinzelnen vollumfänglich entsprochen<br />

wird.<br />

6. Verhältnis zur Staatshaftung<br />

a) Staatshaftungals <strong>Rechtsschutz</strong>kompensat<br />

Die Staatshaftung ist nach bisherigem Rechtspflegekonzept eigentlich die einzige<br />

Form des <strong>Rechtsschutz</strong>es <strong>gegen</strong> Realakte. Jedoch kann die Staatshaftung<br />

weder die Rechtslage gestalten, noch die unerwünschten Folgen eines Akts beseitigen.<br />

Immerhin verspricht sie in gewissem Umfang Wiedergutmachung auf<br />

finanzieller Ebene und impliziert –jedenfalls soweit es um Haftung für wider-<br />

179<br />

180<br />

Vgl. hinten betreffend das Verhältnis zum StaatshaftungsverfahrenKap. IV/6.<br />

Vgl. hinten betreffend das Verhältnis zum Staatshaftungsverfahren Kap. IV/6.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 361<br />

rechtlich zugefügten Schaden geht –eine Feststellung über die Rechtmässigkeitdeskonkreten<br />

Handelns.<br />

Als „wirksame Beschwerde“ im Sinne von Art. 13EMRK vermag<br />

die Staatshaftung nur dann zu genügen, wenn eine Restitution des<br />

fraglichen Aktsnicht mehr möglichist. 181<br />

b) SubsidiaritätoderAlternativität?<br />

Die Staatshaftung ist <strong>gegen</strong>über dem Verwaltungsrechtsschutz subsidiär. Mit<br />

anderen Worten: Die Frage der Rechtmässigkeit eines Rechtsakts soll, nachdem<br />

er formelle Rechtskraft erlangt hat, nicht auf dem Wege der Staatshaftung<br />

neu aufgerollt werden. Für den Bund gilt dieses Prinzip der Einmaligkeit des<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>es gestützt auf Art. 12VG. 182 Im Zusammenhang mit Realakten<br />

hat die Subsidiarität der Staatshaftung bislang keine Rolle gespielt, da–im<br />

Regelfall –ein normales Anfechtungsstreitverfahren gar nicht möglich war.<br />

Dies ändert sich nun mit Art. 25 a VwVG. Es stellt sich daher neu die Frage, ob<br />

fortan ein direktes Staatshaftungsverfahren<strong>gegen</strong>den Realaktnoch möglich ist<br />

oder obzuerstüber Art. 25 a VwVG ein Rechtsakt, mithin imSinne der französischen<br />

Rechtstraditioneine „décision préalable“ erwirktwerden muss.<br />

In Frankreich kann Gegenstand eines Verwaltungsgerichtsverfahrens<br />

immer nur ein Verwaltungsakt (décision préalable) sein. Will der<br />

Bürger aufgrund einer Schädigung durch tatsächliches staatliches<br />

Handeln Verantwortlichkeitsansprüche geltend machen, muss er zunächst<br />

ein Gesuch bei der zuständigen Verwaltungseinheit stellen.<br />

Erst <strong>gegen</strong> einen allenfalls ablehnenden Entscheid steht ihm dann ein<br />

Rekurs beim Verwaltungsgericht offen. Eine direkte „Verantwortlichkeitsklage“<br />

kennt das französische Verwaltungsrechtspflegeverfahren<br />

–ausserimBereich der „travaux publiques“ –nicht. 183<br />

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass mit Art. 25 a VwVG ein indiesem Sinne<br />

grundlegender Systemwandel beabsichtigt worden wäre. Vielmehr will das<br />

neue Verfahren nur –aber immerhin –eine im Vergleich zur Staatshaftung<br />

umfassendere <strong>Rechtsschutz</strong>alternative zurVerfügung stellen.<br />

181<br />

182<br />

183<br />

Bundesgesetz vom14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner<br />

Behördenmitglieder und Beamten (Verantwortlichkeitsgesetz, VG, SR 170.32). Vgl. dazu<br />

M. M ÜLLER,<strong>Rechtsschutz</strong> (FN 152), 544 m.w.H.<br />

Dazu eingehend F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18); ferner etwa TSCHAN-<br />

NEN /Z IMMERLI,Verwaltungsrecht(FN 16), §60 Rz. 42f.<br />

Siehe dazu P IERRE -LAURENT F RIER, Précis de droit administratif, 3 e édition, Paris 2004,<br />

420 f.; SEILLER,Droit (FN 14), 169 ff.


362 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

Gegenstand beider Verfahren –des Staatshaftungsverfahrens wie des Verfahrens<br />

nach Art. 25 a VwVG –sind nicht Rechtsakte, sondern Realakte. Der<br />

Grundsatz der Subsidiarität im Sinne von Art. 12VG lässt sich daher auf das<br />

Verhältnis dieser beiden Verfahrensarten nicht übertragen. 184 Tatsächlich stehen<br />

diese beiden Verfahren zueinander denn auch nicht in einem Verhältnis<br />

der Subsidiarität, sondern vielmehr der Alternativität .Dies bedeutet, dass der<br />

von einem Realakt betroffenen Person grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur<br />

Wahl offenstehen: Entweder sie entscheidet sich für den Weg der Staatshaftung,<br />

womit sie den fraglichen Realakt direkt zum Streit<strong>gegen</strong>stand macht. Zu<br />

erreichen ist damit maximal eine finanzielle Wiedergutmachung sowie –darin<br />

eingeschlossen –eine Aussage über die Rechtmässigkeit des Akts. Oder aber,<br />

sie benutzt das neu geschaffene Hilfsverfahren, das ihr erlaubt, den Realakt indirekt<br />

zum Gegenstand eines ordentlichen Verwaltungsverfahrens zu machen.<br />

Auf diesem Weg kann sie all das erreichen, was Art. 25 a Abs. 1Bst. a–c<br />

VwVG an Begehren zurVerfügung stellt.<br />

Der Betroffene wird sich –jenach den konkreten tatsächlichen und rechtlichen<br />

