Rechtsschutz gegen Verwaltungsrealakte - Institut für öffentliches ...
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313<br />
M ARKUS M ÜLLER *<br />
<strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
Inhaltsübersicht<br />
I. Einleitung und Problematik<br />
II. Der Realakt<br />
1. Begriff<br />
2. Arten von Realakten<br />
3. Abgrenzung zu besonderen Verfügungstypen<br />
4. Rechtliche Grundbedingungen des realen Handelns<br />
5. Fazit und Überleitung<br />
III. Der <strong>Rechtsschutz</strong> nach alter Bundesrechtspflege<br />
1. Rechtsakt als<strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />
2. Pragmatische„Öffnung“<br />
3. Fazit und Überleitung<br />
IV. Der <strong>Rechtsschutz</strong> nach Art. 25 a VwVG<br />
1. Art.25 a VwVG: Ein Nebenprodukt der neuen Bundesrechtspflege<br />
2. Der „neue“ Weg: VerfahrenaufErlass einer Verfügung<br />
3. Die Eintretensvoraussetzungen<br />
4. Die drei Begehren<br />
5. Verfahrensabschluss und <strong>Rechtsschutz</strong><br />
6. Verhältn is zur Staatshaftung<br />
7. Art.25 a VwVG auf kantonaler Ebene (Hinweis)<br />
8. Fazit und Überleitung<br />
V. Ausblick<br />
1. <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />
2. Wechsel im Rechtsverständnis<br />
3. Fazit: Drei Konsequenzen für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte<br />
I. Einleitung undProblematik<br />
Ohne Verfügung kein Verwaltungsrechtsschutz –sodie „eiserne Regel“ der<br />
schweizerischen Verwaltungsrechtspflege. In jüngerer Zeit scheint sie zwar<br />
etwas Rost angesetzt zu haben. Aber nur Flugrost, wie sich rasch herausstellt.<br />
Eiserne Regeln –der Name verrät es –haben Bestand. Im Grundsatz gilt daher<br />
noch immer: Handelt der Staat nicht in der Form der Verfügung, fehlt ein adä-<br />
*<br />
Dr. iur., ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern.<br />
Meinem Assistenten, Dr. iur./Fürsprecher Reto Feller, danke ich für die sorgfältige<br />
Durchsicht des Manuskripts sowie für wertvolle Hinweise.
314 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
quater (unmittelbarer) Verwaltungsrechtsschutz. Ein Defizit, das Praxis und<br />
Lehre seit geraumerZeit beschäftigt. 1<br />
Dies nicht zuletzt auch aus Gründen von Art. 13EMRK. Diese Konventionsnorm<br />
verlangt, dass <strong>gegen</strong> jegliches staatliche Handeln, sofern<br />
es Konventionsrechte verletzt, eine „wirksame Beschwerde bei<br />
einernationalen Instanz“ erhoben werden kann. 2<br />
Ideen und Anregungen zur Verbesserung dieses Zustands lagen schon länger<br />
auf dem Tisch. Sie harrten nur noch der Weiterentwicklung und der Umsetzung<br />
im positiven Verfahrensrecht. Die Revision der Bundesrechtspflege bot<br />
hierzu Gelegenheit. Doch der Ruf nach einer Verbesserung des <strong>Rechtsschutz</strong>es<br />
<strong>gegen</strong> Realakte ging im allgemeinen Lärm der Umbauarbeiten am Justizgebäude<br />
unter. Sobegnügte sich der Bundesrat in seiner Botschaft mit einem<br />
pauschalen Hinweis auf bestehende „Lücken im<strong>Rechtsschutz</strong>“, ohne dabei das<br />
Problem der Realakte explizit zubenennen. 3 –Bei genauerem Hinschauen<br />
kann einem die grundlegende Bedeutung dieses Themas fürden Administrativrechtsschutz<br />
freilich nicht verborgen bleiben. Dies hat auch der Gesetzgeber<br />
erkannt und darauf –inletzter Minute –mit einer neuen Vorschrift (Art. 25 a<br />
VwVG: „Verfügungenüber Realakte“) reagiert.<br />
Dieser neuen Verfahrensvorschrift, ihrem normativen Gehalt und ihrer Tragweite<br />
für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte, widmet sich der vorliegende Beitrag:<br />
Den Anfang und Einstieg machen Ausführungen zum Begriff des Realakts<br />
(Ziff.II.). Sodann interessiert der aktuelle Stand der Rechtsprechung und<br />
damit der <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte vor Inkrafttreten der neuen Bundesrechtspflege<br />
(Ziff. III.). Vor diesem Hintergrund gilt es schliesslich, das Potential<br />
des neuen Art. 25 a VwVG für eine Verbesserung des <strong>Rechtsschutz</strong>es auszuloten<br />
(Ziff. IV.). Eine kritische Würdigung der Gesetzesnovelle und auch ein<br />
Ausblick auf mögliche weitere Entwicklungsschritte beenden die Betrachtungen<br />
(Ziff. V.).<br />
1<br />
2<br />
3<br />
In der schweizerischen Doktrin haben vor allem R OLAND P LATTNER -STEINMANN, Tatsächliches<br />
Verwaltungshandeln, Zürich 1990 und P AUL R ICHLI, Zum verfahrens- und<br />
prozessrechtlichen Regelungsdefizit beim verfügungsfreien Staatshandeln, AJP 1992,<br />
196 ff. das Thema lanciert. Siehe ferner die Literaturhinweise bei A LEXANDRE F LÜCKI-<br />
GER, Régulation, déregulation, autorégulation: l’émergence des actes étatiques non obligatoires,<br />
ZSR 2004 II, 293 ff.; PIERRE M OOR, Droit administratif, volume II –Les actes<br />
administratifs et leur contrôle, 2. Auflage, Bern 2002, 25; sowie T HOMAS M ÜLLER -<br />
G RAF, Entrechtlichung durch Informalisierung, Basel/Genf/München 2001.<br />
Vgl. dazu hinten Kap. III/2/a.<br />
Vgl. Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28. Februar 2001 (BBl<br />
2001 4202, 4215 f.).
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 315<br />
II.<br />
Der Realakt<br />
Die Marginalie von Art. 25 a VwVG spricht von „Verfügungen über Realakte“.<br />
4 Der Begriff der Verfügung ist von Lehre und Rechtsprechung durchdrungen;<br />
er bedarf hier keiner weiteren Erläuterungen. Dem<strong>gegen</strong>über erscheintder<br />
Terminus des Realakts noch erklärungsbedürftig. Zudiesem Zweck sollen in<br />
einem ersten Schritt Begriffsentstehung, -funktion und -inhalt etwas näher untersucht<br />
werden (Ziff.1). Im Anschluss werden die wichtigsten Arten und Unterarten<br />
von Realakten dargestellt (Ziff. 2). Ein Schlaglicht auf die Abgrenzung<br />
<strong>gegen</strong>über besonderen Verfügungstypen deutet weiter die praktischen<br />
Schwierigkeiten im Umgang mit dieser Rechtsfigur an(Ziff.3). Einige summarische<br />
Bemerkungen zu den rechtlichen Grundbedingungen des realen Handelnsbeschliessendiesen<br />
Abschnitt (Ziff.4).<br />
1. Begriff<br />
a) Historische Anfänge<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts war die damals noch junge schweizerische Verwaltungsrechtswissenschaft<br />
in erster Linie damit beschäftigt, die strukturellen<br />
Gemeinsamkeiten zahlreicher staatlicher Handlungen zu erkennen und hierfür<br />
formale Gefässe zu schaffen. Frucht dieser Bemühungen war insbesondere das<br />
<strong>Institut</strong> der Verfügung ,fortan der erste und typische Rechtsakt der staatlichen<br />
Verwaltung. Zuseiner dogmatischen Erschliessung orientierte man sich –wie<br />
andernortsdargelegt 5 –überwiegend ander deutschenDoktrin:<br />
Nach der Definition von O TTO M AYER galt als Verfügung „ein der<br />
Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch, der dem Untertanen<br />
im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll.“ 6 Nach<br />
F RITZ F LEINER war die Verfügung „das einseitige Rechtsgeschäft des<br />
öffentlichen Rechts“, das auf „Begründung, Abänderung oder Aufhebung<br />
eines öffentlichen Rechtsverhältnisses zwischen der öffentlichen<br />
Verwaltung und dem Untertan“ abzielt. 7<br />
Alles Verwaltungshandeln, das sich nicht als Verfügung erfassen liess, blieb<br />
vorerst dogmatisch uninteressant. Zwar wurde inden Gesamtdarstellungen des<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Französische Marginalie: „Décision relative àdes actes matériels“; italienische Marginalie:<br />
„Decisione circa atti materiali“.<br />
Vgl. MARKUS M ÜLLER, Verwaltungsrecht –Eigenheit und Herkunft,Bern 2006, 99ff.<br />
O TTO M AYER, Deutsches Verwaltungsrecht,Band I, 3. Auflage,Berlin 1924, 93.<br />
F RITZ F LEINER, <strong>Institut</strong>ionen des deutschen Verwaltungsrechts, Tübingen 1911, 156f.
316 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
Verwaltungsrechts verschiedentlich deutlich gemacht, dass Verwaltungshandeln<br />
durchaus nicht nur rechtlicher Natur, sondern auch tatsächlicher Natur<br />
sein konnte. Mehr als eine Beschreibung, vorab zu Abgrenzungs- und Anschauungszwecken,<br />
wollte dies allerdings nicht sein. Entsprechend wurde für<br />
das tatsächliche, nicht-rechtsgeschäftliche Handeln auch (noch) keine separate<br />
Rechtsfigur geschaffen. Als reines „Faktum“, das weniger nach rechtlichen als<br />
vielmehr nach anderen Regeln abläuft, 8 war diese Art staatlichen Handelns für<br />
die verwaltungs rechtswissenschaftliche Forschung nur von geringem Interesse:<br />
„Die Tätigkeit der Verwaltungsorgane ist vielfach rein tatsächlicher<br />
Natur und entzieht sich der rechtlichen Erfassung und Formung. […]<br />
All das fällt aus dem Rahmen des Verwaltungsrechtes heraus und ist<br />
daher nicht weiter zu verfolgen“. 9<br />
In der Schweizer Verwaltungsrechtsdoktrin setzte sich soweit ersichtlich als<br />
erster Z ACCARIA G IACOMETTI eingehender mit dem tatsächlichen Handeln des<br />
Staats –dem Realakt –auseinander. 10 Dabei verdeutlichte erdie Schwierigkeit,<br />
rechtliches und tatsächliches Handeln klar voneinander abzugrenzen. In<br />
der Folge fristete das reale Verwaltungshandeln imSchrifttum aber ein Schattendasein.<br />
Es fehlten offenbar Notwendigkeit und Reiz, sich mit diesem Phänomen<br />
näher auseinander zu setzen. Begriffsinhalt und Begriffsverwendung<br />
blieben daher lange Zeitunscharf, ebensodas rechtsdogmatische Profil.<br />
Erst <strong>gegen</strong> Ende des letzten Jahrhunderts wandte sich die Doktrin dem Phänomen<br />
des Realakts –in seinen verschiedenen Erscheinungsformen –wieder etwas<br />
intensiver zu. 11 Auslöser war vor allem das eklatante <strong>Rechtsschutz</strong>defizit,<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
Vgl. ERWIN R UCK, Schweizerisches Verwaltungsrecht, Band I,3. Auflage, Zürich 1951,<br />
21, 80, 195, spricht (nur dort) von rein tatsächlichem (mechanischem, künstlerischem,<br />
wissenschaftlichen) Verwaltungshandeln, wo dieses nicht nach –bzw. gestützt auf –<br />
Rechtsregeln, sondern nach den Regeln der menschlichen Erfahrung, der Wissenschaft,<br />
der Kunst und der Technik abläuft. Das Verwaltungsrecht ist für solche Handlungen<br />
nicht Grundlage, sondern nur Schranke; wird da<strong>gegen</strong> verstossen, liegt eine Rechtsverletzung<br />
vor. Siehe auch Z ACCARIA G IACOMETTI, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen<br />
Verwaltungsrechts (Allgemeines Verwaltungsrecht des Rechtsstaates), 1. Band,<br />
Zürich 1960, 53ff. (55).<br />
E RWIN R UCK, SchweizerischesVerwaltungsrecht,Band I, Zürich 1934, S. 59.<br />
Vgl. GIACOMETTI, Lehren (FN 8), 53 ff.: Er verwendet bereits den Begriff des „Realaktes“<br />
(z.B. 55); siehe zur älteren Doktrin auch P LATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln<br />
(FN 1), 20 ff.<br />
Vgl. als Erster LUKAS B RÜHWILER-FRÉSEY, Verfügung, Vertrag, Realakt und andere<br />
verwaltungsrechtliche Handlungssysteme, Bern 1984, 274ff.; siehe ferner die Literaturhinweise<br />
vorn FN 1.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 317<br />
das sich im Zusammenhang mit den zunehmenden staatlichen Informationsund<br />
Aufklärungsaktivitäten 12 manifestierte.<br />
Für die rechtsdogmatische Erschliessung dieses Phänomens orientierte<br />
man sich in der Schweiz abermals vertrauensvoll am deutschen<br />
Schrifttum. Dieses wies bereits eine stattliche Anzahl Monografien<br />
und Aufsätze zum Thema des „informalen, schlichten, tatsächlichen<br />
Staatshandelns“ auf. 13 –Dem<strong>gegen</strong>über spielt(e) der Realakt in der<br />
französischen Verwaltungsrechtsdogmatik als eigenständige Kategorie<br />
des Verwaltungshandelns kaum eine Rolle. Immerhin finden sich<br />
auch im französischen Schrifttum seit jeher spezielle Bezeichnungen<br />
für das tatsächliche Verwaltungshandeln („opérations matérielles“,<br />
„agissement matériel“, „actes matériels“). 14<br />
b) Funktionendes Begriffs<br />
Der Realakt erfüllt als Rechtsbegriff eine doppelte Funktion. Zum einen dient<br />
er der Handlungsformenlehre als eigenständiger Auffang- und Sammelbegriff<br />
für bestimmte staatliche Aktivitäten (Bst. aa). Zum andern verfolgt er als verfahrensrechtliches<br />
<strong>Institut</strong> eine prozessbezogeneAbsicht (Bst.bb).<br />
aa)<br />
Auffang-und Sammelbegriff<br />
Dem Begriff des Realakts fehlen bis heute scharfe Konturen. Immerhin hat<br />
sich in den letzten Jahren in der Lehre und Rechtsprechung ein einigermassen<br />
einheitliches Begriffsverständnis herausgebildet. Danach erfasst der Begriff<br />
„Realakt“ –imSinne einer Sammelbezeichnung oder eines Auffangbegriffs 15<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
Vgl. hierzu etwa PAUL R ICHLI, Öffentlich-rechtliche Probleme bei der Erfüllung von<br />
Staatsaufgaben mit Informationsmitteln, ZSR 1990 I, 151 ff.; ferner P ASCAL M AHON,<br />
L’information par les autorités, ZSR 1999 II, 207 ff., insbes. 221 f., 247 f.<br />
Vgl. etwa die Literaturhinweise bei H ARTMUT M AURER, Allgemeines Verwaltungsrecht,<br />
16. Auflage, München 2006, 423 f.<br />
Aus der älteren Lehre siehe etwa ROGER B ONNARD ,Lecontrôle juridictionnel del’administration.<br />
Étude de droit administratif comparé, Paris 1934, 15; ferner die Hinweise<br />
bei GIACOMETTI, Lehren (FN 8), 58Anm. 18. Aus der jüngeren Lehre vgl. statt vieler:<br />
J EAN R IVERO/J EAN W ALINE, Droit administratif, 20 e édition, Paris 2004, 331; B ER-<br />
TRAND S EILLER, Droit administratif, volume II, L’action administrative, Flammarion<br />
2001, 101ff.; P IERRE D ELVOLVÉ, L’Acteadministratif, Paris 1983, 13.<br />
Vgl. TH .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1), 91; siehe auch R ENÉ R HINOW ,Verfügung,<br />
Verwaltungsvertrag und privatrechtlicher Vertrag, in: Festgabe zum Schweizerischen<br />
Juristentag 1985, Basel 1985, 295 („[…] sowie anderer Äusserungsmöglichkeiten
318 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
–alle Verrichtungen des Staats, die nicht in einer der tradierten Rechtsformen<br />
wie Verfügung, Vertrag, Plan oder Erlass ergehen. 16<br />
Die Begriffsverwendung ist allerdings uneinheitlich und unscharf.<br />
Für Realakte sind verschiedenste Synonyme „im Umlauf“: Tathandlungen,<br />
tatsächliches Verwaltungshandeln, schlichtes Verwaltungshandeln,<br />
einfaches Verwaltungshandeln, informales bzw. informelles<br />
Verwaltungshandeln, verfahrensfreies Verwaltungshandeln, Vollzugshandlungen<br />
usf. 17<br />
Es empfiehlt sich, künftig für sämtliche Erscheinungen des nicht rechtsförmlichen<br />
Verwaltungshandelns einheitlich den Terminus „Realakt“ zu gebrauchen.<br />
Dies nicht nur, weil nun auch die Marginalie von Art. 25 a VwVG Realakt als<br />
Oberbegriff verwendet, sondern vor allem deshalb, weil mit Realakt der Gegensatz<br />
zumRechtsakt sprachlich amdeutlichsten hervortritt. 18<br />
bb)<br />
Verfahrensrechtliches <strong>Institut</strong><br />
Die Kategorie der Realakte wurde nicht in erster Linie zu deskriptiven Zwecken<br />
geschaffen. Vielmehr verfolgte die Doktrin mit dieser Figur handfeste<br />
prozessuale Ziele: Handlungen, welche sich nicht als „klassische“ Rechtsakte<br />
erfassen liessen, sollten –einheitlich als Realakte o.ä. etikettiert –von der Bindung<br />
an verfahrensrechtliche Regeln und vom Verwaltungsrechtsschutz ausgeklammert<br />
werden. –Realakte sind somit weniger Natur- als vielmehr Kunstprodukte,<br />
kreiert in der überwiegenden Absicht, den Verwaltungsrechtsschutz<br />
zu limitieren.<br />
16<br />
17<br />
18<br />
oder Verrichtungen [Realakte], die in ihrer Bedeutung nicht zuunterschätzen sind“). –<br />
Zur Unterscheidung Rechtsform-Handlungsform T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung<br />
(FN 1),83ff.<br />
P IERRE T SCHANNEN/U LRICH Z IMMERLI, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Auflage,<br />
Bern 2005, §38Rz. 1.<br />
Zur vielfältigen Terminologie vgl. P LATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln (FN 1),<br />
31 ff.; ferner T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN1), 63 ff., 91ff.<br />
So auch T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 1;siehe ferner bei<br />
R ETO F ELLER, Das Prinzip der Einmaligkeit des <strong>Rechtsschutz</strong>es im Staatshaftungsrecht,<br />
Diss. Bern 2007, 1.Teil, Kap. II.B.1. –Dem<strong>gegen</strong>über unterscheiden U LRICH H ÄFE-<br />
LIN/G EORG M ÜLLER/F ELIX U HLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5.Auflage, Zürich<br />
2006, Rz. 730 ff., drei Formen des Verwaltungshandelns: Rechtliches Verwaltungshandeln,<br />
tatsächliches Verwaltungshandeln, informelles Verwaltungshandeln. Die Realakte<br />
stellen nach dieser Kategorisierung lediglich eine Erscheinungsform des tatsächlichenVerwaltungshandelns<br />
dar (Rz. 737a).
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 319<br />
c) Inhaltliche Wesensmerkmale<br />
aa)<br />
Faktengestaltung alsHandlungszweck<br />
Worin liegt nun genau der Unterschied zwischen Realakt und Rechtsakt? Lehre<br />
und Rechtsprechung scheinen sich in diesem Punkt ziemlich einig. Die entscheidende<br />
Differenz soll im beabsichtigten Zweck bzw. Erfolg des jeweiligen<br />
Handelns liegen: Verwaltungsrechtsakte streben die unmittelbare Veränderung<br />
bzw. Gestaltung der Rechtslage an, sind mithin direkt auf einen Rechtserfolg<br />
gerichtet. <strong>Verwaltungsrealakte</strong> zielen dem<strong>gegen</strong>über nur auf die unmittelbare<br />
Veränderung der Faktenlage, d.h. einen Taterfolg hin. 19 Das Bundesgericht<br />
legt seiner Rechtsprechung ebenfalls diesen Definitionsansatz zugrunde. In einem<br />
neueren Entscheid hat es allerdings einige vorsichtige Relativierungen<br />
eingebaut:<br />
„Das tatsächliche und informelle Verwaltungshandeln zeichnet sich<br />
u.a. dadurch aus, dass es an sich nicht auf Rechtswirkungen, sondern<br />
auf die Herbeiführung eines Taterfolges ausgerichtet ist, indessen<br />
gleichwohl die Rechtsstellung von Privaten berühren kann.“ 20<br />
bb)<br />
Der homogene Handlungszweck (Taterfolg) als Scheinwahrheit<br />
Der konkrete Handlungszweck bestimmt sich nicht nach den rein subjektiven<br />
Absichten des Akteurs. 21 Ausschlaggebend ist vielmehr das objektive Handlungsziel.<br />
Dieses ergibt sich aus den öffentlichen Interessen und den diese<br />
konkretisierenden gesetzlichen (Handlungs-)Grundlagen. 22 Anders gewendet:<br />
Nicht der subjektive Wille des Verwaltungsträgers ist massgebend, sondern<br />
dergesetzlich begründeteund gelenkteobjektiveWille. 23<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Vgl. statt vieler T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 1;MOOR,<br />
Vol II (FN 1), 26; siehe ferner die Hinweise auf die Lehre bei A LEXANDRE F LÜCKIGER,<br />
L’extension du contrôle juridictionnel des activités de l’administration, Bern 1998, 6. –<br />
Zur Kritik an der etablierten Definition vgl. T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1),<br />
92 f.<br />
BGE 130 I369E.6.1 S. 379(Hervorhebungen durch den Autor).<br />
Der subjektive Handlungswille ist dem<strong>gegen</strong>über konstitutiv für den privatrechtlichen<br />
Rechtsakt.Vgl. dazu aus dem französischen RechtP IERRE P Y ,Lerôle delavolonté dans<br />
les actes administratifs unilatéraux, Paris 1976, 19ff.<br />
In diesem Sinne P Y ,Rôle (FN 21), 22 ff.<br />
Vgl. indiesem Sinne R OLF H. H ALTNER, Begriff und Arten der Verfügung im Verwaltungsverfahrensrecht<br />
des Bundes (Art. 5 VwVG), Zürich 1979, 28ff.; G IACOMETTI,<br />
Lehren (FN 8), 339. –Dazu differenzierend auch P. P Y ,Rôle (FN 21), 164: „Comme
320 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
Häufig lässt sich der genaue Handlungszweck aber auch aus den einschlägigen<br />
Verwaltungsrechtserlassen nicht ohne weiteres ableiten. Dies liegt daran, dass<br />
Verwaltungsakte nur selten auf einen einzigen Handlungszweck hin programmiert<br />
sind. Vielmehr verfolgen sie häufig multiple, sowohl rechtliche wie faktische<br />
Ziele: Viele Rechtsakte trachten (zumindest indirekt) immer auch nach<br />
einer Veränderung der Faktenlage. Und viele Realakte beabsichtigen (zumindest<br />
indirekt) auch eine Einwirkung auf die individuelle Rechtslage. 24 Kurz:<br />
Die durch das Handeln der Verwaltung beabsichtigten Veränderungen inder<br />
Rechts- und in der Faktenlage sind meist zwingend und untrennbar miteinander<br />
verkettet. 25 Durchaus möglich, dass der eine oder andere Zweck imVordergrund<br />
liegt; allein und isoliert wird er allerdings kaum jedas Handeln<br />
bestimmen. 26<br />
Worauf zielt die polizeiliche Wegweisung einer betrunkenen, Unordnung<br />
und Lärm verursachenden Person aus dem öffentlichen Raum.<br />
Soll hier die Rechts- und/oder die Faktenlage verändert werden?<br />
Eines wird bereits hier deutlich: Jeder Akt der Verwaltung ist (immer auch)<br />
Rechtsanwendungsakt und damit Rechtsakt. 27 Oder anders formuliert: „Alles<br />
Verwaltungshandeln ist Rechtshandeln“. 28 –Obvor diesem Hintergrund der<br />
Handlungszweck tatsächlichein treffendes Wesens- und Abgrenzungsmerkmal<br />
des Realaktsist, lässt sich mit Fugbezweifeln.<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
tout acte juridique, l’acte administratif est le fruit du jeu de trois éléments qui sont la<br />
réglementation juridique, le fait etla volontédel’auteur del’acte.“<br />
Vgl. in diesem Sinne FELIX H AFNER, Verfügung als Risiko, in: Festgabe zum Schweizerischen<br />
Juristentag 2004, Basel 2004, 270; TH .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1),<br />
93.<br />
Vgl. in diesem SinneGIACOMETTI, Lehren (FN8), 56.<br />
Dazu auch G IACOMETTI, Lehren (FN8), 56f.<br />
Vgl. in diesem Sinne schon W ALTER J ELLINEK, Verwaltungsrecht, 3. Auflage, Offenburg<br />
1931, 258, der darauf hinweist, dass auch im Verwaltungsakt tatsächlicher Art ein<br />
Duldungsbefehl steckt; ferner H ANS K ELSEN, Reine Rechtslehre, Leipzig und Wien<br />
1934, 120; WALTER A NTONIOLLI, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954, 199, der<br />
die Kategorie „rein tatsächlicher Verwaltungsakte“ für das österreichische Recht mit der<br />
Begründung ablehnte, „auch rein tatsächliche Verwaltungsakte [seien] Rechtsvollzug“;<br />
für die Schweizsiehe G IACOMETTI, Lehren (FN8), 55,336 f.<br />
P ETER S ALADIN ,Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, Basel/Stuttgart 1979,<br />
14 f.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 321<br />
cc)<br />
„Ein unruhiger Geselle“<br />
Das Bemühen, mit Hilfe einer separaten Handlungskategorie dem drohenden<br />
Ausufern des Verwaltungsrechtsschutzes Grenzen zu setzen, ist nachvollziehbar.<br />
Die unter anderem zu diesem Zweck geschaffene Figur des Realakts erscheint<br />
indes nach einigen Jahren wenig praxistauglich. Weder erlauben sein –<br />
bei genauerer Betrachtung: diffuser –Handlungszweck noch das ihm zugrunde<br />
liegende Rechtsverständnis eine dogmatisch überzeugende Erfassung. Vielmehr<br />
entpuppt sich der Realakt als „unruhiger Geselle“, mal mehr Rechtsakt,<br />
dann wieder mehr Faktum. Die Charakterisierung, wie sie R UDOLF J HERING<br />
für den Besitz –dem klassischen zivilrechtlichen Realakt –vorgenommen hat,<br />
passtsomitauf den Verwaltungsrealaktvorzüglich:<br />
„Der schlimmste von allen Begriffen aber ist der Besitz, erist ein<br />
höchst unruhiger Geselle, der esaneiner Stelle nie lange aushält,<br />
[…]. Sieh Dir ihn jetzt einmal an: was ist er jetzt? Inder Tat jetzt ist<br />
er ein Recht. Nun warte noch einen Moment. Was ist er jetzt? Beides<br />
zugleich: seinem Wesen nach ein Faktum aber seinen Folgen nach<br />
einem Rechte gleich. Wunderlich! Soeben hätte ich noch darauf geschworen,<br />
dass erseinem Wesen nach ein Recht sei, da er alles, was<br />
zum Wesen des Rechts gehört, ansich trägt. Aber eshilft nicht: sein<br />
Wesen scheint gerade darin zu bestehen, dass erdas nicht ist, was er<br />
ist, oder dass er in jedem Moment dasjenige ist, was ihm gerade einfällt,<br />
–bald in Wahrheit kein Recht, kein Rechtsverhältnis, sondern<br />
ein Faktum, dann ein Recht wie alle andern, dann beides zugleich. Er<br />
ist wie ein Aal, der aller Versuche, ihn zu fassen, spottet; man glaubt<br />
ihn in den Händen zu haben, und er ist wiederentschlüpft.“ 29<br />
2. Artenvon Realakten<br />
a) Heterogenitätder Realakte<br />
Realakte zeichnen sich durch eine ausgesprochene Vielfalt aus. Dem entsprechend<br />
lassen sie sich nach verschiedensten Gesichtspunkten gruppieren. 30 Drei<br />
Kategorisierungen werden imFolgenden zur näheren Betrachtung herausge-<br />
29<br />
30<br />
Zitiert nach R UDOLF J HERING, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Göttingen 1884,<br />
282 ff. (dort wiedergegeben als Zwiegespräch zwischen einem Gelehrten und dem Psychophoros).<br />
Vgl. zu verschiedenen Unterscheidungen statt vieler PIERRE T SCHANNEN, Amtliche<br />
Warnungen und Empfehlungen, ZSR 1999 II, 388 ff.; F LÜCKIGER, L’extension (FN 19),<br />
8f.m.w.H.; PLATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln (FN1), 160 ff.
