Steuert die Praxisgebühr in die richtige Richtung? â Analyse des ...
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Zusammenfassung<br />
G. Brenner<br />
H. Koch<br />
A. Franke<br />
<strong>Steuert</strong> <strong>die</strong> Praxisgebühr <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>richtige</strong> <strong>Richtung</strong>? –<br />
<strong>Analyse</strong> <strong>des</strong> Versorgungsgeschehens<br />
nach E<strong>in</strong>führung der „Praxisgebühr“<br />
Is an Entrance-Fee Steer<strong>in</strong>g Into the Right Direction <strong>in</strong> Health Care?<br />
Analysis of Health Care Indicators After Introduction of an Entrance-Fee<br />
<strong>in</strong> Germany<br />
Abstract<br />
Orig<strong>in</strong>alarbeit<br />
H<strong>in</strong>tergrund: F<strong>in</strong>den sich Auswirkungen der seit 1.1.2004 bestehenden<br />
Praxisgebühr von 10 Euro/Quartal auf <strong>die</strong> Inanspruchnahme<br />
sowie <strong>die</strong> Versorgungs<strong>in</strong>halte? Methode: Anhand e<strong>in</strong>es<br />
repräsentativen Panels von dokumentierenden Praxen (n = 450)<br />
mit rund 600 000 Patienten/Quartal wird im Zeitvergleich 2003<br />
zu 2004 untersucht. Ergebnisse: Arztkontakte nehmen <strong>in</strong>sgesamt,<br />
bei Hausärzten aber nur wenig ab; <strong>die</strong> Zahl der Kontakte<br />
pro Fall und Quartal nimmt zu; chronische Erkrankungen werden<br />
relativ mehr, „banale“ relativ weniger betreut. Die Zahl<br />
präventiver Leistungen nimmt ab – bezogen auf das ganze<br />
Jahr 2004. Schlussfolgerungen: Gewünschte Effekte s<strong>in</strong>d durch<br />
<strong>die</strong> Praxisgebühr erreicht. Lassen sich unerwünschte – der Rückgang<br />
von Präventionsleistungen – nicht durch generellen Wegfall<br />
e<strong>in</strong>er Praxisgebühr für <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> Prävention wahrnehmen<br />
erreichen?<br />
Background: From January 2004 <strong>in</strong> Germany patients have to<br />
pay an entrance fee of 10 Euro per 3 months when us<strong>in</strong>g health<br />
care. Are there <strong>in</strong>dications for changes <strong>in</strong> health care – concern<strong>in</strong>g<br />
volume and content of care <strong>in</strong> out-of-hospital care? Methods:<br />
Us<strong>in</strong>g a current panel of 450 representative surgeries, who<br />
document around 600 000 patients per 3 months a comparison<br />
between 2003 and 2004 is done. Results: Number of contacts<br />
with surgeries is decl<strong>in</strong><strong>in</strong>g, especially with specialists, but less<br />
with GPs; number of contacts per case is <strong>in</strong>creas<strong>in</strong>g; care for<br />
m<strong>in</strong>or diseases is decreas<strong>in</strong>g; care for chronic disease is relatively<br />
<strong>in</strong>creas<strong>in</strong>g; use of preventive services is decreas<strong>in</strong>g. Discussion:<br />
Beside politically <strong>in</strong>tended developments there are<br />
side-effects concern<strong>in</strong>g the reduced use of prevention – a political<br />
priority. Could not a regulation allow<strong>in</strong>g “no payment necessary”<br />
when us<strong>in</strong>g preventive services be a solution?<br />
377<br />
Schlüsselwörter<br />
Leistungssteuerung im Gesundheitswesen · Prävention · Kostenbeteiligung<br />
Key words<br />
Steer<strong>in</strong>g of health care · prevention · entrance-fee<br />