Folgen des fraglichen Akts –für den einen oder anderen Weg entscheiden<br />

(müssen). 185 Obwohl das Mit- bzw. Nebeneinander der beiden Wege nicht im<br />

Sinne des Gesetzgebers sein dürfte, ist es dennoch nicht unzulässig. Bei<br />

gleichzeitiger Rechtshängigkeit wird das tendenziell aufwendigere Staatshaftungsverfahren<br />

aber wohl zu sistieren sein. 186 Auch zu einem Nacheinander<br />

der beiden Verfahren kann es kommen. Dies namentlich in jenen Fällen, in denen<br />

ein Gesuch nach Art. 25 a VwVG von der Behörde negativ (Nichteintreten)<br />

oder abschlägig (Abweisung) behandelt wurde und der Gesuchsteller sich<br />

entscheidet, noch den Staatshaftungsweg zu beschreiten. Theoretisch ist<br />

schliesslich auch denkbar, dass der aus dem Verfahren nach Art. 25 a VwVG<br />

resultierende Rechtsakt („Verfügung über Realakt“) aufgrund qualifizierter<br />

Widerrechtlichkeit 187 seinerseits Grund für ein Staatshaftungsverfahren setzt.<br />

184<br />

185<br />

186<br />

187<br />

Art.12VG spricht von „Verfügungen, Entscheiden und Urteilen“, also Rechtsakten.<br />

Folglich werden Realakte vom positivierten Überprüfungsverbot nicht erfasst. Andernfalls<br />

hätte der Gesetzgeber dies im Gesetzestext zum Ausdruck bringen müssen: vgl.<br />

F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 2.Teil, Kap. III.A.3.<br />

Nach F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 2. Teil, Kap. IV.B.1.b dürfte sich das Verfahren<br />

nach Art. 25 a VwVG solange als ratsam erweisen, als der fragliche Realakt<br />

(noch) keinen Schaden bewirkt hat und sich ein solcher durch die anbegehrte Verfügung<br />

verhindern lässt.<br />

Vgl.FELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 2.Teil, Kap. IV.B.1.b.<br />

Gemäss Praxis ist bei Rechtsakten eine „wesentliche Amtspflichtverletzung“ vorausgesetzt,<br />

vgl. BGE 120 Ib 248 E. 2b S.249; 118 Ib 163 E. 2S. 164; Urteil des Bundesgerichts<br />

vom 27. September 2000,ZBl 2001, 545 E. 2d, 547.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 363<br />

Der auf die Staatshaftung für Rechtsakte zugeschnittene Art. 12VG bliebe in<br />

diesem –etwas konstruiertanmutenden–Fall freilich anwendbar.<br />

7. Art.25 a VwVG auf kantonaler Ebene (Hinweis)<br />

Mit Art. 25 a VwVG signalisiert der Bundesgesetzgeber, dass <strong>gegen</strong> Realakte,<br />

die auf öffentlichem Recht des Bundes basieren, Verwaltungsrechtsschutz<br />

möglich sein muss .Ein Signal, das auch die Kantone ernst nehmen müssen,<br />

das sie aber nicht unmittelbar verpflichtet. Den Kantonen stehen zur Zeit noch<br />

verschiedeneMöglichkeiten offen: 188<br />

<br />

<br />

Einige Kantone werden imRahmen einer Revision ihrer Verwaltungsrechtspflegegesetze<br />

eine Art. 25 a VwVG nachgebildete oder sogar im<br />

Wortlaut identische Vorschrift aufnehmen. Letzteres böte den Vorteil,<br />

dass die Praxis der Bundes(justiz)behörden auch für die kantonale Ebene<br />

übernommen und damit ein verfahrensrechtlich reibungsloser Übergang<br />

von der kantonalen auf die eidgenössische Ebene gewährleistet werden<br />

könnte.<br />

Kantone könnten aber auch bereits einen Schritt weiter gehen und Realakte<br />

–ohne Umwege –direkt zum Anfechtungsobjekt erklären. 189 Bei der<br />

Wahl dieses Vorgehens wäre allerdings empfehlenswert, dem Verwaltungsbeschwerdeverfahren<br />

ein Einspracheverfahren voranzustellen. 190 Eine<br />

entsprechende Regelung könnteetwawie folgtaussehen: 191<br />

1<br />

Wer ein schutzwürdiges Interesse hat, kann <strong>gegen</strong> einen Verwaltungsrealakt,<br />

der seine Rechte und Pflichten berührt, bei der zuständigen<br />

Behörde Einsprache erheben.<br />

2<br />

Mit Einsprache kann gerügt werden, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig.<br />

188<br />

189<br />

190<br />

191<br />

Vgl. hierzu auch H ERZOG, Tagungsband BTJP 2006 (FN 111).<br />

So z.B. der Kanton Graubünden: Art.28 Abs. 4bzw. Art. 49Abs. 3des Gesetzes vom<br />

31. August 2006 über die Verwaltungsrechtspflege (VRG-GR, BR 370.100) bezeichnen<br />

„Realakte, die in Rechte und Pflichten von Personen eingreifen“ als zulässige Anfechtungsobjekte.<br />

Vgl. in diesem Sinne auch F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 181, 194; R ICHLI, Regelungsdefizit<br />

(FN 1), 200.<br />

Bei der Einpassung der neuen Norm indie kantonale Rechtsordnung wird zu klären sein,<br />

ob und wenn jawieweit spezialgesetzlich geregelte Rechtsmittelordnungen (z.B. auf<br />

dem Gebiete der politischen Rechte, des Submissionsrechts oder des kommunalen<br />

Rechts) entsprechend anzupassen sind.