322 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
griffen: Den Anfang macht eine für das Grundverständnis wichtige Unterscheidung<br />
nach der Regelungsstruktur (Bst. b). Anschliessend soll –der Vollständigkeit<br />
halber –der Blick auf zwei weitere, in der Lehre verbreitet anzutreffende<br />
Unterscheidungen geworfen werden: jene nach der Phänomenologie<br />
(Bst.c)sowie jenenach demVerhältnis zu wichtigen Rechtsakten (Bst.d).<br />
b) Regelungsstruktur und Regelungsmodus<br />
Die öffentlichrechtlichen Rechtsakte werden herkömmlich indie Kategorien<br />
Erlass, Einzelakt (Verfügung, Allgemeinverfügung), Vertrag und Plan unterteilt.<br />
Massgebend für diese Systembildung sind vor allem die beiden Hauptkriterien<br />
Regelungsstruktur (individuell-konkret, generell-konkret, generellabstrakt)<br />
und Regelungsmodus (einseitig, zweiseitig). Jeder dieser Rechtsakttypen<br />
kennt nun unter den Realakten einen strukturell verwandten Schwestertypus:<br />
31<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Einzelakt (Verfügung) –„Real-Einzelakt“ (Weisung, Dienstbefehl, Anordnung,<br />
tatsächliches Handeln,blosse Mitteilung etc.);<br />
Erlass (Gesetz, Verordnung, autonome Satzung) – „Real-Erlass“ (Verwaltungsverordnung,Informations-und<br />
Aufklärungskampagne etc.);<br />
Vertrag (öffentlich-rechtlicher Vertrag) –„ Real-Vertrag“ (informelle Absprache<br />
etc.);<br />
Plan (Nutzungsplan) – „ Real-Plan“ (behördenverbindlicher Richtplan,<br />
Managementplan fürden Braunbären in der Schweiz [KonzeptBär 32 ]).<br />
Jedes (öffentlich-rechtliche) Verwaltungshandeln lässt sich letztlich einer dieser<br />
Kategorienzuordnen.<br />
c) Erscheinungsform und Wirkung<br />
Realakte werden inder Doktrin vor allem nach ihrer Erscheinungs- und Wirkungsform<br />
(Phänomenologie) unterschieden. 33 Eine Differenzierung, der vor<br />
31<br />
32<br />
33<br />
Vgl. in diesem Sinne auch den Entscheid des bernischen Verwaltungsgerichts vom<br />
24. Juli 2006,BVR 2006, 481 E. 4.1 S. 487 f.<br />
Einsehbar unter folgender Internetadresse: .<br />
Vgl. etwa die Unterscheidungen bei TSCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16),<br />
§38 Rz.4ff.; T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 388 ff.; F LÜCKIGER, L’extension<br />
(FN 19), S. 8f.; M OOR, Vol II (FN 1), 26 ff.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 323<br />
allem Anschauungswert zukommt. ImEinzelnen werden etwa die folgenden –<br />
nichtstreng von einander abgrenzbaren–Realakttypen auseinander gehalten:<br />
<br />
<br />
Einfache (schlichte) Tathandlungen: „Formlose“ Tätigkeiten eines Verwaltungs-<br />
oder Justizmitarbeiters zur Erfüllung einer ihm zugewiesenen<br />
Aufgabe (z.B. Aktenstudium, Sitzungsleitung, Ausfüllen von Qualitätssicherungs-<br />
und Evaluationsformularen, Strassenreinigung, Abhalten einer<br />
Schulstunde, chirurgischer Eingriff etc.). Dazu lassen sich auch gewisse<br />
administrative Hilfsgeschäfte imRahmen der sog. Bedarfsverwaltung zählen<br />
(z.B. Sanierung von Büroräumlichkeiten, Schaffung einer verwaltungsinternenKinderkrippe).<br />
34<br />
Vollzugshandlungen: Verwaltungsverrichtungen, die der zwangsweisen<br />
Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Rechte und Pflichten dienen. Dabei<br />
ist zwischen mittelbarem und unmittelbarem Gesetzesvollzug zu unterscheiden:<br />
Von mittelbarem Vollzug spricht man dort, wo esum die Vollstreckung<br />
vorgängig verfügter Rechte und Pflichten geht (z.B. ersatzweiser<br />
Abbruch einer nicht bewilligten Baute). Als unmittelbaren Vollzug des<br />
Verwaltungsrechts bezeichnet man Handlungen, die ohne vorgängige<br />
Sachverfügung, direkt gestützt auf den entsprechenden Verwaltungsrechtserlass<br />
vorgenommen werden. Zu unmittelbarem Gesetzesvollzug<br />
kommt es vor allem dort, wo esrasch eine Gefahren- oder Konfliktsituation<br />
zu bereinigen gilt (z.B. Wegweisen eines mutmasslichen „Rechtsradikalen“von<br />
der1.August-Feier aufdem Rütli).<br />
Auskünfte/Zusicherungen/Stellungnahmen: Erklärungen einer Verwaltungsmitarbeiterin<br />
zu konkreten rechtlichen oder tatsächlichen Gegebenheiten<br />
(z.B. ein Projekt sei baubewilligungsfrei [sog. Wissenserklärung])<br />
oder zu beabsichtigtem behördlichem Verhalten (z.B. Zusicherung, geleistete<br />
Überzeit ausnahmsweise ausbezahlt zubekommen [sog. Willenserklärung]).<br />
35<br />
34<br />
35<br />
Vgl. soauch das Gutachten des Bundesamts für Justiz vom 29. März 1995, VPB 60<br />
(1996) Nr. 1. A.M. H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht (FN 18), Rz.730a.<br />
–Geschäfte der Bedarfsverwaltung werden allerdings häufig mittels zivilrechtlichen<br />
Vertrags und damit mittels zivilrechtlichen Rechtsakts abgewickelt (z.B. der Einkauf<br />
von Büromaterial).<br />
Im Kartellrecht ist beispielsweise umstritten, ob die stillschweigende Zustimmung der<br />
Wettbewerbskommission (WEKO) zu einem Zusammenschlussvorhaben gemäss Art.34<br />
des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen<br />
(Kartellgesetz, KG, SR 251) eine anfechtbare Verfügung darstellt oder<br />
bloss eine Stellungnahme (und damit ein Realakt). Das Bundesgericht liess die Frage offen<br />
(BGE131II497E. 4S.502 ff.).
324 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
<br />
<br />
<br />
Information/Aufklärung : Behördliche Informations-, Aufklärungs- und<br />
Präventionskampagnen zum Zwecke einer zwangsfreien –d.h. ohne Änderung<br />
der Rechtslage –Verhaltensbeeinflussung (z.B. Warnung vor dem<br />
Genuss gewisser Lebensmittel; AIDS-Präventionskampagne, Tabakpräventionskampagne,Impfempfehlung<br />
etc.). 36<br />
Informelle Absprachen: Formlose Vereinbarungen zwischen der Verwaltung<br />
und Privaten mit dem Zweck, unter dem „Damoklesschwert“ hoheitlicher<br />
Zwangsmittel (Verfügung,Verordnung)beimPrivaten ein bestimmtes<br />
Verhalten zu erwirken(z.B. Absprachen im Umweltrecht). 37<br />
Verwaltungsinnenakte 38 : Verwaltungsinterne Anordnungen, die sich an<br />
die Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung richten und überwiegend<br />
den Verwaltungs betrieb betreffen (Dienstbefehle, Weisungen, Richtlinien).<br />
Dazu zählen ferner Anordnungen im besonderen Rechtsverhältnis,<br />
die sich nicht an Verwaltungsmitarbeitende, sondern an die „eingegliederten“<br />
Personen (z.B. Gefängnisinsassen, Schülerinnen, Klinikpatienten)<br />
richten, wie etwa Hausordnungen oder konkrete disziplinarische Massnahmen<br />
(z.B. Beschlagnahme eines störenden Handys während der Schulstunde).<br />
39<br />
Im Verwaltungsinnern gibt es allerdings auch Anordnungen, die das<br />
sog. Grund- und damit das Aussenverhältnis tangieren. Sie sind folglich<br />
als anfechtbare Rechtsakte zu verstehen und werden überwiegend<br />
auch als solche verstanden. Seit langem –injüngerer Zeit immer<br />
heftiger –wird von Teilen der Lehre gefordert, auch die restlichen,<br />
dem sog. Betriebsverhältnis zugeordneten Verwaltungsinnenakte<br />
(Dienstbefehle, Verwaltungsverordnungen etc.), als grundsätz-<br />
36<br />
37<br />
38<br />
39<br />
Zu den verschiedenen Typen staatlicher Informationen siehe statt vieler M AHON ,<br />
L’information (FN 12), 223 ff.<br />
Vgl. hierzu A LEXANDRE F LÜCKIGER, Laloi Damoclès, in: Mélanges Pierre Moor, Bern<br />
2005, 233 ff.; ferner A UGUST M ÄCHLER, Vertrag und Verwaltungsrechtspflege, Zürich<br />
2005, 117f.<br />
Gemäss herrschender Doktrin zählen solche Anordnungen aufgrund ihrer fehlenden<br />
Aussenrechtswirkung zu den „Nicht-Rechtsakten“; sie sind daher konsequenterweise<br />
den Realakten zuzuordnen (vgl. auch F LÜCKIGER, L’extension [FN 19], 60 f.). Vgl. aber<br />
T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 1,§41, §43Rz. 9,die einen<br />
Unterschied zwischen Realakten und Verwaltungsverordnungen bzw. Dienstanweisungen<br />
konstruieren; H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht (FN 18),<br />
Rz. 730a, scheinen Handlungen, die ausschliesslich ins Verwaltungsinnere wirken, vollständig<br />
von der Kategorie der Realakte auszunehmen.<br />
Vgl. dazu etwa BGE 128 II156 E. 3S. 162 ff. (Anordnungen in einer Empfangsstelle<br />
für Asylbewerber).
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 325<br />
lich anfechtbare Rechtsakte zu erfassen. 40 –Auch in Frankreich neigt<br />
die Praxis dazu, die internen Verwaltungsakte (mesures d’ordre intérieur)<br />
vermehrtdem Verwaltungsrechtsschutz zu unterstellen. 41<br />
d) Realakte inihrem Bezug zu Rechtsakten<br />
Realakte und Rechtsakte sind –das konnten (und wollten) die bisherigen Darlegungen<br />
nicht verbergen –nur schwer voneinander abzugrenzen. Kommt hinzu,<br />
dass sie inder Rechtswirklichkeit häufig zusammen, eng ineinander verzahnt<br />
oder zumindest in direktem Bezug zueinander ergehen. Esist daher von<br />
besonderem Anschauungs- und Erkenntniswert, die beiden Handlungstypen<br />
hinsichtlich ihres <strong>gegen</strong>seitigen Verhältnisses näherzu betrachten.<br />
aa)<br />
VerhältniszurVerfügung<br />
Die Lehre hat ihr Augenmerk vor allem auf das Verhältnis der Realakte zur<br />
Verfügung geworfen. Dabei wurden drei Kategorienherausgearbeitet: 42<br />
(1) Verfügungsbezogene Realakte: Zudieser Kategorie werden jene<br />
Akte gezählt, die im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ergehen,<br />
selbst aber keine prozeduralen Rechte und Pflichten<br />
bestimmen und folglich keine Zwischenverfügungen darstellen<br />
(häufig schlichte Tathandlungen). Ferner werden dieser Kategorie<br />
auch jene Handlungen zugerechnet, die –wie typischerweise<br />
Vollstreckungshandlungen –einer Verfügung nachfolgen.<br />
(2) Verfügungsvermeidende Realakte: Unter diesem Terminus werden<br />
Akte verstanden (z.B. Absprachen, Informationen/Aufklärungen),<br />
die es einer Behörde erlauben, auf den Erlass einer verbindlichen<br />
Anordnung in Form einer Verfügung oder eines an-<br />
40<br />
41<br />
42<br />
Vgl. MARKUS M ÜLLER, Das besondere Rechtsverhältnis, Bern 2003, 236 ff. m.w.H.;<br />
T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1), 87 f.<br />
Vgl. CE 8mars 2006 (Weisung betreffend Schulstrafen), in: L’Actualité juridique (AD-<br />
JA) 2006, 1107 ff. Aus dem Schrifttum siehe R ENÉ C HAPUS, Droit administratif général,<br />
Tome 1, 15 e édition, Paris 2001, Rz. 680; BERNARD P ACTEAU, Contentieux administratif,<br />
7 e édition, Paris 2005, 209; J EAN-MARIE A UBY/R OLAND D RAGO, Traité des recours<br />
en matière administrative, Paris 1992, 211 ff. (insbes. die kritische Würdigung einer bisher<br />
zu restriktiven Praxis, 224).<br />
Vgl. dazu insbes. FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 53 ff.; T SCHANNEN, Warnungen<br />
(FN 30), 389 ff.; T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 11ff.;<br />
M OOR,Vol II (FN 1), 26 f.
326 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
deren Rechtsakts zu verzichten. Die Problematik dieser Kategorie<br />
wird augenfällig, wenn man weiss, dass mit der „Flucht“ in<br />
den Realaktauch das Anfechtungsobjektentfällt.<br />
(3) Verfügungsvertretende Realakte :Dazu werden Handlungen gerechnet,<br />
durch die verwaltungsrechtliche Vorschriften unmittelbar,<br />
d.h. ohne vorgängigen Erlass einer Sachverfügung, konkretisiert<br />
und sogleich vollzogen werden (unmittelbare Vollzug).<br />
Verfügungsvertretende Realakte verändern neben der Faktenlage<br />
auch die Rechtslage, was die Problematik der Zuordnung zu<br />
den Realakten verdeutlicht. Eswäre daher –will man diese Akte<br />
tatsächlich den Realakten zuweisen –treffender, anstatt von verfügungsvertretenden<br />
von verfügungsbeinhaltenden oder verfügungseinschliessenden<br />
Realakten zu sprechen, fallen doch in<br />
diesen Konstellationen Verfügungsinhalt und Verfügungseröffnung<br />
bzw. -form zusammen. 43<br />
Vor allem die dritte Kategorie des verfügungsvertretenden Realakts zeigt, dass<br />
auch Realakte durchaus Regelungsabsichten verfolgen. 44 Die Grenze zum<br />
Rechtsakterscheinthier (besonders) künstlich. Dennoch wird inder Lehre zum<br />
Teil am Realaktcharakter solcher Handlungen festgehalten. 45 Es gibt aber auch<br />
Lehrmeinungen,die hier –m.E. zu Recht–von einerVerfügung ausgehen. 46<br />
bb)<br />
VerhältniszumVertrag<br />
Realakte lassen sich auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zum öffentlichrechtlichen<br />
Vertrag betrachten. Sie ergehen hier zunächst während des Verfahrens<br />
auf Zustandekommen des Vertrags, also inden Phasen der Offertstellung,<br />
der Vertragsverhandlungen, der Verhandlungszwischenbeschlüsse und<br />
schliesslich des Akzepts. Sodann kommt es auch in der Vollzugsphase, imZu-<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
Siehe indiesem Sinne auch M OOR, Vol II (FN 1), 158: „la matérialisation de la décision<br />
est la forme de sa notification“; ähnlich für das französische Recht D ELVOLVÉ, L’Acte<br />
(FN 14), 13f.; siehe auch hinten FN 55.<br />
Solche Akte werden daher bisweilen auch etwa als sog. „verfahrensfreie Regelungsakte“<br />
bezeichnet und den Verwaltungsrechtshandlungen zugeordnet (vgl. den Entscheid des<br />
Regierungsrats des Kantons Aargau vom 23. Mai 2001, ZBl 2003 ,311 E. 1S.312 ff.<br />
m.w.H. auf die Lehre).<br />
So namentlich T SCHANNEN/Z IMMERLI,Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 15.<br />
Vgl. MOOR, Vol II (FN 1), 27, 158; FLÜCKIGER, Régulation (FN 1), 187; FLÜCKIGER,<br />
L’extension (FN19), 57.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 327<br />
ge der (Nicht-)Erfüllungshandlungen zu Realakten. 47 ZuAnschauungszwecken<br />
könnte daher auch hier –inAnlehnung an die imVerhältnis zur Verfügung geschaffene<br />
Kategorisierung – von vertragsbezogenen, vertragsvermeidenden<br />
und vertragsvertretendenRealakten gesprochenwerden.<br />
3. Abgrenzung zu besonderen Verfügungstypen<br />
a) Realakt–Fehlerhafte Verfügung<br />
Das Verwaltungsrecht ist nicht formalistisch. Daraus folgt ein Zweifaches:<br />
Erstens mutieren Verfügungen, die aneinem Formfehler (oder Eröffnungsmangel)<br />
leiden, deswegen nicht zuRealakten –sie bleiben Verfügungen. Und<br />
zweitens stellen Akte, die sämtliche Formvoraussetzungen einer Verfügung erfüllen,<br />
allein deshalb noch keine Verfügungen dar. Die rechtliche Qualifizierung<br />
eines Verwaltungsakts hängt nicht von Äusserlichkeiten ab. Verfügung<br />
ist immer nur jenes Handeln, das –ganz unabhängig seines Erscheinungsbildes<br />
–die Merkmale von Art.5VwVG aufweist. 48 Dies gilt es insbesondere auch in<br />
Bezug auf die spezialgesetzliche Qualifizierung eines Akts als „Verfügung“ zu<br />
beachten.<br />
b) Realakt–Spezialgesetzliche Verfügung<br />
Mitunter kommt es vor, dass ein Spezialgesetz gewisse behördliche Anordnungen<br />
als Verfügungen bezeichnet oder verlangt, dass bestimmte Anordnungen<br />
inForm einer schriftlichen Verfügung zu treffen sind. In diesen Fällen<br />
braucht –jedenfalls aus verfahrensrechtlichen Gründen –nicht überprüft zu<br />
werden, obdie Merkmale des materiellen Verfügungsbegriffs erfüllt sind. Solche<br />
als „Verfügungen“ bezeichneteAkte sind ohne weiteres anfechtbar.<br />
Genau genommen kann der Spezialgesetzgeber einen (Real-)Akt, der die<br />
Strukturmerkmale gemäss Art. 5VwVG vermissen lässt, nicht zur „Verfügung“<br />
machen. Die spezialgesetzliche Qualifizierung bedeutet nur (aber immerhin),<br />
dass die Anfechtbarkeit bestimmter Akte unabhängig ihrer eigentlichen<br />
Rechtsnatur erwünscht ist. 49 Gleiches muss für den umgekehrten Fall gel-<br />
47<br />
48<br />
49<br />
Verfahrensvorschriften für vertragliches Handeln fehlen jedoch weitgehend (vgl. dazu<br />
M ÄCHLER, Vertrag [FN 37], 10 ff., 136 ff., 141 ff.).<br />
Vgl. in diesem Sinne FRITZ G YGI ,Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Auflage, Bern<br />
1983, 130 f.; Y VO H ANGARTNER , Die Anfechtung nichtiger Verfügungen und von<br />
Scheinverfügungen, AJP 2003 ,1053 ff.<br />
Vgl.FLÜCKIGER,L’extension (FN 19), 10 mitHinweis aufOTTO M AYER.