Rund 2,5 Mrd. Euro zahlen <strong>die</strong> Versicherten der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung seit 2004 als Praxisgebühr beim Arztbesuch<br />
aus eigener Tasche. Dadurch werden <strong>die</strong> Ausgaben der<br />
Krankenversicherung entlastet. 10 Euro werden seit Januar 2004<br />
bei jedem ersten Primärkontakt im Quartal fällig. Ausgenommen<br />
s<strong>in</strong>d K<strong>in</strong>der sowie der Facharztkontakt mit e<strong>in</strong>em Überweisungssche<strong>in</strong><br />
<strong>des</strong> Hausarztes und <strong>die</strong> Prävention.<br />
Wer <strong>die</strong>sen ersten Schritt (weitere werden vermutlich folgen) <strong>in</strong><br />
<strong>die</strong> f<strong>in</strong>anzielle Eigenbeteiligung bei der ärztlichen Inanspruchnahme<br />
bereits als Erfolg feiert, hat nur <strong>die</strong> f<strong>in</strong>anziellen Auswirkungen<br />
im S<strong>in</strong>n. Die Praxisgebühr verfolgt weitere Ziele.<br />
Die Leit- und Koord<strong>in</strong>ationsfunktion <strong>des</strong> Hausarztes soll dadurch<br />
gestärkt werden, dass der Zugang zum Facharzt nur dann praxis-<br />
Institutsangaben<br />
Zentral<strong>in</strong>stitut für <strong>die</strong> kassenärztliche Versorgung <strong>in</strong> der Bun<strong>des</strong>republik Deutschland<br />
Korrespondenzadresse<br />
Dipl.-Kfm. Dr. Gerhard Brenner · Zentral<strong>in</strong>stitut für <strong>die</strong> kassenärztliche Versorgung <strong>in</strong> der Bun<strong>des</strong>republik<br />
Deutschland · Herbert-Lew<strong>in</strong>-Platz 2 · 10623 Berl<strong>in</strong> · E-mail: GBrenner@kbv.de<br />
Bibliografie<br />
Z Allg Med 2005; 81: 377–381 · © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York<br />
DOI 10.1055/s-2005-836770<br />
ISSN 0014-336251
Abb. 1<br />
Regionen und Struktur <strong>des</strong> ZI-Panels.<br />
Orig<strong>in</strong>alarbeit<br />
378<br />
gebührbefreit ist, wenn e<strong>in</strong>e Überweisung <strong>des</strong> Hausarztes vorliegt.<br />
Auch sollen <strong>die</strong> Kapazitäten der Arztpraxen, <strong>in</strong>sbesondere<br />
der Hausarztpraxen, für <strong>die</strong> wachsende Zahl der Patienten mit<br />
chronischen Erkrankungen zur Verfügung stehen. Der Arzt soll<br />
mehr Zeit haben für <strong>die</strong> Betreuung von Patienten mit schweren<br />
Erkrankungen. Dies gel<strong>in</strong>gt nur dann, wenn der Zugang von Patienten<br />
mit Bagatellerkrankungen verm<strong>in</strong>dert wird. Aber was<br />
s<strong>in</strong>d Bagatellerkrankungen, und trifft der Versicherte dabei <strong>die</strong><br />
<strong>richtige</strong> Entscheidung <strong>in</strong> der Abwägung zwischen professioneller<br />
Hilfe, Selbstbehandlung und f<strong>in</strong>anzieller Zusatzbelastung?<br />
Neben der Beurteilung der f<strong>in</strong>anziellen Dimension der Praxisgebühr<br />
s<strong>in</strong>d Antworten zu geben auf folgende Fragen:<br />
– Welche Patientengruppen – nach z.B. Alter, Geschlecht, sozialen<br />
Aspekten oder Grad der Erkrankung – s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> welchem<br />
Ausmaß von der Praxisgebühr betroffen?<br />
– Welche Arztgruppen haben Fallzahländerungen zu verzeichnen<br />
und <strong>in</strong> welcher Höhe?<br />
– Welche Krankheiten werden im professionellen System nach<br />
E<strong>in</strong>führung der Praxisgebühr nicht mehr oder weniger behandelt?<br />
– S<strong>in</strong>d tatsächlich nur leichte Gesundheitsstörungen vom Rückgang<br />