364 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

<br />

3<br />

Einspracheentscheide können mit Verwaltungsbeschwerde angefochten<br />

werden.<br />

Möglich ist schliesslich auch, imkantonalen Verfahrensrecht keine neue<br />

Bestimmung aufzunehmen. Diesfalls werden Realakte, die sich auf öffentliches<br />

Recht des Kantons abstützen, zumindest nach der bisherigen Praxis<br />

des Bundesgerichts dem <strong>Rechtsschutz</strong> zugeführt werden können. 192 Dabei<br />

ist zuerwarten, dass sich das Bundesgericht in seiner künftigen Praxis neu<br />

an Art. 25 a VwVG ausrichtet, was dieser Rechtsnorm den Status einer<br />

„gemeineidgenössischen Verfahrensregel“ verleihen könnte. 193<br />

8. Fazit und Überleitung<br />

Das neue Verfahren nach Art. 25 a VwVG stellt in verschiedener Hinsicht einen<br />

Fortschritt dar. Der Gesetzgeber hat dadurch die <strong>Rechtsschutz</strong>würdigkeit<br />

der Realakte offiziell anerkannt und den Weg für einen unverkrampft(er)en<br />

Umgang mit dieser Handlungsform geebnet. Doch nach wie vor harrt der<br />

<strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> einer vollauf befriedigenden Lösung.<br />

Art. 25 a VwVG ist daher –soist zuhoffen und zu postulieren –höchstens eine<br />

Zwischenetappe auf dem langen Weg hin zu einem unkomplizierten und<br />

umfassenden <strong>Rechtsschutz</strong><strong>gegen</strong> Verwaltungs(real)akte.<br />

V. Ausblick<br />

Der Bundesgesetzgeber hat mit der Schaffung von Art. 25 a VwVG offizialisiert,<br />

dass nicht nur Rechtsakte, sondern auch Realakte <strong>Rechtsschutz</strong> verdienen.<br />

Damit findet positivrechtliche Bestätigung, was im Rechtsstaat schon lange<br />

klar ist: Alles Verwaltungshandeln ist Rechtshandeln. 194 Tatsächliches<br />

Handeln gibt es in einer Welt, die umfassend „verrechtlicht“ ist, kaum mehr.<br />

Bereiche menschlichen Daseins, die durch staatliches Handeln nur „tatsächlich“,<br />

nicht aber rechtlich berührt werden, sind schwer auszumachen. 195 –Art.<br />

192<br />

193<br />

194<br />

195<br />

Dazu vorn Kap. III.<br />

In diesem Sinne auch P IERRE M OOR ,Del'accès aujuge et de l'unification des recours,<br />

in: FRANÇOIS B ELLANGER/T HIERRY T ANQUEREL (Hrsg.), Les nouveaux recours fédéraux<br />

en droit public, Genf/Zürich/Basel 2006, 164. –Soweit kantonale Behörden in Anwendung<br />

von Bundesrecht handeln, dürfte Art. 25 a VwVG für sie ohnehin bereits kraft<br />

Art.1Abs. 3VwVG gelten (dazu vorn FN 115).<br />

Dazu vorn Kap. II/1/c/bb.<br />

So auch T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1), 92f. m.w.H.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 365<br />

25 a VwVG bringt also ohne Zweifel Verbesserungen für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong><br />

Realakte. Indem allerdings der Verwaltungsrechtsschutz weiterhin auf die<br />

Verfügung hin programmiert bleibt, perpetuiert er die überkommenen Schwächen<br />

des schweizerischen Verwaltungsrechtspflegesystems. Lösungsansätze<br />

sind hier vor allemauf zwei Ebenen zu finden:<br />

<br />

<br />

Zum einen muss das individuelle <strong>Rechtsschutz</strong>interesse die Verfügung als<br />

zentrale <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung ablösen (Ziff.1).<br />

Zum andern gehört das mit der Verfügung transportierte und längst als zu<br />

engentlarvte Rechtsverständnis dringend ersetzt(Ziff.2).<br />

1. <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />

a) Blosse Problemverlagerung?<br />

Die Anknüpfung des Verwaltungsrechtsschutzes an die Verfügung hat in der<br />

Vergangenheit zubeträchtlichen Abgrenzungsschwierigkeiten geführt. Diese<br />

werden durch Art. 25 a VwVG gemildert, nicht aber ausgemerzt. Nach wie vor<br />

ist es vor allem die Verfügung, die den Weg zum <strong>Rechtsschutz</strong> ebnet. Gelingt<br />

die Überführung eines Realakts ineine Verfügung nicht, bleibt <strong>Rechtsschutz</strong><br />

ungewiss. Dies befriedigt nicht. ObVerwaltungsrechtsschutz gewährt wird,<br />

sollte daher nicht von der Form des staatlichen Handelns, sondern einzig und<br />

allein von dessen Wirkung abhängen. 196 Die Frage „<strong>Rechtsschutz</strong> ja oder<br />

nein?“ ist folglich mit Blick auf die Interessenlagen der Beteiligten zu beantworten.<br />

Das sind auf der einen Seite die Interessenlage des <strong>Rechtsschutz</strong>suchenden<br />

(subjektives <strong>Rechtsschutz</strong>interesse), auf der anderen Seite diejenige<br />

des rechtsschutzgewährenden Staats(objektives <strong>Rechtsschutz</strong>interesse). 197<br />

Man mag hier<strong>gegen</strong> einwenden, damit würden die Abgrenzungsprobleme und<br />

-schwierigkeiten nicht aus der Welt geschafft, sondern nur verlagert. –Richtig!<br />

Tatsächlich geht es hier um eine Problemverlagerung. Das Problem dorthin<br />

zu verlagern, wo essich tatsächlich stellt, ist aber nicht nur ein „ästhetischer“<br />