328 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
ten: Weist eine staatliche Handlung die Strukturmerkmale der Verfügung auf,<br />
lässt sich daran spezialgesetzlich nichts ändern. Der Gesetzgeber kann diese<br />
Verfügung höchstens fürnichtodernurbeschränktanfechtbarerklären.<br />
Art. 49Abs. 1ATSG 50 schreibt beispielsweise vor, dass „Leistungen,<br />
Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die<br />
betroffene Person nicht einverstanden ist“, vom Versicherungsträger<br />
schriftlich „verfügt“ werden müssen. Selbst wenn dies vom Gesetzgeber<br />
sonicht explizit festgehalten würde, müsste das entsprechende<br />
Handeln des Versicherungsträgers als Verfügung qualifiziert und behandelt<br />
werden. 51 Dies dürfte imÜbrigen für viele Anordnungen zutreffen,<br />
die aufgrund von Art. 51Abs. 1i.V. mit Art. 49Abs. 1<br />
ATSG in einem formlosen Verfahren zu behandeln sind. –Der Gesetzgeber<br />
wollte (und konnte) hier nur seinen Willen zur Anfechtbarkeit<br />
bzw. Nichtanfechtbarkeit dieser Akte zumAusdruck bringen.<br />
Bisweilen kann die spezialgesetzliche Qualifizierung aber auch der Klärung<br />
des bisher –in Lehre und Praxis –umstrittenen Rechtscharakters eines Akts<br />
dienen. So müssen beispielsweise gemäss Art. 35 Abs. 2des Prüfungsreglements<br />
der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern Noten von<br />
Falllösungen, Seminarleistungen, Klausuren und Fachprüfungen einzeln als<br />
Verfügungen eröffnetwerden. 52<br />
c) Realakt –Mündliche Verfügung<br />
Schwierig gestaltet sich die Abgrenzung zwischen (verfügungsvertretendem)<br />
Realakt und mündlicher Verfügung (auch etwa „verfahrensfreier Verwaltungsakt“<br />
genannt 53 ).<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts<br />
(ATSG, SR 830.1).<br />
Demzufolge muss jede Anordnung, welche (Verfahrens-)Rechte und -pflichten einer betroffenen<br />
Person gestaltet, mithin auch Beweisverfügungen (z.B. die Anordnung, sich<br />
einem ärztlich-psychiatrischen Gutachten zu unterziehen), als Verfügung qualifiziert<br />
werden. Hierzu anders das Bundesgericht in BGE 132 V93E. 5.2.6–5.2.10 S. 104ff.;<br />
siehe dazu die berechtigte Kritik von R ENÉ W IEDERKEHR,AJP 2006, 759 ff.<br />
Reglement vom 24. April 2003 über den Studiengang und die Prüfungen an der Rechtswissenschaftlichen<br />
Fakultät der Universität Bern. Vgl. auch etwa §115 des Planungsund<br />
Baugesetzes vom 7. März 1989 des Kantons Luzern (SRL 735), wonach gemeinderätliche<br />
Entscheide betreffend Strassenumbenennung und Häusernummerierung der<br />
Verwaltungsbeschwerde an den Regierungsrat unterliegen; zur umstrittenen Rechtsprechung<br />
im Zusammenhang mit Strassenumbenennungen siehe hintenKap. IV/3/d/bb.<br />
Vgl.HALTNER,Begriff (FN 23), 26 m.w.H.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 329<br />
Worin mag für einen Reiter an der Töss der Unterschied liegen, ob er<br />
durch die „berühmte“ Reitverbotstafel, also mittels Allgemeinverfügung,<br />
54 oder durch einen regionalen Ordnungshüter mit sogenannt<br />
verfügungsvertretendem Realakt oder mündlicher Verfügung am<br />
Weiterreiten gehindert wird? 55<br />
Man kann den Unterschied –sodenn überhaupt einer besteht –einzig darin<br />
sehen, dass nur dort mündlich verfügt werden darf, wo dies unter normalen<br />
Umständen schriftlich und in Beachtung der übrigenVerfahrensvorschriften zu<br />
geschehen hätte, dies aber aufgrund einer spezifischen Situation nichtopportun<br />
erscheint. 56 Folglich kann inFällen, in denen nichtdie Rechts-, sondern nurdie<br />
Faktenlage verändert werden soll, nie mündlich verfügt werden. Eine mündliche<br />
Anordnung könnte diesfalls nur sog. verfügungsvertretender Realakt<br />
sein. 57<br />
d) Realakt –Verfügungsfiktion<br />
An sich besteht zwischen Realakt und Verfügungsfiktion kein Wesensunterschied.<br />
Die fingierte Verfügung ist definitionsgemäss keine Verfügung. Vielmehr<br />
dient sie den rechtsanwendenden Behörden dazu, reales Handeln möglichst<br />
unauffällig der Anfechtung zugänglich zu machen. Ein Weg, von der die<br />
Praxis in den vergangenen Jahren regen Gebrauch gemacht hat. 58 „Fingierte“<br />
und „spezialgesetzliche“ Verfügungen sind damit wesensverwandte Instrumente.<br />
Entsprechend gilt das zu den spezialgesetzlichen Verfügungen Gesagte<br />
sinngemäss auch für die fingierte Verfügung: Auch durch Fiktion wird ein Re-<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
Vgl. hierzu BGE 101 Ia73.<br />
Auch M OOR, Vol II (FN 1), 302, neigt m.E. zu Recht dazu, die bisweilen als verfügungsvertretende<br />
Realakte qualifizierten Handlungen (z.B. Strassensignalisationen, Geste<br />
eines Polizeibeamten) den Verfügungen zuzuordnen. Vgl. für das französische Recht<br />
auch C HAPUS, Droit administratif (FN 41), Rz. 675, der sog. „actes gestuelles“ zu den<br />
prinzipiell anfechtbaren „décisions explicites“ zählt.<br />
Das ist namentlich der Fall, wenn Gefahr im Verzug ist oder wenn sich aufgrund der gesamten<br />
Umstände die Durchführung eines Verfügungsverfahrens nicht als praktikabel<br />
erweist (vgl. etwa BGE 128 II156 E. 3S. 162 ff.; Art. 3Bst. f VwVG), ferner auch<br />
wenn eine Zwischenverfügung der anwesenden Person eröffnet wird (Art.34 Abs. 2<br />
VwVG).<br />
T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §28 Rz. 52, nennen nun aber als<br />
Beispiel einer Allgemeinverfügung den –wohl mündlichen –polizeilichen Befehl, ein<br />
Gebäude oder einen Platz zu räumen. Dies überrascht angesichts ihrer Definition des<br />
verfügungsvertretenden Realakts (vgl. §38Rz.14f.).<br />
Vgl. dazu hinten Kap. IV.
330 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
alakt nicht zur Verfügung, sondern er wird verfahrensmässig nur wie eine Verfügung<br />
behandelt.<br />
Fiktionen sind an sich der Kategorie dogmatischer Verzweiflungsakte<br />
zuzuordnen. Sie lassen sich zwar als Notmassnahmen der Praxis<br />
rechtfertigen, sollten aber nicht zum Standard werden. Vielmehr wäre<br />
vorher die Dogmatik entsprechend anzupassen.<br />
e) Realakt –Verzögerte, Verweigerte Verfügung<br />
Wo eine Behörde untätig bleibt, obwohl sie an sich handeln müsste, begeht sie<br />
ein Unterlassen. Dieses Nichthandeln lässt sich entweder als Realakt (reales<br />
Unterlassen) oder aber als Rechtsakt im Sinne eines Nicht-Entscheids auffassen.<br />
Hierfür ist –bleibt man inder geltenden Dogmatik –massgeblich, ob das<br />
unterlassene Handeln rechtsgestaltender oder faktengestaltender Art ist. Danach<br />
kann von einer Verfügung nur dann ausgegangen werden, wenn bei positiver<br />
oder negativer Antwort der Behörde ein verfügungsmässiges Rechtsverhältnis<br />
begründet worden wäre. 59 Sie bildet sodann Gegenstand einer speziellen<br />
Rechtsverweigerungs- bzw. Rechtsverzögerungsbeschwerde. 60 Im heutigen<br />
Schrifttum wird allerdings die faktische Untätigkeit einer Behörde überwiegend<br />
als Realakt eingestuft. 61 –Die bisweilen schwierige Frage bleibt, obin<br />
einem konkreten Fall die Behörde aufgrund des anwendbaren Rechts hätte verfügungsmässig<br />
handeln müssen. Sie wird durch das neue Hilfsverfahren nach<br />
Art.25 a VwVG allerdings massiv abgeschwächt. 62<br />
4. Rechtliche Grundbedingungen des realen Handelns<br />
Obwohl Realakte nach herrschender Lehre und Rechtsprechung nicht zur Herbeiführung<br />
eines Rechtserfolgs bestimmt sind, bewegen sie sich deswegen<br />
nicht im rechtsfreien Raum. Reales Handeln ist wie jedes andere Handeln des<br />
59<br />
60<br />
61<br />
62<br />
Vgl.GYGI,Bundesverwaltungsrechtspflege (FN 48), 133.<br />
Vgl. aus dem Bundesrecht: Art.94BGG (vorher: Art. 97Abs. 2des Bundesgesetzes<br />
vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege [Bundesrechtspflegegesetz,<br />
OG, BS 3531]); Art. 46 a VwVG (vorher: Art. 70 VwVG). –Auch im<br />
französischen Verwaltungsrecht wird aufgrund spezialgesetzlicher Regelungen das<br />
„Schweigen der Verwaltung“ auf ein Gesuch hin nach einer bestimmten Dauer als anfechtbarer<br />
„acte administratif“ qualifiziert (dazu etwaDELVOLVÉ, L’Acte [FN 14], 12f.;<br />
C HAPUS,Droit administratif [FN 41], Rz. 676 ff.).<br />
Siehe dazu F ELLER,Staatshaftungsrecht (FN 18), 2.Teil, Kap. IV.B.1.a m.w.H.<br />
Dazu hinten Kap.IV.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 331<br />
Staats andie rechtsstaatlichen Handlungsbedingungen gebunden. Dies bedeutet–inaller<br />
Kürze–Folgendes 63 :<br />
<br />
<br />
<br />
Staatliches Handeln –rechtliches und reales –kann nur rechtmässig sein,<br />
wenn die aufgrund der Kompetenzordnung hierfür zuständige Behörde<br />
agiert.<br />
Auch bei einer blossen Änderung der Faktenlage sind die Grundsätze des<br />
rechtstaatlichen Handelns (Art. 5und 36 BV 64 )zu beachten. Dem entsprechend<br />
müssen auch reale Verwaltungshandlungen auf einer hinreichenden<br />
gesetzlichen Grundlage basieren, durch ein öffentliches Interesse<br />
gerechtfertigt sein sowie in ihrer Ausgestaltung das Verhältnismässigkeitsprinzip<br />
beachten.<br />
Realakte müssen schliesslich im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten<br />
stehen, zuvorderst mit den inArt. 8und 9BVverankerten Garantien<br />
elementarer Gerechtigkeit (Willkürverbot, Rechtsgleichheits- und<br />
Diskriminierungsverbot, Treu und Glauben). Der inArt. 35 Abs. 2BV<br />
verankerte Grundsatz, („Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die<br />
Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen“),<br />
65 erstreckt sich auch aufdas reale Verwaltungshandeln.<br />
Wo Realakte sich nicht an diese Rahmenbedingungen halten, sind sie rechtswidrig.<br />
Anders als rechtswidrige Verfügungen lassen sie sich aber grundsätzlich<br />
weder direkt anfechten noch widerrufen. Auch kann man sie nicht nach<br />
dem Vorbild der nichtigen Verfügung als ungeschehen betrachten. Unter Umständen<br />
kann ein rechtswidriger Realakt aber Ersatzansprüche begründen oder<br />
disziplinarische Sanktionen nach sich ziehen. 66<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
Dazu eingehender TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 420 ff.; M OOR, Vol II (FN 1),<br />
29 ff.<br />
Zum Verhältnis von Art. 5 und Art. 36 BV vgl. M ARKUS S CHEFER, Die Beeinträchtigung<br />
von Grundrechten –ZurDogmatik von Art.36 BV, Bern 2006,4ff.<br />
Vgl. dazu P HILIPP H ÄSLER, Geltung der Grundrechte für öffentliche Unternehmen, Bern<br />
2005, 65ff.<br />
Falsche Informationen, Auskünfte oder Zusicherungen können Vertrauensschutzansprüche<br />
nach Art. 9 BV oder Staathaftungsansprüche begründen. Ein Polizeibeamter, der<br />
sich im Rahmen eines Einsatzes <strong>gegen</strong>über Personen unangemessen impulsiv verhält,<br />
riskiert eine Disziplinarmassnahme. –Vgl. zum Ganzen etwa TSCHANNEN/Z IMMERLI,<br />
Verwaltungsrecht (FN 16), §38 Rz. 17; ESTHER T OPHINKE, Bedeutung der Rechtsweggarantie<br />
für die Anpassung der kantonalen Gesetzgebung, ZBl 2006 ,95.
332 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
5. Fazit und Überleitung<br />
Die vorangehenden Darlegungen mögen etwas gezeigt haben: Realakte lassen<br />
sich nur schwer <strong>gegen</strong>über Rechtsakten abgrenzen. Dies hat verschiedene<br />
Gründe. Über diese soll –bevor in den folgenden Abschnitten das alte und das<br />
neue <strong>Rechtsschutz</strong>konzept näher betrachtet werden –ein erstes Mal kurz nachgedacht<br />
werden: Die Unterscheidung Realakt-Rechtsakt fusst in einem historischen<br />
Verständnis von Recht und Rechtsverhältnis. 67 Danach zählen nur jene<br />
Normen zum Recht und bilden Grundlage eines Rechtsverhältnisses, die die<br />
Interessen von zwei autonomen Rechtssubjekten <strong>gegen</strong>einander abgrenzen. Im<br />
öffentlichen Recht hat man daraus geschlossen, dass von einem (Verwaltungs-)Rechtsverhältnis<br />
nur dort zusprechen ist, wo einem Individuum <strong>gegen</strong>über<br />
dem Staat Rechte eingeräumtoder Pflichten auferlegt werden. 68<br />
Für die besonderen Rechtsverhältnisse wird herkömmlich zwischen<br />
Innenrechts- und Aussenrechtsverhältnissen unterschieden. Nur die<br />
Letzteren stellen allerdings „echte“ Rechtsverhältnisse dar. Im allgemeinen<br />
Rechtsverhältnis gibt es diese Zweiteilung der Lebens- und<br />
Normsphären (Innen und Aussen) nicht. Hier wird aber in einem ähnlichen<br />
Sinne nach der primären Zielrichtung der jeweiligen Handlung<br />
unterschieden. Danach bewirkt die Faktengestaltung eine dem Innenrechtsverhältnis<br />
ähnliche Beziehung, während die Rechtsgestaltung<br />
das „echte“ Aussenrechtsverhältnis zu begründen vermag.<br />
Wenn nun inder Lehre etwa gefordert wird, für die Frage des <strong>Rechtsschutz</strong>es<br />
<strong>gegen</strong> Realakte weniger am System der Handlungsformen als vielmehr am<br />
Verwaltungsrechtsverhältnis anzuknüpfen, ist (allein) damit noch wenig gewonnen.<br />
69 Eine Orientierung am Verwaltungsrechtsverhältnis kann nach hier<br />
vertretener Auffassung nur dann eine Vereinfachung und gleichsam eine Verbesserung<br />
der <strong>Rechtsschutz</strong>verhältnisse bringen, wenn sie mit einem neuen<br />
Rechts- und <strong>Rechtsschutz</strong>verständnis verbundenwird. 70<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
Vgl. eingehend M. MÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 200 ff. m.w.H. – Diesem<br />
Rechtsverständnis liegt schliesslich auch noch die gleichsam bekannte wie berüchtigte<br />
Unterscheidung in objektive und subjektive öffentliche Rechte zu Grunde. Siehe dazu<br />
hinten Kap. V/2.<br />
Vgl. statt vieler T SCHANNEN/Z IMMERLI,Verwaltungsrecht (FN 16), §43Rz. 3.<br />
Vgl. TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 391 ff., 437 ff.; siehe dazu auch F LÜCKIGER,<br />
L’extension (FN19), 12 ff., 16.<br />
Dazu im Einzelnen hinten Kap. V/2.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 333<br />
III.<br />
Der <strong>Rechtsschutz</strong> nachalter Bundesrechtspflege<br />
Die Darstellung des Realakts hat gezeigt: Auch Realakte lösen (Rechts- 71 )<br />
Schutzbedürfnisse aus. Dem musste die Praxis über kurz oder lang Rechnung<br />
tragen: Ander Prämisse ohne Rechtsakt kein <strong>Rechtsschutz</strong> wurde dabei im<br />
Grunde festgehalten (Ziff. 1). Mittels pragmatisch-kreativer Umdeutung der<br />
Realakte inRechtsakte hat die Rechtsprechung aber eine sukzessive Öffnung<br />
des <strong>Rechtsschutz</strong>es bewirkt(Ziff. 2).<br />
1. Rechtsakt als <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />
Die Verwaltungsrechtspflege in der Schweiz knüpft –wie erwähnt –amHandeln<br />
inForm von Rechtsakten, insbesondere in Form der Verfügung an. 72 Prozessual<br />
gesprochen: Die Rechtsmittelinstanz tritt auf eine Beschwerde <strong>gegen</strong><br />
einen Realakt mangels Anfechtungsobjekts nicht ein. Dies kann dort zustossenden<br />
Ergebnissen führen, wo tatsächliches Handeln –was häufig der Fall<br />
sein dürfte –direkt oder indirekt auch die Rechte Privater „berührt“ und folglich<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnisse aktualisiert. 73<br />
Das Bedürfnis nach <strong>Rechtsschutz</strong> kann durch die Möglichkeit, die<br />
Rechtmässigkeit eines Realakts imRahmen des Staatshaftungsverfahrens<br />
überprüfen zu lassen, nur unzureichend kompensiert werden.<br />
74 Zum einen entfällt dieser Weg zum vorneherein, wo reales<br />
Handeln zu keinem Schaden führt. Zum andern kann das Staatshaftungsverfahren<br />
nicht zur (kompletten) Restitution (Aufhebung des<br />
fraglichen Akts) führen¸ sondern nur zu einerfinanziellen Kompensationsleistung.<br />
Dabei wäre gemäss bundesgerichtlicher Rechtspre-<br />
71<br />
72<br />
73<br />
74<br />
Da sich –nimmt man die Doktrin ernst –durch Realakte die individuelle Rechtslage eigentlich<br />
nicht verändert, handelt es sich streng genommen gerade nicht um„<strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnisse“.<br />
Vgl. die Literaturhinweise bei T H . MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1), 188 f.<br />
Anm. 726.<br />
Vgl. Y VO H ANGARTNER, Recht auf <strong>Rechtsschutz</strong>, AJP 2002, 146. –Lehre und Rechtsprechung<br />
scheinen sich heute weitgehend darin einig zu sein, dass Realakte „die<br />
Rechtsstellung von Privaten“ berühren können, dies aber an der Rechtsnatur des staatlichen<br />
Handelns grundsätzlich nichts ändert (dazu BGE 130 I369 E.6.1 S. 379f.m.w.H.;<br />
siehe ferner die Hinweise hinten FN 142).<br />
Vgl.FELLER,Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil, Kap. II.B.2.b.
334 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
chung auch möglich, die blosse Feststellung der Rechtswidrigkeit als<br />
„besondere Formder Genugtuung“ zu betrachten. 75<br />
Die grösser werdende Kluft zwischen einer dogmatischen Fixierung auf die<br />
Handlungsform und den real existierenden <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnissen hat die<br />
Praxis schliesslich zu einem pragmatischenVorgehen gezwungen.<br />
2. Pragmatische „Öffnung“<br />
a) Vermehrte Orientierung am <strong>Rechtsschutz</strong>interesse<br />
Um dem durch Realakte verursachten <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis besser Rechnung<br />
zu tragen, hatte die Praxis seit längerem begonnen, sich für die Frage der Anfechtbarkeit<br />
vermehrt am (objektiven) <strong>Rechtsschutz</strong>interesse zu orientieren. 76<br />
Dabei wurde jedoch –zumindest vordergründig –die Fixierung auf die Handlungsform<br />
nicht aufgegeben. Methodisch wählte man folgendes Vorgehen:<br />
Überall dort, wo eine Verletzung individueller Rechtspositionen drohte, wurde<br />
versucht, eineVerfügung zu fingieren . 77<br />
Das Bundesgericht hat dieses Vorgehen inseiner jüngeren Rechtsprechung<br />
ausdrücklich sanktioniert. Sohat es namentlich zum Zwecke eines hinreichenden<br />
Grundrechtsschutzes drei (im Wesentlichen gleichartige) <strong>Rechtsschutz</strong>wege<br />
als zulässig erachtet: 78 der Weg über die Feststellungsverfügung (Bst. b),<br />
der Weg über die Verfügungsfiktion (Bst. c)sowie schliesslich der Weg über<br />
das Anfechtungsobjekt eigenerNatur (Bst.d).<br />
Der Druck der EMRK zu „wirksamem <strong>Rechtsschutz</strong>“ <strong>gegen</strong>über jeglichem<br />
staatlichen Handeln (Art. 13EMRK) hat hier zusätzliche Impulse<br />
gesetzt. Sohat sich das Bundesgericht in jüngerer Zeit ver-<br />
75<br />
76<br />
77<br />
78<br />
BGE 128 I167 E. 4.5. S. 175 m.w.H.<br />
Vgl. die Hinweise bei F LÜCKIGER, Régulation (FN 1), 187ff.; M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis<br />
(FN 40), 89 ff.<br />
Nach D UDEN, Band 5,Das Fremdwörterbuch, 7. Auflage, Mannheim 2001, 313, bedeutet<br />
fingieren „in einer bestimmten Absicht vorspiegeln, vortäuschen, erdichten“. Für den<br />
vorliegenden Kontext passt am besten die Wortsinnvariante „vortäuschen“. Dies deshalb,<br />
weil mit der Fiktion tatsächlich über den Umstand hinweggetäuscht werden soll,<br />
dass eine Verfügung und damit die „conditio sine qua non“ des Verwaltungsrechtsschutzes<br />
fehlt. –SERGIO G IACOMINI, Vom „Jagdmachen auf Verfügung“. Ein Diskussionsbeitrag,<br />
ZBl 1993 ,246 f. m.w.H., kritisiert zuRecht die durch diese Methode bewirkte<br />
Vermischung zwischen Beschwerdebefugnis und Anfechtungsobjekt.<br />
Vgl. BGE 128 I167 E. 4.5 S.175f.–Nicht näher eingegangen wird hier auf die weiteren<br />
vom Bundesgericht erwähnten <strong>Rechtsschutz</strong>möglichkeiten wie das Staatshaftungsverfahren<br />
und das Verfahren der Aufsichtsbeschwerde.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 335<br />
schiedentlich mit der Frage des konventionskonformen <strong>Rechtsschutz</strong>es<br />
<strong>gegen</strong> Realakte auseinandergesetzt. Dabei hat es die drei erwähnten<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>möglichkeiten als den Anforderungen von Art. 13<br />
EMRK genügend erachtet. Implizit hat es in seinen Entscheiden auch<br />
zum Ausdruck gebracht, dass diese <strong>Rechtsschutz</strong>wege nicht nur im<br />
begrenzten Geltungsbereich von Art.13EMRK gelten, sondern generelle<br />
Beachtung finden sollen. 79<br />
b) Der Wegüberdie Feststellungsverfügung<br />
Das durch einen Realakt begründete <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis lässt sich nach Ansicht<br />
des Bundesgerichts unter anderem durch das Zugeständnis eines Anspruchs<br />
des Betroffenen „auf ein entsprechendes Feststellungsurteil“ befriedigen.<br />
80 Ein Feststellungsurteil bzw. eine Feststellungsverfügung liefert dem<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>suchenden einen anfechtbaren Rechtsakt. Damit hat das höchste<br />
Gericht freilich einen Weg gewiesen, der –jedenfalls bei strikter Beachtung<br />
der herrschenden Dogmatik –nicht gangbar gewesen wäre. Begehbar wurde er<br />
nur durch eine pragmatische Ausdehnung des Verfügungsbegriffs, ein Schritt,<br />
der weder in der Lehre noch in der Rechtsprechung eingehender problematisiertworden<br />
ist. Ein paar Gedankenverdient diese dogmatische Frage allemal:<br />
aa)<br />
Feststellungsverfügung als „normale“ Verfügung<br />
Ein Anspruch auf Erhalt einer Feststellungsverfügung hängt vom Vorliegen<br />
eines „schutzwürdigen Interesses“, einem sog. Feststellungsinteresse ab. 81<br />
Darunter verstehtdas Bundesgerichtin konstanter Rechtsprechung:<br />
79<br />
80<br />
81<br />
In diesem Sinne ist jedenfalls die folgende Passage zu interpretieren: „Für die Beurteilung<br />
des erforderlichen <strong>Rechtsschutz</strong>es ist von Art. 13der Konvention zum Schutz der<br />
Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) auszugehen .Danach hat […]“<br />
(BGE 128 I167 E. 4.5. S. 174 [Hervorhebung durch den Autor]); in BGE 128 II156<br />
findet sich gar kein Verweis auf die EMRK.<br />
BGE 128 I167 E. 4.5 S.174 ff.; soweit ersichtlich erstmals inamtlich publizierter Form<br />
in BGE 121I87E. 1b S. 91.<br />
Ein gesetzlicher Anspruch auf Erhalt einer Feststellungsverfügung leitet sich aus der<br />
einschlägigen Verfahrensgesetzgebung ab, imBund aus Art. 25 Abs. 2i.V.m Art.5<br />
Abs. 1Bst. bVwVG. Einige Kantone kennen inihren Verwaltungsrechtspflegegesetzen<br />
das <strong>Institut</strong> der Feststellungsverfügung ebenfalls, andere wiederum sehen diese Möglichkeit<br />
(noch) nicht explizit vor. Vgl. auch die Hinweise bei A NDREAS K LEY, Feststellungsverfügung<br />
–eine ganz gewöhnliche Verfügung?, in: Festschrift Yvo Hangartner,<br />
St. Gallen/Lachen 1998, 232 Anm. 21. Diesem Autor zufolge handelt es sich bei der
336 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
„ein rechtliches oder tatsächliches und aktuelles Interesse an der sofortigen<br />
Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines<br />
Rechtsverhältnisses […], dem keine erheblichen öffentlichen oder<br />
privaten Interessen ent<strong>gegen</strong>stehen und welches nicht durch eine<br />
rechtsgestaltende Verfügunggewahrt werden kann“. 82<br />
Gegenstand einer Feststellungsverfügung bilden demzufolge nur „individuelle<br />
und konkrete Rechte und Pflichten, d.h. Rechtsfolgen“ 83 .Dementsprechend<br />
kann Gegenstand eines Feststellungsbegehrens immer nur „ein Ausschnitt aus<br />
dem individuell-konkreten Rechtsstatus des Petenten sein“. 84 Feststellungsbegehren<br />
und Feststellungsverfügung dienen insoweit der Klärung eines aktuellen<br />
oder potentiellen (Aussen-)Rechtsverhältnisses , d.h. einer konkreten<br />
Rechts-, nicht aber einer konkreten Tatsachenfrage. 85 Der Inhalt einer Feststellungsverfügung<br />
bestimmt sich somit nach dem Verfügungsbegriff von Art. 5<br />
VwVG. 86 Daraus folgt: Nur worüber sich „rechts-gestaltend“ verfügen lässt,<br />
kann auch „rechts-feststellend“ verfügt werden. Die Feststellungsverfügung ist<br />
nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine „,ganz gewöhnliche’ Verfügung“<br />
87 .<br />
bb)<br />
„Verdeckte“ Verfügungsfiktion<br />
Vor dem Hintergrund des etablierten Verfügungsbegriffs erweckt der Einsatz<br />
der Feststellungsverfügung als Mittel, um Realakte und damit gerade nicht<br />
konkrete Rechtsverhältnisse rechtsschutzmässig zu erschliessen, etwas Unbehagen.<br />
Wie dargelegt können nämlich nur jene Staat-Bürger-Beziehungen Gegenstand<br />
von Verfügungen (damit auch von Feststellungsverfügungen) sein,<br />
82<br />
83<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
Feststellungsverfügung um ein <strong>Institut</strong> des allgemeinen Verwaltungsrechts, das auch ohne<br />
verfahrensgesetzliche Grundlage existiert. Vgl. auch BGE 130 V388 E. 2.4. S.391 f.<br />
m.w.H.<br />
BGE 130 V388 E. 2.4. S. 391 f. m.w.H.; ferner etwa: BGE 126 II 300 E. 2c S.303. Vgl.<br />
die Hinweise auf ältere Entscheide bei K LEY, Feststellungsverfügung (FN 81), 240<br />
Anm. 76. –Ein rechtliches Feststellungsinteresse lässt sich dabei unter anderem gerade<br />
aus dem Grundrecht auf <strong>Rechtsschutz</strong> ableiten, wie es sich aus Art. 13EMRK bzw.<br />
Art.29 a BV ergibt (vgl. in diesem Sinne BGE 123 II 402 E. 4b S. 413; ferner dazu R E-<br />
NÉ R HINOW ,Neuere Entwicklungen imÖffentlichen Prozessrecht, SJZ 2003 ,525, der<br />
überdies Art. 9BV als Grundlage erwähnt).<br />
BGE 130 V388 E. 2.5 S. 392.<br />
S ALADIN, Verwaltungsverfahrensrecht (FN 28), 96f.<br />
BGE 130 V388 E. 2.5. S. 392.<br />
Siehe dazu K LEY, Feststellungsverfügung (FN 81), 236 f.<br />
K LEY, Feststellungsverfügung (FN 81), 246; vgl. auch U RS G UENG ,Zur Tragweite des<br />
Feststellungsanspruchs gemäss Art. 25VwVG, SJZ 1971, 369f.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 337<br />
die ein sog. Aussenrechtsverhältnis darstellen. 88 Zueinem solchen soll es aber<br />
beim realen, tatsächlichen Handeln –jedenfalls gemäss herrschender Lehre<br />
und Rechtsprechung –gerade nichtkommen. 89<br />
Dem allem zum Trotz hat hier die Praxis –unterstützt von einem Teil der Lehre<br />
–den Verfügungs- bzw. den Rechtsverhältnisbegriff so ausgedehnt ,dass er<br />
auch blosse „Tatsachen“ zu erfassen vermochte. 90 Im Lichte der geltenden<br />
Dogmatik zum Verfügungsbegriff eigentlich ein Bruch, 91 oder anders gesehen:<br />
eine verdeckte Verfügungsfiktion .Diese schien angesichts des hochwertigen<br />
Ziels, der Öffnung des <strong>Rechtsschutz</strong>es, offenbar tolerabel und dogmatisch<br />
nichtweiter begründungsbedürftig.<br />
Mit der nun vom Gesetzgeber getroffenen neuen <strong>Rechtsschutz</strong>lösung (Art. 25 a<br />
VwVG) begibt man sich wieder auf dogmatisch stabileren Grund. Künftig<br />
wird esnicht mehr nötig sein, einen Realakt –mehr oder weniger abenteuerlich<br />
–ineine Verfügung umzudeuten. Indem Art. 25 a VwVG ein „explizites<br />
Recht auf eine Verfügung“ statuiert, liefert er vielmehr die Grundlage für ein<br />
spezifisches Verwaltungsrechtsverhältnis, das mittels Verfügung festgelegt<br />
werdenkann. 92<br />
88<br />
89<br />
90<br />
91<br />
92<br />
Vgl. statt vieler T SCHANNEN/Z IMMERLI,Verwaltungsrecht (FN 16), §28 Rz. 25ff.<br />
Vgl. auch F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 178, 189.<br />
Dieser Praxis wurde – konkludent und kaum dogmatisch reflektiert – ein breiteres<br />
Rechtsverständnis zugrunde gelegt, wie es beispielsweise in den Sechzigerjahren in<br />
Deutschland vertreten wurde (dazu F LÜCKIGER, L’extension [FN 19], 45 ff.). Ein derartiges<br />
umfassendes Rechtsverständnis würde –wie zu zeigen sein wird –wesentlich zu<br />
einem adäquaten <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> beitragen (dazu hinten<br />
Kap. V).<br />
Vgl. kritisch P AUL R ICHLI, Zum <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> verfügungsfreies Staatshandeln in<br />
der Totalrevision der Bundesrechtspflege, AJP 1998, 1441; P AUL R ICHLI in seiner<br />
Kommentierung von BGE 121 I87in AJP 1995 ,357 f.; A LFRED K ÖLZ/I SABELLE H Ä-<br />
NER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Auflage, Zürich<br />
1998, Rz. 210; siehe auch die Hinweise bei F LÜCKIGER, L’extension (FN 19),<br />
117 ff., 179 Anm. 6. –TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 447, sieht dem<strong>gegen</strong>über darin<br />
nichts „Irreguläres“; K LEY, Festellungsverfügung (FN 81), 237, weist auf Beispiele<br />
aus dem Bereich des Registerwesens hin, wo bisweilen Verfügungen erlassen werden,<br />
die sich ausschliesslich auf Tatsachenfeststellungen beziehen; MAX I MBODEN/R ENÉ<br />
R HINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I, 6. Auflage, Basel 1986,<br />
Nr. 36, 224, weisen aber zu Recht auf die Schwierigkeit hin, zwischen einem „unverbindlichen“<br />
Beschrieb und einer „verpflichtenden“ Tatsachenregistrierung zu unterscheiden.<br />
Zum Recht auf eine Verfügung über ergangene Realakte (allerdings noch ohne explizite<br />
Verfügungsgrundlage) vgl. schon M OOR, Vol II (FN 1), 39 ff.; FLÜCKIGER, L’extension
338 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
c) DerWeg über die„Verfügungsfiktion“<br />
Ein entsprechendes „<strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis“ vorausgesetzt, kann – so das<br />
Bundesgericht –„eine Rechtswegmöglichkeit allenfalls selbst dann bestehen,<br />
wenn keine förmliche Verfügung vorliegt“. 93 Das Bundesgericht hatte hier<br />
zum einen Rechtsverweigerungen und Rechtsverzögerungen im Auge, 94 zum<br />
andern Akte, die in Grundrechtspositionen eingreifen. 95 Das fehlende Anfechtungsobjekt<br />
war nach dieser Praxislinie auf dem Wege der Verfügungsfiktion<br />
zu beschaffen.<br />
Mit dieser Praxisvariante brachte das höchste Gericht besonders deutlich zum<br />
Ausdruck, dass esfür den Zugang zur Verwaltungsrechtspflege –jedenfalls<br />
unter gewissen Umständen –das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als massgebend erachtet,<br />
nicht die Handlungs form. ImBereich besonderer Rechtsverhältnisse, namentlich<br />
im heiklen Abgrenzungsbereich zwischen Verfügungen und Innenakten<br />
(Dienstanweisungen, Dienstbefehle, organisatorische Anordnungen etc.)<br />
wurde dieser Weg schon länger beschritten. Dies geschah allerdings meist ohne<br />
ausdrücklichvon einer Verfügungsfiktion zu sprechen. 96<br />
Illustrativ ist hier ein höchstrichterlicher Entscheid betreffend die Zuteilung<br />
eines Schülers in ein bestimmtes Primarschulhaus. Dabei<br />
handelt es sich –gemäss geltender Dogmatik –fraglos um einen an<br />
sich nicht anfechtbaren Innenakt (organisatorische Anordnung). Das<br />
Gericht hat nun allerdings die Anfechtbarkeit davon abhängig gemacht,<br />
wie stark diese Anordnung in das Leben und den Tagesablauf<br />
des betroffenen Kindes eingreift. Damit hat es sich vom konkreten<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>interesse leiten lassen. 97<br />
93<br />
94<br />
95<br />
96<br />
97<br />
(FN 19), 196ff.; T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 446. Zum „neuen Weg“ vgl. hinten<br />
Kap. IV/2.<br />
BGE 128 I167 E. 4.5 S. 175; siehe ferner BGE 127 I84E.4aS.87; 126 I250 E. 2c<br />
S. 254.<br />
Vgl. dazu vorn Kap. II/3/e.<br />
Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 8. Juni 2001 2P.96/2000 sogar die privatrechtliche<br />
Erhebung von Gebühren durch den privaten Veranstalter und Organisator der<br />
„Braderie“ in La Chaux-de-Fonds als Akt gewertet, der dem Verwaltungsrechtsschutz<br />
unterliegt (vgl. dazu Y VO H ANGARTNER, Urteilsanmerkung, AJP 2002, 67).<br />
Vgl. zumGanzen M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 91 ff. m.w.H.<br />
Vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 28. März 2002 2P.324/2001, Praxis 2002 Nr. 140<br />
E. 3.4 S. 763 f.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 339<br />
d) Anfechtungsobjekt „eigenerNatur“<br />
Eine Spielart des Weges über die Verfügungsfiktion hat das Bundesgericht im<br />
jüngsten „WEF-Urteil“ gewählt. 98 Unbestritten war, dass dem ander Weiterreise<br />
nach Davos gehinderten Journalisten aufgrund von Art. 13EMRK eine<br />
Beschwerdemöglichkeit zustand. 99 Einzig die Rechtsnatur des fraglichen Akts<br />
sowie –damit in direktem Zusammenhang –das auf das Beschwerdeverfahren<br />
anwendbare Verfahrensrecht warfen Fragen auf. Hierzu stellte das Bundesgericht<br />
fest, der Umstand, dass die polizeiliche Anordnung den Journalisten in<br />
verschiedenen verfassungsmässigen Rechten bzw. inKonventionsrechten berühre,<br />
mache diese nicht zur Verfügung. Vielmehr sei die Anordnung –sodas<br />
Bundesgericht wörtlich –„lediglich als Ausgangspunkt für eine wirksame Beschwerde<br />
eigener Natur imSinne von Art. 13EMRK zu betrachten“, worauf<br />
das Verwaltungsverfahrensrecht nicht integral, sondern nur punktuell und analog<br />
zurAnwendung gelange. 100<br />
Bei der Feststellung der Beschwerdefähigkeit des fraglichen Akts liess es das<br />
Gericht bewenden. An der Zuordnung des Handelns zu den Realakten änderte<br />
es nichts, namentlich fingierte eskeine Verfügung. Der hier gewählte Weg ist<br />
schlank und elegant: Der „Beschwerde eigener Natur“ wurde –mit dem Realakt<br />
–einfach ein „Anfechtungsobjekt eigener Natur“ zugeordnet. Auch hier<br />
bestätigt sich: Die Bezeichnung von Rechtsinstituten mit dem Zusatz „eigener<br />
Natur“ oder –noch gewandter –„sui generis“ lässt mit auffallender Häufigkeit<br />
aufdogmatische RatlosigkeitoderDilemmata schliessen.<br />
3. Fazit und Überleitung<br />
Die bisherige Praxis des Bundesgerichts war gekennzeichnet vom ernsthaften<br />
Bemühen, den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte zu verbessern. Dabei hat es sich –<br />
mangels angepasster Dogmatik – in durchaus kreativer Art verschiedener<br />
Spielformen der Fiktion bedient bzw. bedienen müssen. Die Signale ,die das<br />
höchste Gericht damit an die Adresse der Wissenschaft, der Verwaltung und<br />
des Gesetzesgebers aussandte, waren klar und nicht zuüberhören: Verwaltungsrechtsschutz<br />
stur andie Handlungsform zu knüpfen ist unsachgemäss und<br />
zwingt zuumständlichen Täuschungsmanövern. Massgeblich für das Gewähren<br />
von Verwaltungsrechtsschutz muss daher die Handlungswirkung und da-<br />
98<br />
99<br />
100<br />
BGE 130 I369.<br />
Vgl. BGE 130 I369 E.6.1 S. 377 ff.<br />
BGE 130 I369 E.6.1 S. 379; vgl. zu diesem Entscheid R EGINA K IENER, ZBJV 2005 ,<br />
686 ff.
340 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
mit das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse sein. 101 –Die Signale wurden wohl gehört, doch<br />
leider etwas falsch verstanden. Jedenfalls hat der Gesetzgeber mit dem neuen<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>konzept nach Art. 25 a VwVG –wie nun zu zeigen ist –einen anderen<br />
als denvom Bundesgericht vorgezeichneten Weg eingeschlagen.<br />
IV.<br />
Der <strong>Rechtsschutz</strong> nach Art. 25a VwVG<br />
Mit Art. 25 a VwVG beginnt eine neue Ära im <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte.<br />
Die Tragweite dieser neuen Vorschrift auszuloten, ist Ziel der folgenden Ausführungen.<br />
Dabei interessiert als Erstes ihre Einordnung im Gefüge der neuen<br />
Bundesrechtspflege (Ziff. 1). Sodann geht es schwergewichtig darum, den<br />
durch Art. 25 a VwVG vorgespurten neuen <strong>Rechtsschutz</strong>weg zunächst ganz allgemein<br />
(Ziff. 2) und endlich hinsichtlich seiner prozessualen Eckpunkte –den<br />
Eintretensvoraussetzungen (Ziff. 3), den zulässigen Begehren (Ziff. 4)sowie<br />
den verschiedenen Formen des Verfahrensabschlusses (Ziff. 5)–näher zu betrachten.<br />
Den Abschluss dieses Abschnitts machen einige summarische Hinweise<br />
zum Verhältnis zur Staatshaftung (Ziff. 6) sowie zu den kantonalen Verfahrensordnungen<br />
(Ziff. 7).<br />
1. Art.25 a VwVG: Ein Nebenprodukt der neuen Bundesrechtspflege<br />
a) Normgenese<br />
Das <strong>Rechtsschutz</strong>defizit <strong>gegen</strong> Realakte wurde in der Lehre schon seit längerem<br />
thematisiert. 102 Dennoch blieb dieser Aspekt im Rahmen der verwaltungsinternen<br />
Arbeiten zur Totalrevision der Bundesrechtspflege weitgehend unbeachtet.<br />
Quasi in letzter Minute und nicht bar von Hektik hat sich der Gesetzgeber<br />
dieser Problematik aber noch angenommen. Auslöser war eine in der vorberatendenKommission<br />
des Ständerats aufgeworfene Frage:<br />
„Ich frage mich, ob es ausserhalb des Verfügungsbereiches nicht Bereiche<br />
gibt, die ebenfalls in den Genuss des <strong>Rechtsschutz</strong>es kommen<br />
müssten, wenn wir die <strong>Rechtsschutz</strong>garantie ernst nehmen, und zwar<br />
sowohl jene des Bundes (Art. 29 a BV) als auch jene der EMRK<br />
(Art. 6EMRK).“ 103<br />
101<br />
102<br />
103<br />
Vgl. dazu auch hinten Kap. V/1.<br />
Siehe die Hinweise vorn FN 1.<br />
Vgl. Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23. Mai 2002,5.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 341<br />
Die Diskussion war damit–wennauch nurmoderat–lanciert. Die Verwaltung<br />
reagiertedarauf zunächst mit Zurückhaltung. So wurde erklärt, schon nach geltendem<br />
Recht müsse die Behörde „über die Vornahme oder Unterlassung eines<br />
Realaktes oder über die Beseitigung seiner Folgen eine Verfügung erlassen<br />
[…], wenn der Gesuchsteller ein schutzwürdiges Interesse nachweist und der<br />
Realakt geeignet ist, Rechte und Pflichten im Einzelfall zu berühren“. 104 Diese<br />
Einschätzung seitens der Verwaltung vermochte indes nicht zuverhindern,<br />
dass am 22. September 2003 in der ständerätlichen Kommission der Antrag<br />
gestellt wurde, eine neue Vorschrift in den Anhang zum neuen Verwaltungsgerichtsgesetz<br />
aufzunehmen. Für ihre Ausarbeitung lehnte sich die Verwaltung<br />
erklärtermassen enganVorschlägeder Doktrin an. 105<br />
In der Folge gab diese neue Bestimmung weder inden parlamentarischen<br />
Kommissionen noch inden Plenumsberatungen zu irgendwelchen DiskussionenAnlass.<br />
Art. 25 a VwVG war „geboren“, und zwar weitgehend „unbelastet“<br />
von bundesrätlichen und parlamentarischen Reflexionen (meint: gänzlich ohne<br />
erläuternde Materialien). Der Interpretator istgefordert.<br />
b) RelevanteEckwerte der Bundesrechtspflege<br />
aa)<br />
Verfügung als primärer Anknüpfungspunkt<br />
Das Inkrafttreten der Rechtsweggarantie und die totalrevidierte Bundesrechtspflege<br />
ändern –jedenfalls im Grundsatz –amherkömmlichen Verwaltungsrechtspflegekonzept<br />
nichts. Weiterhin bilden Verfügung und Anfechtungsstreitverfahren<br />
die beiden zentralen Pfeiler der Bundesverwaltungsrechtspflege:<br />
Verwaltungsrechtsschutz knüpft also nach wie vor an der Verfügung an.<br />
Art.29 a BV verlangt keine Neudefinition des Anfechtungsobjekts, z.B. im<br />
Sinne einer generellen Erweiterung auf reales bzw. tatsächliches Staatshandeln;<br />
erstünde einer solchen Ausdehnung aber auch nicht prinzipiell ent<strong>gegen</strong>.<br />
106 Vorderhand gibt es aber keinerlei Anzeichen, dass vom verfügungsori-<br />
104<br />
105<br />
106<br />
Vgl. Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23. Mai 2002, 6; der Vertreter des<br />
Bundesamts für Justiz bezieht sich hier vor allem auf TSCHANNEN, Warnungen (FN 30),<br />
444 ff.<br />
Erwähnt werden namentlich die folgenden Werke: F LÜCKIGER, L’extension (FN 19);<br />
T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), insbes. 448–451; R ICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91);<br />
H ANGARTNER, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 73), insbes. 153 f.<br />
Vgl. etwa TOPHINKE, Rechtsweggarantie (FN 66), 92 ff.; M ARKUS M ÜLLER, Rechtsweggarantie<br />
–Chancen und Risiken: Ein Plädoyer für mehr Vertrauen in die öffentliche
342 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
entierten Rechtspflegekonzept abgewichen werden sollte. Im Gegenteil:<br />
Art.25 a VwVG scheintdieses Grundprinzip abermals zu bestätigen. 107<br />
Im verfügungsorientierten Rechtspflegekonzept behält auch das Anfechtungsstreitverfahren<br />
und damit das <strong>Institut</strong> der Beschwerde seine zentrale Bedeutung.<br />
Der Gesetzgeber entschied damit bewusst <strong>gegen</strong> einen Wechsel zu einem<br />
Klagesystem nach deutschem Muster. 108<br />
Die deutsche Verwaltungsrechtspflege kennt ein differenziertes Klagesystem.<br />
Danach spielt die Form des staatlichen Handelns (Verwaltungsakt<br />
oder reales Verwaltungshandeln) für den Zugang zum gerichtlichen<br />
<strong>Rechtsschutz</strong> prinzipiell keine Rolle. Sie ist lediglich für<br />
die Wahl der richtigen Klageart von Bedeutung. Dabei knüpfen die<br />
Anfechtungsklage, also die Klage auf Aufhebung eines Verwaltungsakts,<br />
und die Verpflichtungsklage (Klage auf Erlass eines abgelehnten<br />
oder unterlassenen Verwaltungsakts) an die Verfügung bzw. den<br />
Verwaltungsakt an. Dem<strong>gegen</strong>über dient die sog. Leistungsklage der<br />
Anfechtung informaler Akte. Eine solche Leistungsklage nach deutschem<br />
Muster, mittels der auch Realakte dem (gerichtlichen) <strong>Rechtsschutz</strong><br />
zugeführt werden können, fehlt im schweizerischen (und auch<br />
im französischen) Rechtspflegesystem. Die schweizerischen Justizorgane<br />
sind daher gezwungen, anfechtbare Rechtsakte von prinzipiell<br />
nichtanfechtbaren Realakten zu unterscheiden. 109<br />
bb)<br />
„Entscheid“ und Realakte<br />
Das neue Bundesgerichtsgesetz verleiht dem Begriff des „Entscheids“ für den<br />
vorliegenden Kontext eine spezifische Bedeutung: Anfechtungsobjekt der Einheitsbeschwerde<br />
sind laut Art. 82Bst. aBGG „Entscheide in Angelegenheiten<br />
des öffentlichen Rechts“. Demnach können vor Bundesgericht nicht nur (Ent-<br />
107<br />
108<br />
109<br />
Verwaltung, ZBJV 2004, 173 ff. (m.w.H., insbesondere auf die abweichenden Lehrmeinungen).<br />
Geändert hat sich im Übrigen auch nichts amRechtsverständnis, das dem gesamten<br />
Rechtspflegekonzept zugrunde liegt (zur Überwindung dieses Rechtsverständnisses hinten<br />
Kap. V/2).<br />
Dies wurde auch von einem grossen Teil der Lehre abgelehnt: vgl. insbes. R ICHLI, Regelungsdefizit<br />
(FN 1), 201; F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 2, 121 (siehe auch 192 f.,<br />
m.w.H. auf die Doktrin); MOOR, Vol II (FN 1), 38; T SCHANNEN ,Warnungen (FN 30),<br />
441. Dem<strong>gegen</strong>über stehen G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77), 250 und H ANGARTNER,<br />
<strong>Rechtsschutz</strong> (FN 73), 153, der Einführung eines Klagesystems eher positiv <strong>gegen</strong>über.<br />
Zum deutschen Rechtsmittelsystem eingehend F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 16 ff.,<br />
41 ff., 98 ff.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 343<br />
scheide über) Verfügungen, sondern auch (Entscheide über) Realakte angefochten<br />
werden. Voraussetzung ist allerdings –wie angedeutet –, dass ein<br />
Rechtsmittelentscheid über einen Realakt vorliegt, was wiederum dessen Anfechtbarkeit<br />
im vorinstanzlichen Verfahren bedingt. Obdies möglich ist, bestimmt<br />
sich nach dem einschlägigen (kantonalen oder eidgenössischen) Verfahrensrecht.<br />
110<br />
Sind Realakte von einer kantonalen Verfahrensordnung als Beschwerdeobjekte<br />
zugelassen und die entsprechenden Beschwerdeentscheide<br />
vor Bundesgericht anfechtbar, hat dies –von Bundesrechts<br />
wegen – unmittelbare Konsequenzen für den innerkantonalen<br />
Rechtsmittelzug. Überall dort nämlich, wo der Rechtssuchende mit<br />
Einheitsbeschwerde oder mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde ans<br />
Bundesgericht gelangen kann, schreiben Art. 86und Art. 114 BGG<br />
vor, dass Kantone als unmittelbare Vorinstanzen obere Gerichte einsetzen<br />
müssen. 111 –ImKanton Bern können kommunale Realakte<br />
mittels Gemeindebeschwerde gestützt auf Art. 93Abs. 1Bst. cGG 112<br />
in erster Instanz beim Regierungsstatthalter, in zweiter Instanz beim<br />
Regierungsrat angefochten werden. Der direkte Weiterzug des Regierungsratsentscheids<br />
an das Bundesgericht wird nach neuer Bundesrechtspflege<br />
(abgesehen von Sachausnahmen nach Art. 83ff. BGG)<br />
nur für solche Realakte möglich sein, die eine „vorwiegend politische<br />
Materie“ betreffen (Art. 86Abs. 3BGG). In allen andern Fällen wird<br />
der Kanton vorgängig gerichtlichen <strong>Rechtsschutz</strong> gewährleisten müssen.<br />
110<br />
111<br />
112<br />
Vgl. dazu auch T OPHINKE, Rechtsweggarantie (FN 66), 96; THOMAS G ÄCH-<br />
TER/D ANIELA T HURNHERR, Neues Bundesgerichtsgesetz: <strong>Rechtsschutz</strong> gewahrt, Plädoyer<br />
2006 ,36; ferner differenziert in diesem Tagungsband REGINA K IENER, Die Beschwerde<br />
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, 219 ff.– Möglich ist natürlich auch,<br />
dass im Kanton ein Nichteintretensentscheid ergeht, z.B. mangels eines Anfechtungsobjekts.<br />
Dieser kann unter Umständen an das Bundesgericht gezogen werden, wobei es<br />
dann nur das Nichteintreten prüft und auch das nur unter einer auf Verfassungsverletzungen<br />
eingeengten Kognition (vgl. Art. 95BGG).<br />
Siehe dazu die Beiträge in diesem Tagungsband von R UTH H ERZOG, Auswirkungen auf<br />
die Staats- und Verwaltungsrechtspflege inden Kantonen, 43ff., KIENER, Tagungsband<br />
BTJP 2006 (FN 110) und U LRICH Z IMMERLI, Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde,<br />
283 ff.<br />
Gemeindegesetz vom 16. März1998 (GG-BE,BSG 170.11).