der Fallzahlen betroffen?<br />
– Wird <strong>die</strong> hausärztliche Versorgung nachhaltig gestärkt?<br />
– Verändert sich <strong>die</strong> Nachfrage nach präventiven Leistungen?<br />
Durch <strong>die</strong> Praxisgebühr war im Jahr 2004 e<strong>in</strong> Fallzahlrückgang<br />
von 8,7% zu verzeichnen. Die Allgeme<strong>in</strong>ärzte hatten e<strong>in</strong>en Fallzahlrückgang<br />
von 6,7%, während <strong>die</strong> meisten nicht hausärztlich<br />
tätigen Arztgruppen Fallzahlrückgänge im zweistelligen Bereich<br />
hatten.<br />
Der Nachfragerückgang zeigte sich besonders <strong>in</strong> der Altersgruppe<br />
der Patienten zwischen 20–39 Jahren mit 16,2%. K<strong>in</strong>der<br />
(– 4,7%) und ältere Menschen (– 6,0 %) haben dagegen weniger<br />
stark auf <strong>die</strong> Praxisgebühr durch Nachfragerückgang reagiert.<br />
Befreiungstatbestände und <strong>die</strong> Krankheitssituation s<strong>in</strong>d bei K<strong>in</strong>dern<br />
und älteren Menschen offensichtlich e<strong>in</strong> Grund für den<br />
maßvolleren Nachfragerückgang (Abb. 2).<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Stärkung der Koord<strong>in</strong>ations- und Leitfunktion<br />
<strong>des</strong> Hausarztes ist es erfreulich festzustellen, dass der<br />
Überweisungsanteil bei Fachärzten wieder deutlich zugenommen<br />
hat. Vor E<strong>in</strong>führung <strong>des</strong> Praxisgebühr hatten Fachärzte im<br />
Jahr 2003 überwiegend Direktkontakte mit Patienten nur noch<br />
zu e<strong>in</strong>em Anteil von 10,3 % Überweisungsfälle. Dieses Verhältnis<br />
hat sich mit E<strong>in</strong>führung der Praxisgebühr und der Befreiung davon<br />
– unter der Voraussetzung, dass der Patient überwiesen<br />
wird – schlagartig verändert. Im Jahr 2004 war der Überweisungsanteil<br />
bei Fachärzten wieder auf 52,5 % aller Behandlungsfälle<br />
angestiegen.<br />
Daten über Strukturmerkmale, Kostengrößen und Morbiditäts<strong>in</strong>formationen<br />
zu behandelten Diagnosen s<strong>in</strong>d dazu notwendig.<br />
Diese müssen möglichst zeitnah vorliegen, um rechtzeitig e<strong>in</strong>e<br />
verlässliche Datengrundlage für mögliche Interventionen zu bieten.<br />
Das Zentral<strong>in</strong>stitut für <strong>die</strong> kassenärztliche Versorgung hat<br />
dazu bereits im März 2005 über das Gesamtjahr 2004 Ergebnisse<br />
publiziert. Zwei Arzt-Patienten-Panel <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong> und Brandenburg<br />
liefern regelmäßig kosten- und morbiditätsbezogene<br />
Stichproben<strong>in</strong>formationen (Abb.1).<br />
Aus 900 Arztpraxen <strong>in</strong> beiden Regionen werden dem Zentral<strong>in</strong>stitut<br />
zeitnah nach Quartalsabschluss für ca. 1,2 Mio. Patienten<br />
etwa 4 Mio. Diagnosen mit 12 Mio. Leistungen und Arzt-/Patientenkontakten<br />
nach Pseudonymisierung zur Verfügung gestellt.<br />
Festzustellen ist aber, dass <strong>die</strong> Zahl der Arzt-/Patientenkontakte<br />
nicht im gleichen Umfang zurückgegangen ist, wie es der Fallzahlrückgang<br />
vermuten lassen würde. Trotz 8,7% Fallzahlrückgang<br />
s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Arztkontakte nur um 2,9% rückläufig. Bei den Allgeme<strong>in</strong>ärzten<br />
und den hausärztlich tätigen Internisten s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />
Arzt-/Patientenkontakte trotz rückläufiger Fallzahlen sogar um<br />