Gewinn. Vielmehr resultieren daraus für die praktische Problemlösung<br />

196<br />

197<br />

Damit würde die Verwaltungsverfügung zwar ihre exklusive Stellung als Eingangstor<br />

zum Verwaltungsprozess verlieren. Als zentrales <strong>Institut</strong> des materiellen Verwaltungsrechts<br />

und als wichtigste Handlungsform der staatlichen Verwaltung bliebe sie allerdings<br />

unangefochten (vgl. eingehend und eindringlich zur Unentbehrlichkeit der Verwaltungsverfügung<br />

im modernen Rechtsstaat P IERRE T SCHANNEN, Privatisierung: Ende der Verfügung?,<br />

in: W OLFGANG W IEGAND [Hrsg.], Rechtliche Probleme der Privatisierung,<br />

BTJP 1997,Bern 1998, 209ff.).<br />

Dazu M. M ÜLLER,Rechtsverhältnis (FN 40), 88 ff., 353ff.


366 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

beträchtliche Erleichterungen. Davon profitieren die <strong>Rechtsschutz</strong> suchenden<br />

gleichermassen wie die <strong>Rechtsschutz</strong> gewährenden.<br />

b) Orientierung am <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als Trend …<br />

aa)<br />

…inder Praxis<br />

Den Verwaltungsrechtsschutz künftig vom Vorliegen eines hinreichenden<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>interesses abhängig zu machen, wäre keine Revolution. Es würde<br />

lediglich auf dogmatischer Ebene nachvollzogen, was seit langem die Praxis<br />

der Rechtspflegeorgane bestimmt und damit offensichtlich einem Bedürfnis<br />

entspricht. 198 Nämlich, die <strong>Rechtsschutz</strong>frage dort zustellen und zu beantworten,<br />

wo sie sich aktualisiert: bei der Analyse und Bewertung der (subjektiven<br />

und objektiven)Interessenlage. 199<br />

bb)<br />

… in der Spezialgesetzgebung<br />

Auch im positiven Recht finden sich verschiedene Bereiche, in denen sich der<br />

<strong>Rechtsschutz</strong> überwiegend nach dem Vorliegen eines hinreichenden <strong>Rechtsschutz</strong>interesses<br />

bestimmt. Dies geschieht meist dadurch, dass der (Spezialoder<br />

Verfahrens-)Gesetzgeber Realakte als Anfechtungsobjekte bezeichnet<br />

und sie so demVerwaltungsrechtsschutzunterstellt. 200<br />

Prominente Beispiele finden sich etwa auf dem Gebiete der politischen<br />

Rechte, des Submissionsrechts oder des kommunalen Rechts.<br />

198<br />

199<br />

200<br />

Vgl. zu den entsprechenden Tendenzen in der Praxis etwa MOOR, Vol II (FN 1), 165f.;<br />

G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77), 242 ff.; M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 89 f.<br />

m.w.H.<br />

Der Angst vor einer Flut von Beschwerden lässt sich zum einen durch eine präzise normative<br />

Steuerung der entsprechenden Handlungsfelder begegnen, zum andern durch den<br />

gezielten Einbau verfahrensrechtlicher Hemmschwellen (z.B. strenge Legitimationsvoraussetzungen,<br />

fehlende Suspensivwirkung). Vgl. in diesem Sinne auch etwa MOOR ,<br />

Vol II(FN 1), 33.<br />

Vgl. die Hinweise bei T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 442 f., 446; MOOR, Vol II<br />

(FN 1), 30 f.; RICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91), 1430 ff.; K ÖLZ/H ÄNER, Verwaltungsrechtspflege<br />

(FN 91), Rz.194 f.; F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil,<br />

Kap. II.B.2.b; zu den spezialgesetzlichen Verfügungen sieheauch vorn Kap. II/3/b.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 367<br />

cc)<br />

… im europäischen Umfeld<br />

Ein Blick über die Grenzen –nicht nur nach Deutschland 201 –zeigt, dass die<br />

Orientierung am <strong>Rechtsschutz</strong>interesse auch im europäischen Umfeld zunehmend<br />

zur Regel wird. Typisches Beispiel ist Frankreich, wo das Eintreten auf<br />

eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde zwar ebenfalls ein gültiges Anfechtungsobjekt<br />

bedingt, inerster Linie aber vom Vorliegen eines hinreichenden <strong>Rechtsschutz</strong>interesses<br />

abhängt.Dies soll kurzskizziert werden:<br />

Anfechtungsobjekt der französischen Verwaltungsrechtspflege bildet der Verwaltungs-Rechtsakt<br />

(acte juridique). Dazu zählen neben dem Vertrag (contrat)<br />

in erster Linie die décision. 202 Für ihre Anfechtbarkeit mittels Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

(recours contentieux 203 )wird zwischen Anforderungen an<br />

das Anfechtungsobjekt (condition relative àl’acte attaquable) sowie an die beschwerdeführende<br />

Person (condition relative aurequérant) unterschieden. 204<br />

Dabei fällt auf, dass die Voraussetzung der Beschwer (grief) sowohl als Kriterium<br />

des acte attaquable (acte denature àfaire grief) als auch der Beschwerdelegitimation<br />

(nécessité d’un grief résultant de l’acte) erscheint. Eine klare<br />

Trennung scheinthier weder beabsichtigtnoch praktikabel. 205<br />

201<br />

202<br />

203<br />

204<br />

205<br />

Selbst die deutsche Rechtspflegeordnung trägt durch ihr differenziertes Klagesystem<br />

(vgl. dazu vorn Kap. IV/1/b/aa) den individuellen <strong>Rechtsschutz</strong>interessen dadurch Rechnung,<br />

dass sie erlaubt, mittels Leistungsklage auch informale Akte bzw. Akte „ohne<br />

Aussenwirkung“ dem (gerichtlichen) <strong>Rechtsschutz</strong> zuzuführen.<br />