344 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
2. Der „neue“Weg: Verfahren auf Erlasseiner Verfügung<br />
Wie bereits erwähnt: Die neue Bundesrechtspflege ändert an der eisernen Regel<br />
„ohne Verfügung kein Verwaltungsrechtsschutz“ nichts. Die direkte Anfechtung<br />
von Realakten ist weiterhin ausgeschlossen. Eine nähere Betrachtung<br />
von Art. 25 a VwVG macht freilich deutlich, dass diese Norm einen eigentlichen<br />
Paradigmenwechsel im rechtsschutzmässigen Umgang mit Realakten<br />
einleitet:<br />
a) Vom Realakt als Verfügung …<br />
Die bisherige Praxis hat mittels verschiedener Varianten von Verfügungsfiktionen<br />
minimalen <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte gewährleistet. 113 Auf diese Weise<br />
wurden Realakte zu <strong>Rechtsschutz</strong>wecken in (Feststellungs-)Verfügungen<br />
„verkleidet“ und damit in Rechtsverhältnisse „umgedeutet“: Der Realakt als<br />
Verfügung.<br />
Die skizzierten Varianten lassen sich nur schwer mit der geltenden Dogmatik<br />
in Einklang bringen. Für die Variante „offene“ Verfügungsfiktion ist jeder<br />
Versuch aussichtslos; für die Variante „verdeckte“ Verfügungsfiktion (Feststellungsverfügung)<br />
ist es zumindest schwierig. An dieser zweiten Variante hat<br />
nun der Gesetzgeber mit Art. 25 a VwVG aber angeknüpft und sie von dogmatischen<br />
Unebenheiten befreit.<br />
b) …zur VerfügungüberRealakte<br />
Indem Art. 25 a VwVG ein neues, spezifisches Verfahren auf Erlass einer Verfügung<br />
schafft, fügt er sich „harmonisch“ in das herkömmliche verfügungsfixierte<br />
Rechtspflegesystem ein. Tatsache bleibt Tatsache –Realakt bleibt Realakt.<br />
Eine mysteriöse „Verkleidung“ in eine Verfügung ist nicht mehr nötig.<br />
Der <strong>Rechtsschutz</strong> wird anders sichergestellt: Art. 25 a VwVG liefert neu die<br />
Grundlage für ein eigenständiges, nachgeschaltetes Verwaltungsverfahren.<br />
Dieses mündet in eine „Verfügung über Realakte“ und damit in ein „Verwaltungsrechtsverhältnis<br />
über Realakte“. Dabei bildet nicht –wie nach herkömmlicher<br />
Praxis –der fragliche Realakt selbst Gegenstand der Verfügung, sondern<br />
vielmehr der durch Art. 25 a VwVG vermittelte individuelle Rechtsanspruch,<br />
vom Staat in Bezug auf den in Frage stehenden Realakt eine konkrete Positionierung<br />
zu erhalten. Diese kann entweder ineiner „Stellungnahme“ (Feststellung<br />
der [Un-]Rechtmässigkeit) oder in einer „Korrekturhandlung“ (Unterlas-<br />
113<br />
Vgl. vorn Kap. III.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 345<br />
sen, Folgenbeseitigung) bestehen und ergeht in jedem Fall inForm der Verfügung.<br />
Die Verfügung ist rechtsgestaltender (positiver) Natur, wo dem Gesuchsteller<br />
ein den Realakt betreffender Unterlassungs- oder Folgenbeseitigungsanspruch<br />
zugestanden wird. Sie ist feststellender Natur,<br />
wo sie sich zum Feststellungsinteresse in positiver Art äussert. Wird<br />
das Begehren auf Erlass einer positiven oder feststellenden Verfügung<br />
jedoch abgewiesen oder auf dieses gar nicht eingetreten, liegt<br />
eine negative Verfügung vor. 114<br />
3. Die Eintretensvoraussetzungen<br />
Eine Behörde wird das Gesuch um Erlass einer Verfügung über einen Realakt<br />
nur dann andie Hand nehmen, wenn die in Art. 25 a VwVG genannten Voraussetzungen<br />
kumulativ erfüllt sind. Im Einzelnen lassen sich fünf Eintretensvoraussetzungen<br />
auseinanderhalten: die Zuständigkeit der Behörde (Bst. a),<br />
das schutzwürdige Interesse (Bst. b), die öffentlich-rechtliche Handlungsgrundlage<br />
(Bst. c), das Berühren von Rechten oder Pflichten (Bst. d)sowie die<br />
Zulässigkeitdervorgebrachten Begehren (Bst. e).<br />
a) Zuständigkeit derBehörde<br />
Das Gesuch umErlass einer Verfügung nach Art.25 a VwVG istan die für den<br />
konkreten Realakt örtlich, sachlich und funktionell zuständige Verwaltungsbehörde<br />
115 zu richten. Dabei fällt die Zuständigkeit –wie beim Verfügungshandeln<br />
– prinzipiell mit der konkreten Verwaltungskompetenz zusammen. 116<br />
114<br />
115<br />
116<br />
Allgemein zu diesen Verfügungsarten vgl. T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht<br />
(FN 16), §28Rz. 58ff.<br />
Als Behörden kommen (wohl) nicht nur Bundesbehörden, sondern auch die imRahmen<br />
des Vollzugs von Bundesrecht handelnden kantonalen oder kommunalen Verwaltungsbehörden<br />
in Frage. So T OPHINKE, Rechtsweggarantie (FN 66), 95 f. m.w.H.: Sie vertritt<br />
die –zum Teil in der Lehre und Rechtsprechung vertretene –Auffassung, wonach Art.1<br />
Abs. 3VwVG nicht abschliessend sei und Art. 25 a VwVG folglich auch für das letztinstanzliche<br />
kantonale Verfahren Anwendung finden müsse. –Allgemein zum Geltungsbereich<br />
von Art.1Abs. 3VwVG siehe M OOR, Vol II (FN 1), 221 f.<br />
Für das Verfügungshandeln vgl. G YGI, Bundesverwaltungsrechtspflege (FN 48), 131;<br />
zur Zuständigkeit der Verwaltungseinheiten allgemein T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht<br />
(FN 16), §6Rz.8ff.
346 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
Nicht immer decken sich zuständige Behörde und handelnder Akteur. VerschiedeneKonstellationen<br />
lassen sich unterscheiden:<br />
<br />
<br />
<br />
Beleihung 117 :Lagert eine staatliche Behörde die Aufgabenerfüllung an ein<br />
privates Rechtssubjekt aus, bleibt die Zuständigkeit für die Behandlung<br />
eines Begehrens nach Art. 25 a VwVG grundsätzlich bei der verantwortlichen<br />
staatlichen Behörde. 118 Anders zu beurteilen sind (wohl) jene Fälle,<br />
in denen die Aufgabenübertragung auch die Befugnis zu hoheitlichem<br />
Handeln mitumfasst. Hier schlüpft der beliehene Private integral indie<br />
Rolle des Staats. Die im Rahmen der Aufgabenerfüllung ergehenden Akte<br />
sind folglich dem Beliehenen zuzurechnen, was auch seine Zuständigkeit<br />
im Sinne von Art. 25 a VwVG nach sich zieht. 119<br />
Vertrag 120 :Erfolgt eine Aufgabenübertragung im Rahmen eines koordinationsrechtlichen<br />
Vertrages an ein anderes Gemeinwesen, geht damit auch<br />
die Zuständigkeit im Sinne von Art. 25 a VwVG an die verantwortliche<br />
Behörde des mandatierten Gemeinwesens über. 121 Dem<strong>gegen</strong>über bleibt<br />
im subordinationsrechtlichen Vertragsverhältnis die Verantwortung und<br />
damit die Zuständigkeitbeim mandatierenden Gemeinwesen.<br />
Subalterner Akteur: ImZusammenhang mit Realakten werden meist subalterne<br />
Funktionäre (Polizeibeamtin, Mitarbeiter des Tiefbauamts, Gefängniswärter,<br />
Lehrerin etc.) aktiv, die –handelte essich um eine Verfügungsmaterie<br />
–meist nicht selbst verfügen könnten. Behörde imSinne<br />
von Art. 25 a VwVG meint somit die Verwaltungseinheit, der ein „real<br />
handelnder“ Mitarbeiter administrativ zugeordnet (bzw. eingegliedert) ist.<br />
Dort ist folglich das Gesuch einzureichen.<br />
117<br />
118<br />
119<br />
120<br />
121<br />
Zur Beleihung allgemein TSCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §10<br />
Rz. 12ff.; H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht (FN 18), Rz. 1512 ff.; F RITZ<br />
G YGI,Verwaltungsrecht, Bern 1986,56ff.<br />
Zum Beispiel wenn eine private Fachperson im Auftrag der eidgenössischen Bankenkommission<br />
gemäss Art.23 quater Abs. 1des Bundesgesetzes vom 8. November 1934 über<br />
die Banken und Sparkassen (Bankengesetz, BankG, SR 952.0) Untersuchungshandlungen<br />
vornimmt.<br />
Vgl. indiesem Zusammenhang auch etwa BGE 126 I250 E. 2d S.255: „Es muss sich<br />
aber in jedem Falle um Akte oder Anordnungen handeln, welche dem Staat oder einem<br />
Träger öffentlicher Aufgaben zuzurechnen sind […]“.<br />
Allgemein zu den verschiedenen Vertragstypen vgl. statt vieler HÄFELIN/M ÜLLER/U HL-<br />
MANN, Verwaltungsrecht (FN 18), Rz. 1063 ff.; T SCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht<br />
(FN 16), §33 Rz. 15ff.<br />
Vgl. für die kantonale Ebene die vertragliche Übertragung gemeindepolizeilicher Aufgaben<br />
andie Kantonspolizei gemäss Art. 12Abs.2des Polizeigesetzes vom 8. Juni 1997<br />
(PolG-BE, BSG 551.1).
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 347<br />
<br />
Unzuständigkeit: Hat eine nicht zuständige Behörde gehandelt, ist das Gesuch<br />
–sofern für den Betroffenen erkennbar 122 –jener Behörde einzureichen,<br />
die fürden fraglichen Aktrichtigerweisezuständig gewesen wäre.<br />
Vergleichbar mit einem Einspracheverfahren (mit Rechtsmittelfunktion) erlaubt<br />
es Art. 25 a VwVG einer Verwaltungsbehörde, sich nachträglich in<br />
rechtsförmlicher und damit anfechtbarer Weise zu ihren bzw. ihr zurechenbaren<br />
Handlungen zu äussern. 123 Dabei stehen der Behörde alle prozessualen<br />
Möglichkeiten eines Verfahrensabschlusses offen: Nichteintreten, Abweisung,<br />
teilweise sowie vollständige Gutheissung desGesuchs. 124<br />
b) Schutzwürdiges Interesse<br />
Eine Verfügung über einen Realakt kann nur anbegehren, wer ein „schutzwürdiges<br />
Interesse“ darzutun vermag. 125 Damit gilt die imöffentlichen Verfahrensrecht<br />
etablierte Einstiegshürde auch für dieses neue „Hilfsverfahren“. 126<br />
Der Begriff des „schutzwürdigen Interesses“ nach Art. 25 a VwVG ist also<br />
identisch mit dem in Art. 25 VwVG (Feststellungsverfügung) und Art. 48<br />
VwVG (Beschwerdelegitimation) verwendeten gleichlautenden Terminus. Dafür<br />
spricht neben der rein grammatikalischen und systematischen Betrachtung<br />
auch die gleichgerichtete Intention dieser drei Verfahrensvorschriften, nämlich<br />
Popular(beschwerde)verfahren zu vermeiden. Auch in den „dünnen“ Materialien<br />
zu Art. 25 a VwVG finden sich keinerlei Hinweise, die auf eine andere<br />
Begriffsverwendung hindeuten würden.<br />
Die Schutzwürdigkeit des konkreten Interesses lässt sich aufgrund formaler<br />
und materialer Kriterien bestimmen:<br />
122<br />
123<br />
124<br />
125<br />
126<br />
Falls das Gesuch bei der falschen Behörde eingereicht wird, ist diese zur Weiterleitung<br />
verpflichtet. Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz findet namentlich in Art. 8VwVG eine<br />
positivrechtliche Ausprägung.<br />
Vgl. in diesem Sinne auch F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 181, 194; ferner ganz allgemein<br />
zu denVorzügen der Einsprache R ICHLI, Regelungsdefizit (FN1), 200.<br />
Vgl. dazu hintenKap. IV/5.<br />
Nach T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 444, handelt es sich dabei um eine beachtenswert<br />
nahe Beziehung zum Gegenstand des Feststellungsbegehrens, sodass auch eine entsprechende<br />
Beschwerdelegitimation gegeben wäre. Vgl. differenziert zur Problematik<br />
M OOR,Vol II (FN 1), 41 f.<br />
Ganz allgemein besteht ein Anspruch auf Erlass einer Gestaltungs-, Leistungs- und Feststellungsverfügung<br />
nur, wenn ein schutzwürdiges Interesse geltend gemacht werden<br />
kann (statt vieler K ÖLZ/H ÄNER,Verwaltungsverfahren [FN 91],Rz.213).
348 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
<br />
<br />
Rein formal betrachtet liegt ein schutzwürdiges Interesse vor, wenn es<br />
entweder rechtlicher oder tatsächlicher Natur ist. Darüber hinaus muss das<br />
Interesse –bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses der anbegehrten Verfügung<br />
–aktuellund praktisch sein.<br />
In materialer Hinsicht bestimmt sich die Schutzwürdigkeit zum einen<br />
nach dem spezifischen (tatsächlichen oder rechtlichen) Bezug, den die gesuchstellende<br />
Person zum fraglichen Realakt hat. 127 Zum anderen hängt<br />
die Schutzwürdigkeit vom praktischen (tatsächlichen oder rechtlichen)<br />
Nutzen ab, welcher dieanbegehrteLeistungs- oder Feststellungsverfügung<br />
verspricht. –Da generell nur jene Realakte Gegenstand eines Verfahrens<br />
nach Art. 25 a VwVG sein können, die (subjektive) Rechte und Pflichten<br />
des Gesuchstellers berühren, 128 wird das Interesse kaum jeisoliert tatsächlicher<br />
Natur sein. Vielmehr wird es sich regelmässig aus einer Rechtsnorm<br />
ableiten,derenVerletzungoder zumindestBerührung in Frage steht. 129<br />
Ruft man sich den primären Zweck des Verfahrens nach Art. 25 a<br />
VwVG in Erinnerung, nämlich durch die Schaffung eines Anfechtungsobjekts<br />
<strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte überhaupt erst zuermöglichen,<br />
dürfen die Anforderungen an die Schutzwürdigkeit des Interesses<br />
generell nicht hoch angesetzt werden. 130<br />
c) Grundlage imöffentlichen Rechtdes Bundes<br />
Der inFrage stehende Realakt muss sich auf öffentliches Recht des Bundes<br />
stützen oder hätte sich jedenfalls auf solches stützen müssen (Soll-Grundlage).<br />
Damit wird zuallererst –und wohl indiesem Kontext eher unbewusst –etwas<br />
Grundsätzliches in Erinnerung gerufen: Auch reales Handeln des Staats muss<br />
127<br />
128<br />
129<br />
130<br />
So T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 445: Ihm zufolge wird die Behörde dann auf das<br />
Feststellungsbegehren eintreten, wenn der Gesuchsteller eine „besondere Nähe“ zum<br />
Realakt nachweisen kann.<br />
Dazu hinten IV/3/d.<br />
Diese Rechtsnorm ist es denn auch, die im Verbund mit Art. 25 a VwVG einen Anspruch<br />
auf Erlass einer Verfügung vermittelt. Vgl. in ähnlichem Sinne auch M OOR, Vol II<br />
(FN 1),41f.<br />
Dies legen bereits die diversen <strong>Rechtsschutz</strong>garantien nahe (Art. 29 a BV, Art.13<br />
EMRK, Art. 6EMRK). Vgl. zum Recht auf <strong>Rechtsschutz</strong> als schutzwürdiges Interesse<br />
auch vorn FN 82.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 349<br />
sich –wie jedes rechtsstaatliche Handeln (Art. 5Abs. 1BV) –auf eine rechtssatzmässige<br />
Befugnisnorm stützen. 131<br />
Darin liegt der Unterschied zu jener frühen Epoche des Rechtsstaats,<br />
in der das staatliche Handeln noch nicht in derart hohem Masse vom<br />
Legalitätsprinzip durchdrungen und reales Handeln folglich im rechtlich<br />
weithin ungeregelten Bereich möglich war. 132<br />
Hauptzweck dieser Eintretensvoraussetzung ist es nun aber, die dem Verfahren<br />
nach Art.25 a VwVG unterliegendenAktenach zwei Seiten hin abzugrenzen:<br />
<br />
Zum einen <strong>gegen</strong>über Akten, die ihre Grundlage nicht im Verwaltungsrecht<br />
,sondern im Straf-, Zivil- oder Schuld- und Konkursbetreibungsrecht<br />
haben. 133 Der <strong>Rechtsschutz</strong> ist hier auf zivil- oder strafprozessualem Weg<br />
einzufordern. 134 Probleme bieten dürfte vor allem die Abgrenzung zum zivilrechtlichen<br />
realen Handeln. Die etablierten Abgrenzungsmethoden 135<br />
vermögen hier häufig nur gerade „erste Hilfe“ zu leisten. Ineiner Zeit, in<br />
derdie „Fluchtins Privatrecht“ leider meist gekoppelt istmit einer „Flucht<br />
aus der Verwaltungsrechtsdogmatik“, taugen die herkömmlichen Theorien<br />
nur sehr bedingt. 136 Die hier vorgeschlagene Zuordnung der nachfolgend<br />
aufgeführten Handlungen zu den <strong>Verwaltungsrealakte</strong>n dürfte daher kaum<br />
unwidersprochen bleiben:<br />
<br />
Die Weigerung der Post, imRahmen ihrer Wettbewerbsdienste eine nicht<br />
abonnierteInformationsschrifteines privaten Vereins zu versenden. 137<br />
131<br />
132<br />
133<br />
134<br />
135<br />
136<br />
137<br />
So auch B ERNHARD R ÜTSCHE, Rechtsfolgen von Grundrechtsverletzungen, Diss. Bern<br />
2002, 378. Vgl. auch vorn Kap.II/4.<br />
Vgl. dazu vorn Kap. II/2/a .<br />
Z.B. der Abschluss eines privatrechtlichen Vertrags im Rahmen der Bedarfsverwaltung<br />
(vgl. vorn FN 34) oder die strafprozessuale Beschlagnahmung.<br />
Zu beachten ist allerdings, dass öffentlich-rechtliche Entscheide, die einen unmittelbaren<br />
zivilrechtlichen Einschlag haben mit Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 Abs. 2Bst. b<br />
BGG) und öffentlich-rechtliche Akte des Straf- und Massnahmenvollzugs mit Beschwerde<br />
in Strafsachen (Art.78 Abs. 2Bst. bBGG) anzufechten sind (siehe auch Botschaft<br />
Bundesrechtspflege [FN 3], 4307 f., 4313). Vgl. hierzu namentlich die Beiträge in<br />
diesem Tagungsband von H ANS P ETER W ALTER, Neue Zivilrechtspflege, 113 ff. und<br />
F ELIX B OMMER,Grundlinien der Strafrechtspflege nach Bundesgerichtsgesetz, 153ff.<br />
Zu den einzelnen Theorien statt vieler H ÄFELIN/M ÜLLER/U HLMANN, Verwaltungsrecht<br />
(FN 18), Rz. 250ff.; TSCHANNEN/Z IMMERLI, Verwaltungsrecht (FN 16), §18Rz. 4ff.;<br />
W ALTER R. S CHLUEP, Einladung zur Rechtstheorie, Bern 2006, 165 ff.<br />
Siehe zur Abgrenzungsproblematik auch P LATTNER -STEINMANN, Verwaltungshandeln<br />
(FN 1),54ff., 102 ff.; allgemein dazu M. M ÜLLER,Verwaltungsrecht(FN 5), 87f.<br />
Vgl. aber BGE 129 III 32 E. 6S. 42, wo das Bundesgericht festhält, die Post handle im<br />
Bereich der Wettbewerbsdienste nach den Regeln des Privatrechts.
350 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Aktivitäten der „AIDS-Hilfe-Schweiz“ imRahmen der Präventionskampagne<br />
„Don Juan“ (z.B. Verteilen von Flyern, Besuch in Bars und<br />
Clubs). 138<br />
Die Patrouille- und Kontrolltätigkeit zweier Mitarbeiter der Securitrans<br />
AG im BahnhofBern. 139<br />
Das (unterbliebene) Einsammeln von Kehrichtsäcken durch eine öffentliche<br />
Abfallverwertungs-AG. 140<br />
Zum andern <strong>gegen</strong>über Akten, die sich auf kantonales und nicht auf eidgenössisches<br />
Verwaltungsrecht abstützen. Hier kann auf die bewährten<br />
Abgrenzungsregeln zurückgegriffen werden, welche Lehre und Praxis für<br />
die mit der neuen Bundesrechtspflege überholte Abgrenzung zwischen<br />
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtlicher Beschwerde entwickelthaben.<br />
141<br />
d) Berühren von Rechten oder Pflichten<br />
Realakte wollen und können gemäss vorherrschendem Begriffsverständnis<br />
keine (Aussen-)Rechtsverhältnisse begründen, ändern oder aufheben. Lehre<br />
und Praxis haben freilich längst erkannt, dass auch „reales Handeln“ die private<br />
(Aussen-)Rechtssphäre sehr wohl „berühren“ oder gar verletzen kann. 142 Indem<br />
Art. 25 a VwVG nungenaujene rechtsrelevanten Tathandlungen anvisiert,<br />
trägt er dem <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnis (besser) Rechnung. Entscheidend ist nun<br />
allerdings, wann bzw. abwann man von einem „Berührtsein in Rechten und<br />
138<br />
139<br />
140<br />
141<br />
142<br />
Die Aids-Hilfe Schweiz (AHS) ist ein privatrechtlicher Verein. Er realisiert –zum Teil<br />
im Auftrag des Bundesamts für Gesundheitswesen –bestimmte Präventionsprojekte, so<br />
z.B.auch dasProjekt„Don Juan“.<br />
Die Securitrans Public Transport Security AG ist ein Gemeinschaftsunternehmen der<br />
SBB AG (51%) und der Securitas AG (49%). Die Securitrans AG bietet ihre Dienstleistungen<br />
in den Bereichen Bahnpolizei, Objektschutz und Baustellensicherheit allen interessierten<br />
öffentlichen Transportunternehmen an.<br />
Vgl. das Beispiel eines privaten Unternehmers, der im Auftrag einer Gemeinde Kehrrichtsäcke<br />
einsammelt (oder eben nicht), bei G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77), 242.<br />
Vgl. statt vieler W ALTER K ÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde,<br />
2.Auflage, Bern 1994, 288 ff.<br />
Vgl. aus der Lehre etwa FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 9f.; B RÜHWILER-FRÉSEY,<br />
Realakt (FN 11), 278 ff.; SCHEFER, Beeinträchtigung (FN 64), 31ff. (in Bezug auf<br />
Grundrechtsbeeinträchtigungen); T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 440, weist ferner<br />
sehr zu Recht auf jene Kategorie von Realakten hin, „die wegen ihres Regelungsanspruchs<br />
selber den Grund zu Rechtsverhältnissen legen können“; siehe ferner aus der<br />
höchstrichterlichen Rechtsprechung: BGE 130 I369E.6.1 S. 379f.m.w.H.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 351<br />
Pflichten“ imSinne des Gesetzes sprechen darf. Drei Fragen stellen sich in<br />
diesem Zusammenhang: Welcher Natur sind die berührten Rechte und Pflichten?<br />
(Bst. aa) Was genau ist mit „ berühren “gemeint? (Bst. bb) Und schliesslich:<br />
Wie verhält sich diese Eintretensvoraussetzung zu jener des „ schutzwürdigenInteresses<br />
“? (Bst. cc)<br />
aa)<br />
SubjektiveRechtspositionen?<br />
Zunächst fällt auf, dass der Gesetzgeber inseiner Formulierung –ent<strong>gegen</strong> der<br />
Doktrin, auf die er sich ausdrücklich bezieht 143 –offen lässt, obder Realakt<br />
objektiveodersubjektiveRechteberühren muss.<br />
Das Begriffspaar objektive-subjektive öffentliche Rechte bedarf hier<br />
der kurzen Erläuterung: Unter objektivem Recht wird die Gesamtheit<br />
der in einem Gemeinwesen geltenden Rechtsvorschriften verstanden,<br />
egal welcher Normstufe, egal welchenInhalts. Die subjektivenRechte<br />
machen eine Teilmenge des objektiven Rechts aus. Über Begriff und<br />
Tragweite der subjektiven Rechte besteht bis heute kaum Einigkeit.<br />
144 Immerhin hat sich hierzu ein minimaler Grundkonsens herausgebildet:<br />
Danach gelten als subjektive öffentliche Rechte all jene<br />
(objektiven, dem öffentlichen Recht zugehörigen) Rechtsvorschriften,<br />
die einen „subjektiven –also einer bestimmten Person zurechenbaren<br />
–Anspruch“ 145 verleihen. – Dieses Begriffsverständnis wird<br />
den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt.<br />
Aus den Materialien lässt sich diese Frage nicht mit letzter Gewissheit beantworten.<br />
Immerhin finden sich Hinweise, wonach man von subjektiven Rechten<br />
ausgegangen ist:<br />
Als Indiz hierfür darf zunächst gewertet werden, dass die erwähnte<br />
sprachliche Abweichung des Gesetzestextes von den angeführten Literaturstellen<br />
inkeiner Weise kommentiert wird, mithin keine tiefere<br />
Bewandtnis haben dürfte. Sodann deutet das Votum des wissenschaftlichen<br />
Mitarbeiters des Bundesamts für Justiz anlässlich der<br />
Sitzung der Rechtskommission des Ständerats in diese Richtung:<br />
Zum einen spricht er von Realakten, die geeignet sind, „Rechte und<br />
143<br />
144<br />
145<br />
Vgl. insbes. T SCHANNEN ,Warnungen (FN 30), 444: „Rechte und Pflichten von Privaten“<br />
(Hervorhebung durch den Autor).<br />
Vgl. THOMAS G ÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, Zürich 2005, 286ff.<br />
Siehe zumBegriffspaar auch S CHLUEP, Einladung (FN135), 172 ff.<br />
G ÄCHTER,Rechtsmissbrauch (FN 144), 295.