1,3 % bzw. um 1,6 % angestiegen. Dies bedeutet, dass <strong>die</strong> Kontakthäufigkeit<br />
<strong>in</strong>tensiviert wurde (Abb. 3).<br />
Wenn <strong>die</strong>s den chronischen Patienten zu Gute kommt, weil Bagatellfälle<br />
ausbleiben, ist <strong>die</strong>s e<strong>in</strong> positives Signal für Ressourcenverlagerung.<br />
Brenner G et al. <strong>Steuert</strong> <strong>die</strong> Praxisgebühr … Z Allg Med 2005; 81: 377 –381
Abb. 2 Veränderung der Fallzahlen nach<br />
Altersgruppen <strong>in</strong> Jahren nach der E<strong>in</strong>führung<br />
der Praxisgebühr 2004.<br />
Orig<strong>in</strong>alarbeit<br />
Abb. 3 Veränderung der Fallzahlen und<br />
Arzt-/Praxis-Kontakte <strong>in</strong> Arztpraxen nach der<br />
E<strong>in</strong>führung der Praxisgebühr 2004 im Vergleich<br />
zu 2003.<br />
379<br />
Man muss sich <strong>des</strong>halb <strong>die</strong> Veränderung der Diagnosenstruktur<br />
anschauen, um beurteilen zu können, ob von dem durch Praxisgebühr<br />
ausgelösten Nachfragerückgang leichtere Krankheitsfälle<br />
betroffen s<strong>in</strong>d. Bei der Altersgruppe der 20–39-jährigen<br />
Patienten mit dem höchsten relativen Fallzahlrückgang s<strong>in</strong>d<br />
bei Allgeme<strong>in</strong>ärzten vorwiegend Diagnosen vom Rückgang<br />
betroffen, <strong>die</strong> auf leichtere, akute Krankheitsstörungen wie Diarrhö,<br />
Infektionserkrankungen und Gastritis h<strong>in</strong>deuten. Am<br />
stärksten zurückgegangen ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Altersgruppe <strong>die</strong> Kontaktnahme<br />
mit dem Allgeme<strong>in</strong>arzt wegen unspezifischer<br />
Krankheiten der Wirbelsäule und <strong>des</strong> Rückens. Die Diagnosenstruktur<br />
<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Altersgruppe lässt erkennen, dass professionelle<br />
Hilfe weniger wahrgenommen wird bei Bef<strong>in</strong>dlichkeitsstörungen<br />
und Krankheitsstörungen mit vorübergehendem<br />
Charakter (Abb. 4).<br />
Analysiert man <strong>die</strong> Altergruppe der über 60-jährigen Patienten<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Veränderung ihrer Diagnosenstruktur bei Allgeme<strong>in</strong>ärzten,<br />
zeigt sich e<strong>in</strong> sehr unterschiedliches Bild. Auffällige<br />
Diagnosenrückgänge zeigen sich nur bei unspezifischen Erkrankungen<br />
der Wirbelsäule und <strong>des</strong> Rückens sowie bei Gastritis.<br />
Bei den dauerhaften Erkrankungen, wie Fettstoffwechselerkrankungen,<br />
Hypertonie, Prostatahyperplasie und Depression<br />
s<strong>in</strong>d Zuwächse <strong>in</strong> den Diagnosen zu verzeichnen. Dies bedeutet,<br />
dass <strong>in</strong> der älteren Altergruppe trotz moderatem Fallzahlrückgang<br />
bei weniger Patienten mehr „chronische“ Diagnosen behandelt<br />
werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf e<strong>in</strong>e komplexere<br />
Behandlung <strong>die</strong>ser Altersgruppe, worauf auch <strong>die</strong> wachsende<br />
Zahl der Arzt-/Patientenkontakte h<strong>in</strong>deutet (Abb. 5).<br />
Nach den bisherigen <strong>Analyse</strong>n neigt man dazu – selbst wenn<br />
man <strong>die</strong> Auswirkungen der Praxisgebühr auf <strong>die</strong> Morbiditätssituation<br />
betrachtet – <strong>in</strong> der Praxisgebühr tendenziell e<strong>in</strong>en<br />