Décision bezeichnetjene Verwaltungsakte, welche die(objektive) Rechtsordnung betreffen<br />

(affecter l’ordonnancement juridique) mithin normativen Charakter haben, und dadurch<br />

inobjektiver Hinsicht beim Adressaten zu einer Beschwer führen können (vgl.<br />

statt vieler FRIER, Précis [FN 183], 263 ff.; C HAPUS , Droit administratif [FN 41],<br />

Rz. 670 ff.). Dabei erstreckt sich der Begriff des „ordonnancement juridique“ über die<br />

subjektiven Rechte und Pflichten des Adressaten hinaus auf die objektive Rechtsordnung.<br />

Bisweilen wird daher auch einfach von „conséquences juridiques“ gesprochen<br />

(siehe etwa AUBY/D RAGO, Traité [FN 41], 187; DELVOLVÉ ,L’Acte [FN 14], 19ff., 32:<br />

„L’acte comporte une volonté d’arrêter une certaine position sur l’état du droit applicable“<br />

[23]).<br />

Je nach Streit<strong>gegen</strong>stand stehen dem <strong>Rechtsschutz</strong>suchenden unterschiedliche Rekursarten<br />

zur Verfügung. Für die vorliegende Untersuchung interessiert vor allem der „recours<br />

pour excèsdepouvoir“.<br />

Zu den Eintretensvoraussetzungen statt vieler R ENÉ C HAPUS, Droit du contentieux administratif,<br />

11 e édition, Paris 2004, 369 ff.; AUBY/D RAGO, Traité (FN 41), 129ff.;<br />

F RIER, Précis (FN 183), 263.<br />

Die Praxis verfährt mit diesem Kriterium pragmatisch. Sobejaht sie dessen Vorliegen<br />

etwa dann, wenn der Justizbehörde die Gewährung von <strong>Rechtsschutz</strong> opportun erscheint<br />

(vgl. aus dem französischen Recht D ELVOLVÉ, L’Acte [FN 14], 29ff., insbes. 31). C HA-


368 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

Eine Differenzierung wird lediglich insoweit gemacht, als unter dem<br />

Titel des acte attaquable die Beeinträchtigung in objektiver Hinsicht<br />

geprüft wird („Ist der konkrete Administrativakt überhaupt in der Lage,<br />

individuelle Rechte oder Interessen zu beeinträchtigen?“), während<br />

im Zusammenhang mit der Beschwerdelegitimation (intérêt à<br />

agir), verstärkt die subjektive Seite der Beschwer untersucht wird<br />

(„Ist der konkrete Administrativakt geeignet, angesichts der individuellen<br />

Lebenssituation des Beschwerdeführers, bei diesem eine Beeinträchtigung<br />

seiner Rechte oder faktischen Interessen zu bewirken?“).<br />

206<br />

Die Beschwer und daraus abgeleitet das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse ist daher im<br />

französischenVerwaltungsprozess zentraleEintretensvoraussetzung. 207<br />

Neben Frankreich tendieren auch andere Mitgliedstaaten der EU sowie der<br />

Europäische Gerichtshof (EUGH) dazu, Akte die Rechtswirkungen zeitigen,<br />

als Verwaltungsakte zu qualifizieren und im Zweifelsfall den <strong>Rechtsschutz</strong>interessen<br />

den Vorrang einzuräumen. 208 Und nicht zuletzt: Auch internationale<br />

Rechtsweggarantien (insbesondere Art. 6Ziff. 1und Art. 13EMRK sowie Art.<br />

2Abs. 3Bst. aund Art. 14Abs. 1Uno-Pakt II) knüpfen <strong>Rechtsschutz</strong> nicht<br />

zwingend an förmliches Staatshandeln an. 209<br />

c) Neudefinition desAnfechtungsobjekts alsGefahr?<br />

Das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse zur zentralen <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung zu erklären,<br />

lässt sich prozessrechtlich auf zwei Arten realisieren: Entweder der Verfügungsbegriff<br />

wird durch das Hinzufügen eines entsprechenden Elements neu<br />

definiert (Ausweitung des Verfügungsbegriffs). 210 Oder die Definition des Anfechtungsobjekts<br />

wird vom Verfügungsbegriff prinzipiell gelöst und auf sämtliche<br />

rechtsschutzwürdigen Akte (inkl. Realakte) ausgedehnt (Ausweitung des<br />

206<br />

207<br />

208<br />

209<br />

210<br />

PUS, Contentieux administratif (FN 204), 518, vertritt die Auffassung, dass die Beschwer<br />

(grief) lediglich ein Kriterium der Beschwerdebefungnis (intêret àagir) sei.<br />

Vgl. dazu statt vieler S ERGE D AËL, Contentieux administratif, Paris 2006, 65 ff.; AU-<br />

BY/D RAGO, Traité (FN 41),186 ff., 230 ff.; P. D ELVOLVÉ, L’Acte(FN 14), 29 f.<br />

In diesem Sinne auch J ÜRGEN S CHWARZE, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Auflage,<br />

Baden-Baden 2005, 105.<br />

Vgl. SCHWARZE, Verwaltungsrecht (FN 207), 929ff., insbes. 931 m.w.H.; ferner E BER-<br />

HARD S CHMIDT-ASSMANN, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage,<br />

Berlin/Heidelberg 2006,81ff.<br />

Vgl.HAFNER,Verfügung (FN24), 271.<br />

Vgl. hierzu mit Bezug auf den Bereich besonderer Rechtsverhältnisse M. M ÜLLER,<br />

Rechtsverhältnis (FN 40), 353 ff.