352 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
Pflichten im Einzelfall zu berühren“; zum andern erwähnt er als Beispiel<br />
die Behauptung eines Gesuchstellers „durch die neue Bezeichnung<br />
eines Bundesamtes in seiner Persönlichkeitverletzt zusein“. 146<br />
Dass subjektive Rechte gemeint sein dürften, ergibt sich schliesslich aus dem<br />
Zweck von Art.25 a VwVG,nämlich den Individualrechtsschutz<strong>gegen</strong> Realakte<br />
zu ermöglichen bzw.zu optimieren.<br />
Nach dem Gesagten wird auf ein Begehren nach Art. 25 a VwVG nur eingetreten,<br />
wenn der konkrete Akt geeignet ist, den Gesuchsteller –zumindest indirekt–in„eigenen“<br />
Rechtspositionen zu „berühren“. 147<br />
Eine Person wird sich beispielsweise nicht über den Weg von<br />
Art. 25 a VwVG <strong>gegen</strong> eine staatliche Informationskampagne zur<br />
Wehr setzen können, wenn sie zwar das Fehlen einer hinreichenden<br />
gesetzlichen Grundlage, nicht aber ein Berührtsein in eigenen<br />
(Grund-)Rechten nachzuweisen vermag.<br />
bb)<br />
Intensitätdes Berührens<br />
Ein Blick ins Wörterbuch bestärkt zunächst das alltagssprachliche Vorverständnis,<br />
wonach mit „ berühren“ 148 wenig Invasives gemeint ist. 149 Darin liegt<br />
wohlbereits der Hauptunterschied zum Gestalten der individuellenRechtslage,<br />
146<br />
147<br />
148<br />
149<br />
Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23.Mai 2002, 6.<br />
In diesem Sinne auch T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 444: „Die Behörde nimmt ein<br />
Feststellungsbegehren u.a. dann nicht an die Hand, wenn esdem Gesuchsteller um die<br />
Beantwortung abstrakter Fragen des objektiven Rechts geht oder wenn nur die tatsächlichen<br />
Verhältnisse geklärt werden sollen“. –Auch die Vorschriften (Art. 25 des Bundesgesetzes<br />
vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG, SR235.1), Art.5des Bundesgesetzes<br />
vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz,<br />
GIG, SR151.1) und Art.28 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom<br />
10. Dezember 1907 (ZGB, SR 210), die dem Gesetzgeber als Beispiele gedient haben,<br />
gehen jeweils von einem Akt aus, der die gesuchstellende Person in ihren subjektiven<br />
(Persönlichkeits-)Rechtenberührt.<br />
Der Duden, Das Synonymwörterbuch, Mannheim 2004, 194, nennt als Synonyme: anfassen,<br />
anfühlen, anrühren, anstreifen, antasten, antippen, antupfen, befühlen, begreifen,<br />
betasten, fassen, streifen, tippen.<br />
Das Bundesgericht verwendet den Begriff des Berührens oder Tangierens regelmässig,<br />
wenn es zum Ausdruck bringen will, dass ein Handeln in den Schutzbereich eines<br />
Grundrechts fällt oder fallen könnte (vgl. statt vieler: BGE 127 I145 E. 4d/cc S. 157). In<br />
der Verfahrensgesetzgebung findet man den Ausdruck „berührt“ insbesondere im Zusammenhang<br />
mit der Umschreibung der Beschwerdelegitimation (z.B. Art. 48Bst.a<br />
VwVG;Art.89Abs. 1Bst. bBGG).
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 353<br />
wie es Rechtsakte, nicht aber Realakte bezwecken. 150 Weiterführende Hinweise<br />
zum beabsichtigten Begriffsverständnis sind –mangels Materialien –einzig<br />
aus der Literatur zu gewinnen. Doch auch dort sind sie nur spärlich vorhanden<br />
und durchwegs selbst interpretationsbedürftig. Klar scheint, dass mit „berühren“<br />
vor allem die mit einem Realakt einhergehenden rechtlichen Reflexwirkungen<br />
erfasst werden sollen. Darunter sind vom Staat nicht beabsichtigte, als<br />
unvermeidbare Effekte tatsächlicher Handlungen aber in Kauf genommene<br />
Rechtswirkungen zu verstehen. 151 Solche Rechtsreflexe können sowohl Grundrechtspositionen<br />
–daran mag der Gesetzgeber besonders gedacht haben 152 –<br />
als auch „einfache“, durch Gesetz und Verordnung regulierte und statuierte<br />
Rechtspositionenbetreffen: 153<br />
<br />
<br />
<br />
Den Tagesablauf betreffende Anordnungen in einer Empfangsstelle für<br />
Asylbewerbende können die Freiheitsrechte der Insassen berühren. 154<br />
Eine Medienmitteilung von Swissmedic, inwelcher das <strong>Institut</strong> die diversen<br />
Hersteller desselben Präparats ermuntert, zur Ankurbelung des Preiswettbewerbs<br />
entsprechende Zulassungsgesuche einzureichen, berührt u.U.<br />
die Wirtschaftsfreiheit des ehemaligen Patentinhabers. 155<br />
Die Umbenennung einer Strasse kann Reflexe inden Persönlichkeitsrechten<br />
eines Anwohners bewirken. 156<br />
150<br />
151<br />
152<br />
153<br />
154<br />
155<br />
156<br />
Vgl. TH .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1), 86: Erunterscheidet zwischen Rechtsakten<br />
als sog. Rechtsgeneratoren („Rechtsform als Rechtsgenerator“) und anderen Handlungsformen,<br />
die „Rechte berühren, beeinflussen, allenfalls indirekt verändern oder verletzen,<br />
aber nie direkt, sozusagen von innen heraus, erzeugen, verändern oder verschwinden<br />
lassen“.<br />
Vgl. TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 390: Zum Teil wird in diesem Zusammenhang<br />
gar von „rechtsverhältnisbestimmenden Realakten“ gesprochen (444); zum Begriff der<br />
Reflexwirkungen siehe T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1), 172 f.; vgl. ferner<br />
zu den Reflexrechten und ihrem Bezug zur Theorie der subjektiven öffentlichen Rechte<br />
auch F LEINER, <strong>Institut</strong>ionen (FN 7), 145 ff.<br />
Der Schritt zur Anerkennung des Grundrechtsverhältnisses als Verwaltungsrechtsverhältnis<br />
liegt hier nahe. Vgl. M ARKUS M ÜLLER, <strong>Rechtsschutz</strong> im Bereich des informalen<br />
Staatshandelns, ZBl 1995, 550f.; T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 403 ff.<br />
Vgl. in diesemSinne M OOR,Vol II (FN 1), 30 ff.<br />
Vgl. hierzu BGE 128 II156E. 3S. 162 ff.<br />
Zu einer ähnlichen Fallkonstellation vgl. VPB 70 (2006)Nr. 21.<br />
Vgl. aus der Judikatur den Entscheid des zürcherischen Verwaltungsgerichts vom<br />
11. März 1999, ZBl 2000, 80ff.; Entscheid des Zuger Regierungsrats vom 13. August<br />
1991, ZBl 1992, 234 ff. (insbes. die Bemerkungen von G EORG M ÜLLER, 238). Aus der<br />
Doktrin siehe F LÜCKIGER, Régulation (FN 1), 188; G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77),<br />
237 f.; TOBIAS J AAG, Zur Rechtsnatur der Strassenbezeichnung, recht 1993 ,50ff. –Vgl.
354 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
<br />
<br />
Die körperliche Untersuchung durch Zollbeamte, die bei Vorliegen eines<br />
Verdachts, verbotene oder zollpflichtige Waren auf sich zu tragen, 157<br />
durchgeführt wird, tangiert die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen.<br />
Die Tabakpräventionskampagne des BAG kann die wirtschaftliche Entfaltung<br />
eines Tabakunternehmens beeinträchtigen und insoweit Reflexe im<br />
Schutzbereich der Wirtschaftsfreiheitzeitigen.<br />
Von einem relevanten Rechtsreflex kann nun allerdings erst ab einer minimalen<br />
Intensität gesprochen werden. 158 Hier setzt wiederum der Begriff des „Berührens“<br />
den Massstab. Dieser ist –zumal sich die Frage im Rahmen des Eintretens<br />
stellt –nicht streng. Esmuss genügen, wenn der Gesuchsteller eine<br />
„potentielle“ Rechtsverletzung plausibel machen kann. Dies bedingt, dass der<br />
fragliche Aktüberhaupt(subjektive)Rechteund Pflichten berühren kann .<br />
Mit Bezug auf einen Grundrechts-Reflex muss daher nicht bereits<br />
zweifelsfrei ein Eingriff inden Schutzbereich feststehen. Es genügt,<br />
wenn der Gesuchsteller darzulegen vermag, dass ein vom Realakt<br />
ausgehender Reflex grundrechtsrelevant, mithin den Grad eines Eingriffs<br />
annehmen könnte. Ob schliesslich (Grund-)Rechte tatsächlich<br />
betroffen oder gar verletzt sind, wird erst im Rahmen der materiellen<br />
Prüfung zu klären sein. 159<br />
Die Hürde des „Berührens in Rechten oder Pflichten“ ist also bewusst nicht<br />
hoch angesetzt. Die erwähnten Beispiele dürften sie jedenfalls alle problemlos<br />
meistern. Die Praxis wird allerdings gut daran tun, diese Eintretensvoraussetzung<br />
nicht allzu grosszügig zu handhaben. Die inden Materialien erwähnte<br />
„Umbenennung eines Bundesamtes“ 160 gibt insoweit ein schlechtes Beispiel<br />
ab. Selbst einfühlsame und phantasievolle „Geister“ vermögen darin keine relevante<br />
Rechts berührung zu erblicken. Setzte man die Schwelle so niedrig an,<br />
könnte dies –so der Albtraum vieler Justizmitarbeitenden –leicht eine Flut<br />
von Beschwerden zurFolge haben.<br />
157<br />
158<br />
159<br />
160<br />
auch das in den Materialien zu Art. 25 a VwVG angeführte Beispiel der Umbenennung<br />
einer Einheit der Bundesverwaltung (vorn Kap.IV/3/d/aa).<br />
Vgl. Art. 36 Abs. 5des Zollgesetzes vom 1. Oktober 1925 (ZG,SR631.0).<br />
Es gibt staatliches Handeln, das vernachlässigbare Reflexwirkungen auf die Rechte zeitigt.<br />
Wodie Grenze imEinzelnen zu ziehen ist, dürfte auch unter Art.25 a VwVG höchst<br />
umstritten bleiben.<br />
In diesem Sinne auch T SCHANNEN ,Warnungen (FN 30), 445. Vgl. auch die Formulierung<br />
in BGE 126 I250 E. 2d S.254: „wieweit das betreffende Verhalten geeignet ist,<br />
Grundrechtezu verletzen“.<br />
Vgl. vornFN146.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 355<br />
cc)<br />
Verhältniszumschutzwürdigen Interesse (Hinweis)<br />
Grundsätzlich sind die beiden Eintretensvoraussetzungen auseinander zu halten:<br />
Das schutzwürdige Interesse ist eine personenbezogene, das Berühren in<br />
Rechten oder Pflichten eine aktbezogene Eintretensvoraussetzung. 161 Dennoch<br />
bedingen sie sich wechselseitig: Indem als Verfahrens<strong>gegen</strong>stand nur Akte in<br />
Frage kommen, die subjektive Rechte und Pflichten des Gesuchstellers berühren,<br />
dürfte die Schutzwürdigkeit meist rechtlich (mit)begründet sein. Konkret:<br />
Ein schutzwürdiges Interesse am Erlass einer Gestaltungs- oder Feststellungsverfügung<br />
wird stets ein beträchtliches rechtliches „Berührungspotential“ aufweisen.<br />
e) ZulässigeBegehren<br />
Die zuständige Behörde muss das Verfahren auf Erlass einer Verfügung nur<br />
einleiten, wenn der Gesuchsteller (zumindest) eines der drei inArt. 25 a Abs. 1<br />
Bst. a–c VwVG vorgesehenen Begehren stellt. 162 Obwohl der Gesetzestext nur<br />
von „Handlungen“ spricht, ist damit keine Beschränkung auf positive Realakte<br />
(actes matériels positifs) beabsichtigt; negative Realakte –d.h. Akte des Unterlassens<br />
(actes matériels négatifs) –sind selbstredend mitgemeint. Dies findet<br />
sich sowohl inden Materialien 163 als auch in der dort zitierten Literatur bestätigt,<br />
wo das Nichthandeln (inactivité) in selbstverständlicher Art als Realakt<br />
verstanden wird. 164 Schliesslich ergibt sich diese Sichtweise auch aus dem<br />
Normzweck, der darauf zielt, <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> jegliches reales Staatshandeln<br />
zu ermöglichen, das <strong>Rechtsschutz</strong>bedürfnisse auslöst. Dass dies nicht nur<br />
durch Tun, sondern auch durch Unterlassen geschehen kann,istoffensichtlich.<br />
In den Sommermonaten kann sich beispielsweise ein schleimhautgereizter<br />
Bürger durchaus inrechtsschutzwürdiger Weise daran stören,<br />
dass der Staat Ozon-Warnungen und Empfehlungen zu umweltverträglichem<br />
Verhalten unterlässt.<br />
161<br />
162<br />
163<br />
164<br />
Im gleichen Sinne ist auch im Zusammenhang mit der Anfechtung von Rechtsakten<br />
grundsätzlich zwischen Beschwerdelegitimation und Anfechtungsobjekt zuunterscheiden.<br />
Dazu nachfolgend Kap. IV.4.<br />
Vgl. immerhin Protokoll Rechtskommission des Ständerats vom 23. Mai 2002, 6,woder<br />
Vertreter der Verwaltung (BJ) von „Vornahme oder Unterlassung eines Realaktes“<br />
spricht.<br />
Vgl. z.B. RICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91), 1437 f.; FLÜCKIGER, L’extension (FN 19),<br />
184 ff.; MOOR, Vol II (FN 1), 39 f.; P LATTNER-STEINMANN, Verwaltungshandeln<br />
(FN 1),50.
356 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
4. Die drei Begehren<br />
a) „Wirksamer“ <strong>Rechtsschutz</strong> als Ziel<br />
Der bislang von der Praxis zur Verfügung gestellte <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte<br />
ist unsicher und über weite Teile unzureichend. <strong>Rechtsschutz</strong>suchende<br />
wünschen sich hier nicht nur mehr Klarheit in Bezug auf den einzuschlagenden<br />
Weg, sondern auch mehr Wirksamkeit der anbegehrten Massnahmen. In<br />
der Regel streben sie –dem typischen Sanktionszweck der Verwaltungsrechtspflege<br />
entsprechend –die vollständige Restitution an: Der Staat soll die negativen<br />
–tatsächlichen oder rechtlichen –Folgen eines (widerrechtlichen) Realaktsbeseitigen.<br />
165<br />
Realakte führen häufig zu irreversiblen Folgen, was eine Restitution<br />
verunmöglicht. 166 Dies allein ist freilich kein Grund, den Weg zum<br />
Verwaltungsrechtsschutz zu verschliessen. Vielmehr ist darüber<br />
nachzudenken, inwieweit mit anderen Sanktionsarten (Prävention,<br />
Kompensation) den Anliegen des <strong>Rechtsschutz</strong>suchenden Rechnung<br />
getragen werdenkann. 167<br />
Je nach Art und Wirkung des realen (Nicht-)Handelns bedarf es hierzu unterschiedlicher<br />
Massnahmen. Obsolche bereits nach geltendem Verfahrensrecht<br />
durch Erwirken entsprechender Gestaltungsverfügungen hätten verlangt werden<br />
können, 168 ist ungewiss. Um ganz sicher zu gehen, stellt nun der Gesetzgeber<br />
inArt. 25 a Abs. 1Bst. a–c VwVG explizit drei, nicht scharf voneinander<br />
abgrenzbare Begehren zurVerfügung (vgl.nachfolgend Bst.b–d):<br />
165<br />
166<br />
167<br />
168<br />
Vgl. dazu F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil, Kap. II.D.2.; siehe auch F LÜ-<br />
CKIGER, L’extension (FN 19), 186ff.<br />
Vgl. FELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil, Kap. II.D.1.; R ÜTSCHE,Rechtsfolgen<br />
(FN 131), 109 f.; siehe auch B RÜHWILER-FRÉSEY, Realakt (FN 11), 284 ff. –Als reversibler<br />
Realakt gilt etwa die behördliche Fehlinformation vor Wahlen oder Abstimmungen.<br />
In diesem Sinne M OOR,Vol II (FN 1), 36 f.<br />
So etwa TSCHANNEN, Warnungen (FN 30), 448. FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 187,<br />
vertritt die These, dass sich diese Leistungsansprüche unter Umständen auch aus der<br />
Verfassung, insbesondere ausverfassungsmässigen Rechten ableiten lassen.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 357<br />
b) Unterlassen, Einstellen oderWiderruf (Art.25a Abs.1Bst.a)<br />
Als Erstes kann begehrt werden, ein widerrechtlicher Realakt sei zu unterlassen,<br />
einzustellen oder zu widerrufen. 169 Je nach Begehren werden unterschiedliche<br />
Handlungen anvisiert:<br />
<br />
<br />
<br />
Das Unterlassungsbegehren zielt vorab auf Aktivitäten, die zwar erst bevorstehen,<br />
über die aber bereits informiert wurde (z.B. die Installation von<br />
Videoüberwachungskameras; die Ankündigung, eine unbewilligte Demonstration<br />
gegebenenfalls polizeilich aufzulösen).<br />
Das Einstellungs begehren hat Handlungen im Auge, die sich nicht in einem<br />
zeitlich abgeschlossenen Einzelakt erschöpfen. Dies ist vor allem bei<br />
Akten von generell-abstrakter Regelungsstruktur (z.B. Informations- oder<br />
Aufklärungskampagnen) der Fall. 170<br />
Das Widerrufsbegehren wird sich vor allem auf solche Akte beziehen, deren<br />
Wirkung über den Zeitpunkt ihrer Vornahme hinausreicht (z.B. die<br />
einmalige behördliche Warnung, ein Land oder ein Gebietzubereisen).<br />
Die Begehren unterscheiden sich in ihrem Sanktionszweck: Das Unterlassen<br />
einer Handlung wegen Widerrechtlichkeit verfolgt vor allem präventive Ziele.<br />
Dem<strong>gegen</strong>über wird mit dem Einstellen oder dem Widerruf einer Handlung<br />
vorab Restitution angestrebt. Eine solche Wiederherstellung gelingt allerdings<br />
nur insoweit, als der Realakt nicht bereits irreversible Folgen hinterlassen hat.<br />
In einem solchen Fall sind Ausgleichsleistungen (Kompensation) zu erwägen –<br />
im Schadensfall auf dem Wege der Staatshaftung 171 und im Übrigen mit einem<br />
Begehren umFolgenbeseitigung (nachfolgendBst.c).<br />
c) Folgenbeseitigung (Art.25a Abs. 1Bst. b)<br />
Hat ein widerrechtlicher Realakt negative Folgen rechtlicher oder tatsächlicher<br />
Natur verursacht, kann deren Beseitigung verlangt werden. 172 Sanktionszweck<br />
ist hier vor allem die Kompensation. Dabei dürfte esallerdings weniger um<br />
169<br />
170<br />
171<br />
172<br />
Für den Fall des behördlichen Untätigseins kann analog die Vornahme der unterbliebenen<br />
Handlung oder derenWeiterführung verlangtwerden.<br />
Zur Kategorie der Real-Erlasse vgl. vorn Kap. II/2/b. –ImZusammenhang mit Unterlassungs-,<br />
Einstellungs- und Widerrufsbegehren wird sich häufig auch die Frage nach der<br />
Anordnung vorsorglicher Massnahmen stellen (vgl. F LÜCKIGER, L’extension [FN 19],<br />
181).<br />
Vgl. dieAusführungenzur Staatshaftung hintenKap. IV/6.<br />
Für den Fall des behördlichen Untätigseins kann analog die Beseitigung der Folgen unterbliebenen<br />
Handelns verlangtwerden.
358 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
den Ausgleich von finanziellen Folgeschäden gehen. Solche Ansprüche sind<br />
weiterhin auf dem Wege der Staatshaftung geltend zu machen. 173 Im Vordergrund<br />
steht vielmehr die Beseitigung jener Folgen, die sich mittels Gestaltung<br />
der Rechtslage (Gestaltungsverfügung) bzw. der entsprechenden Vollzugshandlung<br />
wirksam beseitigen lassen:<br />
<br />
<br />
Der Produzent eines Lebensmittels, vor dessen Verzehr die Gesundheitsbehörde<br />
warnt, wird sich unter Umständen nicht damit begnügen, die<br />
Rechtswidrigkeit der Warnung feststellenoder die Warnung widerrufen zu<br />
lassen. Namentlich bei inhaltlicher Fehlerhaftigkeit könnte erein Interesse<br />
an einer öffentlichen Berichtigung haben. Dies in der Hoffnung, damit die<br />
umsatzschädigenden Folgen der staatlichen Fehlinformation wirksamer zu<br />
beseitigen.<br />
Stellt sich die Installation einer Videoüberwachungskamera nachträglich<br />
als unzulässig heraus, wird nicht nur ein Interesse an deren Demontage,<br />
sondern darüber hinaus auch an der Löschung der bereits registrierten Daten<br />
bestehen.<br />
d) Feststellen derWiderrechtlichkeit (Art. 25a Abs. 1Bst. c)<br />
Als Unterfall der Folgenbeseitigung wird schliesslich auch die „blosse“ Feststellung<br />
der Widerrechtlichkeit ermöglicht. 174 Hierbei handelt es sich prima<br />
vista um ein „klassisches Feststellungsbegehren“ wie es bereits nach Art. 25<br />
VwVG möglich ist. Wie vorne dargelegt, kann die Feststellungsverfügung<br />
nach Art. 25 VwVG aber nur ein konkretes aktuelles oder potentielles (Aussen-)Rechtsverhältnis<br />
klären. Ein solches besteht im Zusammenhang mit realem<br />
Handeln gerade nicht, weshalb sich für die Feststellungsverfügung nach<br />
Art. 25 VwVG streng genommen gerade kein Anwendungsfeld bietet. 175 Das<br />
Feststellungsbegehren nach Art. 25 a Bst. cVwVG ist nun tatsächlich etwas<br />
anderes: Art. 25 a VwVG liefert wie vorne dargelegt die Anspruchsgrundlage<br />
für ein spezifisches „Verwaltungsrechtsverhältnis über Realakte“. 176 Und dieses<br />
kann nun gemäss Bst. cdie blosse Feststellung der Recht- oder Unrechtmässigkeiteines<br />
Realakts zumInhalthaben.<br />
173<br />
174<br />
175<br />
176<br />
Vgl. zumVerhältnis des Art.25 a VwVG zur Staatshaftung hinten Kap. IV/6.<br />
Für den Fall des behördlichen Untätigseins kann analog die Feststellung der Widerrechtlichkeit<br />
des Unterlassens verlangtwerden.<br />
Vgl. dazu vorn Kap. III/2/b/bb.<br />
Siehe dazu vorn Kap. IV/2/b.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 359<br />
Mit der Feststellung der Widerrechtlichkeit kann ein doppelter Sanktionszweck<br />
erfüllt werden. ImVordergrund dürfte die (moralische) Kompensation<br />
177 stehen, sodann kann die Feststellung der Widerrechtlichkeit aber auch<br />
präventiv wirken, indem sie die handelnde und gegebenenfalls weitere Verwaltungsbehörden<br />
veranlasst, ihre bisherige Praxis zu überdenken bzw. anzupassen.<br />
Der durch die Polizei an der Reise ans jährlich stattfindende Davoser Weltwirtschaftsforum<br />
gehinderte Journalist wird im Hinblick auf die Veranstaltung<br />
künftiger Jahre ein Interesse daran haben, die Widerrechtlichkeit der polizeilichen<br />
Aktion feststellenzu lassen.<br />
5. Verfahrensabschluss und<strong>Rechtsschutz</strong><br />
Das Gesuch auf Erlass einer Verfügung über einen Realakt kann die zuständige<br />
Behörde –wie in jedem Verwaltungsverfahren –entweder durch Nichteintreten,<br />
Abweisenoder(teilweises) Gutheissen erledigen.<br />
a) Nichteintreten<br />
Ist eine der dargelegten Eintretensvoraussetzungen nicht erfüllt, wird die Behörde<br />
auf das Gesuch nicht eintreten. Der Nichteintretensentscheid kann sodann<br />
mit den üblichen Rechtsmitteln, d.h. mit Verwaltungs- oder Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />
nach Art. 44ff. VwVG bzw. Art. 31 VGG ff. angefochten<br />
werden. Die zuständige Beschwerdeinstanz bestimmt sich zum einen<br />
nach den einschlägigen Verfahrensbestimmungen (insbes. Art. 47VwVG),<br />
zum andern nach dem Inhalt des dem Entscheid zugrunde liegenden Realakts.<br />
178 Streit<strong>gegen</strong>stand ist jedoch nur das Nichteintreten. Damit kann nur ü-<br />
berprüft werden, ob die Eintretensvoraussetzung(en) vorliegen. Der <strong>Rechtsschutz</strong><br />
<strong>gegen</strong> den fraglichen Realakt bleibt damit in diesem Verfahren zwangsläufig<br />
unvollständig. Weder wird über dessen Widerrechtlichkeit noch über eine<br />
der möglichen Interventionen (Unterlassung, Einstellung, Widerruf, Fol-<br />
177<br />
178<br />
R ÜTSCHE, Rechtsfolgen (FN 131), 118 f., behandelt die Feststellung indes als teilweise<br />
restitutive Rechtsfolge.<br />
Ob ein Nichteintretensentscheid der Überprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht<br />
unterliegt, hängt unter anderem davon ab, ob der fragliche Realakt inhaltlich einer der in<br />
Art.32 VGG genannten Ausnahmekategorien zuzurechnen ist.