Schritt <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>richtige</strong> <strong>Richtung</strong> zu sehen. Dieses Urteil ist aber<br />
zu relativieren, wenn man <strong>die</strong> Prävention und <strong>die</strong> Inanspruchnahme<br />
der Früherkennungsuntersuchungen bei Erwachsenen<br />
analysiert. Nach E<strong>in</strong>führung der Praxisgebühr hat der Fallzahlrückgang<br />
dazu geführt, dass <strong>die</strong> Prävention bei den Früher-<br />
Brenner G et al. <strong>Steuert</strong> <strong>die</strong> Praxisgebühr … Z Allg Med 2005; 81: 377 –381
Abb. 4 Diagnoserückgang bei 20–39-jährigen<br />
Patienten bei Allgeme<strong>in</strong>ärzten im E<strong>in</strong>führungsjahr<br />
der Praxisgebühr 2004 im Vergleich<br />
zu 2003.<br />
Orig<strong>in</strong>alarbeit<br />
Abb. 5 Diagnosenentwicklung bei über<br />
60-jährigen Patienten bei Allgeme<strong>in</strong>ärzten<br />
im E<strong>in</strong>führungsjahr der Praxisgebühr 2004 im<br />
Vergleich zu 2003.<br />
380<br />
kennungsuntersuchungen für Krebs- und Stoffwechselerkrankungen<br />
zum Teil im zweistelligen Prozentbereich zurückgegangen<br />
ist. E<strong>in</strong>zige Ausnahme ist der Zuwachs beim Koloskopiescreen<strong>in</strong>g,<br />
das sich noch <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>führungsphase bef<strong>in</strong>det. Dieser<br />
Effekt der Praxisgebühr ist gesundheitspolitisch äußerst problematisch<br />
(Abb. 6).<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>des</strong> gesundheitspolitischen Stellenwertes<br />
der Prävention mit Präventionsgesetz und E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Präventionsstiftung<br />
ist <strong>die</strong>se kontraproduktive Wirkung kurzfristig<br />
zu korrigieren.<br />
Wie ist <strong>die</strong>ser Sachverhalt zu erklären, wenn man berücksichtigt,<br />
dass gerade <strong>die</strong> Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen<br />
von der Praxisgebühr befreit ist? Offensichtlich ist<br />
<strong>die</strong>ser Befreiungstatbestand nicht vollständig bei der Bevölkerung<br />
angekommen. Das heißt, es kann vermutet werden, dass<br />
e<strong>in</strong> nennenswerter Teil der Bevölkerung auf Prävention – wenn<br />
nicht e<strong>in</strong> kurativer Anlass zum Praxisbesuch gegeben ist – verzichtet<br />
bzw. <strong>die</strong>se aufschiebt. Hier ist von Bedeutung festzuhalten,<br />
dass <strong>die</strong> Daten 4 Quartale beschreiben, also es nicht um<br />
„kurzfristigen Aufschub“ nur gehen kann.<br />
Es wird offensichtlich <strong>in</strong> der Wahrnehmung der präventiven<br />
Leistung der Unterschied zwischen Prävention und Kuration<br />
nicht vollzogen. Häufig werden präventive Leistungen im Zusammenhang<br />
mit e<strong>in</strong>em kurativen praxisgebührenpflichtigen<br />
Arztkontakt erbracht. Gehen kurative Kontakte zurück, hat <strong>die</strong>s<br />
auch Auswirkungen auf <strong>die</strong> präventiven Leistungen. Erfolgt dagegen<br />
<strong>in</strong> Folge e<strong>in</strong>es gesonderten gebührenbefreiten präventiven<br />
Kontakts z.B. auch nur e<strong>in</strong>e Rezeptausstellung für e<strong>in</strong>e Grunderkrankung,<br />
ist <strong>des</strong>wegen e<strong>in</strong>e Praxisgebühr fällig.<br />
Als Schlussfolgerung aus dem ersten Jahr der Praxisgebühr lassen<br />
sich festhalten:<br />
– <strong>die</strong> Praxisgebühr steuert nachhaltig Nachfrage und Angebot<br />
– rückläufige Fallzahlen werden zum Teil durch Intensivierung<br />