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 369<br />

Anfechtungsobjekts). 211 Beide Ideen sind in der Lehre –zu Unrecht –auf Kritik<br />

gestossen: 212<br />

<br />

<br />

Gegen die Ausweitung des Verfügungsbegriffs wird vorgebracht, diese<br />

würde zu einer unerwünschten Formalisierung der Realaktgenese führen,<br />

was sich mit der Zwecksetzung des Realakts zur unmittelbaren Faktengestaltung<br />

nicht vertrage. Einmal abgesehen davon, dass sich auch Realakte<br />

nicht auf Faktengestaltung beschränken, wäre es wohl keine unlösbare<br />

Aufgabe, für diese –zugegeben speziellen –Akte einige verfahrensrechtliche<br />

Besonderheiten vorzusehen.<br />

Gegen die Ausweitung des Anfechtungsobjekts wird ins Feld geführt, dass<br />

der Rekursbehörde jeweils das „Dossier“ fehlen würde. Das trifft zu. Tatsächlich<br />

wäre die Rechtsmittelinstanz bei direkter Anfechtung eines Realakts<br />

gezwungen, umfassende Instruktionsmassnahmen vorzunehmen. Zugegeben,<br />

nicht ideal, ist doch insbesondere die Sachverhaltsermittlung<br />

möglichst vollständig von der fachkompetenten Verwaltungsbehörde vorzunehmen.<br />

Trotzdem ,auch nicht gerade ungewohnt: Schon heute sehen<br />

sich Rechtsmittelinstanzen abund zu genötigt, von der Vorinstanz versäumte<br />

Instruktionsmassnahmen –aus Gründen der Prozessökonomie –<br />

selbst nachzuholen. 213 Im Übrigen liesse sich dem Problem des fehlenden<br />

Dossiers auch dadurch begegnen, dass der Anfechtung von Realakten ein<br />

Einspracheverfahren bei der handelnden Behördevorgeschaltet würde. 214<br />

Beide Varianten tragen dem Anliegen Rechnung, für die Eintretensfrage das<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>interesse verstärkt ins Zentrum zu rücken. Dennoch soll hier –<br />

namentlich auch aufgrund der Hypothek, mit welcher der Verfügungsbegriff<br />

belastet ist (historisches Rechtsverständnis 215 )–der zweiten Variante (generelle<br />

Ausweitung des Anfechtungsobjekts) der Vorzuggegeben werden. 216<br />

211<br />

212<br />

213<br />

214<br />

215<br />

216<br />

Vgl. zu diesen beiden Wegen statt vieler T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1),<br />

195 f.; FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 123 ff., 129 ff.; M. M ÜLLER, <strong>Rechtsschutz</strong><br />

(FN 152), 549 ff., 554.<br />

Vgl. insbesondere T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 445 f.<br />

An einem Dossier fehlt es häufig auch in einem Aufsichtsanzeigeverfahren.<br />

Siehe dazu auch hinten Kap.V/3.<br />

Vgl. hinten Ziff. 2/a.<br />

Ähnlich etwa HAFNER, Verfügung (FN 24), 271; T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung<br />

(FN 1), 199 f.; R ICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91), 1437 ff. m.w.H.; T OBIAS J AAG, Kantonale<br />

Verwaltungsrechtspflege im Wandel, ZBl 1998, 510; ferner schon P ETER S ALADIN,<br />

Verwaltungsprozessrecht und materielles Verwaltungsrecht,ZSR 1975 II, 319 f.


370 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

2. Wechsel im Rechtsverständnis<br />

Die <strong>Rechtsschutz</strong>frage von der Handlungsform zu trennen und das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse<br />

zum massgebenden Kriterium zu erklären, führt zu mehr<br />

Transparenz und Berechenbarkeit. Besserer <strong>Rechtsschutz</strong> ist die logische Folge.<br />

Wird dies zusätzlich gekoppelt mit einem neuen Verständnis von Recht<br />

und Rechtsverhältnis, können daraus weitere <strong>Rechtsschutz</strong>optimierungen resultieren.<br />

a) Vom subjektiven Recht …<br />

Dem schweizerischen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht liegt im<br />

Wesentlichen ein aus dem deutschen Rechtskreis rezipiertes Rechtsverständnis<br />

zugrunde. Dieses ist geprägt von der Lehre der subjektiven öffentlichen Rechte<br />

und –darin eingeschlossen –von der Dichotomie zwischen staatlicher Innenund<br />

Aussensphäre. 217 Nach diesem Rechtsverständnis sind weder das „Innenrecht“<br />

(verwaltungsinterne Anordnungen) noch das objektive Recht, soweit<br />

sich dieses jedenfalls nicht zum subjektiven Recht verdichtet hat, rechtsschutzwürdig.<br />

218<br />

An sich hat sich die schweizerische Verwaltungsrechtspflege schon länger<br />

vom subjektiven Recht als Legitimations- und damit <strong>Rechtsschutz</strong>voraussetzung<br />

gelöst. 219 Das heute dominierende Verfügungsverständnis ist aber nach<br />

wie vor in diesem Rechtsverständnis verhaftet. Dies insoweit, als es nur jenen<br />

Akten Rechtscharakter und damit Anfechtbarkeit zuerkennt, die ein individuelles<br />

Rechtsverhältnis Bürger-Staat, mithin einen subjektiven Rechtsanspruch 220<br />

<strong>gegen</strong> den Staat beinhalten. Somit spielt das subjektive Recht für den Zugang<br />

zum Verwaltungsrechtsschutz nach wie vor eine wichtige Rolle: 221 Erst das<br />

217<br />

218<br />

219<br />

220<br />

221<br />

Vgl. zur „Subjektivierung“ der deutschen (Verwaltungs)Rechtsordnung S CHMIDT -<br />

A SSMANN, Ordnungsidee (FN 208), 81ff.<br />

Vgl. kritisch zu diesem Rechtsverständnis M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40),<br />