360 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
genbeseitigung) materiell entschieden. Einem Betroffenen steht hier nur mehr<br />
dersekundäre <strong>Rechtsschutz</strong>der Staatshaftung zurVerfügung. 179<br />
b) Abweisung<br />
Ein Begehren nach Art. 25 a VwVG wird abgewiesen ,wenn sich aufgrund näherer<br />
Prüfung zeigt, dass der Akt gar nicht <strong>gegen</strong> objektive Rechtsvorschriften<br />
verstösst, mithin kein widerrechtliches Handeln (oder Unterlassen) vorliegt.<br />
Zur Abweisung von Begehren nach Bst. aund bkommt es ferner injenen Fällen,<br />
indenen zwar die Rechtswidrigkeit des Akts anerkannt ist, eine Intervention<br />
aber entweder nicht (mehr) möglich oder nicht opportun ist. Auch hier<br />
bleibt einem Betroffenen nur noch der Weg über die Staatshaftung. 180 Nicht zu<br />
einer vollständigen Abweisung, sondern zu einer teilweisen Gutheissung –und<br />
damit zum Erlass einer Verfügung gemäss Art. 25 a VwVG –kommt es dann,<br />
wenndem konkreten Begehren zumTeilentsprochen wird.<br />
Gegen die Abweisung oder bloss teilweise Gutheissung steht wiederum die<br />
Beschwerde nach Art. 44ff. VwVG offen. ImRahmen des Beschwerdeverfahrens<br />
werden die entsprechenden Rechtsfragen von der zuständigen Beschwerdeinstanz<br />
(Art.47VwVG) mitvollerKognition(Art.49VwVG)überprüft.<br />
c) Gutheissung<br />
Zu einer vollständigen Gutheissung kommt es dann, wenn die Widerrechtlichkeit<br />
des Akts erkannt und den Begehren imEinzelnen vollumfänglich entsprochen<br />
wird.<br />
6. Verhältnis zur Staatshaftung<br />
a) Staatshaftungals <strong>Rechtsschutz</strong>kompensat<br />
Die Staatshaftung ist nach bisherigem Rechtspflegekonzept eigentlich die einzige<br />
Form des <strong>Rechtsschutz</strong>es <strong>gegen</strong> Realakte. Jedoch kann die Staatshaftung<br />
weder die Rechtslage gestalten, noch die unerwünschten Folgen eines Akts beseitigen.<br />
Immerhin verspricht sie in gewissem Umfang Wiedergutmachung auf<br />
finanzieller Ebene und impliziert –jedenfalls soweit es um Haftung für wider-<br />
179<br />
180<br />
Vgl. hinten betreffend das Verhältnis zum StaatshaftungsverfahrenKap. IV/6.<br />
Vgl. hinten betreffend das Verhältnis zum Staatshaftungsverfahren Kap. IV/6.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 361<br />
rechtlich zugefügten Schaden geht –eine Feststellung über die Rechtmässigkeitdeskonkreten<br />
Handelns.<br />
Als „wirksame Beschwerde“ im Sinne von Art. 13EMRK vermag<br />
die Staatshaftung nur dann zu genügen, wenn eine Restitution des<br />
fraglichen Aktsnicht mehr möglichist. 181<br />
b) SubsidiaritätoderAlternativität?<br />
Die Staatshaftung ist <strong>gegen</strong>über dem Verwaltungsrechtsschutz subsidiär. Mit<br />
anderen Worten: Die Frage der Rechtmässigkeit eines Rechtsakts soll, nachdem<br />
er formelle Rechtskraft erlangt hat, nicht auf dem Wege der Staatshaftung<br />
neu aufgerollt werden. Für den Bund gilt dieses Prinzip der Einmaligkeit des<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>es gestützt auf Art. 12VG. 182 Im Zusammenhang mit Realakten<br />
hat die Subsidiarität der Staatshaftung bislang keine Rolle gespielt, da–im<br />
Regelfall –ein normales Anfechtungsstreitverfahren gar nicht möglich war.<br />
Dies ändert sich nun mit Art. 25 a VwVG. Es stellt sich daher neu die Frage, ob<br />
fortan ein direktes Staatshaftungsverfahren<strong>gegen</strong>den Realaktnoch möglich ist<br />
oder obzuerstüber Art. 25 a VwVG ein Rechtsakt, mithin imSinne der französischen<br />
Rechtstraditioneine „décision préalable“ erwirktwerden muss.<br />
In Frankreich kann Gegenstand eines Verwaltungsgerichtsverfahrens<br />
immer nur ein Verwaltungsakt (décision préalable) sein. Will der<br />
Bürger aufgrund einer Schädigung durch tatsächliches staatliches<br />
Handeln Verantwortlichkeitsansprüche geltend machen, muss er zunächst<br />
ein Gesuch bei der zuständigen Verwaltungseinheit stellen.<br />
Erst <strong>gegen</strong> einen allenfalls ablehnenden Entscheid steht ihm dann ein<br />
Rekurs beim Verwaltungsgericht offen. Eine direkte „Verantwortlichkeitsklage“<br />
kennt das französische Verwaltungsrechtspflegeverfahren<br />
–ausserimBereich der „travaux publiques“ –nicht. 183<br />
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass mit Art. 25 a VwVG ein indiesem Sinne<br />
grundlegender Systemwandel beabsichtigt worden wäre. Vielmehr will das<br />
neue Verfahren nur –aber immerhin –eine im Vergleich zur Staatshaftung<br />
umfassendere <strong>Rechtsschutz</strong>alternative zurVerfügung stellen.<br />
181<br />
182<br />
183<br />
Bundesgesetz vom14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner<br />
Behördenmitglieder und Beamten (Verantwortlichkeitsgesetz, VG, SR 170.32). Vgl. dazu<br />
M. M ÜLLER,<strong>Rechtsschutz</strong> (FN 152), 544 m.w.H.<br />
Dazu eingehend F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18); ferner etwa TSCHAN-<br />
NEN /Z IMMERLI,Verwaltungsrecht(FN 16), §60 Rz. 42f.<br />
Siehe dazu P IERRE -LAURENT F RIER, Précis de droit administratif, 3 e édition, Paris 2004,<br />
420 f.; SEILLER,Droit (FN 14), 169 ff.
362 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
Gegenstand beider Verfahren –des Staatshaftungsverfahrens wie des Verfahrens<br />
nach Art. 25 a VwVG –sind nicht Rechtsakte, sondern Realakte. Der<br />
Grundsatz der Subsidiarität im Sinne von Art. 12VG lässt sich daher auf das<br />
Verhältnis dieser beiden Verfahrensarten nicht übertragen. 184 Tatsächlich stehen<br />
diese beiden Verfahren zueinander denn auch nicht in einem Verhältnis<br />
der Subsidiarität, sondern vielmehr der Alternativität .Dies bedeutet, dass der<br />
von einem Realakt betroffenen Person grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur<br />
Wahl offenstehen: Entweder sie entscheidet sich für den Weg der Staatshaftung,<br />
womit sie den fraglichen Realakt direkt zum Streit<strong>gegen</strong>stand macht. Zu<br />
erreichen ist damit maximal eine finanzielle Wiedergutmachung sowie –darin<br />
eingeschlossen –eine Aussage über die Rechtmässigkeit des Akts. Oder aber,<br />
sie benutzt das neu geschaffene Hilfsverfahren, das ihr erlaubt, den Realakt indirekt<br />
zum Gegenstand eines ordentlichen Verwaltungsverfahrens zu machen.<br />
Auf diesem Weg kann sie all das erreichen, was Art. 25 a Abs. 1Bst. a–c<br />
VwVG an Begehren zurVerfügung stellt.<br />
Der Betroffene wird sich –jenach den konkreten tatsächlichen und rechtlichen<br />
Folgen des fraglichen Akts –für den einen oder anderen Weg entscheiden<br />
(müssen). 185 Obwohl das Mit- bzw. Nebeneinander der beiden Wege nicht im<br />
Sinne des Gesetzgebers sein dürfte, ist es dennoch nicht unzulässig. Bei<br />
gleichzeitiger Rechtshängigkeit wird das tendenziell aufwendigere Staatshaftungsverfahren<br />
aber wohl zu sistieren sein. 186 Auch zu einem Nacheinander<br />
der beiden Verfahren kann es kommen. Dies namentlich in jenen Fällen, in denen<br />
ein Gesuch nach Art. 25 a VwVG von der Behörde negativ (Nichteintreten)<br />
oder abschlägig (Abweisung) behandelt wurde und der Gesuchsteller sich<br />
entscheidet, noch den Staatshaftungsweg zu beschreiten. Theoretisch ist<br />
schliesslich auch denkbar, dass der aus dem Verfahren nach Art. 25 a VwVG<br />
resultierende Rechtsakt („Verfügung über Realakt“) aufgrund qualifizierter<br />
Widerrechtlichkeit 187 seinerseits Grund für ein Staatshaftungsverfahren setzt.<br />
184<br />
185<br />
186<br />
187<br />
Art.12VG spricht von „Verfügungen, Entscheiden und Urteilen“, also Rechtsakten.<br />
Folglich werden Realakte vom positivierten Überprüfungsverbot nicht erfasst. Andernfalls<br />
hätte der Gesetzgeber dies im Gesetzestext zum Ausdruck bringen müssen: vgl.<br />
F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 2.Teil, Kap. III.A.3.<br />
Nach F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 2. Teil, Kap. IV.B.1.b dürfte sich das Verfahren<br />
nach Art. 25 a VwVG solange als ratsam erweisen, als der fragliche Realakt<br />
(noch) keinen Schaden bewirkt hat und sich ein solcher durch die anbegehrte Verfügung<br />
verhindern lässt.<br />
Vgl.FELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 2.Teil, Kap. IV.B.1.b.<br />
Gemäss Praxis ist bei Rechtsakten eine „wesentliche Amtspflichtverletzung“ vorausgesetzt,<br />
vgl. BGE 120 Ib 248 E. 2b S.249; 118 Ib 163 E. 2S. 164; Urteil des Bundesgerichts<br />
vom 27. September 2000,ZBl 2001, 545 E. 2d, 547.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 363<br />
Der auf die Staatshaftung für Rechtsakte zugeschnittene Art. 12VG bliebe in<br />
diesem –etwas konstruiertanmutenden–Fall freilich anwendbar.<br />
7. Art.25 a VwVG auf kantonaler Ebene (Hinweis)<br />
Mit Art. 25 a VwVG signalisiert der Bundesgesetzgeber, dass <strong>gegen</strong> Realakte,<br />
die auf öffentlichem Recht des Bundes basieren, Verwaltungsrechtsschutz<br />
möglich sein muss .Ein Signal, das auch die Kantone ernst nehmen müssen,<br />
das sie aber nicht unmittelbar verpflichtet. Den Kantonen stehen zur Zeit noch<br />
verschiedeneMöglichkeiten offen: 188<br />
<br />
<br />
Einige Kantone werden imRahmen einer Revision ihrer Verwaltungsrechtspflegegesetze<br />
eine Art. 25 a VwVG nachgebildete oder sogar im<br />
Wortlaut identische Vorschrift aufnehmen. Letzteres böte den Vorteil,<br />
dass die Praxis der Bundes(justiz)behörden auch für die kantonale Ebene<br />
übernommen und damit ein verfahrensrechtlich reibungsloser Übergang<br />
von der kantonalen auf die eidgenössische Ebene gewährleistet werden<br />
könnte.<br />
Kantone könnten aber auch bereits einen Schritt weiter gehen und Realakte<br />
–ohne Umwege –direkt zum Anfechtungsobjekt erklären. 189 Bei der<br />
Wahl dieses Vorgehens wäre allerdings empfehlenswert, dem Verwaltungsbeschwerdeverfahren<br />
ein Einspracheverfahren voranzustellen. 190 Eine<br />
entsprechende Regelung könnteetwawie folgtaussehen: 191<br />
1<br />
Wer ein schutzwürdiges Interesse hat, kann <strong>gegen</strong> einen Verwaltungsrealakt,<br />
der seine Rechte und Pflichten berührt, bei der zuständigen<br />
Behörde Einsprache erheben.<br />
2<br />
Mit Einsprache kann gerügt werden, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig.<br />
188<br />
189<br />
190<br />
191<br />
Vgl. hierzu auch H ERZOG, Tagungsband BTJP 2006 (FN 111).<br />
So z.B. der Kanton Graubünden: Art.28 Abs. 4bzw. Art. 49Abs. 3des Gesetzes vom<br />
31. August 2006 über die Verwaltungsrechtspflege (VRG-GR, BR 370.100) bezeichnen<br />
„Realakte, die in Rechte und Pflichten von Personen eingreifen“ als zulässige Anfechtungsobjekte.<br />
Vgl. in diesem Sinne auch F LÜCKIGER, L’extension (FN 19), 181, 194; R ICHLI, Regelungsdefizit<br />
(FN 1), 200.<br />
Bei der Einpassung der neuen Norm indie kantonale Rechtsordnung wird zu klären sein,<br />
ob und wenn jawieweit spezialgesetzlich geregelte Rechtsmittelordnungen (z.B. auf<br />
dem Gebiete der politischen Rechte, des Submissionsrechts oder des kommunalen<br />
Rechts) entsprechend anzupassen sind.
364 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
<br />
3<br />
Einspracheentscheide können mit Verwaltungsbeschwerde angefochten<br />
werden.<br />
Möglich ist schliesslich auch, imkantonalen Verfahrensrecht keine neue<br />
Bestimmung aufzunehmen. Diesfalls werden Realakte, die sich auf öffentliches<br />
Recht des Kantons abstützen, zumindest nach der bisherigen Praxis<br />
des Bundesgerichts dem <strong>Rechtsschutz</strong> zugeführt werden können. 192 Dabei<br />
ist zuerwarten, dass sich das Bundesgericht in seiner künftigen Praxis neu<br />
an Art. 25 a VwVG ausrichtet, was dieser Rechtsnorm den Status einer<br />
„gemeineidgenössischen Verfahrensregel“ verleihen könnte. 193<br />
8. Fazit und Überleitung<br />
Das neue Verfahren nach Art. 25 a VwVG stellt in verschiedener Hinsicht einen<br />
Fortschritt dar. Der Gesetzgeber hat dadurch die <strong>Rechtsschutz</strong>würdigkeit<br />
der Realakte offiziell anerkannt und den Weg für einen unverkrampft(er)en<br />
Umgang mit dieser Handlungsform geebnet. Doch nach wie vor harrt der<br />
<strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> einer vollauf befriedigenden Lösung.<br />
Art. 25 a VwVG ist daher –soist zuhoffen und zu postulieren –höchstens eine<br />
Zwischenetappe auf dem langen Weg hin zu einem unkomplizierten und<br />
umfassenden <strong>Rechtsschutz</strong><strong>gegen</strong> Verwaltungs(real)akte.<br />
V. Ausblick<br />
Der Bundesgesetzgeber hat mit der Schaffung von Art. 25 a VwVG offizialisiert,<br />
dass nicht nur Rechtsakte, sondern auch Realakte <strong>Rechtsschutz</strong> verdienen.<br />
Damit findet positivrechtliche Bestätigung, was im Rechtsstaat schon lange<br />
klar ist: Alles Verwaltungshandeln ist Rechtshandeln. 194 Tatsächliches<br />
Handeln gibt es in einer Welt, die umfassend „verrechtlicht“ ist, kaum mehr.<br />
Bereiche menschlichen Daseins, die durch staatliches Handeln nur „tatsächlich“,<br />
nicht aber rechtlich berührt werden, sind schwer auszumachen. 195 –Art.<br />
192<br />
193<br />
194<br />
195<br />
Dazu vorn Kap. III.<br />
In diesem Sinne auch P IERRE M OOR ,Del'accès aujuge et de l'unification des recours,<br />
in: FRANÇOIS B ELLANGER/T HIERRY T ANQUEREL (Hrsg.), Les nouveaux recours fédéraux<br />
en droit public, Genf/Zürich/Basel 2006, 164. –Soweit kantonale Behörden in Anwendung<br />
von Bundesrecht handeln, dürfte Art. 25 a VwVG für sie ohnehin bereits kraft<br />
Art.1Abs. 3VwVG gelten (dazu vorn FN 115).<br />
Dazu vorn Kap. II/1/c/bb.<br />
So auch T H .MÜLLER-GRAF,Entrechtlichung (FN 1), 92f. m.w.H.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 365<br />
25 a VwVG bringt also ohne Zweifel Verbesserungen für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong><br />
Realakte. Indem allerdings der Verwaltungsrechtsschutz weiterhin auf die<br />
Verfügung hin programmiert bleibt, perpetuiert er die überkommenen Schwächen<br />
des schweizerischen Verwaltungsrechtspflegesystems. Lösungsansätze<br />
sind hier vor allemauf zwei Ebenen zu finden:<br />
<br />
<br />
Zum einen muss das individuelle <strong>Rechtsschutz</strong>interesse die Verfügung als<br />
zentrale <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung ablösen (Ziff.1).<br />
Zum andern gehört das mit der Verfügung transportierte und längst als zu<br />
engentlarvte Rechtsverständnis dringend ersetzt(Ziff.2).<br />
1. <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung<br />
a) Blosse Problemverlagerung?<br />
Die Anknüpfung des Verwaltungsrechtsschutzes an die Verfügung hat in der<br />
Vergangenheit zubeträchtlichen Abgrenzungsschwierigkeiten geführt. Diese<br />
werden durch Art. 25 a VwVG gemildert, nicht aber ausgemerzt. Nach wie vor<br />
ist es vor allem die Verfügung, die den Weg zum <strong>Rechtsschutz</strong> ebnet. Gelingt<br />
die Überführung eines Realakts ineine Verfügung nicht, bleibt <strong>Rechtsschutz</strong><br />
ungewiss. Dies befriedigt nicht. ObVerwaltungsrechtsschutz gewährt wird,<br />
sollte daher nicht von der Form des staatlichen Handelns, sondern einzig und<br />
allein von dessen Wirkung abhängen. 196 Die Frage „<strong>Rechtsschutz</strong> ja oder<br />
nein?“ ist folglich mit Blick auf die Interessenlagen der Beteiligten zu beantworten.<br />
Das sind auf der einen Seite die Interessenlage des <strong>Rechtsschutz</strong>suchenden<br />
(subjektives <strong>Rechtsschutz</strong>interesse), auf der anderen Seite diejenige<br />
des rechtsschutzgewährenden Staats(objektives <strong>Rechtsschutz</strong>interesse). 197<br />
Man mag hier<strong>gegen</strong> einwenden, damit würden die Abgrenzungsprobleme und<br />
-schwierigkeiten nicht aus der Welt geschafft, sondern nur verlagert. –Richtig!<br />
Tatsächlich geht es hier um eine Problemverlagerung. Das Problem dorthin<br />
zu verlagern, wo essich tatsächlich stellt, ist aber nicht nur ein „ästhetischer“<br />
Gewinn. Vielmehr resultieren daraus für die praktische Problemlösung<br />
196<br />
197<br />
Damit würde die Verwaltungsverfügung zwar ihre exklusive Stellung als Eingangstor<br />
zum Verwaltungsprozess verlieren. Als zentrales <strong>Institut</strong> des materiellen Verwaltungsrechts<br />
und als wichtigste Handlungsform der staatlichen Verwaltung bliebe sie allerdings<br />
unangefochten (vgl. eingehend und eindringlich zur Unentbehrlichkeit der Verwaltungsverfügung<br />
im modernen Rechtsstaat P IERRE T SCHANNEN, Privatisierung: Ende der Verfügung?,<br />
in: W OLFGANG W IEGAND [Hrsg.], Rechtliche Probleme der Privatisierung,<br />
BTJP 1997,Bern 1998, 209ff.).<br />
Dazu M. M ÜLLER,Rechtsverhältnis (FN 40), 88 ff., 353ff.