der Arzt-/Patientenkontakte ausgeglichen<br />
– es steht mehr Behandlungszeit für chronisch Kranke zur Verfügung<br />
– Primärkontakte bei Fachärzten werden reduziert<br />
– Steuerung <strong>des</strong> Patientenzugangs über Hausärzte wird gestärkt<br />
– Diagnosenstruktur bei jüngeren Patienten zeigt, dass leichtere<br />
Erkrankungen vom Fallzahlrückgang betroffen s<strong>in</strong>d<br />
Brenner G et al. <strong>Steuert</strong> <strong>die</strong> Praxisgebühr … Z Allg Med 2005; 81: 377 –381
Abb. 6 Untersuchung zur Früherkennung<br />
bei Erwachsenen über alle Arztgruppen im<br />
E<strong>in</strong>führungsjahr der Praxisgebühr 2004 im<br />
Vergleich zu 2003.<br />
– bei älteren Patienten werden <strong>in</strong> Folge <strong>des</strong> Fallzahlrückgang<br />
mehr chronische Diagnosen behandelt<br />
– Aber: Es zeigt sich e<strong>in</strong> äußerst problematischer Rückgang der<br />
präventiven Leistungen – <strong>die</strong>s trotz Entfall e<strong>in</strong>er Praxisgebühr<br />
bei nur Präventions-Inanspruchnahme.<br />
Viele Vorschläge zur Steuerung e<strong>in</strong>es erwünschten Verhaltens<br />
bei der Inanspruchnahme und dem Leistungsangebot wurden <strong>in</strong><br />
der Vergangenheit mit Vorschlägen zur Befreiung von der Praxisgebühr<br />
verbunden. Es ist <strong>des</strong>halb auch e<strong>in</strong>e Debatte zu eröffnen,<br />
Patienten von der Praxisgebühr vollständig zu befreien,<br />
wenn präventive Leistungen wahrgenommen werden. Die Stärke<br />
<strong>des</strong> Anreizes für präventive Maßnahmen wird dabei von der<br />
Dauer der Befreiung abhängen. E<strong>in</strong>deutige Regelungen s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs<br />
zu treffen, damit <strong>die</strong> Befreiung von der Praxisgebühr<br />
e<strong>in</strong>e Erstattungsleistung der Krankenkassen und damit honorarneutral<br />
für den behandelnden Arzt ist.<br />
Interessenkoflikte: ke<strong>in</strong>e angegeben.<br />
Orig<strong>in</strong>alarbeit<br />
381<br />
Zur Person<br />
Dipl.-Kfm. Dr. Gerhard Brenner<br />
geb. am 16.11.1943 <strong>in</strong> Ludwigsburg. Geschäftsführer<br />
<strong>des</strong> Zentral<strong>in</strong>stituts für <strong>die</strong> kassenärztliche Versorgung,<br />
Köln. Mitglied <strong>in</strong> verschiedenen Projektkommissionen<br />
der Europäischen Union (EU), temporary adviser der<br />
Weltgesundheitsorganisation (WHO), Mitglied im Kuratorium<br />
für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen<br />
beim Bun<strong>des</strong>m<strong>in</strong>isterium für Gesundheit.<br />
Tätigkeitsschwerpunkte: Gesundheitssystemforschung,<br />
empirische Sozialforschung, E<strong>in</strong>führung von<br />
Informatik- und Kommunikationsanwendungen im Gesundheitswesen,<br />
Patientendatenkarten, Arzneimittel<strong>in</strong>formationssysteme, Wirtschaftlichkeitsanalysen,<br />
ambulantes Operieren, Screen<strong>in</strong>gprogramme, Qualitätsmanagement,<br />
Diagnosenverschlüsselung, Herausgabe der ZI-Schriftenreihe.<br />
Über 100 wissenschaftliche Publikationen zu gesundheitsökonomischen<br />
und gesundheitspolitischen Themen <strong>in</strong> Zeitschriften und Sammelwerken<br />
im nationalen und <strong>in</strong>ternationalen Bereich. Vortragstätigkeit und Kongressorganisation<br />
zum gleichen Themenbereich.<br />
Brenner G et al. <strong>Steuert</strong> <strong>die</strong> Praxisgebühr … Z Allg Med 2005; 81: 377 –381