200 ff., 213ff. (zum Sphärendogma), 232 ff., 353ff.<br />

Bis zur Revision der Bundesrechtspflege im Jahre 1968 war zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

nur legitimiert, wer eine Verletzung in rechtlich geschützten Interessen darzutun<br />

vermochte (vgl. dazu etwa ISABELLE H ÄNER,Die Beteiligten imVerwaltungsverfahren<br />

und Verwaltungsprozess, Zürich 2000, Rz. 624; M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis<br />

[FN 40], 102).<br />

Nach dem hier verwendeten Begriffsverständnis (vgl. vorn Kap. IV/3/d/aa) werden als<br />

subjektive Rechtsansprüche nicht nur jene Rechtspositionen erfasst, die man heute als<br />

Anspruchspositionen (Anspruch auf Bewilligung oder Subvention) bezeichnet.<br />

Zu dem die deutsche Lehre und Rechtsprechung nach wie vor prägenden Rechtsverständnis<br />

siehe statt vieler M AURER,Verwaltungsrecht(FN 13), 163 ff. (§§ 8/9).


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 371<br />

subjektive Recht –der subjektive Rechtsanspruch –vermag dem ihm übergeordneten<br />

objektiven Recht<strong>Rechtsschutz</strong>würdigkeitzuverleihen. 222<br />

b) …zum Recht des Subjekts<br />

Wirksamer Verwaltungsrechtsschutz <strong>gegen</strong> Realakte bedingt ein umfassenderes<br />

Rechtsverständnis: <strong>Rechtsschutz</strong>würdiges Recht beschränkt sich nicht auf<br />

die subjektiven (Aussen-)Rechte imherkömmlichen Sinne, sondern ist vielmehr<br />

–imSinne des französischen Verwaltungsrechtspflegekonzepts 223 –als<br />

Element des „ordre public“ 224 zu verstehen. Vor dem Hintergrund eines solchen<br />

Rechtsverständnisses wird ein Individuumauch die Einhaltung der objektiven<br />

Rechtsordnung als „subjektives <strong>Rechtsschutz</strong>anliegen“ geltend machen<br />

können. 225 Oder abermals in den Kategorien von subjektivem und objektivem<br />

Recht ausgedrückt: Jedes Individuum hat ein subjektives Recht an der Einhaltung<br />

der objektiven Rechtsordnung, egal welcher Handlungsform sich die<br />

Verwaltung zu deren Umsetzung bedient. Dies alles hiesse, sich vom engen,<br />

rechtsschutzlimitierenden Begriff dessubjektiven Rechtszu verabschieden und<br />

fortan das objektive Recht umfassend als „ einklagbares“ Recht des Subjekts zu<br />

222<br />

223<br />

224<br />

225<br />

Vgl. grundlegend die Kritik am Dualismus von objektivem und subjektivem Recht schon<br />

bei K ELSEN, Rechtslehre (FN 27), 39 ff.; siehe auch A DOLF M ERKL, Die Lehre von der<br />

Rechtskraft, in: Wiener Staatswissenschaftliche Studien, 15. Band, 2.Heft, 1923, 153 ff.,<br />

der es als eine „logische[n] Ungeheuerlichkeit [erachtet], dass das subjektive Recht als<br />

Erkenntnisgrund für eine dem objektiven Recht apriori unbekannte, erst aposteriori,<br />

dank einem subjektiven Recht zuteil gewordene Rechtskraft dienen soll […]“. Siehe<br />

auch dieHinweise bei G ÄCHTER,Rechtsmissbrauch (FN 144), 296f.<br />

Auch in Deutschland wurde nach Einführung des Klagesystems das Rechtsverhältnis in<br />

einem breiteren Sinne verstanden, blieb aber letztlich in der Theorie der subjektiven<br />

Rechte verhaftet (dazu F LÜCKIGER, L’extension [FN 19], 45ff., 115).<br />

Nach der französischen Verwaltungspozessordnung dient etwa der recours pour excès de<br />

pouvoir weniger dem Schutz subjektiver Rechtspositionen als vielmehr der Wahrung des<br />

„ordre public“, namentlich der Einhaltung der Legalität (dazu D OMINIQUE T URPIN, Contentieux<br />

administratif, 3 e édition, Paris 2005, 63 ff., insbes. 65; siehe auch S CHWARZE,<br />

Verwaltungsrecht[FN 207], 1142m.w.H.).<br />

Vgl. aus dem französischen Recht B ONNARD, Lecontrôle (FN 14), 66 ff. –Siehe ferner<br />

M OOR, Vol II (FN 1), 32: Seines Erachtens verdient beispielsweise der Anwohner einer<br />

öffentlichen Strasse, bei der die Schneeräumung unterblieben ist, allein schon aufgrund<br />

des Verstosses der Gemeinde <strong>gegen</strong> die objektivrechtliche Strassenunterhaltspflicht<br />

<strong>Rechtsschutz</strong>. Ein Berührtseinineiner Grundrechtsposition sei hierzu nicht erforderlich.


372 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />

verstehen. 226 In ähnlichem Sinne hat schon ROGER B ONNARD (für das französische<br />

Recht)festgestellt:<br />

„Si, pour certains éléments obligatoires de l’activité administrative,<br />

soit pour les exécutions matérielles de règles et pour les prestations<br />

qui enrésultent, ilpeut yavoir droit subjectif, onnevoit pas pourquoi<br />

il n’en serait pas de même pour cet élément obligatoire de<br />

l’activité administrative qui porte sur les règles d’accomplissement<br />

des actes dans la mesure oú l’obligation juridique présente précisément<br />

les caractères qui conditionnent le droit subjectif. Si, dans<br />

l’accomplissement de ses actes juridiques, l’administration est tenue<br />

d’observer certaines règles de compétences, deforme etde fond, si<br />

cette obligation est établie dans l’intérêt particulier decertains administrés,<br />

si l’un deces administrés interessés vient exiger l’observation<br />

de cette obligation, iln’y aaucune raison de dire qu’il n’y apas là au<br />

profit de cet administré un droit public subjectif. Car ce droit existe:<br />

c’est undroit àlacompétence, àla forme, au contenu ou au but de<br />

l’acte.“ 227<br />

Das (subjektive öffentliche) Recht im dargelegten Sinne neu zuinterpretieren,<br />

bedeutete auch das Ende des Sphärendogmas 228 ,d.h. der Unterscheidung von<br />

Innen- und Aussenrecht. Damit würde auch <strong>gegen</strong> Akte im besonderen<br />