366 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
beträchtliche Erleichterungen. Davon profitieren die <strong>Rechtsschutz</strong> suchenden<br />
gleichermassen wie die <strong>Rechtsschutz</strong> gewährenden.<br />
b) Orientierung am <strong>Rechtsschutz</strong>interesse als Trend …<br />
aa)<br />
…inder Praxis<br />
Den Verwaltungsrechtsschutz künftig vom Vorliegen eines hinreichenden<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>interesses abhängig zu machen, wäre keine Revolution. Es würde<br />
lediglich auf dogmatischer Ebene nachvollzogen, was seit langem die Praxis<br />
der Rechtspflegeorgane bestimmt und damit offensichtlich einem Bedürfnis<br />
entspricht. 198 Nämlich, die <strong>Rechtsschutz</strong>frage dort zustellen und zu beantworten,<br />
wo sie sich aktualisiert: bei der Analyse und Bewertung der (subjektiven<br />
und objektiven)Interessenlage. 199<br />
bb)<br />
… in der Spezialgesetzgebung<br />
Auch im positiven Recht finden sich verschiedene Bereiche, in denen sich der<br />
<strong>Rechtsschutz</strong> überwiegend nach dem Vorliegen eines hinreichenden <strong>Rechtsschutz</strong>interesses<br />
bestimmt. Dies geschieht meist dadurch, dass der (Spezialoder<br />
Verfahrens-)Gesetzgeber Realakte als Anfechtungsobjekte bezeichnet<br />
und sie so demVerwaltungsrechtsschutzunterstellt. 200<br />
Prominente Beispiele finden sich etwa auf dem Gebiete der politischen<br />
Rechte, des Submissionsrechts oder des kommunalen Rechts.<br />
198<br />
199<br />
200<br />
Vgl. zu den entsprechenden Tendenzen in der Praxis etwa MOOR, Vol II (FN 1), 165f.;<br />
G IACOMINI, Jagdmachen (FN 77), 242 ff.; M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 89 f.<br />
m.w.H.<br />
Der Angst vor einer Flut von Beschwerden lässt sich zum einen durch eine präzise normative<br />
Steuerung der entsprechenden Handlungsfelder begegnen, zum andern durch den<br />
gezielten Einbau verfahrensrechtlicher Hemmschwellen (z.B. strenge Legitimationsvoraussetzungen,<br />
fehlende Suspensivwirkung). Vgl. in diesem Sinne auch etwa MOOR ,<br />
Vol II(FN 1), 33.<br />
Vgl. die Hinweise bei T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 442 f., 446; MOOR, Vol II<br />
(FN 1), 30 f.; RICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91), 1430 ff.; K ÖLZ/H ÄNER, Verwaltungsrechtspflege<br />
(FN 91), Rz.194 f.; F ELLER, Staatshaftungsrecht (FN 18), 1. Teil,<br />
Kap. II.B.2.b; zu den spezialgesetzlichen Verfügungen sieheauch vorn Kap. II/3/b.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 367<br />
cc)<br />
… im europäischen Umfeld<br />
Ein Blick über die Grenzen –nicht nur nach Deutschland 201 –zeigt, dass die<br />
Orientierung am <strong>Rechtsschutz</strong>interesse auch im europäischen Umfeld zunehmend<br />
zur Regel wird. Typisches Beispiel ist Frankreich, wo das Eintreten auf<br />
eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde zwar ebenfalls ein gültiges Anfechtungsobjekt<br />
bedingt, inerster Linie aber vom Vorliegen eines hinreichenden <strong>Rechtsschutz</strong>interesses<br />
abhängt.Dies soll kurzskizziert werden:<br />
Anfechtungsobjekt der französischen Verwaltungsrechtspflege bildet der Verwaltungs-Rechtsakt<br />
(acte juridique). Dazu zählen neben dem Vertrag (contrat)<br />
in erster Linie die décision. 202 Für ihre Anfechtbarkeit mittels Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />
(recours contentieux 203 )wird zwischen Anforderungen an<br />
das Anfechtungsobjekt (condition relative àl’acte attaquable) sowie an die beschwerdeführende<br />
Person (condition relative aurequérant) unterschieden. 204<br />
Dabei fällt auf, dass die Voraussetzung der Beschwer (grief) sowohl als Kriterium<br />
des acte attaquable (acte denature àfaire grief) als auch der Beschwerdelegitimation<br />
(nécessité d’un grief résultant de l’acte) erscheint. Eine klare<br />
Trennung scheinthier weder beabsichtigtnoch praktikabel. 205<br />
201<br />
202<br />
203<br />
204<br />
205<br />
Selbst die deutsche Rechtspflegeordnung trägt durch ihr differenziertes Klagesystem<br />
(vgl. dazu vorn Kap. IV/1/b/aa) den individuellen <strong>Rechtsschutz</strong>interessen dadurch Rechnung,<br />
dass sie erlaubt, mittels Leistungsklage auch informale Akte bzw. Akte „ohne<br />
Aussenwirkung“ dem (gerichtlichen) <strong>Rechtsschutz</strong> zuzuführen.<br />
Décision bezeichnetjene Verwaltungsakte, welche die(objektive) Rechtsordnung betreffen<br />
(affecter l’ordonnancement juridique) mithin normativen Charakter haben, und dadurch<br />
inobjektiver Hinsicht beim Adressaten zu einer Beschwer führen können (vgl.<br />
statt vieler FRIER, Précis [FN 183], 263 ff.; C HAPUS , Droit administratif [FN 41],<br />
Rz. 670 ff.). Dabei erstreckt sich der Begriff des „ordonnancement juridique“ über die<br />
subjektiven Rechte und Pflichten des Adressaten hinaus auf die objektive Rechtsordnung.<br />
Bisweilen wird daher auch einfach von „conséquences juridiques“ gesprochen<br />
(siehe etwa AUBY/D RAGO, Traité [FN 41], 187; DELVOLVÉ ,L’Acte [FN 14], 19ff., 32:<br />
„L’acte comporte une volonté d’arrêter une certaine position sur l’état du droit applicable“<br />
[23]).<br />
Je nach Streit<strong>gegen</strong>stand stehen dem <strong>Rechtsschutz</strong>suchenden unterschiedliche Rekursarten<br />
zur Verfügung. Für die vorliegende Untersuchung interessiert vor allem der „recours<br />
pour excèsdepouvoir“.<br />
Zu den Eintretensvoraussetzungen statt vieler R ENÉ C HAPUS, Droit du contentieux administratif,<br />
11 e édition, Paris 2004, 369 ff.; AUBY/D RAGO, Traité (FN 41), 129ff.;<br />
F RIER, Précis (FN 183), 263.<br />
Die Praxis verfährt mit diesem Kriterium pragmatisch. Sobejaht sie dessen Vorliegen<br />
etwa dann, wenn der Justizbehörde die Gewährung von <strong>Rechtsschutz</strong> opportun erscheint<br />
(vgl. aus dem französischen Recht D ELVOLVÉ, L’Acte [FN 14], 29ff., insbes. 31). C HA-
368 M.MÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
Eine Differenzierung wird lediglich insoweit gemacht, als unter dem<br />
Titel des acte attaquable die Beeinträchtigung in objektiver Hinsicht<br />
geprüft wird („Ist der konkrete Administrativakt überhaupt in der Lage,<br />
individuelle Rechte oder Interessen zu beeinträchtigen?“), während<br />
im Zusammenhang mit der Beschwerdelegitimation (intérêt à<br />
agir), verstärkt die subjektive Seite der Beschwer untersucht wird<br />
(„Ist der konkrete Administrativakt geeignet, angesichts der individuellen<br />
Lebenssituation des Beschwerdeführers, bei diesem eine Beeinträchtigung<br />
seiner Rechte oder faktischen Interessen zu bewirken?“).<br />
206<br />
Die Beschwer und daraus abgeleitet das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse ist daher im<br />
französischenVerwaltungsprozess zentraleEintretensvoraussetzung. 207<br />
Neben Frankreich tendieren auch andere Mitgliedstaaten der EU sowie der<br />
Europäische Gerichtshof (EUGH) dazu, Akte die Rechtswirkungen zeitigen,<br />
als Verwaltungsakte zu qualifizieren und im Zweifelsfall den <strong>Rechtsschutz</strong>interessen<br />
den Vorrang einzuräumen. 208 Und nicht zuletzt: Auch internationale<br />
Rechtsweggarantien (insbesondere Art. 6Ziff. 1und Art. 13EMRK sowie Art.<br />
2Abs. 3Bst. aund Art. 14Abs. 1Uno-Pakt II) knüpfen <strong>Rechtsschutz</strong> nicht<br />
zwingend an förmliches Staatshandeln an. 209<br />
c) Neudefinition desAnfechtungsobjekts alsGefahr?<br />
Das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse zur zentralen <strong>Rechtsschutz</strong>bedingung zu erklären,<br />
lässt sich prozessrechtlich auf zwei Arten realisieren: Entweder der Verfügungsbegriff<br />
wird durch das Hinzufügen eines entsprechenden Elements neu<br />
definiert (Ausweitung des Verfügungsbegriffs). 210 Oder die Definition des Anfechtungsobjekts<br />
wird vom Verfügungsbegriff prinzipiell gelöst und auf sämtliche<br />
rechtsschutzwürdigen Akte (inkl. Realakte) ausgedehnt (Ausweitung des<br />
206<br />
207<br />
208<br />
209<br />
210<br />
PUS, Contentieux administratif (FN 204), 518, vertritt die Auffassung, dass die Beschwer<br />
(grief) lediglich ein Kriterium der Beschwerdebefungnis (intêret àagir) sei.<br />
Vgl. dazu statt vieler S ERGE D AËL, Contentieux administratif, Paris 2006, 65 ff.; AU-<br />
BY/D RAGO, Traité (FN 41),186 ff., 230 ff.; P. D ELVOLVÉ, L’Acte(FN 14), 29 f.<br />
In diesem Sinne auch J ÜRGEN S CHWARZE, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Auflage,<br />
Baden-Baden 2005, 105.<br />
Vgl. SCHWARZE, Verwaltungsrecht (FN 207), 929ff., insbes. 931 m.w.H.; ferner E BER-<br />
HARD S CHMIDT-ASSMANN, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage,<br />
Berlin/Heidelberg 2006,81ff.<br />
Vgl.HAFNER,Verfügung (FN24), 271.<br />
Vgl. hierzu mit Bezug auf den Bereich besonderer Rechtsverhältnisse M. M ÜLLER,<br />
Rechtsverhältnis (FN 40), 353 ff.
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 369<br />
Anfechtungsobjekts). 211 Beide Ideen sind in der Lehre –zu Unrecht –auf Kritik<br />
gestossen: 212<br />
<br />
<br />
Gegen die Ausweitung des Verfügungsbegriffs wird vorgebracht, diese<br />
würde zu einer unerwünschten Formalisierung der Realaktgenese führen,<br />
was sich mit der Zwecksetzung des Realakts zur unmittelbaren Faktengestaltung<br />
nicht vertrage. Einmal abgesehen davon, dass sich auch Realakte<br />
nicht auf Faktengestaltung beschränken, wäre es wohl keine unlösbare<br />
Aufgabe, für diese –zugegeben speziellen –Akte einige verfahrensrechtliche<br />
Besonderheiten vorzusehen.<br />
Gegen die Ausweitung des Anfechtungsobjekts wird ins Feld geführt, dass<br />
der Rekursbehörde jeweils das „Dossier“ fehlen würde. Das trifft zu. Tatsächlich<br />
wäre die Rechtsmittelinstanz bei direkter Anfechtung eines Realakts<br />
gezwungen, umfassende Instruktionsmassnahmen vorzunehmen. Zugegeben,<br />
nicht ideal, ist doch insbesondere die Sachverhaltsermittlung<br />
möglichst vollständig von der fachkompetenten Verwaltungsbehörde vorzunehmen.<br />
Trotzdem ,auch nicht gerade ungewohnt: Schon heute sehen<br />
sich Rechtsmittelinstanzen abund zu genötigt, von der Vorinstanz versäumte<br />
Instruktionsmassnahmen –aus Gründen der Prozessökonomie –<br />
selbst nachzuholen. 213 Im Übrigen liesse sich dem Problem des fehlenden<br />
Dossiers auch dadurch begegnen, dass der Anfechtung von Realakten ein<br />
Einspracheverfahren bei der handelnden Behördevorgeschaltet würde. 214<br />
Beide Varianten tragen dem Anliegen Rechnung, für die Eintretensfrage das<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>interesse verstärkt ins Zentrum zu rücken. Dennoch soll hier –<br />
namentlich auch aufgrund der Hypothek, mit welcher der Verfügungsbegriff<br />
belastet ist (historisches Rechtsverständnis 215 )–der zweiten Variante (generelle<br />
Ausweitung des Anfechtungsobjekts) der Vorzuggegeben werden. 216<br />
211<br />
212<br />
213<br />
214<br />
215<br />
216<br />
Vgl. zu diesen beiden Wegen statt vieler T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung (FN 1),<br />
195 f.; FLÜCKIGER, L’extension (FN 19), 123 ff., 129 ff.; M. M ÜLLER, <strong>Rechtsschutz</strong><br />
(FN 152), 549 ff., 554.<br />
Vgl. insbesondere T SCHANNEN, Warnungen (FN 30), 445 f.<br />
An einem Dossier fehlt es häufig auch in einem Aufsichtsanzeigeverfahren.<br />
Siehe dazu auch hinten Kap.V/3.<br />
Vgl. hinten Ziff. 2/a.<br />
Ähnlich etwa HAFNER, Verfügung (FN 24), 271; T H .MÜLLER-GRAF, Entrechtlichung<br />
(FN 1), 199 f.; R ICHLI, <strong>Rechtsschutz</strong> (FN 91), 1437 ff. m.w.H.; T OBIAS J AAG, Kantonale<br />
Verwaltungsrechtspflege im Wandel, ZBl 1998, 510; ferner schon P ETER S ALADIN,<br />
Verwaltungsprozessrecht und materielles Verwaltungsrecht,ZSR 1975 II, 319 f.
370 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
2. Wechsel im Rechtsverständnis<br />
Die <strong>Rechtsschutz</strong>frage von der Handlungsform zu trennen und das <strong>Rechtsschutz</strong>interesse<br />
zum massgebenden Kriterium zu erklären, führt zu mehr<br />
Transparenz und Berechenbarkeit. Besserer <strong>Rechtsschutz</strong> ist die logische Folge.<br />
Wird dies zusätzlich gekoppelt mit einem neuen Verständnis von Recht<br />
und Rechtsverhältnis, können daraus weitere <strong>Rechtsschutz</strong>optimierungen resultieren.<br />
a) Vom subjektiven Recht …<br />
Dem schweizerischen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht liegt im<br />
Wesentlichen ein aus dem deutschen Rechtskreis rezipiertes Rechtsverständnis<br />
zugrunde. Dieses ist geprägt von der Lehre der subjektiven öffentlichen Rechte<br />
und –darin eingeschlossen –von der Dichotomie zwischen staatlicher Innenund<br />
Aussensphäre. 217 Nach diesem Rechtsverständnis sind weder das „Innenrecht“<br />
(verwaltungsinterne Anordnungen) noch das objektive Recht, soweit<br />
sich dieses jedenfalls nicht zum subjektiven Recht verdichtet hat, rechtsschutzwürdig.<br />
218<br />
An sich hat sich die schweizerische Verwaltungsrechtspflege schon länger<br />
vom subjektiven Recht als Legitimations- und damit <strong>Rechtsschutz</strong>voraussetzung<br />
gelöst. 219 Das heute dominierende Verfügungsverständnis ist aber nach<br />
wie vor in diesem Rechtsverständnis verhaftet. Dies insoweit, als es nur jenen<br />
Akten Rechtscharakter und damit Anfechtbarkeit zuerkennt, die ein individuelles<br />
Rechtsverhältnis Bürger-Staat, mithin einen subjektiven Rechtsanspruch 220<br />
<strong>gegen</strong> den Staat beinhalten. Somit spielt das subjektive Recht für den Zugang<br />
zum Verwaltungsrechtsschutz nach wie vor eine wichtige Rolle: 221 Erst das<br />
217<br />
218<br />
219<br />
220<br />
221<br />
Vgl. zur „Subjektivierung“ der deutschen (Verwaltungs)Rechtsordnung S CHMIDT -<br />
A SSMANN, Ordnungsidee (FN 208), 81ff.<br />
Vgl. kritisch zu diesem Rechtsverständnis M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40),<br />
200 ff., 213ff. (zum Sphärendogma), 232 ff., 353ff.<br />
Bis zur Revision der Bundesrechtspflege im Jahre 1968 war zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />
nur legitimiert, wer eine Verletzung in rechtlich geschützten Interessen darzutun<br />
vermochte (vgl. dazu etwa ISABELLE H ÄNER,Die Beteiligten imVerwaltungsverfahren<br />
und Verwaltungsprozess, Zürich 2000, Rz. 624; M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis<br />
[FN 40], 102).<br />
Nach dem hier verwendeten Begriffsverständnis (vgl. vorn Kap. IV/3/d/aa) werden als<br />
subjektive Rechtsansprüche nicht nur jene Rechtspositionen erfasst, die man heute als<br />
Anspruchspositionen (Anspruch auf Bewilligung oder Subvention) bezeichnet.<br />
Zu dem die deutsche Lehre und Rechtsprechung nach wie vor prägenden Rechtsverständnis<br />
siehe statt vieler M AURER,Verwaltungsrecht(FN 13), 163 ff. (§§ 8/9).
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 371<br />
subjektive Recht –der subjektive Rechtsanspruch –vermag dem ihm übergeordneten<br />
objektiven Recht<strong>Rechtsschutz</strong>würdigkeitzuverleihen. 222<br />
b) …zum Recht des Subjekts<br />
Wirksamer Verwaltungsrechtsschutz <strong>gegen</strong> Realakte bedingt ein umfassenderes<br />
Rechtsverständnis: <strong>Rechtsschutz</strong>würdiges Recht beschränkt sich nicht auf<br />
die subjektiven (Aussen-)Rechte imherkömmlichen Sinne, sondern ist vielmehr<br />
–imSinne des französischen Verwaltungsrechtspflegekonzepts 223 –als<br />
Element des „ordre public“ 224 zu verstehen. Vor dem Hintergrund eines solchen<br />
Rechtsverständnisses wird ein Individuumauch die Einhaltung der objektiven<br />
Rechtsordnung als „subjektives <strong>Rechtsschutz</strong>anliegen“ geltend machen<br />
können. 225 Oder abermals in den Kategorien von subjektivem und objektivem<br />
Recht ausgedrückt: Jedes Individuum hat ein subjektives Recht an der Einhaltung<br />
der objektiven Rechtsordnung, egal welcher Handlungsform sich die<br />
Verwaltung zu deren Umsetzung bedient. Dies alles hiesse, sich vom engen,<br />
rechtsschutzlimitierenden Begriff dessubjektiven Rechtszu verabschieden und<br />
fortan das objektive Recht umfassend als „ einklagbares“ Recht des Subjekts zu<br />
222<br />
223<br />
224<br />
225<br />
Vgl. grundlegend die Kritik am Dualismus von objektivem und subjektivem Recht schon<br />
bei K ELSEN, Rechtslehre (FN 27), 39 ff.; siehe auch A DOLF M ERKL, Die Lehre von der<br />
Rechtskraft, in: Wiener Staatswissenschaftliche Studien, 15. Band, 2.Heft, 1923, 153 ff.,<br />
der es als eine „logische[n] Ungeheuerlichkeit [erachtet], dass das subjektive Recht als<br />
Erkenntnisgrund für eine dem objektiven Recht apriori unbekannte, erst aposteriori,<br />
dank einem subjektiven Recht zuteil gewordene Rechtskraft dienen soll […]“. Siehe<br />
auch dieHinweise bei G ÄCHTER,Rechtsmissbrauch (FN 144), 296f.<br />
Auch in Deutschland wurde nach Einführung des Klagesystems das Rechtsverhältnis in<br />
einem breiteren Sinne verstanden, blieb aber letztlich in der Theorie der subjektiven<br />
Rechte verhaftet (dazu F LÜCKIGER, L’extension [FN 19], 45ff., 115).<br />
Nach der französischen Verwaltungspozessordnung dient etwa der recours pour excès de<br />
pouvoir weniger dem Schutz subjektiver Rechtspositionen als vielmehr der Wahrung des<br />
„ordre public“, namentlich der Einhaltung der Legalität (dazu D OMINIQUE T URPIN, Contentieux<br />
administratif, 3 e édition, Paris 2005, 63 ff., insbes. 65; siehe auch S CHWARZE,<br />
Verwaltungsrecht[FN 207], 1142m.w.H.).<br />
Vgl. aus dem französischen Recht B ONNARD, Lecontrôle (FN 14), 66 ff. –Siehe ferner<br />
M OOR, Vol II (FN 1), 32: Seines Erachtens verdient beispielsweise der Anwohner einer<br />
öffentlichen Strasse, bei der die Schneeräumung unterblieben ist, allein schon aufgrund<br />
des Verstosses der Gemeinde <strong>gegen</strong> die objektivrechtliche Strassenunterhaltspflicht<br />
<strong>Rechtsschutz</strong>. Ein Berührtseinineiner Grundrechtsposition sei hierzu nicht erforderlich.
372 M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong><br />
verstehen. 226 In ähnlichem Sinne hat schon ROGER B ONNARD (für das französische<br />
Recht)festgestellt:<br />
„Si, pour certains éléments obligatoires de l’activité administrative,<br />
soit pour les exécutions matérielles de règles et pour les prestations<br />
qui enrésultent, ilpeut yavoir droit subjectif, onnevoit pas pourquoi<br />
il n’en serait pas de même pour cet élément obligatoire de<br />
l’activité administrative qui porte sur les règles d’accomplissement<br />
des actes dans la mesure oú l’obligation juridique présente précisément<br />
les caractères qui conditionnent le droit subjectif. Si, dans<br />
l’accomplissement de ses actes juridiques, l’administration est tenue<br />
d’observer certaines règles de compétences, deforme etde fond, si<br />
cette obligation est établie dans l’intérêt particulier decertains administrés,<br />
si l’un deces administrés interessés vient exiger l’observation<br />
de cette obligation, iln’y aaucune raison de dire qu’il n’y apas là au<br />
profit de cet administré un droit public subjectif. Car ce droit existe:<br />
c’est undroit àlacompétence, àla forme, au contenu ou au but de<br />
l’acte.“ 227<br />
Das (subjektive öffentliche) Recht im dargelegten Sinne neu zuinterpretieren,<br />
bedeutete auch das Ende des Sphärendogmas 228 ,d.h. der Unterscheidung von<br />
Innen- und Aussenrecht. Damit würde auch <strong>gegen</strong> Akte im besonderen<br />
Rechtsverhältnis ein umfassender (und unkomplizierter) Verwaltungsrechtsschutz<br />
möglich. 229<br />
226<br />
227<br />
228<br />
229<br />
Zu einem imskizzierten Sinne offeneren Rechts- und Rechtsverhältnisverständnis tendieren<br />
(wohl) auch F LÜCKIGER, Régulation (FN 1), 282 ff.; F LÜCKIGER, L’extension<br />
(FN 19), 13, 47f., 115, 118, 199 f.; M OOR, Vol II (FN 1), 32 f., 39 f., 574; G. M ÜLLER<br />
(FN 156), 238; H ANSPETER P FENNINGER, Rechtliche Aspekte des informellen Verwaltungshandelns,<br />
Freiburg 1996, 190; BRÜHWILER-FRÉSEY ,Realakt (FN 11), 160 ff. –<br />
Ebenfalls von einem umfassenden Rechtsverständnis gehen schliesslich jene Autoren<br />
aus, die den Begriff der Rechtsstreitigkeit nach Art.29 a BV als materiellrechtlich zu füllenden,<br />
autonomen Verfassungsbegriff verstehen: vgl. hierzu B ERNHARD W ALDMANN,<br />
Justizreform und öffentliche Rechtspflege –quovadis?, AJP 2003, 749 f. m.w.H.<br />
B ONNARD, Lecontrôle (FN14),67.<br />
Siehe kritisch zu diesem Dogma M. M ÜLLER, Rechtsverhältnis (FN 40), 213 ff.<br />
Vgl. aus dem französischen Recht insbesondere J EAN R IVERO, Les mesures d’ordre intérieur<br />
administratives, Paris 1934, 351 ff., der mit Blick auf eine rechtsschutzmässig angemessene<br />
Behandlung der Verwaltungsinnenakte (mesures d’ordre intérieur) schon<br />
früh für ein umfassendes Rechtsverständnis plädiert hat: „Ce n’est donc point par une<br />
forme oupar l’autorité del’organe dont elle émane, que l’on qualifiera la règle dedroit,<br />
mais par sa réalité objective“ (354). Seines Erachtens können zwar verschiedene Ordnungen<br />
unterschieden werden, eine Rechtsordnung für die Allgemeinheit sowie eine
M. M ÜLLER: <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> 373<br />
3. Fazit:Drei Konsequenzen für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> Realakte<br />
Verwaltungsrechtsschutz nicht mehr an der Handlungsform, sondern an der<br />
Handlungswirkung anzuknüpfen, und –darüber hinaus –das herkömmliche,<br />
zu enge Rechtsverständnis durch ein umfassenderes zu ersetzen, das sind die<br />
beiden hier postulierten weiteren Entwicklungsschritte. Werden sie realisiert,<br />
hätte dies für den <strong>Rechtsschutz</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Verwaltungsrealakte</strong> mannigfache und<br />
vorteilhafteFolgen. Hier stichwortartig die drei wichtigsten:<br />
<br />
<br />
<br />
Die allermeisten Realakte sind fortan als Rechtsakte (wenn es denn sein<br />
muss: „Real-Rechtsakte“) zu begreifen. Als das begründen sie ein konkretes<br />
Verwaltungsrechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger; etwas, das<br />
heutefastausschliesslichder Verfügung vorbehalten ist.<br />
Als Rechtsakte unterstehen „Real-Rechtsakte“ direkt dem Verwaltungsrechtsschutz.<br />
Hierzu bedarf eskeiner Verkleidungsaktionen oder umständlicher<br />
Umwege über nachgelagerte Verwaltungsverfahren mehr. Den Besonderheiten<br />
des realen (weitgehend verfahrensfreien) Verwaltungshandelns<br />
ist durch ein dem Beschwerdeverfahren vorgeschaltetes Einspracheverfahren<br />
Rechnung zu tragen.<br />
Ein umfassendes Rechtsverständnis bedeutet nun aber nicht umfassende<br />
Beschwerdebefugnis im Sinne einer Popularbeschwerde. Weiterhin kann<br />
Verwaltungsrechtsschutz nur beanspruchen, wer ein <strong>Rechtsschutz</strong>interesse<br />
geltend zu machen vermag, das –imSinne der heutigen Praxis –hinreichend<br />
„schutzwürdig“ ist. 230<br />
Zuletzt noch dies: Ein Umdenken im aufzeigten Sinne würde zu Vereinfachungen<br />
im gesamten Verwaltungsrechtssystem führen. Davon profitieren<br />
nicht nur die rechtsschutzsuchenden Individuen, sondern auch die rechtsschutzgewährenden<br />
Justizbehörden.<br />
230<br />
Rechtsordnung für die sich in einer speziellen Beziehung zum Staat befindenden Personen.<br />
Beide Ordnungen gehörten aber gleichermassen dem „ordre juridique“ an (373 f.).<br />
Auch im französischen Verwaltungsprozessrecht wird, um zu verhindern, dass durch die<br />
Breite der zugelassenen Interessen eine Popularbeschwerde entsteht, eine qualifizierte,<br />
d.h. speziell definierte und limitierte Beziehung des Beschwerdeführers zur Streitsache<br />
vorausgesetzt („un lien suffisamment direct entre la situation durequérant et l’acte contesté“):<br />
siehe dazu etwa AUBY/D RAGO, Traité (FN 41), 234ff., 268 ff.;TURPIN,Contentieux<br />
(FN 224), 66,101.