Rechtsverhältnis ein umfassender (und unkomplizierter) Verwaltungsrechtsschutz<br />

möglich. 229<br />

226<br />

227<br />

228<br />

229<br />

Zu einem imskizzierten Sinne offeneren Rechts- und Rechtsverhältnisverständnis tendieren<br />

(wohl) auch F LÜCKIGER, Régulation (FN 1), 282 ff.; F LÜCKIGER, L’extension<br />

(FN 19), 13, 47f., 115, 118, 199 f.; M OOR, Vol II (FN 1), 32 f., 39 f., 574; G. M ÜLLER<br />

(FN 156), 238; H ANSPETER P FENNINGER, Rechtliche Aspekte des informellen Verwaltungshandelns,<br />

Freiburg 1996, 190; BRÜHWILER-FRÉSEY ,Realakt (FN 11), 160 ff. –<br />

Ebenfalls von einem umfassenden Rechtsverständnis gehen schliesslich jene Autoren<br />

aus, die den Begriff der Rechtsstreitigkeit nach Art.29 a BV als materiellrechtlich zu füllenden,<br />

autonomen Verfassungsbegriff verstehen: vgl. hierzu B ERNHARD W ALDMANN,<br />

Justizreform und öffentliche Rechtspflege –quovadis?, AJP 2003, 749 f. m.w.H.<br />

B ONNARD, Lecontrôle (FN14),67.<br />

Siehe kritisch zu diesem Dogma M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 213 ff.<br />

Vgl. aus dem französischen Recht insbesondere J EAN R IVERO, Les mesures d’ordre intérieur<br />

administratives, Paris 1934, 351 ff., der mit Blick auf eine rechtsschutzmässig angemessene<br />

Behandlung der Verwaltungsinnenakte (mesures d’ordre intérieur) schon<br />

früh für ein umfassendes Rechtsverständnis plädiert hat: „Ce n’est donc point par une<br />

forme oupar l’autorité del’organe dont elle émane, que l’on qualifiera la règle dedroit,<br />

mais par sa réalité objective“ (354). Seines Erachtens können zwar verschiedene Ordnungen<br />

unterschieden werden, eine Rechtsordnung für die Allgemeinheit sowie eine


M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 373<br />

3. Fazit:Drei Konsequenzen für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte<br />

Verwaltungsrechtsschutz nicht mehr an der Handlungsform, sondern an der<br />

Handlungswirkung anzuknüpfen, und –darüber hinaus –das herkömmliche,<br />

zu enge Rechtsverständnis durch ein umfassenderes zu ersetzen, das sind die<br />

beiden hier postulierten weiteren Entwicklungsschritte. Werden sie realisiert,<br />

hätte dies für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> mannigfache und<br />

vorteilhafteFolgen. Hier stichwortartig die drei wichtigsten:<br />

<br />

<br />

<br />

Die allermeisten Realakte sind fortan als Rechtsakte (wenn es denn sein<br />

muss: „Real-Rechtsakte“) zu begreifen. Als das begründen sie ein konkretes<br />

Verwaltungsrechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger; etwas, das<br />

heutefastausschliesslichder Verfügung vorbehalten ist.<br />

Als Rechtsakte unterstehen „Real-Rechtsakte“ direkt dem Verwaltungsrechtsschutz.<br />

Hierzu bedarf eskeiner Verkleidungsaktionen oder umständlicher<br />

Umwege über nachgelagerte Verwaltungsverfahren mehr. Den Besonderheiten<br />

des realen (weitgehend verfahrensfreien) Verwaltungshandelns<br />

ist durch ein dem Beschwerdeverfahren vorgeschaltetes Einspracheverfahren<br />

Rechnung zu tragen.<br />

Ein umfassendes Rechtsverständnis bedeutet nun aber nicht umfassende<br />

Beschwerdebefugnis im Sinne einer Popularbeschwerde. Weiterhin kann<br />

Verwaltungsrechtsschutz nur beanspruchen, wer ein <strong>Rechtsschutz</strong>interesse<br />

geltend zu machen vermag, das –imSinne der heutigen Praxis –hinreichend<br />

„schutzwürdig“ ist. 230<br />

Zuletzt noch dies: Ein Umdenken im aufzeigten Sinne würde zu Vereinfachungen<br />

im gesamten Verwaltungsrechtssystem führen. Davon profitieren<br />

nicht nur die rechtsschutzsuchenden Individuen, sondern auch die rechtsschutzgewährenden<br />

Justizbehörden.<br />

230<br />

Rechtsordnung für die sich in einer speziellen Beziehung zum Staat befindenden Personen.<br />

Beide Ordnungen gehörten aber gleichermassen dem „ordre juridique“ an (373 f.).<br />

Auch im französischen Verwaltungsprozessrecht wird, um zu verhindern, dass durch die<br />

Breite der zugelassenen Interessen eine Popularbeschwerde entsteht, eine qualifizierte,<br />

d.h. speziell definierte und limitierte Beziehung des Beschwerdeführers zur Streitsache<br />

vorausgesetzt („un lien suffisamment direct entre la situation durequérant et l’acte contesté“):<br />

siehe dazu etwa AUBY/D RAGO, Traité (FN 41), 234ff., 268 ff.;TURPIN,Contentieux<br />

(FN 224), 66,101.

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